Geheimnisse einer Lady

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Verwegen blitzen die dunklen Augen des Reiters, dem Lady Kate Carhart frühmorgens auf der Landstraße begegnet. Woher kennt sie nur diesen Blick? fragt sie sich - und entdeckt schockiert: Der Fremde ist ihr Ehemann, Edward Carhart! Als Ned sie kurz nach der erzwungenen Hochzeit verließ und nach China ging, war Kate tief verletzt. Doch aus dem unsteten Jüngling von einst ist ein Mann geworden, der jetzt mit heißblütigem Charme versucht, sie zurückzuerobern. Schon bald brennt ihr Herz vor Verlangen. Aber darf sie Ned vertrauen? Groß ist die Furcht, dass er ihr Geheimnis errät. Ein Geheimnis, dessen Verrat nicht nur sie in Lebensgefahr brächte …


  • Erscheinungstag 06.02.2012
  • Bandnummer 246
  • ISBN / Artikelnummer 9783864940989
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London, 1838

Lady Kathleen Carhart hütete ein Geheimnis.

In Wahrheit hütete sie mehr als eines, doch das Geheimnis, an das sie beim Frühstück mit ihrem Gemahl dachte, war erst gestern geliefert worden und lag in Seidenpapier gehüllt in ihrer Wäschekommode. Und wüsste er, worum es sich handelte …

Sie lächelte still in sich hinein.

Er legte die Zeitung beiseite und richtete den Blick auf sie. Seine feucht glänzenden braunen Augen, dunkler als die Schokolade in ihrer Tasse, kontrastierten stark mit dem sandfarbenen Haar. Er ahnte nicht, was er in ihr auslöste, wenn er sie so ansah. Kate zerknüllte die Serviette zwischen den Fingern; ein unmerkliches Beben durchflog sie. Ein Wunsch keimte in ihr auf, nein, Sehnsucht, Begehren. Und genau darin bestand ihr Problem.

„Vor ein paar Tagen hatte ich ein Gespräch mit meinem Cousin Gareth“, ergriff er das Wort.

In London führten wohl unzählige Ehepaare eine ähnlich banale Unterhaltung am Frühstückstisch. Kates Mutter hatte ihr eingeschärft, sich eine praktische Sichtweise in Bezug auf die Ehe anzueignen und zu akzeptieren, dass sie und ihr Gatte artigen und höflichen Umgang miteinander pflegen würden.

Allerdings hatte Kate keinen durchschnittlichen Londoner Gentleman geheiratet. Edward Carhart pflegte keinen artigen und höflichen Umgang mit anderen – nur mit seiner frisch angetrauten Gemahlin.

„Und was hatte Gareth zu berichten?“, fragte Kate.

„Wie du weißt, besitzen wir beträchtliche Anteile an der East India Company.“

„So wie die meisten wohlhabenden Familien. Eine gute Investition. Das Unternehmen handelt mit Tee, Salpeter und Seide …“ Ihre Stimme verlor sich.

Wüsste er, was ihr bei dem Wort Seide durch den Sinn ging, würde er nicht so gelassen bleiben. Denn sie hatte ein hauchdünnes Nachthemd in der Bond Street erstanden, ein Gespinst aus indischer Seide, am Ausschnitt von lavendelfarbenen Schleifen gehalten, wohl die einzige Konzession an Sittsamkeit. Und dieses Negligé lag in ihrer Wäschekommode und wartete darauf, von Kate in der kommenden Nacht getragen zu werden.

„Seide“, bestätigte Ned, den Blick in die Ferne gerichtet, ohne zu bemerken, wie sie sich vorbeugte, „und andere Waren. Opium zum Beispiel.“

„Opium stünde nicht auf meiner Einkaufsliste.“

Er lächelte nicht. Sein Blick flog nur unstet hin und her, als sei er verlegen. „Jedenfalls sprachen wir über die jüngsten Entwicklungen in China.“ Ned faltete die Zeitung. „Und wir kamen überein, jemand müsse sich persönlich vor Ort ein Bild über die Situation machen.“

Er klang ungewöhnlich ernsthaft. Kate furchte die Stirn.

„Mit jemand meinst du wohl Mr White, und mit vor Ort das Kontor in …“

„Mit jemand“, erklärte Ned mit Nachdruck, „meine ich mich, und mit vor Ort meine ich China.“

Er legte die gefaltete Zeitung auf den Tisch und strich sich über das Kinn. Die Morgensonne wirkte plötzlich zu grell. Die gleißenden Strahlen, die durch das Fenster hinter ihm fielen, verschatteten seine Gesichtszüge. Sie konnte den Ausdruck seiner Augen nicht erkennen. Gewiss scherzte er und würde im nächsten Moment die Mundwinkel belustigt hochziehen.

Vorsichtig stellte sie ihre Tasse ab und lächelte dünn. „Dann wünsche ich dir eine gute Reise. Wirst du zum Tee zurück sein?“

„Nein. Die Peerless legt zur Mittagsstunde von den St. Katharine Docks ab, und ich werde an Bord sein.“

Nicht nur das grelle Licht blendete sie. Sie hob den Blick, als ihr die Wahrheit dämmerte. „Grundgütiger, du meinst es also ernst. Du verlässt mich? Aber ich dachte …“

Sie hatte gedacht, ihm das seidene Negligé vorführen zu können.

Er schüttelte den Kopf. „Kate, wir sind seit drei Monaten verheiratet und wissen beide, dass wir uns nur deshalb zu diesem Schritt entschieden haben, weil man uns in einer verfänglichen Situation ertappte und mehr dahinter vermutete, als vorgefallen war. Wir haben geheiratet, um einen Skandal im Keim zu ersticken.“

Seine unverhohlenen Worte ließen ihre Hoffnungen noch törichter erscheinen.

„Die Wahrheit ist doch“, fuhr er fort, „dass wir beide eigentlich nicht auf eine Ehe vorbereitet waren.“

Sie beide?

Ned schob den Stuhl nach hinten und stand auf. „Ich hatte bisher keine Gelegenheit, mich zu beweisen. Und …“, er zögerte und machte eine fahrige Handbewegung. „Und es ist mein Wunsch.“

Er legte die Serviette auf den Teller und wandte sich ab. Das Zimmer begann, sich um Kate zu drehen.

Er tat so, als sei dies ein völlig normales Gespräch beim Frühstück an einem beliebigen Tag.

„Ned!“ Ungestüm sprang Kate auf. Ihr Ausbruch schien mehr Kraft zu haben, die Flutwelle einzudämmen, die ihre Ehe zu zerstören drohte, als das durchsichtige Seidenhemd, das in ihrem Schlafzimmer auf seinen Einsatz wartete.

Seine Flucht endete an der Türschwelle. Er verharrte, die Schultern angespannt wie zwei hölzerne Bügel unter dem feinen Tuch seines Gehrocks.

Sie fand keine Worte, um die Kälte zu benennen, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ, und begnügte sich mit: „Ich wünschte, du würdest nicht gehen. Ich wünschte, du würdest bleiben.“

Er drehte den Kopf zur Seite, nur so weit, um sie sehen zu können. In dieser kurzen Sekunde entdeckte sie etwas in seinem Blick, von dem sie heimlich geträumt hatte: Hunger, ein Verlangen, als bedeute sie ihm mehr als nur ein Name unter der Heiratsurkunde. Er stieß den Atem hörbar aus und schüttelte den Kopf.

„Ich wünschte“, sagte er leise, „ich könnte dir diesen Wunsch erfüllen.“ Damit wandte er sich ab und ging.

Sie wollte ihm nachlaufen, wollte etwas sagen, irgendetwas. Was sie indes lähmte, war die Erkenntnis, dass er ebenso rastlos war wie sie bis vor Kurzem.

Und sie wusste mit eisiger Klarheit, dass sie ihm diese Rastlosigkeit nicht nehmen konnte, nicht mit einem Dutzend seidener Negligés.

Ihr blieb nur die Genugtuung, die Fassung gewahrt zu haben und ihn glauben zu lassen, sie sei nicht im Geringsten verletzt und erschüttert von seinem Entschluss. Sie hatte das Geheimnis ihrer Sehnsucht zu sorgsam gehütet, eingehüllt in Seidenpapier.

