Annabelle und der Schwur des Viscounts

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Fast ein Märchen? Leo Ashburton bittet die verarmte Lady Annabelle Hummingford um ihre Hand! Doch nicht etwa aus romantischer Liebe – Leo muss verheiratet sein, um den Viscount-Titel samt Vermögen zu erben. Und die unscheinbare Annabelle ist genau die Richtige für eine kühle Vernunftehe. Aber kaum sind sie verheiratet, entwickelt sich seine schüchterne Gattin zu einer patenten Partnerin und begehrenswerten Schönheit! Nach dramatischen Verlusten in seinem Leben hat Leo sich geschworen, nie wieder zu lieben – doch sein heißes Verlangen nach Annabelle bringt diesen Schwur in größte Gefahr …


  • Erscheinungstag 30.04.2024
  • Bandnummer 400
  • ISBN / Artikelnummer 0814240400
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

Eastbourne, 1815

Liebe Beth,

weißt Du noch, dass ich Dir versprochen habe, nie wieder aus einem Fenster zu klettern? Nun ja …

Annabelle hielt einen Moment inne, strich über die seidige Tapete und schloss die Augen. Die vergangenen Tage waren hektisch und arbeitsreich gewesen. Sie hatte ihre letzten Besitztümer zusammengepackt und die Möbelkarren organisiert, die alles in das kleine Cottage am Meer bringen würden, das ihre Mutter und sie gemietet hatten. Annabelle hatte während des Sortierens und Auflistens kaum eine Pause gemacht und die ganze Zeit über versucht, ihre tiefe Trauer darüber zu ignorieren, dass sie das Zuhause ihrer Kindheit verlassen musste.

„Es ist ein Neuanfang“, murmelte sie vor sich hin, löste die Fingerspitzen von der Tapete und zwang sich dazu, den Raum entschlossenen Schritts zu verlassen.

„Ich habe meine Meinung geändert“, verkündete Lady Hummingford, als Annabelle nach unten kam, wo Mr. Lennox und Mr. Hardy mit einem gewaltigen Mahagonischreibtisch kämpften. Die beiden Männer aus dem Dorf waren damit beauftragt worden, die schweren Stücke zu transportieren, und erst vor ein paar Minuten hatte Annabelle gesehen, wie sie den Tisch hinausgetragen hatten, doch jetzt brachten sie ihn durch die Eingangstür wieder herein.

Rasch zog Annabelle ihren Schleier herab, der ihr Gesicht vor den beiden Männern und praktischerweise auch gleich ihr Augenrollen über das Verhalten ihrer Mutter verbarg.

„Mr. Lennox, Mr. Hardy, wären Sie so gut und würden mich einen Moment mit meiner Mutter unter vier Augen sprechen lassen? Wenn Sie außerdem so freundlich wären, den Schreibtisch wieder hinaus zum Karren zu bringen, können Sie sich danach gerne eine kleine Erfrischung aus der Küche holen. Sie arbeiten so hart.“ Halb erwartete sie schon, ihre Mutter würde protestieren, doch Lady Hummingford schwieg, während die Männer abermals hinausgingen.

„Es ist einfach lächerlich, dass wir ausziehen, bevor das Haus überhaupt verkauft ist, Annabelle. Wir können noch monatelang hier wohnen.“

„Wir können uns den Unterhalt nicht leisten. Wir können uns das Personal nicht leisten. Wir können uns nicht einmal das Feuerholz leisten.“ Annabelle ging einen Schritt auf ihre Mutter zu und streckte die Hand aus. Dies hier mochte ihr Kindheitszuhause sein, ihr Zufluchtsort, den sie während der vergangenen fünfzehn Jahre nur wenige Male verlassen hatte, doch für ihre Mutter war es der Ort, an dem sie Annabelles Vater kennengelernt hatte. Wo sie eine Familie gewesen waren. Wo sie um ihn getrauert hatte. Annabelle durfte nicht vergessen, dass dies hier für ihre Mutter ebenso schwer war wie für sie selbst. „Das Cottage ist gemütlich, und es liegt wirklich schön. Ich glaube, wenn du ihm eine Chance gibst, dann können wir dort sehr glücklich sein.“

Lady Hummingford gab ein abfälliges Schnauben von sich und wandte sich ab. Annabelle biss die Zähne zusammen, damit sie nichts sagte, was sie später vielleicht bereuen würde.

„Was ich nicht verstehe, ist, warum Mr. Ashburton den Unterhalt für dieses Haus nicht noch ein paar Monate länger zahlen kann, bis es verkauft ist, anstatt der Miete für das neue Cottage.“

Aus Vernunftgründen blieb Annabelle die Antwort schuldig. Sie wusste nur zu genau, warum. Birling View war ein schönes Anwesen, auf den Klippen der South Downs gelegen, mit ungehindertem Blick über das Meer. Man sah dem Haus die leichte Vernachlässigung während der vergangenen paar Jahre an, als sie kein Geld und kein Personal mehr gehabt hatten, um alles instand zu halten. Trotzdem würde es nicht schwer werden, den richtigen Käufer zu finden, der bereit war, etwas Zeit und Geld in das Haus zu investieren, damit es wieder in seinem alten Glanz erstrahlte.

Das Problem war nur, dass Annabelles Mutter nicht gehen wollte und sämtliche Interessenten mit Sicherheit auf jede einzelne Schwachstelle des Anwesens aufmerksam machen würde. Erst letzte Woche war Lord Warner vorbeigekommen, um sich umzusehen, und er schien regelrecht begeistert von dem Haus gewesen zu sein. Nach fünf Minuten in Lady Hummingfords Gesellschaft war er jedoch davongeeilt und hatte dabei irgendetwas über einsinkende Dächer und nachgebende Wände vor sich hin gemurmelt.

Mr. Ashburton, der Bruder des Mannes, der gerade ihre geliebte Schwester Beth geheiratet hatte, war seinem Versprechen, ihnen bei allen praktischen Dingen des Verkaufs zu helfen, treu geblieben. Beth und ihr neuer Mann Josh Ashburton waren direkt nach der Hochzeit mit dem Schiff nach Indien aufgebrochen, doch Mr. Leonard Ashburton hatte ihnen angeboten, den Verkauf zu überwachen und Annabelle und ihre Mutter in einem kleineren Haus einzurichten. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, hatte er die Miete für die ersten Monate bezahlt und die dringlichsten Schulden beglichen. Mr. Ashburton war es gewesen, der Annabelle beiseitegenommen und ihr erklärt hatte, dass sie Birling View niemals verkaufen würden, solange Lady Hummingford noch dort wohnte und ihr Bestes tat, um jeden Interessenten zu verschrecken. Widerstrebend hatte Annabelle zugestimmt, und hier waren sie nun, so gut wie bereit, ihr Heim endgültig zu verlassen.

„Hast du deine persönlichen Dinge zusammengepackt, Mutter?“

„Ja“, gab Lady Hummingford angespannt zurück. Annabelle drückte die Hand ihrer Mutter und versuchte, ihr zu zeigen, dass sie ihren Schmerz und ihre Zerrissenheit verstand, doch Lady Hummingford senkte nur den Blick und ging wortlos davon.

