Juli 1067, Feste Shildon im Nordosten Englands
Der beißende Gestank von Rauch und Tod stach Soren Fitzrobert in der Nase und ließ seine Augen brennen, sodass er einige Male zwinkern musste, ehe er die Verwüstung betrachten konnte, die sich vor ihm erstreckte.
Felder und Wirtschaftsgebäude standen in Flammen, während das mittsommerliche Tageslicht allmählich schwand. Die dichten Rauchwolken verdunkelten den Himmel stärker, als es die einsetzende Dämmerung vermochte. Die Toten lagen in ihrem eigenen Blut, das langsam im Boden versickerte. Die Stille hatte etwas Erdrückendes. Kein Laut hallte vom umliegenden Land und dem Hof wider. Stephen näherte sich ihm, wie er bemerkte, von seiner unversehrten Seite und wartete auf weitere Befehle.
„Sie sind alle Feiglinge“, sagte Soren, nachdem er seinen Helm abgenommen hatte, damit er sich den Kopf reiben konnte. „Sieh dir das an. Sie haben ihre Felder in Brand gesteckt, ihre eigenen Leute getötet und dann die Flucht angetreten.“
„Zweifellos lauteten so Oremunds Befehle“, erwiderte Stephen mit deutlich hörbarer Abscheu vor diesem Mann.
„Wäre er nicht schon tot, würde ich ihn für diese Tat noch einmal töten, und zwar sehr gemächlich“, erklärte Soren. Lord Oremund hatte gemeinsame Sache mit jenen Rebellen gemacht, die es darauf abgesehen hatten, den König von seinem Thron zu stoßen und die einstigen angelsächsischen Herrscher wieder an die Macht in England kommen zu lassen. Gefallen war er bei dem Gefecht, mit dem Sorens Freund Brice die Ländereien von Oremunds Halbschwester für sich in Anspruch nahm.
Oh, die Rachsucht ließ das Blut in seinen Adern kochen, und das Mitgefühl für die Getöteten trug in keiner Weise dazu bei, seine Wut auch nur ein wenig zu kühlen. Er selbst hatte einen guten Grund, warum er diejenigen finden und vernichten wollte, die für seinen Zustand verantwortlich waren, doch diese Dorfbewohner – Männer, Frauen und sogar Kinder – hatten nichts verbrochen, für das sie von den Kriegern ihres Herrn massakriert werden mussten. Soren konnte verstehen, dass bei einem Krieg manchmal Unschuldige zwischen die Fronten gerieten, doch das hier hatte nichts mit Krieg zu tun.
Es war nichts anderes als ein sinnloses Blutbad.
„Seht euch um, ob noch jemand lebt, und dann tragt die Toten zur Beerdigung zusammen“, befahl er und fügte hinzu: „Und verbrennt die Leichen derjenigen, die gegen uns gekämpft haben.“
Stephen zögerte kurz, sagte aber nichts. Daraufhin wandte sich ihm Soren zu. Der andere Mann zuckte so flüchtig zusammen, dass es nicht einmal einen Herzschlag lang dauerte, trotzdem hatte Soren dessen Reaktion bemerkt. Schlimmer als das flüchtige Zucken war jedoch das Mitleid, das nur für einen kurzen Moment in den Augen dieses eigentlich so abgehärteten Kriegers aufblitzte.
Sorens Magen verkrampfte sich auf eine mittlerweile vertraute Weise, so wie es immer wieder geschah, wenn er mit diesem ständig gleichen, unausweichlichen Verhalten derer konfrontiert wurde, die sein Gesicht zu sehen bekamen. Stets war es Angst, Entsetzen oder Abscheu, gleich darauf gefolgt von Mitleid. Bei Gott, wie leid er das doch war! Er wandte sich ab und ging davon, ohne darauf zu warten, ob seine Befehle ausgeführt wurden oder nicht.
Der Hass sorgte dafür, dass das Blut in seinen Adern weiterhin kochte. Er würde die Abkömmlinge von Durward of Alston aufspüren und jeden noch Lebenden vernichten, um diesen Namen für immer vom Antlitz der Erde verschwinden zu lassen. Die Haut über seiner gezackten Narbe, die sich über sein Gesicht bis hinunter zum Hals zog, begann daraufhin zu jucken. Es erinnerte ihn eindringlich daran, was dieser feige Angelsachse getan hatte, nachdem das Gefecht bereits vorüber gewesen war. Aber Soren widerstand dem drängenden Wunsch, die Narbe zu berühren, weil er im Moment von zu vielen beobachtet wurde.
Ein weiterer von Brice’ Männern rief nach ihm, und Soren gab ihm mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass er sich nähern sollte. Begleitet wurde er von einem Priester, der den Kopf gebeugt hielt und Gebete flüsterte. Da der Priester nicht auf den Weg achtete, stieß er mit Ansel zusammen und sah verdutzt hoch. Als sich seine und Sorens Blicke trafen, geschah das Unvermeidliche – das Entsetzen, die Angst!
Instinktiv bekreuzigte sich der Geistliche und wandte den Kopf zur Seite, als könnte er sein Gegenüber nicht länger ansehen. Zorn und Hass überkamen Soren, und er brüllte: „Schaff ihn weg, Ansel!“ Seine Stimme hallte durch die Stille, und alle, die bislang nicht in seine Richtung geschaut hatten, drehten sich spätestens jetzt zu ihm um. Doch das kümmerte Soren im Augenblick nicht.