So wie sie all ihre Geheimnisse hütete. Und nun war es zu spät für eine Erklärung.

1. KAPITEL

Berkshire, drei Jahre später

Die Straße den Hügel hinauf war von einer schulterhohen Mauer begrenzt. Als Kate letzte Nacht mit der Amme ins Tal gewandert war, hatten die dunklen Steinquader bedrohlich gewirkt wie geduckt lauernde Unwesen. Sie hatte sich vorgestellt, Eustace Paxton, Earl of Harcroft, lauere hinter jedem Vorsprung, um sich in der nächsten Sekunde auf sie zu stürzen und mit üblen Beschimpfungen zu verfluchen.

Jetzt, im milchigen Morgennebel, nahm sie gelbe Blüten von Wildkräutern wahr, die sich zwischen den Mauerritzen angesiedelt hatten. Die alte bröckelnde Mauer hatte ihren Schrecken verloren, und Harcroft war dreißig Meilen entfernt in London, ohne etwas von ihrer Beteiligung an seinem Unglück zu ahnen. Sie hatte sich einen Vorsprung verschafft und konnte zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder freier atmen.

Als habe sie sich zu früh in Sicherheit gewiegt, trug ihr der Morgenwind das Klappern von Pferdehufen zu. Aufgeschreckt fuhr sie herum, ihr Herz klopfte bang. Trotz der Hitze, die in ihr aufstieg, zog Kate den schweren Umhang enger um die Schultern. Er war ihr auf die Schliche gekommen. Er war hinter ihr her …

Hinter ihr war nichts, nur wabernder Morgennebel. Sie sah Gespenster. Es war undenkbar, dass Harcroft ihr Geheimnis so rasch entdeckt haben könnte. Sie wollte erleichtert aufatmen und verschluckte sich beinahe. Wieder Hufeklappern und Knirschen von Wagenrädern. Diesmal aber kam das Geräusch eindeutig von oben. Sie spähte angestrengt nach vorne. Dunkle Umrisse eines Karrens, der schwerfällig den Hügel hinaufgezogen wurde, zeichneten sich verschwommen ab.

Ein beruhigender und vertrauter Anblick. Die Nebelschwaden hatten die Geräusche gedämpft. Während Kate mühsam bergauf stapfte, sah sie, dass der von einem Gaul gezogene Karren mit Holzfässern beladen war, deren Beschriftung sie aus der Ferne nicht erkennen konnte. Das Zugpferd war von undefinierbarer Farbe. Im Nebel wirkte sein Fell braun gefleckt, von hellgrauen Streifen durchzogen. Das Tier kämpfte sich mühsam bergauf, seine Muskeln und Sehnen zitterten vor Anstrengung.

Kate atmete erleichtert auf. Es war ein einfacher Fuhrmann. Nicht Harcroft. Niemand, von dem ihr Gefahr drohte, wenn er herausfand, welche Rolle sie letzte Nacht gespielt hatte. Dennoch zog sie die Kapuze tiefer ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden.

Als sollte sie an den Albtraum erinnert werden, dem Louisa entflohen war, drang ein scharfer Peitschenknall an ihr Ohr. Kate presste die Zähne aufeinander und beschleunigte ihre Schritte. Dreißig Sekunden später und ebenso viele Schritte näher, knallte die Peitsche wieder. Sie biss sich auf die Unterlippe.

Sie musste sich beherrschen. Lady Kathleen Carhart hätte den Fuhrmann mit scharfen Worten zurechtweisen können. Da sie sich aber in dem groben Wollumhang als einfache Magd ausgab, tat sie gut daran, den Blick gesenkt zu halten. Dienstboten wiesen niemanden zurecht, schon gar nicht einen Mann mit einer Peitsche. In ihrer Verkleidung würde er ihr nicht glauben, wenn sie sich als Gutsherrin zu erkennen gab.

Da sie ihre Aktivitäten außerdem geheim halten wollte, war es nicht in ihrem Sinn, wenn sich in der Nachbarschaft herumsprach, die Herrin von Berkswift sei als Dienstmagd verkleidet in aller Herrgottsfrühe zu Fuß auf der Landstraße gesehen worden. Erneut sauste die Peitsche erbarmungslos auf den geschundenen Gaul nieder, während Kate sich mit geballten Fäusten dem Fuhrwerk näherte. Ihr Zorn war vielleicht der Grund, warum sie zunächst nichts anderes hörte als das Knallen der Peitsche und das Knirschen der Wagenräder. Doch dann drehte der Wind und trug ihr das rhythmische Klappern trabender Hufe zu.

Kate warf einen Blick über die Schulter. Ein Reiter näherte sich den Hügel herauf.

Möglicherweise hatte ein einfacher Fuhrmann während eines Erntedankfestes einen flüchtigen Blick auf Lady Kathleen werfen können – und hatte bei einem Krug Bier in der Dorfschänke vielleicht damit geprahlt, der Tochter des Herzogs leibhaftig begegnet zu sein. In dem derben Wollumhang und der Dienstbotenhaube würde er sie jetzt jedenfalls nicht erkennen.

Aber bei einem Reiter könnte es sich um einen Adeligen handeln. Vielleicht sogar um den Earl of Harcroft, auf der Suche nach seiner verschwundenen Ehefrau. Sollte der Earl sie in ihrer Verkleidung erkennen, würde er sich zusammenreimen, welche Rolle sie beim Verschwinden seiner Frau gespielt hatte.

Und dann müsste er lediglich ihre Spur ein paar Meilen zurückverfolgen. Die Schäferhütte lag nicht weit entfernt.

Kate zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und drückte sich gegen die Mauer; ihre Finger streiften den rauen Sandstein. Sie hob zwar die Schultern unter dem derben Umhang, reckte aber kämpferisch das Kinn, fest entschlossen, Louisa unter keinen Umständen ihrem Ehemann auszuliefern.

Der Reiter tauchte aus dem Nebel auf, als Kate die Hügelkuppe erreichte. Milchige Schwaden waberten um die Fesseln des Pferdes wie Meereswogen. Eine elegante Vollblutstute, grau wie der dampfende Nebel, durch den sie zu waten schien. Nicht Harcrofts kastanienbrauner Hengst. Erleichtert musterte Kate den Reiter.

Er trug einen breitrandigen Hut und einen langen Mantel, dessen Schöße im Takt mit den Hufschlägen seiner Stute wippten. Wer auch immer er sein mochte, seine Schultern waren zu breit, um Harcroft zu gehören. Außerdem war das Gesicht des Fremden von einem sandfarbenen Bart halb zugewachsen. Das war keinesfalls Harcroft. Auch kein anderer Mann, den sie kannte.

Was allerdings nicht bedeutete, dass der Mann sie nicht erkannte und Gerüchte verbreiten könnte.

Sie atmete tief durch und wandte den Blick nach vorne. Wenn sie keine Aufmerksamkeit auf sich zog, würde er keine Notiz von ihr nehmen. Für einen Aristokraten war eine Dienstmagd buchstäblich unsichtbar.

Die leichten Hufschläge der Stute näherten sich. Das edle Tier bewegte sich mühelos im Gegensatz zu dem bedauernswerten Gaul, der seine gewaltige Last immer noch den Hügel hinauf schleppte. Aber Kate musste sich auf ihre eigenen Sorgen konzentrieren. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie der Reiter das Fuhrwerk überholte. Dabei streiften seine Mantelschöße die Scheuklappen des Zugpferds. Eine kurze Berührung, mehr nicht.

Der Gaul legte die Ohren flach an, scheute und schlug nach hinten aus. Die Wagendeichsel knirschte bedrohlich, und Kate presste den Rücken gegen die Mauer. Die Mantelschöße flatterten erneut im Wind, die Peitsche knallte, und Kate zuckte erschrocken zusammen. Der gequälte Klepper stieß ein gespenstisch schrilles, lang gezogenes Wiehern aus und stieg. Gefährlich kippte der Karren nach hinten, die Hufe donnerten zur Erde. Holz splitterte krachend. Kate fuhr herum.

Die Wagendeichsel war in der Mitte gebrochen. Das Pferd, gefangen in Halfter und Zugriemen, versuchte vergeblich, in seiner Todesnot zu fliehen.