Annabelle versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie verletzt sie war, als sie hinausging, um nachzusehen, wie es mit dem Beladen des Möbelkarrens voranging.

Auf Mr. Ashburtons Rat hin ließen sie den Großteil der Möbel in Birling View zurück. In ihr neues Cottage würden nur ein paar wenige Stücke passen, und ein so riesiges Haus wie dieses würde sich besser verkaufen, wenn die Räume möbliert waren. Es war schwer gewesen, zu entscheiden, was sie mitnehmen und was sie zurücklassen sollten, und vermutlich würden sie ihr neues Cottage trotz aller Zurückhaltung bei ihrer Ankunft hoffnungslos vollgestopft vorfinden.

Gerade prüfte Annabelle vor dem Haus, ob die Möbel auch gut mit Seilen gesichert waren, als sie hörte, wie sich das Getrappel von Hufen näherte. Kurz darauf bog eine Kutsche in die Einfahrt ein, und sie schickte ein Dankgebet an alle, die offenbar die Hand über sie hielten. Mr. Ashburton hatte ihr versprochen, seine Kutsche zu schicken, damit ihre Mutter darin in ihr neues Zuhause gebracht werden konnte. Als die Kutsche bisher nicht aufgetaucht war, hatte sie schon befürchtet, sie müsste ihrer Mutter erklären, dass sie auf dem Möbelkarren mitfahren sollte. Ihre eigene Kutsche hatten sie schon vor Monaten verkauft, und vor einer Woche waren zu Annabelles großem Kummer auch die Pferde von ihrem neuen Besitzer abgeholt worden. Sie hatte das Gesicht schluchzend in die Mähne ihrer Stute geschmiegt, und das weiche Fell hatte ihre Tränen aufgesaugt.

„Ah, gut“, sagte Lady Hummingford, trat in die warme Julisonne hinaus und streifte ihre Handschuhe über. „Die Kutsche ist endlich da.“

„Ich muss noch ein letztes Mal nachsehen, ob im Haus alles in Ordnung ist, bevor wir abfahren, Mutter.“

Ihre Mutter spielte mit dem schweren Schlüsselbund herum und tippte sich damit gegen das Bein. „Du solltest lieber auf dem Karren mitfahren, Annabelle. Damit unsere Besitztümer die Fahrt auch sicher in einem Stück überstehen. Der Himmel weiß, dass uns wenig genug übrig geblieben ist.“

Annabelle versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie diese Bemerkung verletzte. Seit Jahren wurde sie von ihrer Mutter bereits kleingehalten und abgelehnt. Sie wurde behandelt, als wäre sie ihrer Mutter unangenehm, peinlich. Dieser Vorschlag, dass sie bei den Möbeln besser aufgehoben war, sollte sie also nicht überraschen, aber weh tat es trotzdem.

„Ich warte lieber in der Kutsche. Lass mich wissen, wenn du im Haus fertig bist, damit ich abschließen kann.“

„Ja, Mutter.“

Annabelle kämpfte mit den Tränen, während sie die Stufen hinauf und ins Haus eilte. Leise schloss sie die Eingangstür hinter sich und ließ die Stirn gegen das kühle, harte Holz sinken. Sie dachte daran, dass sie dies hier selbst gewählt hatte, es war ihre Entscheidung gewesen. Bevor Beth nach Indien aufgebrochen war, hatte sie Annabelle ein weiteres Mal gedrängt, mit ihr und ihrem neuen Ehemann zu kommen, wenn sie Segel in ein neues Leben setzen würden.

„Wie dumm von dir“, murmelte Annabelle zu sich selbst. Sie könnte jetzt in diesem Moment Arm in Arm mit ihrer geliebten Schwester über das Deck des Schiffs schlendern. Stattdessen riss sie sich hier schier ein Bein aus, um ihren Abstieg in den verarmten Adel abzumildern.

Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und hob das Kinn. Jetzt war nicht die Zeit dafür, Trübsal zu blasen. Es gab zu viel zu tun. Später, wenn sie an diesem Abend in ihrem Bett im Dachzimmer des Cottages lag, konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen und in Selbstmitleid baden, aber jetzt musste sie sich davon überzeugen, dass nicht versehentlich etwas Wichtiges hier zurückblieb.

Langsam durchschritt sie die Räume und versuchte, dabei nicht an die vielen guten Zeiten zu denken. Der Platz im Gesellschaftszimmer, wo Beth und sie immer zusammengesessen, gestickt und gekichert und kleine Streiche für ihre Gouvernante ausgeheckt hatten. Die behaglichen Sessel in der Bibliothek, wo sie sich so gern zwischen den Seiten eines der zahllosen Bücher verloren hatte, gemütlich eingerollt und für einen Augenblick in der Lage, ihren Platz in der Welt zu vergessen. Dann war da das Schlafzimmer, das sie sich mit Beth geteilt hatte. Das schwere Himmelbett, in dem sie Nacht für Nacht gelegen und sich ihre Hoffnungen und Träume zugeflüstert hatten.

Es war kathartisch, so noch einmal durch das Haus zu gehen, und Annabelle wünschte, sie könnte länger in dieser Stille verweilen, doch sie wusste, dass es die Männer aus dem Dorf eilig haben würden, weil sie endlich nach Eastbourne aufbrechen wollten. Außerdem wurde vermutlich auch ihre Mutter zunehmend ungeduldig.

Als sie langsam die Treppe wieder hinunterschritt, hörte sie auf einmal das schwere Klicken des einrastenden Schlosses an der Eingangstür, gefolgt von dem unverkennbaren Kratzen, mit dem ein Schlüssel abgezogen wurde. Sie erstarrte.

Einen Moment lang konnte sie sich nicht rühren, nicht begreifen, was da geschah. Dann stürmte sie die restlichen Stufen hinab, eilte durch die Eingangshalle und griff nach dem Türknauf.

Er drehte sich nicht. Die Tür war von außen abgeschlossen worden, und ohne Schlüssel würde sie auf diesem Weg nicht hinausgelangen. Rasch lief sie weiter zum Fenster des Empfangszimmers, wo sie laut gegen die Scheibe klopfte, um die Aufmerksamkeit desjenigen zu erregen, der sie hier eingesperrt haben mochte.

Annabelle sah gerade noch, wie der Kutschenschlag zugezogen wurde, und einen Moment später begannen sich die Räder der Kutsche zu drehen. Ihre Mutter hatte sie eingeschlossen und den Kutscher angewiesen, abzufahren.

Obwohl Annabelle wusste, dass es keinen Sinn hatte, klopfte sie weiter gegen das Fenster, in der Hoffnung, dass sich ihre Mutter entschließen würde, doch noch ein letztes Mal nachzusehen, ob sie nicht versehentlich ihre Tochter zurückließ.