„Soren, er will doch nur die Toten segnen“, machte Ansel ihm gelassen klar, da er sich von dem Wutausbruch nicht beeindrucken ließ.
Angestrengt schnappte Soren nach Luft und versuchte, die Kontrolle über sich zurückzuerlangen, während der Drang danach, irgendjemandem wehzutun und ihn auszulöschen, wie Feuer durch seine Adern fegte und ihn zu überwältigen drohte. Er ballte die Hände zu Fäusten und presste die Lippen zusammen, bis diese Raserei wieder nachließ. Unterdessen kauerte der Priester vor ihm, und alle Leute ringsum – Untergebene genauso wie Schurken – warteten gebannt darauf, was er als Nächstes tun würde.
Keinen Ton konnte er herausbringen, so sehr schnürte ihm die Wut die Kehle zu. Arme und Hände schmerzten von der Anstrengung, weil er sich mit aller Macht daran hindern musste, jemanden zu verletzen, egal wen. Also nickte er Ansel nur wortlos zu, ehe er sich abwandte und weiterging. In solchen Momenten half nur Arbeit, harte, körperlich anstrengende Arbeit, die an seinen Kräften zehrte und so ein wenig den Hass in seiner Seele linderte. Also ging er dorthin, wo die Männer die Toten von den Feldern trugen, und schloss sich ihnen wortlos an, um ihnen dabei zu helfen.
Stunden später war Soren so erschöpft von den langen Ritten der letzten Tage, vom Gefecht an diesem Morgen und vor allem vom Beisetzen der Toten, dass er es kaum bis zu seinem Nachtlager schaffte. Es würde noch Tage dauern, ehe alle Getöteten beerdigt waren und die Ordnung wiederhergestellt worden war, sodass er sich auf den Weg nach Alston machen konnte. Tage, die sinnlos vergeudet wurden und die er hätte nutzen sollen, um die Kontrolle über sein eigenes Land zu übernehmen – und alle zu töten, die mit Durward verwandt waren.
Er hatte Obert und Brice sein Wort gegeben, also blieb ihm keine andere Wahl, als das hier erst einmal zu Ende zu bringen. Genau das würde er auch tun, selbst wenn er nicht glücklich darüber war. Nachdem er die Urkunde in den Händen gehalten und die Worte gesprochen hatte, die ihn zum Gefolgsmann des Königs machten, und nachdem ihm schlussendlich auch noch vom Bischof der Segen erteilt worden war, hatte seine Anspannung sich zunehmend gesteigert. Mit jeder Stunde, die verstrich, mit jedem Tag, der ins Land ging, trieb ihn das Verlangen an, seinen Grund und Boden für sich zu beanspruchen. Es war wie ein Hunger, der seinen Magen nach einem Mahl rufen ließ, das er gar nicht essen konnte oder sollte.
Mit jedem weiteren Tag wuchs die Furcht davor, jemand könnte ihm seine Träume vor der Nase wegschnappen. Diese Träume, die ihm hingehalten wurden wie ein Knochen einem hungrigen Hund, veranlassten ihn dazu, ganz nach der Pfeife des Königs zu tanzen, ohne Rücksicht auf die Gefahren, in die er sich dabei womöglich begab. Soren und seine Freunde waren allesamt Bastarde, niemals dazu bestimmt, Reichtum und Land zu erben und zu verwalten. Die Gelegenheit, die der König ihm bot, war etwas noch nie Dagewesenes, und die Gefahr eines Scheiterns lähmte ihn bei jedem seiner Schritte, ganz so, wie es auch bei Giles und Brice der Fall gewesen war.
Aber er sagte sich zum sicher tausendsten Mal, seit er aus der Ohnmacht erwacht war und vom Angebot von Bischof Obert erfahren hatte, dass es jetzt nicht mehr von Bedeutung war. Sorens Träume und Hoffnungen waren auf dem Schlachtfeld begraben worden, denn er lebte jetzt nur noch für die Rache. Auch wenn er das Geschenk des Königs anzunehmen gedachte, hatte er sich bislang keine Pläne zurechtgelegt, was er damit anfangen sollte.
Am Abend des fünften Tages, an dem er Shildon für Brice ‚erledigt‘ hatte, überkam ihn sein schlechtes Gewissen. Zudem wurde er auf die Ironie des Ganzen aufmerksam. Für Alston hatte er sich schließlich nichts anderes vorgenommen als das, was Oremund hier getan hatte, nämlich alles in ein Flammeninferno zu stürzen und alles Dagewesene auszuradieren, damit er sein eigenes Zeichen setzen konnte. Er fragte sich, ob er wohl Mitleid mit der Brut von Durward empfinden würde, wenn er sie alle getötet hatte, und ob er damit dann auch die Vergangenheit hinter sich lassen könnte.
Der Schlaf ereilte ihn, bevor er eine Antwort auf seine Fragen fand.
Soren befahl seinen Männern aufzusitzen, dann stieg er in den Sattel seines eigenen Pferds. Er musste sich ein Lächeln verkneifen, da es ihn nur noch dämonischer wirken lassen würde. Nachdem er das Land gesichert hatte und die Überlebenden unterworfen worden waren, ließ Soren einen von Brice’ Männern hier zurück, der so lange das Sagen haben würde, bis Brice entschieden hatte, wer diese Ländereien für ihn verwalten sollte.