Kate erhaschte einen Blick auf ein schwarzes verdrehtes Auge, auf die flach an den mächtigen Schädel gelegten Ohren. Der gehetzte Blick der bejammernswerten Kreatur war auf sie gerichtet. Und wieder zerriss ein Peitschenknall die Luft. Der Gaul stieg erneut, so nah an Kates Gesicht, dass sie die Hufeisen aufblitzen sah. Gelähmt wie ein geducktes Kaninchen im Gras, auf das sich ein Habicht aus den Lüften stürzte, stand sie an die Mauer gepresst da. Ihr Verstand arbeitete unendlich träge. Sie hätte die Rippen des Gauls zählen können, jeden einzelnen Bogen, während die mächtigen Hufe herniedersausten.

Und dann war der Moment der Lähmung vorbei, ihr Überlebenswille siegte.

Sie sackte zusammengekrümmt zu Boden, eine Sekunde, ehe die Hufe gegen die bröckelnde Mauer schlugen, wo eben noch ihr Kopf gewesen war. Beim ersten Mal regneten Gesteinssplitter und Sand auf sie herab. Beim zweiten Mal wurde sie von einem Stein an der Wange getroffen. Der Gaul stieß wieder dieses gespenstische Wiehern aus und stieg ein drittes Mal.

Bevor die Hufe diesmal aufschlugen, wurde sie gewaltsam an den Armen hochgerissen und an einen kraftvollen Männerkörper gepresst, der sie vor den Eisen des tobenden Zugpferdes schützte. Der Reiter der grauen Stute war ihr offensichtlich zu Hilfe geeilt.

Sie hatte keine Chance, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, selbst wenn sie den Wunsch dazu verspürt hätte. Von kraftvollen Händen mit eisernem Griff um die Mitte gepackt, wurde sie zur flachen Mauerbegrenzung gehoben, an der sie sich hochzog, bis sie auf der Mauer kauerte. Der Reiter schaute zu ihr auf. Seine Augen, dunkelbraun wie Moorseen im bärtigen Gesicht, blitzten verwegen, als sei dies das aufregendste Abenteuer, das er seit Jahren erlebt hatte. Einen flüchtigen Moment hatte sie das schwindelerregende Gefühl einer Erinnerung.

Ich kenne diesen Mann.

Doch dann wandte er sich ab, und die flüchtige Erinnerung verwehte, rieselte ihr durch die Finger wie die Sandkörner der Mauer, an der sie sich festkrallte.

Wer immer dieser Fremde sein mochte, er kannte keine Angst. Vielmehr wandte er sich dem schäumenden Gaul zu, bewegte sich behutsam wie auf Zehenspitzen, wich in tänzerischer Anmut den tödlichen Hufschlägen aus.

„Nun komm schon, Champion.“ Seine Stimme klang leise, aber bestimmt. „Ich will dir nicht zu nahe kommen, aber wenn ich die Zugriemen nicht durchschneide, beruhigst du dich nie.“

„Die Zugriemen durchschneiden!“, protestierte der Fuhrmann und hob die Peitsche. „Was, zum Teufel, soll das heißen, die Zugriemen durchschneiden?“

Der Fremde schenkte ihm keine Beachtung, machte eine halbe Drehung und trat hinter das Pferd.

Das Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzogen, umklammerte der Fuhrmann die Griffe seiner Peitsche. „Was fällt Ihnen ein?“

Der Gentleman drehte dem zornigen Fuhrmann den Rücken zu, während er unablässig leise redete, nein murmelte. Kate konnte nicht verstehen, was er sagte, hörte nur seinen beruhigenden Tonfall. Der Gaul stieg ein letztes Mal, dann tänzelte er nervös, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, um den Mann hinter ihm im Auge zu behalten. Ein Schnitt mit dem Messer, dann ein zweiter, ein paar Handgriffe an den Schlaufen, und das Pferd war vom Geschirr befreit.

„Was tun Sie da, verdammt? Der Gaul gehört mir! Sie haben kein Recht, die Riemen durchzuschneiden!“

Das Pferd wollte losstürmen, kam jedoch nicht weit, da der Kutscher die Zügel immer noch in den Fäusten hielt. Befreit vom schwer beladenen Karren und vor allem außer Reichweite der gnadenlosen Peitsche, erlahmten die Fluchtversuche bald; das Tier stampfte noch ein paar Mal auf, bevor es schnaubend den Kopf senkte und seine Umgebung beäugte.

„Siehst du?“, sagte der Fremde. „Schon besser, wie?“

Und alles schien tatsächlich besser zu werden. Kates Herzklopfen beruhigte sich, der Gaul stampfte nicht länger mit den Hufen in den Straßenmatsch, und der Fuhrmann hörte auf, den Griff seiner Peitsche gegen seine Stiefel zu schlagen. Kate krallte die Finger um das feucht bemooste Mauerwerk.

„Ihr feinen Leute seid alle gleich. Ihr verhätschelt die Biester“, knurrte der Fuhrmann verärgert. „Blödes Vieh.“

Die letzten Worte waren an den Gaul gerichtet, der immer noch zitternd mit flach angelegten Ohren am gesenkten Schädel schnaubend dastand. Der bärtige Gentleman – der kultivierten Sprache und dem eleganten Schnitt seines Mantels nach zu schließen tatsächlich ein Aristokrat – nahm endlich Notiz von dem Fuhrmann, trat an den Kutschbock und nahm ihm kurzerhand die Zügel aus der Hand, was der völlig verdutzte Mann widerspruchslos geschehen ließ.

„Verhätscheln nennen Sie das also“, sagte der Fremde höflich. „Ich halte nichts von Tierquälerei, und Champion ist ein Tier, ein Lebewesen, kein Stück Holz, falls Ihnen das entgangen sein sollte. Im Übrigen ist es ratsam, Tiere anständig zu behandeln, die groß genug sind, um einen Menschen zu Tode zu trampeln, wenn sie vor Angst dazu getrieben werden. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, Sie Rohling.“

Die flüchtige Ahnung einer Erinnerung stellte sich wieder ein, beunruhigend wie undefinierbarer Rauchgeruch im Wind. Die Stimme war Kate irgendwie vertraut – aber nein, diesen unbefangen selbstbewussten Tonfall hatte sie noch nie gehört.

Kate holte wieder tief Atem und erstarrte. Bislang hatte sie den Gaul nur flüchtig wahrgenommen. Im Nebel hatte sie die hellen Flecken und Streifen in seinem Fell für eine ungewöhnliche Laune der Natur gehalten. Als sie nun oben auf der Mauer kauerte, erkannte sie die Zeichen. Es waren Narben. Narben von Peitschenhieben, unter denen die Haut geplatzt und Blut geflossen war. Narben, wo ein schlecht sitzendes Geschirr die Haut wund gescheuert hatte im Lauf von weiß Gott wie vielen Jahren der Schinderei.

Kein Wunder, dass der bedauernswerte Gaul sich gegen seinen Peiniger aufgelehnt hatte.

Der Tierschinder breitete abwehrend die Hände aus. „Was reden Sie da?“, verteidigte er sich. „Ich quäle den störrischen Klepper doch nicht. Und schon meine Mutter hat immer gesagt, Leiden sind von Gott geschickt, um uns stärker zu machen. Das steht auch in der Bibel, glaube ich wenigstens.“ Er begleitete seine Rede mit einem unschlüssigen Achselzucken.

„Seltsam.“ Der Fremde lächelte entwaffnend. Sogar unter seinem dichten Bart wirkte sein Lächeln ansteckend, und der Fuhrmann erwiderte es mit einem breiten Grinsen, das schwarze Zahnlücken zeigte. „Ich entsinne mich an keine Bibelstelle, die das Prügeln von Tieren gutheißt. Außerdem muss ich Ihnen widersprechen. Nach meiner Erfahrung stärkt Leiden keineswegs. Vielmehr hinterlässt es böse Narben, die man jahrelang nicht loswird.“

„Was?“

Der Gentleman machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich wieder dem Pferd zu. „Nur so ein Gedanke, nicht der Rede wert. Gefühlsregungen, die sich ins Gedächtnis eingraben, sind zweifellos falsch.“

Kate unterdrückte ein Lächeln. Als könnte der Gentleman sie sehen, zogen sich seine Mundwinkel hoch. Da seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem zitternden Zugpferd galt, zweifelte sie allerdings daran, dass er sich ihrer Gegenwart überhaupt noch bewusst war. Langsam rutschte sie von der Mauer zur Erde.