„Wie konntest du nur?“, flüsterte sie und sank auf die breite, hölzerne Fensterbank. Die Kutsche war mittlerweile schon halb die Einfahrt hinunter, bog um eine Kurve und verschwand kurz darauf hinter den Bäumen der Allee. Die Vernunft sagte Annabelle, dass es natürlich ein Versehen gewesen war. Soweit sie sehen konnte, war der Karren mit ihren Besitztümern ebenfalls bereits abgefahren. Lady Hummingford musste geglaubt haben, Annabelle wäre wieder aus dem Haus gekommen und auf den Karren geklettert, ohne ihr Bescheid zu geben, weshalb sie die Eingangstür abgeschlossen hatte und ebenfalls aufgebrochen war. Trotzdem hätten sich die meisten Mütter wohl die Mühe gemacht, sich davon zu überzeugen, dass sie ihre Tochter nicht in einem leeren Haus einschlossen.

Annabelle sah der Kutsche nach, bis sie vollständig verschwunden war. Allmählich fühlte sie Panik in sich aufsteigen. Ihre Mutter würde ihren Fehler früher oder später erkennen. Die Fahrt zu ihrem Cottage dauerte nur eine Stunde, also würde sie in spätestens etwas über zwei Stunden hier herausgelassen werden. Zwei Stunden waren nicht lang, aber auf einmal verspürte sie den überwältigenden Wunsch, dieses Haus zu verlassen. Sie wollte nicht in der leeren Hülle dessen eingeschlossen sein, was einmal ihr Zuhause gewesen war.

Oben, im ersten Stock, gab es ein Fenster, gleich links über dem Eingang, das man nie richtig hatte schließen können. Als Mädchen hatte sie sich auf diesem Weg ein paarmal hinausgeschlichen, und es war nicht schwer, von dem Fenster aus auf den Säulenvorbau des Eingangs zu klettern und von dort aus den nicht sonderlich hohen Sprung zum Boden zu wagen. Wenn sie vorsichtig war, konnte sie draußen vor dem Haus in der Sonne darauf warten, dass ihre Mutter ihren Fehler erkannte.

Bevor sie sich die Sache wieder ausreden konnte, eilte sie nach oben und versuchte, das Fenster zu öffnen. Mit einem leisen Knarren schwang es auf. Bis zum Boden war es nicht allzu weit, auch wenn sie es nicht auf das Säulenvordach schaffen sollte. Mit einem letzten Blick zurück kletterte sie auf die Fensterbank.

In stetigem Trab ritt Leo durch das offen stehende schmiedeeiserne Tor. Er war spät dran, und er konnte es nicht ausstehen, zu spät zu kommen. Wie üblich hatte sein Großonkel ihn nur zögerlich gehen lassen. Er hatte jedes Detail der Verwaltung seiner Güter durchsprechen wollen, bevor es Leo endlich gelungen war, zu entkommen.

Seine Verspätung war jedoch nicht der einzige Grund für seine schlechte Laune. Sein Großonkel war wieder einmal darauf zu sprechen gekommen, dass Leo noch immer unverheiratet war, obwohl Leo dieses Gesprächsthema ebenfalls nicht ausstehen konnte. Vor ein paar Monaten hatte Lord Abbingdon verkündet, dass der Großteil seines Vermögens nach seinem Tod nicht an Leo gehen würde, sollte dieser bis dahin noch immer ledig sein. Da er der Erbe war, würden der Titel und die Landgüter zwar an ihn fallen, doch das Geld, das er dafür benötigte, einen so gewaltigen Besitz zu führen, konnte Lord Abbingdon vermachen, wem immer er wollte. Leo wusste zwar, dass dies vermutlich eine leere Drohung war, ein Schachzug, um ihn dazu zu bringen, endlich zu heiraten und Erben hervorzubringen, damit die Zukunft der Familie gesichert war, bevor der alte Mann starb. Trotzdem machte er sich in letzter Zeit immer öfter Gedanken darum. Besonders, seit der Arzt seines Großonkels ihn beiseitegenommen und ihm erklärt hatte, dass es nicht mehr viel gab, was er für den alten Mann noch tun konnte.

Er atmete tief durch, schob die Sorgen um sein Erbe und seinen Großonkel beiseite und versuchte, den warmen Sonnenschein auf seinen Schultern und die frische Meeresbrise zu genießen. Er mochte diesen Teil des Landes, er bewunderte die weißen Klippen und die rollenden Hügel. Selbst das leicht verwahrloste Anwesen, an das sich Lady Hummingford in den Jahren seit dem Tod ihres Ehemanns geklammert hatte, war auf seine ganz eigene Art charmant.

„Was zum Teufel?“ Er konnte nicht fassen, was er da erblickte. Die Fassade von Birling View sah aus wie immer: hübsch, aber auch so, als könnte etwas liebevolle Zuwendung nicht schaden. Die Auffahrt war verlassen, und die Kutsche und der Möbelkarren schienen bereits abgefahren zu sein. Was seinen Blick auf sich gezogen und ihm diesen Fluch entlockt hatte, war die zierliche Frauengestalt, die gerade aus einem der Fenster im ersten Stock kletterte.

Rasch trieb er sein Pferd an, zügelte es unterhalb des besagten Fensters und sprang ab, noch bevor Emperor ganz zum Stehen gekommen war.

„Was in aller Welt machen Sie denn da?“

Die Gestalt, die dort auf dem Fenstersims kauerte, erstarrte.

„Guten Tag, Mr. Ashburton“, sagte Lady Annabelle schließlich und drehte ein wenig den Kopf, sodass er sehen konnte, wie rot ihre Wangen waren. Ob aus Scham oder vor Anstrengung konnte er jedoch nicht sagen.

„Ich schlage vor, dass Sie sofort wieder hineinklettern.“

„Ich fürchte, das ist nicht möglich“, gab sie leise zurück.

Als er noch einen Schritt näher kam und nach oben sah, erkannte er das volle Ausmaß ihrer Bredouille. Aus Gründen, die nur sie selbst kannte, war sie aus dem Fenster geklettert, hatte die Beine über das Sims geschwungen und sich umgedreht, um vermutlich zu versuchen, sich noch etwas weiter sinken zu lassen, bevor sie das letzte Stück bis zum Boden sprang. Dabei musste ihr Rock im Fensterrahmen hängen geblieben sein, und nun saß sie fest. Da sie sich bereits umgedreht hatte, war es ihr unmöglich, wieder hineinzuklettern, und wenn sie sich fallen ließ, würde ihr Kleid zerreißen.

Leo schluckte alle Fragen hinunter, die ihm auf der Zunge lagen, und versuchte stirnrunzelnd herauszufinden, wie er sie am besten von dort oben herunterholen konnte.

„Ich glaube, Sie werden sich Ihr Kleid zerreißen müssen“, sagte er schließlich.

Lady Annabelle über ihm nickte, rührte sich jedoch nicht.

„Wenn ich mich einfach fallen lasse, hält mich das Kleid zu dicht an der Mauer.“

Er erkannte das Problem. Wenn sie sich nicht weit genug abstoßen konnte, würde sie sich die Haut an der Backsteinwand aufschürfen.