Der Fremde kramte in seinen Manteltaschen und holte einen Apfel hervor. Die Nüstern des Gauls blähten sich, seine Ohren richteten sich halb auf. Seine vorstehenden Rippen und die eingefallenen Flanken zeigten, dass er halb am Verhungern war. Unter den verkrusteten Striemen und Abschürfungen mochte sein Fell einst kastanienbraun gewesen sein. Aber Kohlenstaub und Straßendreck hatten seinem stumpfen Fell jeden Glanz genommen.

„Um Himmels willen, füttern Sie ihn nicht“, protestierte der Fuhrmann. „Der Gaul ist nichts wert. Er gehört mir seit drei Monaten, aber so oft ich ihn die Peitsche auch spüren lasse, er bleibt widerspenstig und bockbeinig.“

„Da haben wir es“, gab der Gentleman zurück. „Das klingt nicht nach Einsicht, hab ich recht, Champion?“ Er warf den Apfel vor der Pferdeschnauze zur Erde und richtete den Blick in die Ferne.

Er schien gut mit Pferden umzugehen. Sanft. Freundlich. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte, denn wer immer er auch sein mochte, sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Er durfte nichts von Lady Kathleen erfahren, wenn sie ihre Geheimnisse bewahren wollte. Kate begann, sich vorsichtig von dem Schauplatz zu entfernen.

„Champion? Wen nennen Sie denn Champion?“

„Nun ja, hat er denn einen anderen Namen?“ Der Fremde machte keine Anstalten, sich dem Pferd zu nähern. Er stand in drei Schritten Abstand, die Zügel locker in der Hand, und hielt den Blick in die Ferne gerichtet, genauer gesagt nach Berkswift, Kates Herrenhaus hinter der nächsten Anhöhe und der von Bäumen gesäumten Auffahrt.

„Einen Namen?“ Der Fuhrmann zog die Stirn in Falten, als sei ihm diese Vorstellung völlig fremd. „Ich sag einfach Hü und Hott oder Brr, wenn er stehen bleiben soll. Der Klepper ist nichts wert, für den krieg ich nicht mal einen Penny fürs Pfund Fleisch vom Schlachter.“

Der Gentleman krümmte die Finger um die Zügel. „Ich gebe Ihnen zehn Pfund Sterling für das ganze Tier.“

„Zehn Pfund? Das ist ja kaum mehr als ich vom Abdecker …“

„Wenn der Klepper auf dem Weg zum Abdecker durchgeht, zahlen Sie wesentlich mehr für den Sachschaden, den er anrichtet.“ Der Fremde warf einen Blick in Kates Richtung, die im Begriff war, sich an der zerbrochenen Deichsel vorbeizuschleichen.

Es war das erste Mal, dass er sie direkt ansah, und Kate spürte seinen Blick verstörend und vertraut zugleich. Sie drückte sich gegen die Mauer.

Stumm schüttelte der Gentleman den Kopf und schau- te in die andere Richtung. „Ich sollte Sie wegen Tierquälerei und Personengefährdung anzeigen.“ Er holte einen Lederbeutel aus seiner Manteltasche und begann, Münzen zu zählen.

„Nun mal langsam. Wir sind uns nicht handelseinig. Wie soll ich denn mein Fuhrwerk hier wegschaffen?“

Der Fremde zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Mit der gebrochenen Deichsel? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen ein Pferd dabei eine große Hilfe wäre.“ Während er sprach, holte er noch ein paar Münzen aus dem Beutel und legte das Häufchen auf den Kutschbock. „Fragen Sie unten im Dorf nach Hilfe.“

Missmutig schüttelte der Fuhrmann den Kopf und steckte die Münzen ein. Dann kletterte er vom Bock und stapfte talwärts. Der Gentleman blickte ihm schweigend nach.

Da er abgelenkt war, beschloss Kate, sich weiter zu entfernen. Das Pferd war in Sicherheit, und wenn sie sich beeilte, war auch ihr Geheimnis – Louisas Geheimnis – in Sicherheit. Wer immer der Fremde sein mochte, er hatte sie gewiss nicht erkannt, sondern hielt sie vermutlich für eine Magd auf einem Botengang für ihre Herrschaft. Unscheinbar und bedeutungslos wie das Pferd, das er gerettet hatte.

Er tippte mit dem Finger an seine Hutkrempe und wandte sich seiner Stute zu, die friedlich am Wegrand graste.

Kate hatte angenommen, das geschundene Zugpferd würde seinem neuen Herrn brav folgen. Weit gefehlt. Der Klepper ließ den Kopf nicht hängen, schüttelte stattdessen seine verfilzte Mähne, zog die Lefzen hoch, spreizte seine klapperdürren schorfigen Beine und verweigerte den Gehorsam.

Mit gesenktem Kopf wich die Stute ein paar Schritte zurück.

„Denken Sie, die beiden gehen ruhig nebeneinander her?“, fragte der Gentleman.

Da der Kutscher bereits die Straße zum Dorf hinunterstapfte, war niemand da, an den er seine Frage gerichtet haben könnte. Offenbar meinte er daher wohl sie.

Kate blieb stehen, wagte aber nicht, zu antworten. Ihre Stimme würde sie als Dame verraten, auch in dem derben Umhang. Sie schüttelte den Kopf.

Der Klepper zeigte sein braunes Gebiss. Deutlicher hätte er seine Warnung nicht zum Ausdruck bringen können, die lautete: Bleib mir vom Leib. Ich bin ein gefährlicher Hengst!

Der Fremde blickte von einem Tier zum anderen und gab selbst die Antwort. „Ich fürchte nicht.“ Ein belustigtes Lächeln umspielte seine Lippen, als sein Blick Kate erneut erfasste, die wie angewurzelt dastand.

In diesen Augen blitzte eine rastlose Vitalität. Seine Stimme und sein nonchalantes Selbstvertrauen weckten wieder dieses unbestimmte Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses in ihr. Sie glaubte, ihn zu kennen.

Vermutlich wollte sie nur einen Mann wie ihn kennen, und dieses Gefühl der Vertrautheit war lediglich Einbildung. An einen Mann wie ihn würde sie sich erinnern.

Sein Gesicht, soweit es unter dem breiten Hut und dem struppigen Bart zu sehen war, wirkte sonnengebräunt. Seine Schultern waren breit, allerdings nicht durch wattierte Schulterblätter künstlich erweitert. Gemächlich schlenderte er in Kates Richtung.

Nein, einen Mann wie ihn hätte sie nicht vergessen. Sein unverwandt auf sie gerichteter Blick alarmierte sie. Beinahe so, als kenne er ihre Geheimnisse, als mache er sich darüber lustig.

„Tja“, erklärte er heiter, „wir sitzen ganz schön in der Tinte, Mylady.“

Mylady? Eine Dame trug keinen kratzenden grauen Wollumhang und versteckte ihr Gesicht nicht unter Dienstbotenhaube und Kapuze. Hatte er ihr elegantes Kleid unter dem Umhang bemerkt, als er sie auf die Mauer hob? Oder wusste er von Anfang an, wer sie war?

Er musterte sie in typisch männlich abschätzender Art von Kopf bis Fuß, ehe er den Blick wieder auf ihr Gesicht richtete.

Es wäre töricht, sich zu wünschen, er hätte sie nicht angefasst und sie stattdessen von den Pferdehufen niedertrampeln lassen. Allerdings wünschte sie, er würde endlich seiner Wege gehen. Wenigstens verzichtete er auf eine abfällige Bemerkung über ihre Verkleidung. Stattdessen …

„Diese Situation“, fuhr er fort und machte eine ausladende Geste mit der Hand, in der er die Zügel des soeben erstandenen Pferdes hielt, „erinnert mich an eines dieser kniffligen Rätsel, die ein Freund aus meiner Studentenzeit in Oxford gerne zu stellen pflegte. Ein Schafhirte, drei Schafe und ein Wolf müssen einen Fluss überqueren in einem Boot, in dem nur Platz für zwei ist …“

Erkenntnis und damit verbundene Enttäuschung fassten Wurzel. Kein Wunder, dass er ihr keine peinlichen Fragen über ihre Vermummung und ihre fehlende Begleitung gestellt hatte. Er gehörte zum Kreis jener Herren, die eine Wette über Lady Carhart abgeschlossen hatten. Er sprach in einem beiläufigen, beinahe vertraulichen Ton mit ihr, zu dem allerdings das förmliche Mylady nicht passen wollte. Sie entsann sich seiner Hände um ihre Mitte und der flüchtigen Körperberührung, die sie im Moment des Schreckens lediglich als kurzen Kontakt mit gestählten Muskeln wahrgenommen hatte. Im Nachhinein prickelte ihre Haut an den Stellen, wo er sie berührt hatte, als wecke die Erinnerung geheime Sehnsüchte in ihr.

Wenn er sie also gut genug kannte, um den Versuch zu wagen, eine Wette zu gewinnen, würde er auch Klatsch über sie verbreiten. Gerüchte würden in den Salons kursieren und über kurz oder lang Harcroft zu Ohren kommen. Nun ging es nicht länger darum, ob Harcroft von ihren Eskapaden erfuhr, sondern nur noch darum, wie und wann.

Kate bemühte sich, einen klaren Kopf zu bewahren. Es galt unbedingt zu vermeiden, dass diese Situation und ihre Verkleidung mit ihrem Geheimnis in Verbindung gebracht wurden. Sie straffte die Schultern.

„Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um alberne Rätsel zu lösen“, erklärte sie kühl. „Sie wissen, wer ich bin.“

Verdutzt sah er sie an, rieb sich das bärtige Kinn und schüttelte den Kopf. „Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Das wusste ich in der Sekunde, als ich meine Hände um ihre Taille legte.“

Kein wahrer Gentleman hätte je gewagt, eine derart anzügliche Anspielung zu machen. Allerdings hätte ein wahrer Gentleman auch nicht den Wunsch in ihr geweckt, ihre Hände an die Stellen zu pressen, die er vor Kurzem berührt hatte.

Sie schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln, das er nach kurzem Zögern in gleicher Weise erwiderte. Kate hob die Hand und lockte ihn mit gekrümmtem Zeigefinger. Er trat einen Schritt näher.

„Sie denken an diese Wette, nicht wahr?“

Verdutzt blieb er stehen und schüttelte den Kopf. Kate ließ sich durch seine gespielte Begriffsstutzigkeit nicht ins Bockshorn jagen. Sie hatte im Lauf der Jahre zu viele Varianten plumper Annäherungsversuche durchschaut.

„Sie ist seit zwei Jahren Stadtgespräch, machen Sie mir also nichts vor“, entgegnete sie spitz. „Und Sie …“, nun stocherte sie mit dem Zeigefinger gegen seine Brust. „Sie haben es darauf angelegt, die Wette zu gewinnen und die fünftausend Pfund einzustreichen.“

Seine Miene verfinsterte sich.

„Schon gut“, fuhr Kate spöttisch fort. „Ich weiß, eine Dame mischt sich nicht in Männerangelegenheiten ein, wobei Sie es nicht verdienen, als Gentleman bezeichnet zu werden, wenn Sie sich auf das schändliche Spiel eingelassen haben, mich verführen zu wollen.“

Er straffte die Schultern und starrte sie verständnislos an. „Sie verführen? Aber …“

„Bringe ich Sie etwa in Verlegenheit?“, höhnte sie erzürnt. „Habe ich Ihren Stolz mit meiner Offenheit verletzt? Nun können Sie sich vielleicht denken, wie mir dabei zumute ist, wenn meine Tugend Gesprächsstoff in der Londoner Gesellschaft ist.“

„Aber …“

„Sparen Sie sich Ihre Ausflüchte. Sagen Sie die Wahrheit. Haben Sie mir aufgelauert, um mich in Ihr Bett zu locken?“

„Nein!“, widersprach er gekränkt. Dann presste er die Lippen aufeinander, als habe er einen bitteren Geschmack im Mund. „Um aufrichtig zu sein“, fuhr er schließlich leise fort, „und wenn ich es mir recht überlege, ja. Aber …“

„Meine Antwort lautet: nein, danke. Ich habe alles, was eine Frau sich wünschen kann.“

„Tatsächlich?“

Eindringlich sah er sie nun an. Sie überlegte, mit welchen Worten er seinen Freunden diese Begegnung schildern würde. Er würde den Schwerpunkt auf ihre Argumente legen, nicht auf ihre Kleidung. Harcroft würde davon erfahren, ohne Verdacht zu schöpfen. Es wäre lediglich der Bericht eines weiteren Mannes, der sein Ziel nicht erreicht hatte.

„Ich führe ein erfülltes Leben“, erklärte sie und zählte ihre Argumente an den Fingern ab. „Ich beschäftige mich mit karitativen Aufgaben, habe einen wohlmeinenden Vater, der mich nicht in meiner Freiheit beschränkt, verfüge über ausreichende finanzielle Mittel und …“ Sie tippte gegen ihren kleinen Finger und schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln. „Ach ja … und mein Ehemann hält sich sechstausend Meilen von mir entfernt in China auf. Wieso, in Gottes Namen, glaubt ihr Narren also, ich könnte den Wunsch haben, mir das Leben mit einer schmutzigen Liebesaffäre zu erschweren?“

Er stutzte, dann strich er sich versonnen das bärtige Kinn. „Wissen Sie“, sagte er ruhig, „mein Rechtsanwalt hatte recht. Ich hätte mich vorher rasieren sollen.“

„Seien Sie versichert, eine Rasur hätte Sie auch nicht zum Ziel gebracht.“

„Es geht nicht um den Bart.“ Er ballte die Hand zur Faust und öffnete sie wieder.

Kate registrierte seine Verlegenheit mit grimmiger Genugtuung. Es war nicht gerade fair, alle Männer für die Verfehlungen ihres Ehemanns zur Rechenschaft zu ziehen. Aber dieser Fremde hatte die Absicht, sie zu verführen, und sie war nicht geneigt, Nachsicht mit ihm zu üben. „Habe ich Sie aus der Fassung gebracht? Sie wirken ein wenig verwirrt“, sagte sie in der Überzeugung, ihn durchschaut zu haben. „Und töricht. Tölpelhaft. Darin gleichen Sie beinahe meinem auf Abwege geratenen Ehemann.“

„Nun ja, damit berühren Sie einen wunden Punkt.“ Er sah sie beinahe zerknirscht an. Und dann trat er einen weiteren Schritt näher.

So nah, dass sie sehen konnte, wie sein Brustkorb sich beim Atmen hob und senkte. Er griff nach ihrer Hand. Es blieb ihr genügend Zeit, sie ihm zu entziehen. Das jedenfalls sollte sie, ließ ihn jedoch gewähren. Er nahm ihr Handgelenk zwischen Daumen und Zeigefinger, so behutsam, als greife er nach einem welken Blatt, das von einem Ast flatterte. Sein Finger legte sich an die empfindsame Stelle, wo ihr Puls klopfte. Und sie kam sich vor wie ein welkes Blatt, das in der Hitze seiner Berührung Feuer fing und verschmorte.

Sie musste fliehen, um ihre Überlegenheit wiederzugewinnen, die ihr plötzlich abhandengekommen war. Er lächelte wieder, und in seinen Augen lag ein wehmütiger Glanz. Und plötzlich wusste sie zu ihrem Entsetzen, was er als Nächstes sagen würde. Sie wusste, warum ihr seine Augen so ungewöhnlich vertraut erschienen.

Ja, sie kannte diesen Mann. Sie hatte sich dieses Wiedersehen in tausend verschiedenen Variationen ausgemalt. Manchmal hatte sie geschwiegen. Manchmal hatte sie ihm bittere Vorhaltungen gemacht. Und jedes Mal hatte sie ihn auf die Knie gezwungen, Entschuldigungen stammelnd, während sie hoheitsvoll auf ihn herabblickte.

Nun aber war nichts Hoheitsvolles an ihr. In keiner ihrer Fantasien hatte sie bei dem Wiedersehen einen verschlissenen, lehmbespritzten Wollumhang getragen.

Kate entriss ihm ihre Hand. Die Stelle, wo seine Finger sie berührt hatten, prickelte heiß.