„Setzen Sie die Füße an die Wand und stoßen Sie sich beim Loslassen ab. Ich stehe unter Ihnen und fange Sie auf.“

Sie sah aus, als wollte sie ein weiteres Mal widersprechen, doch dann nickte sie einfach, stemmte die Füße gegen die Wand und stieß sich ab. Das laute Ratschen von zerreißendem Stoff erklang, und Leo blieb kaum genug Zeit, sich zu wappnen, bevor Lady Annabelle durch die Luft auf ihn zugeflogen kam. Er fing sie auf, doch der Aufprall riss ihn von den Füßen, und sie endeten als ein verknäulter Haufen am Boden.

Lady Annabelles spitzer kleiner Ellbogen traf ihn mit voller Wucht in den Bauch, und alle Luft wurde ihm aus der Lunge gepresst. Einen langen Moment konnte er nur daliegen, mit ihr auf sich, und versuchen, wieder zu Atem zu kommen.

Nach etwa zwanzig Sekunden begann Lady Annabelle sich zu winden, dann stemmte sie sich mit beiden Händen hoch und sah auf ihn hinab. Ihm war nur allzu deutlich bewusst, wie sich ihr Körper an seinen drückte.

„Sind Sie verletzt?“ Ihre Stirn war gerunzelt, und sie ließ den Blick über ihn huschen, als würde sie ihn nach Wunden absuchen.

Mit festem Griff umfasste er ihre Arme und rollte sie auf die Seite, bevor er sich ächzend aufsetzte.

„Keine bleibenden Schäden“, gab er schroff zurück und probierte seine Arme und Beine aus. Sein Rücken war von dem Aufprall auf dem Boden aufgeschürft, und sein Bauch fühlte sich dort, wo sie auf ihm gelandet war, ein wenig wund an, doch es war nichts gebrochen.

„Danke, dass Sie meinen Sturz abgefangen haben.“ Sie rappelte sich auf und tastete in ihrem Haar nach dem Schleier, den sie normalerweise vor dem Gesicht trug. Er musste sich bei dem Fall gelöst haben. Als sie begriff, dass er fort war, wurde ihre Miene panisch, und ihr Blick jagte hin und her auf der Suche nach dem hauchzarten Stoff.

Leo fühlte, dass etwas unter seinem Ellbogen lag, und nachdem er ebenfalls auf die Füße gekommen war, reichte er ihr den Schleier, wobei er den Blick nicht abwenden konnte, als sie ihn erleichtert entgegennahm und wieder feststeckte. Sobald ihr Gesicht von dem Schleier beschattet wurde, schien sie sich zu entspannen, wobei ihr offenbar entging, dass ihr Rock vorne zerrissen war und den Blick auf ihre Unterröcke und Strümpfe darunter freigab.

„Ich bin nicht sicher, ob wir irgendetwas tun können, um Ihr Kleid zu reparieren“, sagte Leo und versuchte dabei, nicht auf ihre schlanken und gut sichtbaren Waden zu achten.

„Oh.“ Bestürzt blickte Lady Annabelle an sich herab und raffte rasch den Stoff um ihre Beine zusammen. Als sie erkannte, wie zerrissen der Rock tatsächlich war, verzog sie das Gesicht.

„Was in aller Welt haben Sie sich dabei gedacht, einfach aus dem Fenster zu klettern?“ Er hörte den Ärger in seiner Stimme, obwohl es ihm nicht zustand, wütend auf sie zu sein. Er trug keinerlei Verantwortung für sie, und sie war weder seine Schwester noch seine Ehefrau. Wenn sie ihr Leben riskieren und aus Fenstern klettern wollte, dann ging ihn das nichts an.

„Ich war eingeschlossen.“

„Seien Sie nicht albern.“

Unter dem Schleier hervor sah sie ihm in die Augen und hob leicht das Kinn. Lady Annabelle mochte sich von gesellschaftlichen Anlässen fernhalten, doch sie besaß durchaus Rückgrat, und sein Tonfall schien sie brüskiert zu haben.

„Warum, glauben Sie, sollte ich sonst aus einem Fenster klettern, Mr. Ashburton? Aus purem Vergnügen habe ich es jedenfalls nicht getan“, gab sie frostig zurück. „Meine Mutter ist abgefahren, ohne nachzusehen, ob ich mich noch im Haus befinde, und sie hat vorher die Eingangstür mit dem einzigen Schlüssel abgesperrt. Alle anderen Türen und Fenster sind schon seit Tagen verriegelt. Das Fenster da oben schließt nicht mehr richtig, also war es meine einzige Möglichkeit.“

„Ihre Mutter hat Sie einfach hier zurückgelassen?“ Er wusste, dass Lady Hummingford eine gefühlskalte Frau war, doch selbst für sie kam ihm das ein wenig harsch vor.

„Das war sicher ein Versehen.“ Ihre Stimme klang ruhig, doch er sah, wie sie unter ihrem Schleier leicht das Gesicht verzog. Rasch wandte sie ihm den Rücken zu, vorgeblich, um am Haus hinauf zum Fenster zu sehen, durch das sie entkommen war, doch er fragte sich, ob sie dadurch vielleicht nur verbergen wollte, wie verletzt sie war, weil ihre Mutter sie so gleichgültig behandelte.

„Es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin“, sagte er leise. „Ich wollte schon früher hier sein, um dafür zu sorgen, dass alles wie geplant verläuft.“

„Das spielt keine Rolle, Mr. Ashburton. Bitte fühlen Sie sich auch nicht verpflichtet, bei mir zu warten. Ich bin sicher, dass meine Mutter die Kutsche zu mir zurückschicken wird, sobald sie begreift, was geschehen ist.“

Er fragte sich, ob sie tatsächlich erwartete, dass er ohne einen Blick zurück davonritt und sie hier verlassen und allein zurückließ. Leo schüttelte den Kopf. Er wusste, dass er den Ruf hatte, ein gefühlskalter und schwieriger Mensch zu sein, den man nur schwer mögen konnte, dennoch war er als Gentleman erzogen worden, und ein Gentleman würde eine Lady in Nöten niemals allein lassen, ganz gleich, wie wenig sie seine Hilfe zu schätzen wusste.

„Sie können mit mir reiten“, sagte er und ging zu seinem Pferd hinüber, das vergnügt auf der Wiese neben dem Haus graste.

Das brachte Lady Annabelle dazu, sich zu ihm umzudrehen. Obwohl er aus dieser Entfernung ihre Miene nicht richtig lesen konnte, hoffte er, dass es Überraschung war, die er darin erkannte.

„Es ist Ihrem Pferd doch sicher zu viel, uns beide zu tragen?“

„Emperor ist kräftig, und wir können uns Zeit lassen. Der Ritt dauert nicht einmal eine Stunde.“

Als sie immer noch zögerte, führte er sein Pferd zu ihr.

„Ich helfe Ihnen hoch.“

Es war nicht schwer, sie auf Emperor zu heben, wo sie sich einen einigermaßen bequemen Platz vor dem Sattel suchte, bevor er sich ebenfalls auf den Pferderücken schwang. Er fühlte, wie sie erstarrte, als sie seinen Körper hinter sich spürte, doch dann ritten sie nach einem knappen Zügelschnalzen bereits die Einfahrt hinunter.

2. KAPITEL

Liebe Beth,

hast Du schon einmal ohne eigenes Verschulden dafür gesorgt, dass die Reithose eines Mannes völlig verdreckt wurde, weil ihr zusammen zu Boden gegangen seid?

Während der ersten fünf Minuten saß Annabelle nur steif auf dem Rücken des majestätischen Pferdes. So nah war sie einem Mann noch nie gewesen. Abgesehen von ihrer Mutter und ihrer Schwester war sie seit einer langen Zeit niemandem mehr so nah gewesen. Aus Gewohnheit hob sie die Hand, um den Sitz ihres Schleiers zu prüfen, bevor ihr wieder einfiel, dass Mr. Ashburton hinter ihr saß und ihr Gesicht nicht sehen konnte, auch wenn er sich nach vorn beugte.

Einen Arm hatte er um ihre Taille gelegt und führte die Zügel leicht in der Hand. Die andere Hand ruhte sorgfältig platziert oberhalb ihrer Hüfte, um sie zu stützen. Bei jedem anderen hätte es eine innige Geste sein können, doch Annabelle wusste, dass Mr. Ashburton nur seine Pflicht tat. Er war ein Mann, der seine Pflicht sehr ernst nahm. Während sich Beth und Josh ineinander verliebten, hatte ihre Schwester ihr erzählt, dass Leo stets an Lord Abbingdons Bett geeilt war, um immer mehr Verantwortung zu übernehmen, während sich die Gesundheit des alten Mannes verschlechterte. Dann waren da noch sie und ihre Mutter. Er hatte versprochen, darauf achtzugeben, dass sie sich in ihrem neuen Zuhause gut einfanden, nachdem Birling View verkauft war und ihre Schulden beglichen waren, und genau das würde er tun. Auch wenn es ihm Unannehmlichkeiten bereitete.

„Danke, dass Sie heute gekommen sind“, sagte sie und wandte leicht den Kopf, damit der Wind ihre Worte nicht davontrug.

„Gut, dass ich es getan habe, sonst würden Sie immer noch am Fenster im ersten Stock festhängen.“

Annabelle ignorierte diesen Kommentar und fuhr fort, sich zu bedanken. Sie war zur Höflichkeit erzogen worden, und auch wenn sie diesen Mann hinter sich nicht sonderlich mochte, würde sie ihre Manieren nicht vergessen.

„Ganz besonders möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie die Kutsche für Mutter geschickt haben. Ich glaube, sie hätte sich einfach geweigert zu gehen, wenn sie auf dem Karren hätte mitfahren müssen.“

„Und Sie? Ich habe die Kutsche für Sie beide geschickt.“

„Mutter hat es für das Beste gehalten, wenn ich mit den Möbeln reise.“ Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Mr. Ashburton musste nicht wissen, wie sehr sie diese Entscheidung getroffen hatte.

„Hmm.“

Sie ritten nun über den höchsten Punkt der Klippen und folgten dem schmalen Pfad ein Stück von der Abbruchkante entfernt. Annabelle spürte Tränen in ihren Augen brennen, während sie den Ausblick bewunderte. Einundzwanzig Jahre lang hatte sie auf Birling View gelebt, und so lange sie zurückdenken konnte, war sie nur ein paar wenige Male jenseits dieser Klippen gewesen. Dies hier war ihr Zuhause, ihr Zufluchtsort gewesen, zumindest bis jetzt.

„Geht es Ihnen nicht gut, Lady Annabelle?“

Sie begriff, dass sie bebend Luft geholt hatte, um die Tränen zurückzudrängen, und dass Mr. Ashburton dies mit der Hand an ihrer Taille gespürt haben musste.

„Ich bin nur ein wenig emotional. Ich gehe es zweckmäßig an, dass wir Birling View verlassen müssen, was es aber nicht weniger schwer macht.“

„Es ist Ihr Zuhause.“

„Ich habe viele glückliche Erinnerungen hier. Erinnerungen an meinen Vater und an meine Schwester.“ Ihr Vater war fort. Vor fünf Jahren war er gestorben, und nun war auch Beth gegangen. Sie würde ihrer Schwester niemals verübeln, dass sie mit dem Mann, den sie liebte, ein neues Leben in Indien begonnen hatte, aber sie vermisste sie bereits jetzt schmerzlich, obwohl seit ihrer Abreise gerade erst ein Monat vergangen war.

Zu ihrer Überraschung zog Mr. Ashburton leicht an den Zügeln, schwang sich aus dem Sattel und hielt ihr eine Hand hin, um ihr ebenfalls vom Pferd zu helfen.

„Wir haben es nicht eilig“, sagte er leise. „Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit.“

Überrascht blinzelte sie über seinen sanften Tonfall, dann begriff sie, dass er in gewisser Weise wahrscheinlich nachfühlen konnte, wie es ihr ging. Er mochte sein Zuhause zwar nicht verloren haben, doch sein Bruder war mit ihrer Schwester zusammen abgereist, und keiner von ihnen beiden wusste, wann sie ihre geliebten Geschwister wiedersehen würden.

Annabelle trat zum Rand der Klippe, hob ihren Schleier und spürte die warme Brise auf dem Gesicht. Sie liebte das Salz in der Luft und das ferne Rufen der Möwen. Tief unter ihr konnte sie die Wellen gegen die Klippe schlagen hören, das Rauschen des Wassers, das über den Kalkstein spülte. Einen Moment lang schloss sie die Augen und ließ es zu, dass die Erinnerungen sie überfluteten. Wie sie mit Beth an den Klippen gespielt hatte. Wie sie allein zu langen Winterspaziergängen aufgebrochen war, obwohl es so kalt war, dass sie glaubte, ihre Augenlider würden zusammenfrieren. Wie sie sich in schlammigen Stiefeln um die Gärten in Birling View gekümmert und wie Beth und sie gekichert hatten, weil sie von Gartenarbeit keine Ahnung gehabt hatten.

Ihre Schwester hatte sich immer Sorgen gemacht, Annabelles Leben könnte zu klein, zu isoliert sein. Wegen der Narben in ihrem Gesicht war sie vor Gesellschaft zurückgescheut, und wegen der schneidenden Kommentare, wenn sie sich doch einmal unter Leute gewagt hatte. Doch sie hatte ihre kleine Welt geliebt und wäre glücklich damit gewesen, ihr Leben in Birling View zu verbringen, mit nur ihren Büchern als Gesellschaft.

Seufzend ließ sie den Kopf in den Nacken sinken. Da rammte sie auf einmal etwas von der Seite, und sie wurde nach hinten ins Gras geschleudert.