„Weißt du“, erklärte er trocken. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dein Ehemann bin. Und ich bin keine sechstausend Meilen mehr von dir getrennt.“

2. KAPITEL

Sechstausend Meilen. Drei Jahre. Ned Carhart hatte sich eingeredet, bei seiner Rückkehr habe sich alles verändert.

Aber nein. Nichts hatte sich verändert – am allerwenigsten seine Gemahlin.

Sie starrte ihn mit offenem Mund an, entgeistert, als seien ihm zwei Köpfe gewachsen. Beklommen zog sie den Umhang enger um sich, zweifellos, um sich vor seinen Blicken zu schützen. Und damit kehrte alles wieder zurück – die abscheulichen Erniedrigungen in ihrer ganzen Wucht, die seine Seele verwundet hatten.

Ihr staubiger lehmbespritzter Umhang verbarg ihre Rundungen. Nach all den Jahren eiserner Beherrschung machte er diese Feststellung nahezu nüchtern. Ja, er hatte gelernt, seine Gefühle zu zähmen. Seine Seelenqualen ließen ihn nicht wie einen bissigen Hund an seiner Kette zerren.

Auf der anderen Seite war viel Zeit vergangen, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Aber zehn Minuten in Gegenwart seiner Frau genügten, um ihn wieder aus der Fassung zu bringen.

„Du hast mich tatsächlich nicht erkannt“, sagte er.

Sie starrte ihn an, beklommen und stumm.

Nein, natürlich nicht. Und ihr ungezwungener Plauderton? Den hatte sie sich für einen Fremden zurechtgelegt. Für einen Fremden, von dem sie angenommen hatte, er wolle sie verführen. Ned rieb sich den Bart.

„Zwei Jahre? Seit zwei Jahren kursiert eine Wette um deine Verführung?“

„Wundert dich das? Du hast mich drei Monate nach unserer Hochzeit verlassen.“ Abrupt wandte Kate sich ab und machte einige tiefe Atemzüge. Er konnte ihre gestrafften Schultern auch unter dem dicken Wollstoff erkennen. Und er wartete auf einen Ausbruch. Beschimpfungen, Vorhaltungen. Irgendetwas.

Als sie sich ihm wieder zuwandte, verrieten nur die weiß schimmernden Knöchel ihrer Finger, die sich in den Stoff krallten, etwas von ihrem inneren Aufruhr.

Sie lächelte wieder – dieses bezaubernde Lächeln. „Und ich hielt deine Abreise für ein Hornsignal, mit dem deine Freunde die Jagd auf mich eröffneten. Du hättest damit die Jagdsaison auf Lady Kathleen Carhart nicht wirkungsvoller eröffnen können, nicht einmal mit einer Annonce in den Klatschblättern.“

„Das lag gewiss nicht in meiner Absicht.“

Nein. Seine Absichten waren völlig anderer Natur gewesen. Als er seine Reise nach China angetreten hatte, war er jung und dumm gewesen. Zwar alt genug, um sich für erwachsen zu halten, aber nicht klug genug, um zu erkennen, dass er weit davon entfernt war, erwachsen zu sein. Seine Jugendjahre hatte er damit verbracht, den ausschweifenden zügellosen Nichtsnutz zu spielen, der gegen seinen redlichen sittenstrengen Cousin rebellierte.

Irgendwann hatte er dieses leere Dasein gründlich sattgehabt. Bei seiner Hochzeit war er vom Ehrgeiz beseelt, sich und der Welt zu beweisen, dass er kein leichtsinniger Grünschnabel war. Dass er jede Aufgabe meistern konnte, mochte sie noch so schwierig sein, und dass er zu einem starken verlässlichen Mann herangewachsen war.

Und diesen Beweis hatte er erbracht.

Eine Frau, zumal eine, die gelobt hatte, ihn zu ehren und zu lieben, stellte mit Sicherheit kein unüberwindliches Hindernis dar.

Ned sah Kate kopfschüttelnd an. „Nein“, wiederholte er. „Mit meinem Abschied wollte ich kein Signal geben. Mein Entschluss hatte ehrlich gestanden überhaupt nichts mit dir zu tun.“

„Oh.“ Ihre Lippen wurden schmal, sie blickte ins Leere. „Nun, gut zu wissen.“

Sie wandte sich ab und entfernte sich. Ned hatte das dumpfe Gefühl, etwas unendlich Dummes gesagt zu haben, ohne zu wissen, warum.

„Kate“, rief er ihr nach. Sie blieb stehen und drehte den Kopf halb über die Schulter. In ihrem Profil glaubte er einen gewissen Überdruss zu erkennen.

Er schluckte. „Diese Wette. Hat einer sie gewonnen?“

Sie zog die Schultern hoch, ließ sie jedoch wieder fallen, als gebe sie sich geschlagen. Dann drehte sie sich ihm zu.

„Mr Carhart.“ Sie nannte ihn zum ersten Mal mit spitzem Nachdruck beim Namen. „Wenn ich mich recht entsinne, habe ich eheliche Treue geschworen bis ans Ende meiner Tage.“

Er verzog das Gesicht. „Ich wollte deine Treue nicht infrage stellen.“

„Nein.“ Sie legte die Hände an ihre Hüften und blickte ihm in die Augen. „Und ich wollte dir lediglich ins Gedächtnis rufen, dass nicht ich es war, die unser Gelöbnis gebrochen hat.“

Damit richtete sie den Blick auf seine graue Stute, stieß einen Seufzer aus und wandte sich erneut zum Gehen. Ned drängte es, sie am Arm zu packen und zu zwingen, ihn anzusehen, wollte indes weder Verachtung noch Gleichgültigkeit in ihren Augen lesen.

Sie warf einen letzten Blick über die Schulter, während sie sich der grasenden Stute näherte. „Willst du eine Lösung deines Rätsels hören?“, fragte sie. „Besorg dir ein zweites Boot.“

Damit nahm sie die Zügel auf und schlang sie sich um die Hand. Bevor er etwas erwidern konnte, hatte sie sich wieder in Bewegung gesetzt und entfernte sich mit energischen Schritten.

Champions feindselige Haltung der Stute gegenüber ließ nicht zu, dass Ned neben Kate herging, ohne einen aggressiven Angriff zu riskieren. Also sah er sich gezwungen, hinter ihr herzutrotten wie ein geprügelter Hund.

Die englische Landschaft roch feucht nach Herbstlaub und Sonnenschein. Seine Gemahlin eilte mit weit ausholenden Schritten vor ihm her, als wolle sie seine Existenz für immer hinter sich lassen. Es war vermutlich töricht, zu glauben, die Morgenbrise trage ihm einen Hauch ihres Duftes zu – diesen halb vergessenen Duft nach feiner Seife und Flieder. Noch törichter war es, sich beim Anblick ihres Hüftschwungs zu fragen, was sich in seiner Abwesenheit sonst noch an ihr verändert haben mochte.

Ihr Haar, soweit es unter der Dienstbodenhaube sichtbar wurde, leuchtete immer noch hellblond. Ihre grauen Augen verdunkelten sich immer noch zu einer Gewitterfront, wenn sie wütend wurde. Und ihre Taille … es war nicht gelogen, als er sagte, er habe sie erkannt, als er seine Hände um ihre Mitte gelegt hatte. Er hatte sie nicht oft angefasst, aber die wenigen Male hatten genügt. Sie war von feingliedrigem elegantem Wuchs, und ihre grauen Augen waren von langen seidigen Wimpern bekränzt.

Damals war sie ihm wie ein Zauberwesen erschienen. Ein Schmetterling, dessen zarte Flügel zitternd in der Sonne schimmerten. Wenn sie lächelte, hatte Ned den Wunsch verspürt, es möge immer Juli bleiben, lauer Sommer und blauer Himmel. Instinktiv hatte er sich gegen die Verheißung eines ewigen Sommers gewehrt, hatte sich gescheut, mit einem Schmetterling über die bevorstehende Winterkälte zu sprechen.