Verblüfft erkannte sie, dass Mr. Ashburton auf ihr lag und sie am Boden festhielt. Er war ein großer Mann, mindestens ein Meter achtzig und muskulös. Sie war klein und zierlich und konnte unter seinem Gewicht keinen Muskel rühren.

Einen Augenblick lang war sie zu schockiert, um irgendetwas zu sagen, sie blickte zu ihm hinauf und erkannte die Sorge auf seinem Gesicht.

„Sie dachten, ich wollte springen?“, murmelte sie.

„Sie haben die Augen geschlossen. Und einen Schritt nach vorn gemacht.“

„Ich würde nicht springen. Niemals. Ich habe nur den Moment genossen.“

Mr. Ashburton sah auf sie herab und musterte sie. Nach ein paar Sekunden nickte er, als würde er ihr glauben. Er rührte sich jedoch noch immer nicht, und Annabelle war sich seines Körpers, so eng an ihrem eigenen, sehr bewusst, dann rollte er mit einer gemurmelten Entschuldigung von ihr hinunter und sprang auf die Füße.

Annabelle raffte ihre zerrissenen Röcke um sich, stand jedoch nicht auf, und nach einem weiteren Augenblick setzte sich Mr. Ashburton neben sie.

„Es tut mir leid“, wiederholte er, lauter dieses Mal.

„Haben Sie wirklich geglaubt, ich würde springen?“

„Es hat zumindest ganz danach ausgesehen.“

Sie schwiegen, Seite an Seite.

„So schlecht ist mein Leben nicht“, sagte Annabelle leise und fragte sich, warum sie versuchte, sich vor diesem Mann, der kaum mehr als ein Fremder war, zu rechtfertigen. „Mutter kann manchmal … schwierig sein, Sea Spray Cottage ist nicht mehr so imposant wie Birling View, das stimmt, und Beth reist auf die andere Seite der Welt, aber ich habe nicht vor, meinem Leben ein Ende zu machen.“

Sie spürte seinen Blick auf sich, und auf einmal fiel ihr ein, dass sie ihren Schleier nicht heruntergezogen hatte. Sie konnte sehen, dass er nicht ihre Narben betrachtete, doch sie fühlte sich dennoch gehemmt. Seit sie im Alter von vier Jahren auf ein Regal geklettert und mitsamt einer Vase hinuntergefallen war, lebte sie nun schon mit den Narben. Es waren drei Schnitte quer über ihre Wange, mit einem vierten Schnitt, der vertikal durch die anderen hindurchlief. Sie dachte oft, dass es aussah, als wäre sie von einer wilden Bestie angefallen worden.

Sorgfältig zog sie den dünnen Stoff über ihr Gesicht, wobei sie Mr. Ashburtons Blick mied, auch wenn sie spürte, dass er sie noch immer musterte.

„Wir sollten weiterreiten“, sagte sie schließlich und stand auf, wobei sie auf ihre zerrissenen Röcke achtgab. „Mutter wird die Kutsche vermutlich schon bald zurückschicken, und wenn wir uns beeilen, können wir sie auf dem Weg abfangen.“

Ohne ein weiteres Wort half Mr. Ashburton ihr wieder auf das Pferd und setzte sich hinter sie. Als sie seine leichte Berührung spürte, musste sie sich daran erinnern, dass sie diesen Mann nicht sonderlich mochte, obwohl er ihr mit seinen starken Armen heute schon mehrmals zu Hilfe gekommen war.

Es war ein schöner Weg, über rollende Hügel und weiße Klippen, bevor sie über einen Küstenpfad hinab bis zu den Ausläufern des kleinen Städtchens Eastbourne ritten. Trotzdem war er erleichtert, als das Reetdach des Cottages in Sicht kam. Lady Annabelle machte ihn nervös, obwohl er nicht wusste, warum. Sie war eine sehr angenehme junge Frau, wohlerzogen und höflich, und er hatte seine prägenden Jahre in Gesellschaft vieler junger Frauen wie ihr zugebracht, während seine Großtante versucht hatte, ihn auf das Leben vorzubereiten, das er eines Tages führen würde. Es waren nicht einmal die Narben, die sie so befangen machten, oder dieser alberne Schleier, hinter dem sie ihr Gesicht verbarg. Er begriff nicht, was genau es war, was ihn in Lady Annabelles Gesellschaft so aus dem Gleichgewicht brachte, doch er würde erleichtert sein, wenn er sie bei ihrer Mutter abgesetzt hatte und wieder gehen konnte, nachdem er seine Pflicht für den heutigen Tag erledigt hatte.

„Annabelle, wo um alles in der Welt warst du?“, rief Lady Hummingford, als sie schließlich vor einer ordentlich gestutzten Hecke zum Stehen kamen. Aus dem Augenwinkel erkannte er seine Kutsche und den Karren mit dem Mobiliar. Offenbar hatte es Lady Hummingford nicht allzu eilig gehabt, nach Birling View zurückzukehren, als sie erkannt hatte, dass ihre Tochter nicht hier war.

„Der Karren ist abgefahren, als ich noch im Haus war, Mutter“, gab Lady Annabelle mit mehr Gelassenheit zurück, als er hätte aufbringen können. „Dann hast du mich eingeschlossen.“

„Was um Himmels willen hast du denn noch im Haus gemacht?“

„Ich habe mich davon überzeugt, dass alles in Ordnung ist, genau wie ich gesagt hatte.“

„Du hättest auf dem Karren mitfahren sollen.“ Leo erkannte, dass sich die Dowager Countess weder entschuldigte noch irgendein Zeichen von Reue zeigte für das, was ihre Tochter ihretwegen durchgemacht hatte. „Mr. Ashburton, wir sind Ihnen ja so dankbar, dass Sie heute die Zeit gefunden haben.“

Mit einem Nicken schwang er sich von Emperors Rücken und wandte sich dann an Annabelle, um ihr beim Absteigen zu helfen. Dabei achtete er darauf, dass er sie von ihrer Mutter wegdrehte, damit sie Gelegenheit hatte, ihre zerrissenen Röcke zu sammeln, bevor Lady Hummingford sie sah.

„Sie müssen nach dem langen Ritt völlig ausgehungert sein. Ich werde das Dienstmädchen bitten, den Tee zu servieren.“

„Danke.“ Lieber hätte er sich wieder auf den Weg gemacht, doch Leo wusste, dass er wenigstens eine Tasse würde trinken müssen, bevor er sich höflich verabschieden konnte.

„Meine Güte, Annabelle, was hast du mit deinem Kleid gemacht? Geh sofort ins Haus.“

Nicht zum ersten Mal in seinem Leben war Leo dankbar dafür, dass er als Mann geboren war. Niemand würde es wagen, so mit ihm zu sprechen, seit er erwachsen war, und er spürte einen Anflug von Bewunderung für Lady Annabelle, die mit gestrafften Schultern gemächlichen Schrittes das Cottage betrat, anstatt davonzuhuschen.

Es war ein helles, luftiges Cottage, und obwohl es im Vergleich zu Birling View natürlich klein wirkte, waren Lage und Schnitt doch sehr gut. Lady Hummingford führte ihn in einen hellen Raum mit drei gemütlichen Sesseln auf der einen und einem Tisch auf der anderen Seite, dabei wies sie ein junges Mädchen, das vermutlich als Dienstmädchen hier wohnen sollte, barsch an, den Tee zu servieren. Sobald sie sich gesetzt hatten, drang ein lautes Krachen, gefolgt von einer Reihe Flüchen von draußen herein, und rasch erhob sich Lady Hummingford wieder und entschuldigte sich, bevor sie hinauseilte, um nachzusehen, welches der kostbaren Möbelstücke fallen gelassen worden war.

Leo schloss die Augen, müde von dem langen Ritt und den vorangegangenen anstrengenden Tagen. Seine Glieder fühlten sich allmählich schwer an, und er wusste, dass er Gefahr lief, einfach einzunicken, als er ein leises Hüsteln hörte. Lady Annabelle saß ihm still gegenüber. Wie es ihr gelungen war, hereinzukommen, ohne dass er sie gehört hatte, wusste er nicht. Sie musste erstaunlich leichtfüßig sein. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein hellgrünes Tageskleid, das an einer Seite mit Blumen bestickt war, und überrascht stellte er fest, dass sie den Schleier abgenommen hatte.

Er nahm sich einen Moment, um sie zu betrachten: Ihr Haar war ebenso goldblond wie das ihrer Schwester, doch ihre hellblauen Augen waren einzigartig. Sie hatte ein hübsches Gesicht, zierliche, klare Züge. Wären da nicht die Narben auf ihrer Wange gewesen, hätte man sie als das Schmuckstück der Saison in London betrachtet. Flüchtig dachte er daran, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte, als er mit Josh zu Besuch auf Birling View gewesen und auf Lady Annabelle gestoßen war. Sie war im Dunkeln umhergeschlichen, um nicht von den Hausgästen ertappt zu werden. Das Misstrauen in ihrem Blick und der Eindruck, dass sie nirgendwo in der Welt richtig hinzupassen schien, hatten ihn getroffen.

„Ich wollte Sie nicht stören, Mr. Ashburton, bitte fühlen Sie sich frei, sich ein bisschen auszuruhen, wenn Sie möchten. Sie müssen einen sehr arbeitsamen Tag hinter sich haben.“ Sie sprach leise, und nicht zum ersten Mal fragte er sich, woher sie ihre tadellosen Manieren hatte.

„Sind Sie glücklich, Lady Annabelle?“, fragte er abrupt. Als er die Überraschung in ihrem Gesicht erkannte, verfluchte er sich dafür, ihr diese Frage so unverblümt gestellt zu haben. Ihm war ein Gedanke gekommen, eine wirklich absurde Idee … aber er konnte sich nicht davon abhalten, es trotzdem zu erwägen.

„Nun ja …“ Erschrocken sah sie sich um, lehnte sich dann zurück und dachte über die Frage nach. „Wissen Sie, das hat mich schon lange niemand mehr gefragt. Nein, Mr. Ashburton, ich bin nicht glücklich, aber ich bin zufrieden. Ich glaube, das ist genug.“ Bescheiden faltete sie die Hände im Schoß und richtete dann ihren durchdringenden Blick auf ihn. „Ich werde dafür sorgen, dass meine Mutter und ich hier ein gutes Leben haben.“

„Ist es das, was Sie wollen? Hier mit Ihrer Mutter leben?“

Sie stieß ein leises, überraschtes Lachen aus. „Innerhalb der Grenzen des Erreichbaren, ja.“

„Wie meinen Sie das?“

„Mir stehen nur sehr wenige Möglichkeiten offen, Mr. Ashburton. Unter den gegebenen Umständen wird es gut genug für mich sein.“

„Sie haben durchaus andere Möglichkeiten.“

Einen Moment lang sah sie ihn an, dann schüttelte sie den Kopf. „Nicht viele, die wirklich umsetzbar sind.“

„Sie könnten zu Ihrer Schwester nach Indien gehen oder heiraten und eine eigene Familie gründen.“

„Indien ist Beths Abenteuer.“

„Und was ist mit einer Heirat?“ Er wusste, dass er sie zu sehr bedrängte, aber er wollte ihre Reaktion sehen.

„Ich kenne keine Gentlemen, Mr. Ashburton. Ich bin eine Einsiedlerin ohne Aussichten. Ich glaube kaum, dass irgendjemand einfach vortreten und um meine Hand anhalten wird.“ Sie sagte es ohne Bitterkeit, es war nur die sanfte Akzeptanz einer Frau, die sich schon vor langer Zeit ihrem Schicksal ergeben hatte.

„Und wenn doch jemand vortreten würde? Würden Sie das wollen?“

Ihre Augen wurden schmal, und sie nickte langsam. „Natürlich, aber warum sollte ich mich selbst mit etwas quälen, das unmöglich ist?“

Leo lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Fingerkuppen aufeinander. Seine Gedanken überschlugen sich. Vor vielen Jahren, als Annabelles Vater noch am Leben gewesen war, da hatte der alte Earl etwas für Leo getan, was er niemals vergessen würde. Zum Dank hatte Leo zugestimmt, seine älteste Tochter Lady Elizabeth zu heiraten, sobald diese im heiratsfähigen Alter wäre. Vor einigen Monaten hatten sie beide halbherzig damit begonnen, einander den Hof zu machen, doch keiner von beiden hatte diese Verbindung wirklich gewollt. Lady Elizabeth hatte sich prompt in seinen Bruder verliebt, und nun waren die beiden als Mann und Frau auf dem Weg nach Indien. Leo freute sich für seinen Bruder, doch dies hatte auch bedeutet, dass er nicht in der Lage gewesen war, sein Versprechen dem alten Earl gegenüber zu halten, und es gefiel ihm nicht, sein Wort brechen zu müssen.

Er betrachtete Lady Annabelle. Sie war still, wohlerzogen, und abgesehen davon, dass sie gern aus Fenstern kletterte, schien sie keine allzu enervierenden Angewohnheiten zu haben. Wegen ihrer Narben hatte sie fast ihr ganzes Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit verbracht, doch er brauchte auch keine Gemahlin, die er in Gesellschaft vorführen konnte. Er brauchte nur eine Frau, damit Lord Abbingdon zufrieden war und damit er das Geld aus dem Erbe erhielt. Außerdem würde Lady Annabelle sehr wahrscheinlich nicht ablehnen. Die Alternative für sie bestand darin, den Rest ihrer Tage in diesem kleinen Cottage ihrer unangenehmen Mutter hinterherzulaufen.

Wenn er Lady Annabelle bat, ihn zu heiraten, dann würde er die Frau bekommen, die er brauchte, und gleichzeitig sein Versprechen an ihren Vater einlösen.

„Ich frage mich, Lady Annabelle …“ Er unterbrach sich, als Lady Hummingford zurück in den Raum gerauscht kam.