Kaum vierundzwanzig Stunden wieder in England, erkannte er, welche Bedrohung seine Ehefrau für sein inneres Gleichgewicht darstellte. Ein Mann, der sich im Griff hatte, würde nicht den Drang verspüren, sie gegen eine bröckelnde Steinmauer zu pressen, am helllichten Tage. Ein Mann, der sich im Griff hatte, pflegte einen gesitteten und zuvorkommenden Umgang mit seiner Ehefrau.

Wie dem auch sei: Ned hatte sich mit einem Kapitän der Königlichen Marine auf eine Machtprobe eingelassen. Er hatte einem Offizier in der East India Company seinen Willen aufgezwungen. Er war nicht mehr der dumme Junge, der England verlassen hatte, um sich etwas zu beweisen. Und er hatte auf gar keinen Fall die Absicht, sich von läppischen Begierden seine hart erkämpfte Selbstdisziplin zerstören zu lassen.

Nach einer Weile bogen sie von der Landstraße in eine von Bäumen begrenzte breite Allee ein, die nach Berkswift führte, Neds Elternhaus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Kate lebte nun also in diesem Haus. Seltsam, dachte Ned, wie unser beider Leben sich trotz meiner Abwesenheit verflochten hat.

Von den Gartenbeeten, die vor dem kommenden Winter umgegraben worden waren, wehte würziger Geruch nach feuchter Erde herüber. Noch ehe das Herrenhaus in Sicht kam, sah Ned die rötlich gelbe Sandsteinfassade der drei Flügel vor seinem inneren Auge sowie das weite Halbrund der Kiesauffahrt, die zu dieser frühen Morgenstunde noch unbelebt wäre.

Als sie jedoch den Birkenhain hinter sich gelassen hatten, stellte er fest, dass vor dem Haus bereits reges Treiben herrschte. Dienstboten eilten geschäftig hin und her, drei elegante schwarze Reisekarossen standen im Halbrund der Auffahrt. An der letzten Kutsche konnte Ned ein Wappen erkennen: Silberlöwen auf blauem Grund.

Kate war jäh stehen geblieben, in gespannter Haltung, die ihn an die Haltung eines Duellanten erinnerte, der seinen Gegner ins Visier nahm. Als er neben sie trat, warf sie ihm einen scharfen Blick zu.

„Hast du ihn eingeladen?“ Sie wies mit dem Arm auf das Wappen der letzten Karosse. „Hast du ihn in dieses Haus eingeladen?“ Sie hatte die Stimme nicht erhoben, nur ihr Ton klang heller, spitzer.

„Ich bin selbst erst vor wenigen Stunden in England angekommen.“

„Das ist keine Antwort. Hast du Harcroft eingeladen?“

Sie sprach von Eustace Paxton, Earl of Harcroft, verwandt mit beinahe jedem britischen Adelshaus, und sei es nur über sieben Ecken. Harcroft war Neds Cousin zweiten Grades väterlicherseits. Die beiden verband eine jahrelange, wenn auch eher lose Freundschaft. Eustace hatte in noch jüngeren Jahren geheiratet als Ned. Und kurz vor seiner Abreise nach China hatten Lord und Lady Harcroft Ned einen gewissen Gefallen erwiesen.

Kate fixierte ihn scharf.

„Nein“, antwortete er gedehnt. „Der einzige Mensch, mit dem ich gesprochen habe, war mein Rechtsanwalt.“ Selbst wenn die Nachricht seiner Rückkehr sich wie ein Lauffeuer verbreitet hätte, was keineswegs auszuschließen war, konnte Ned sich nicht erklären, wieso Harcroft sich vor Morgengrauen hätte wecken lassen sollen, um noch vor ihm in Berkswift einzutreffen, noch dazu in einer langsameren und schwerfälligen Reisekutsche.

Missbilligend furchte Kate die Stirn, als habe Ned einen Fauxpas begangen, was gleichfalls nicht auszuschließen war. Acht Monate auf einem Schiff, und ein Mann vergaß so manche Gepflogenheiten feiner Lebensart.

„Ich glaube, ganz vorne steht Jennys und Gareths Wagen. Vielleicht sind die beiden in Harcrofts Begleitung?“ Er sprach von seinem Cousin Gareth Carhart, Marquess of Blakely, und seiner Gemahlin Jennifer, der Marchioness.

Kate strich sich fahrig über den weiten Umhang, als wolle sie eine ansteckende Krankheit wegwischen, die Ned eingeschleppt haben könnte.

„Lord und Lady Blakely“, erklärte sie spitz, „sind mir jederzeit willkommen.“ Sie richtete den Blick in die Ferne und stieß den Atem hörbar aus.

Louisa und ihren Gemahl erwähnte sie mit keinem Wort. Vor Neds Abreise schienen die beiden Frauen sich angefreundet zu haben. Anscheinend war es in seiner Abwesenheit zu einem Zerwürfnis gekommen.

Wieder holte Kate tief Atem und straffte die Schultern. Es war, als habe sie ihre Lunge mit Sonnenschein gefüllt. Ihre Miene hellte sich auf, ihre Augen strahlten, die Haltung entspannte sich. Hätte er ihren Unmut, ihr Missbehagen nicht vor ein paar Sekunden von ihrem Gesicht abgelesen, hätte er ihr den plötzlichen Stimmungswechsel geglaubt. „Wie schön“, erklärte sie munter. „Unerwartete Hausgäste. Was für ein Vergnügen.“

Im Gehen übergab sie die Zügel der Stute einem Stallburschen, der herbeigeeilt war, und strebte dem Haus zu.

3. KAPITEL

Kate war zum Kampf gerüstet. Sie hatte ihr schönstes roséfarbenes Vormittagskleid mit zartem Spitzenbesatz an Ärmeln und Ausschnitt gewählt und war bereit, sich jeder Herausforderung zu stellen.

Auf der Treppe zur Halle war die Unterhaltung der Gäste aus dem Salon als undeutliches Murmeln zu hören, das sie an entferntes Donnergrollen erinnerte.

Nervös tastete sie nach dem Perlenkollier ihrer Mutter, das ihren Hals wohltuend kühl umspannte, schöpfte Kraft daraus und fühlte sich siegesgewiss. Harcroft würde sie verspotten, könnte er ihre Gedanken lesen. Er würde ihre elegante Erscheinung als Putzsucht und weibliche Eitelkeit abtun – die einzigen Interessen einer Frau. Dieser ausgemachte Trottel.

Zugegeben, der Besuch eines Modesalons trug dazu bei, eine Frau für allerlei Enttäuschungen zu entschädigen. Modetorheiten hin oder her, diese Begegnung kündigte einen erbitterten Kampf an, mochte er auch mit den fein geschliffenen Waffen höflicher Konversation ausgefochten werden.

Vor der Tür zum Salon verharrte sie, um sich zu sammeln.

„Kate.“

Die Stimme hinter ihr – diese tiefe, nunmehr vertraute Stimme – drang störend in ihre innere Sammlung. Sie fuhr herum. Dabei löste sich eine Locke aus ihrer kunstvoll hochgesteckten Frisur und wippte an ihrer Wange.

„Ned.“ Die Kurzform, die Familie und Freundeskreis benutzte, entschlüpfte ihr. Dabei hatte sie sich vorgenommen, ihn distanziert bei seinem formellen Vornamen Edward anzusprechen. Kate tadelte sich im Stillen wegen ihres unbedachten Verhaltens. Fehlte nur noch, dass er ihren jagenden Herzschlag hörte, der gegen ihre Rippen trommelte und ihren Gemütsaufruhr verriet. Oder dass er ihre bleichen Wangen und blutleeren Lippen wahrnahm.

„Ich dachte, du wärest mir zuvorgekommen.“ Sie hatte beabsichtigt, einen vorwurfsvollen Ton anzuschlagen, stattdessen klangen ihr die eigenen Worte ein wenig atemlos in den Ohren. „Ich war mir sicher, du hättest es eilig, den Marquess und die Marchioness of Blakely zu begrüßen, natürlich auch Harcroft.“

„Ich habe mich beeilt, so gut ich konnte.“ Sollte das stimmen, so war ihm nichts davon anzumerken, während Kate sichtlich Mühe hatte, ruhig zu atmen.

Er schien keineswegs verwundert, sie vor der Tür zum Salon vorzufinden. Vielmehr schmunzelte er, als habe er einen Scherz gemacht, den sie nicht nachvollziehen konnte. „Aber ich musste mich rasieren.“

„Das sehe ich.“

Ein weiterer Grund, warum ihr närrisches Herz bis zum Hals klopfte. Nun konnte sie sein unbefangenes Lächeln und seine glatt rasierten Gesichtszüge genau sehen, die nur eine entfernte Ähnlichkeit mit denen des Mannes vor drei Jahren aufwiesen. Der Mann, den Kate geheiratet hatte, war ein schlaksiger, hoch aufgeschossener, kaum erwachsener Jüngling gewesen. Und diese Jungenhaftigkeit hatte einen Teil seines Charmes ausgemacht.

Die Jahre hatten seine kindlichen Gesichtszüge modelliert und gefestigt. Er trug das Kinn nicht mehr in steter Rechtfertigung gereckt. Seine Wangen hatten die jugendliche Weichheit verloren, die Kinnpartie war markant ausgeprägt. Sein Blick flog nicht mehr unstet hin und her, sondern war in unverwandtem Selbstvertrauen auf sie gerichtet. Die einst auffallend ausgeprägte Nase passte nun zu den kantig männlichen Gesichtszügen, die eine zielstrebige Wachsamkeit ausstrahlten.

Früher hatte er linkisch gewirkt, schien ständig über seine großen Füße zu stolpern. In den letzten Jahren war er gleichsam in diese Füße hineingewachsen. Seine einst ungelenke, täppische Haltung war einer dynamischen Tatkraft gewichen, einer verwegenen Vitalität, die durch die sonnengebräunte Haut noch unterstrichen wurde.

Ihr Ehemann war nicht mehr gefahrlos für sie.

„Wollen wir die Gäste gemeinsam begrüßen?“ Er bot ihr seinen angewinkelten Arm.

Selbst diese kleine Geste weckte ungebetene Erinnerungen. Hatte er früher seine langen Arme eng an die Seiten gepresst, als müsse er sich entschuldigen, zu viel Platz einzunehmen, schien seine Präsenz nun mehr Raum einzunehmen, als sein Körper beanspruchte. Ihr war, als vollbringe sie eine Heldentat, als sie ihre Finger in seine Armbeuge legte. Eine Aura beklemmender Gefahr schien von ihm auszugehen. Mache einen weiten Bogen um diesen Mann, warnte eine innere Stimme.

Tapfer umschloss sie mit den Fingern den feinen Stoff seines Ärmels und spürte die männliche Kraft darunter.

„Ich glaube kaum, dass unser gemeinsamer Auftritt unsere Gäste täuschen kann.“ Sie zwang sich, den Kopf zu heben und seinem klaren Blick zu begegnen. „Wenn jemand die Wahrheit über unsere Ehe kennt, so sind es die Menschen in diesem Salon.“

Er legte den Kopf schräg. „Und was ist die Wahrheit über unsere Ehe, Kate?“

Seine Frage war ernst gemeint, denn er schmunzelte nicht und zog die Brauen nicht hoch. Als wüsste er nicht Bescheid. Seine gespielte Ahnungslosigkeit versetzte Kate einen schmerzhaften Stich in der Brust.

„Unsere Ehe dauerte nur ein paar Monate. Nach deiner Abreise verblasste das, was davon übrig war, schneller als die Tinte auf unserer Heiratsurkunde. Und der Rest … nun ja, der Rest könnte beim leisesten Windhauch verwehen.“

„Wenn du meinst.“ Er klang aufrichtig. „Dann versuche ich, nicht zu heftig auszuatmen.“

„Lass es gut sein. Ich habe schon vor Jahren aufgehört, den Atem anzuhalten.“

Auch als unreifer Jüngling war er ihr gefährlich gewesen. Sie hatte gelitten, als er gegangen war. Nun keimte eine törichte Hoffnung in ihr auf. Das lächerliche Flüstern eines Gedankens, der ihr einreden wollte, aus ihrer Ehe könnte doch noch etwas werden.

Die wirkliche Gefahr ging nicht von seinem markanten Gesicht oder den sehnigen Muskeln unter ihren Fingern aus. Nein. Wie immer lauerte die Gefahr in ihren eigenen Hoffnungen und Begierden. Es war dieses sehnliche Flüstern, eine Liste, die damit begann: Schritt eins – suche ein seidenes Nachthemd …

Diese kindisch naiven Wünsche würden sich ungebeten wieder einstellen, wenn sie nicht aufpasste.

Mittlerweile galt es allerdings, weit wichtigere Geheimnisse zu hüten als bloß einen durchsichtigen Seidenfetzen.

„Dann wollen wir“, sagte er. „Unsere Gäste warten.“ Damit legte er seine Hand mit sanftem Druck in einer Geste der Zuversicht über ihre Finger. Er wusste nicht, was sie beide erwartete. Kate verdrängte das Flattern in ihrer Magengegend und betrat an seiner Seite den Salon.

Nach dem Halbdunkel der Halle schlug ihr das helle Morgenlicht grell in die Augen. Die Gespräche verstummten, jedes Geräusch erstarb in der verblüfften Stille. Dann das Rascheln seidener Röcke. Ein violetter Wirbel huschte an Kates Gesicht vorbei, und ehe sie blinzeln oder ihre Fassung wiedererlangen konnte, warf eine in Seide gekleidete Dame sich in Neds Arme und trennte sie von ihrem Ehemann.

„Ned, du Scheusal“, rief die Dame. „Keine Nachricht, kein Sterbenswörtchen von deiner Rückkehr. Wann hattest du bitteschön vor, uns davon in Kenntnis zu setzen?“

„Ich bin gerade erst angekommen“, erklärte Ned entschuldigend. „Das heißt, letzte Nacht. Du findest meine Nachricht bei deiner Heimkehr.“

Bei der Dame handelte es sich um Jennifer Carhart, Marchioness of Blakely, die Gemahlin seines Cousins. Eine von Neds engsten Freundinnen, wie er Kate kurz nach der Hochzeit anvertraut hatte. „Du hast mir gefehlt“, erklärte Lady Blakely einschmeichelnd.

Sie war hübsch, dunkelhaarig und klug, und Kate verspürte einen unangebrachten Stich des Grolls. Keine Eifersucht, nicht im üblichen Sinne. Sie beneidete Lady Blakely nur um ihren vertraulichen Umgangston mit ihrem Ehemann.

Als die Marchioness sich aus seinen Armen löste, trat der Marquess vor. „Ned.“

„Gareth.“ Ned ergriff seine dargebotene Hand. „Glückwunsch zur Geburt deiner Tochter. Meine Wünsche kommen zwar reichlich spät, aber ich erfuhr die freudige Botschaft erst heute früh von meinem Rechtsanwalt.“

„Vielen Dank.“ Der Marquess warf Kate einen flüchtigen Seitenblick zu, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. „Lady Kathleen.“

Ned, der die kleine Unhöflichkeit natürlich nicht bemerkte, schlug seinem Cousin kameradschaftlich auf die Schulter. „Allerdings würde ich es sehr begrüßen, wenn du schleunigst einen Erben zeugst. Ich fühle mich nicht sonderlich wohl, ständig an deinem Haken zu hängen.“

„Lass nur“, entgegnete Lord Blakely knapp, während sein Blick den seiner Frau suchte, die ihm einen sanften Rippenstoß versetzte. „Nein“, fuhr er leise seufzend fort. „Aber danke für deine Wünsche. Ich reiße mich nicht um einen männlichen Nachkommen und liebe meine kleine Prinzessin abgöttisch. Du und deine Angetraute, ihr könnt den verdammten Titel gern haben, wenn ich einmal nicht mehr bin.“ Sein Blick flog wieder zu Kate, als sei es irgendwie ihre Schuld, keine Zwillingsknaben zur Welt gebracht zu haben, während ihr Ehemann eine halbe Erdkugel von ihr entfernt war.

Autor

Courtney Milan
„Ich liebe es, historische Romane zu schreiben“, sagt Erfolgsautorin Courtney Milan. „Ganz besonders faszinieren mich die Regency und viktorianische Epoche. In diesen Jahren hat sich unglaublich viel verändert. Und genau darin gleicht diese Zeit unserer heutigen. Die Traditionen verlieren an Gültigkeit. Und viele Menschen müssen neue Wege gehen.“ Courtney Milans...
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