„Ich bitte um Verzeihung, Mr. Ashburton, unsere Hilfskräfte scheinen nicht zu begreifen, was ‚wertvoll‘ bedeutet.“

„Eine Entschuldigung ist ganz und gar nicht nötig. Ich wollte Lady Annabelle gerade bitten, mich auf einen Rundgang durch den Garten zu begleiten, bevor ich gehe.“ Er wandte sich an die jüngere der beiden Frauen. „Würden Sie mir den Gefallen tun?“

Ihre Augen wurden noch schmaler. Offensichtlich ahnte sie, dass er irgendetwas vorhatte, doch sie wusste nicht, was.

„Natürlich, Mr. Ashburton.“

Er bot ihr den Arm an und führte sie aus dem Raum und durch die offene Haustür hinaus, wobei sie kurz beiseitetreten mussten, um zwei Männer mit einem schweren Klavier vorbeizulassen.

„Was machen wir hier, Mr. Ashburton?“, fragte Lady Annabelle, sobald sie außer Hörweite des Hauses waren und durch einen hübschen kleinen Garten voller Blumen schlenderten.

„Es ist ein schöner Tag …“

Sie schüttelte den Kopf, um ihn zu unterbrechen. „Ich glaube nicht, dass Sie unbedingt den Garten hier in Sea Spray Cottage besichtigen wollen.“

„Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen“, sagte er und versuchte, einen milden Tonfall anzuschlagen. Er konnte ihr sein Heiratsangebot nicht mürrisch oder grob vor die Füße werfen, wenn er wollte, dass sie zumindest ernsthaft darüber nachdachte. „Und ich wollte nicht, dass Ihre Mutter dabei zuhört, damit Sie und nur Sie allein eine Entscheidung treffen können.“

Er machte eine einladende Geste zu der kleinen schmiedeeisernen Bank am Ende des Gartens, folgte ihr dorthin und wartete, bis sie es sich beide darauf bequem gemacht hatten, bevor er noch einmal ansetzte. Er saß rechts von ihr, und sie hielt den Kopf so, dass er die Narben auf ihrer linken Wange nicht sehen konnte. Lady Annabelle war sehr geübt darin, sich zu verstecken.

„Wissen Sie ein wenig über meine Umstände Bescheid?“, fragte er und dachte daran, dass es keine auf Gefühlen beruhende Verbindung werden würde, wenn sie sich denn dazu entschlossen, überhaupt eine Verbindung einzugehen, weshalb es am besten war, die Sache eher geschäftsmäßig anzugehen. „Hat Ihre Schwester Ihnen gegenüber erwähnt, warum ich die Heirat in Erwägung gezogen habe?“

„Ich weiß, dass Sie der Meinung waren, meinem Vater aus Dankbarkeit etwas schuldig zu sein“, sagte Lady Annabelle langsam, ein leichtes Stirnrunzeln auf dem Gesicht. „Aber mehr als das hat Beth mir nicht erzählt.“

„Ich war Ihrem Vater tatsächlich zu Dank verpflichtet, und als ich ihn gefragt habe, wie ich es ihm vergelten könnte, hat er vorgeschlagen, dass ich Lady Elizabeth heirate, wenn sie alt genug dazu wäre. Was natürlich nicht wie geplant verlaufen ist.“

„Vater hätte Beth ihr Glück nicht verübelt, auch wenn Sie die besseren Zukunftsaussichten haben.“

Er musste ein Lächeln unterdrücken, als er aufsah und erkannte, dass sie im Stillen „jedenfalls auf dem Papier“ anfügte. Josh mochte zwar nicht den Titel und die dazugehörigen ausgedehnten Ländereien erben, doch er kehrte nach Indien zurück, um sein eigenes Schifffahrts- und Transportunternehmen zu leiten, und Leo bezweifelte nicht, dass er innerhalb des kommenden Jahrzehnts ein Vermögen machen würde.

„Das ist tatsächlich zum Teil der Grund dafür, warum ich eine Verbindung mit Ihrer Schwester in Erwägung gezogen habe, darüber hinaus habe ich aber noch dringendere Gründe, warum ich eine Ehefrau finden wollte. Sie wissen sicher, dass Lord Abbingdon kein junger Mann mehr ist und unzählige gesundheitliche Probleme hat. Wenn er stirbt, werde ich der nächste Viscount, und ich werde ausgedehnte Ländereien erben.“ Er hielt inne und fragte sich, ob sie ahnte, wohin dies führte. Lady Annabelle wirkte milde interessiert, aber nicht so, als könnte das, was er ihr erzählte, irgendetwas mit ihr zu tun haben. „Natürlich ist eine große Menge Geld erforderlich, um die Güter zu leiten, und Lord Abbingdon hat es in seinem Testament zur Bedingung gemacht, dass ich das Geld nur dann erbe, wenn ich verheiratet bin.“

„Wie abstrus.“

„Er beharrt darauf, dass die Ländereien nicht an immer weiter entfernte und in seinen Augen minderwertige Verwandte fallen sollen. Er glaubt, wenn ich verheiratet bin, dann werde ich einen Erben hervorbringen und damit den Familiennamen fortführen.“ 

„Ich verstehe, warum Sie eine Ehe mit Beth in Erwägung gezogen haben“, sagte Lady Annabelle leise.

„Lord Abbingdon ist sehr krank, und seine Ärzte erwarten nicht, dass er noch länger als ein, zwei Monate lebt. Was es umso dringender macht, dass ich heirate.“

Lady Annabelle nickte höflich, doch er sah, dass sie noch immer keine Ahnung hatte, dass er dabei war, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Es war, als hätte sie sich selbst längst als nicht heiratstauglich abgetan und könnte nicht an ihrer eigenen Annahme vorbeisehen.

„Ich habe noch nie den Wunsch verspürt, aus Liebe oder Kameradschaft zu heiraten.“ Die Lüge ging ihm schwer über die Lippen, doch Lady Annabelle brauchte nichts über seine Vergangenheit zu erfahren, die er vor langer Zeit mitsamt seinem Herzen begraben hatte. „Ich strebe nach einer Verbindung, die für beide Seiten vorteilhaft ist. Ich habe ein angenehmes Leben zu bieten, die Möglichkeit, Herrin eines großen Hauses zu werden, ohne die Erwartung, dass sich meine Ehefrau bei gesellschaftlichen Anlässen sehen lassen muss.“ Er hielt inne und musterte die junge Frau neben ihm. „Was denken Sie?“

„Ich bin sicher, dass es viele junge Frauen gibt, die Ihr Angebot mit Freude annehmen würden.“

„Schon, aber die frage ich nicht. Ich frage Sie.“

„Mich?“ Lady Annabelle wich vor Überraschung so hastig zurück, dass sie fast von der Bank fiel. „Sie sollten über so etwas keine Scherze machen, Mr. Ashburton.“ Sie erhob sich, und auf ihren Wangen erschienen rote Flecken, gefolgt von dem ersten Glitzern von Tränen in ihren Augen.

Autor