Die Schöne und der Bastard - Kapitel 15

~ Kapitel 15 ~

Da er zu rastlos war und keinen Schlaf fand, unternahm Soren einen Spaziergang. Der Mond beschien seinen Weg, und er fühlte sich versucht, im kalten Wasser des nahen Flusses Linderung zu finden, entschied sich dann aber doch nur für einen Spaziergang.

Er hatte nicht vorgehabt, in dieser Nacht das Bett mit Sybilla zu teilen, doch als sich die Gelegenheit ergeben und sie nicht abgeneigt gewirkt hatte, da war er so kühn gewesen, sie zu berühren. Das war sein Verderben gewesen, denn es hatte ihm nicht genügt, sie bloß ein Mal zu berühren, zu küssen, zu liebkosen. Sybilla ihrerseits war vermutlich gar nicht bewusst gewesen, mit welcher Erregung ihr Körper auf seine Umarmung und jede seiner Berührungen reagiert hatte.

Er zog den Knoten auf, der die Bänder seiner Lederkappe zusammenhielt, dann nahm er die Kappe vom Kopf. Wieder musste er sich den Schweiß von der Stirn wischen, da die bloße Erinnerung an ihren Körper viel zu erregend war.

Außerdem wurden dabei Erinnerungen wach an den Mann, der er früher einmal gewesen war, den Mann, der mit Leichtigkeit jede Frau verführt hatte.

Früher.

Er stolperte über einen Stein auf seinem Weg, den er im schwachen Mondschein nicht gesehen hatte. Das geschah ihm ganz recht, wenn er einen solchen Spaziergang ausgerechnet dann unternehmen musste, wenn er mit seinen Gedanken bei seiner Ehefrau war, jener unschuldigen Sirene, die im allerletzten Moment entschieden hatte, sich ihm doch nicht hinzugeben.

Ihr mangelndes Vertrauen ihm gegenüber konnte er nur zu gut verstehen, immerhin hatte er damit gedroht, alles zu zerstören, was ihr gehörte. Dennoch wollte er, dass sie ihm vertraute. Er konnte ihr nicht das Augenlicht wiedergeben, so wie ihm niemand den unversehrten Körper zurückgeben konnte, den er einmal besessen hatte. Aber er hielt es für eine gute Idee, ihr wieder eine Aufgabe zu übertragen, damit sie sich nicht überflüssig und unnütz fühlte.

Soren konnte auch ihre Überzeugung verstehen, dass sie ihren Leuten nun nichts mehr zu geben in der Lage war. Er wusste, sie fühlte sich außerstande, irgendeine von den Aufgaben zu erledigen, mit denen sie früher Alston und ihrem Vater gedient hatte. Ihr war aber nicht klar – und er selbst hatte es auch nicht auf Anhieb erkannt –, dass ihr Verstand ihr größtes Kapital war und dass ihre Erfahrung und ihr Wissen etwas Wertvolles darstellten, das wichtiger war als die Fähigkeit zu nähen oder zu weben.

Er bog um die südwestliche Ecke der Festungsmauer, als er abrupt stehen blieb.

Weben. Natürlich.

Ihm kamen die alten, fast blinden Frauen aus dem Dorf ins Gedächtnis, in dem er aufgewachsen war. Sie konnten so gut wie nichts von dem sehen, was sie fertigten, aber nachdem erst einmal jemand für sie die Spulen mit der Wolle in verschiedenen Farben aufgesteckt hatte, konnten sie ihre Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes blindlings erledigen. Sybilla würde nie in der Lage sein, große Teppiche mit komplexen Mustern zu weben, aber einfach gemusterte Kleidungsstücke sollten für sie machbar sein. Lächelnd fragte er sich, wohin seine Männer wohl den von ihm zerschmetterten Webstuhl gebracht hatten.

Würde Gott ihn wohl zu einer noch schlimmeren Verdammnis verurteilen, weil er den Priester belogen hatte? Immerhin war es überhaupt nicht Sorens Absicht, sich von Sybilla zu trennen, falls ihre Blindheit dauerhaft bleiben sollte. Das wäre sogar die Antwort auf all seine Gebete, wobei es ihn nicht kümmerte, ob die Kirche oder irgendjemand sonst diese Blindheit als einen Makel betrachtete. Für ihn war es einfach nur eine göttliche Fügung in seinem ansonsten verfluchten Dasein, und er betete jeden Abend dafür, dass es so bleiben möge.

Soren hatte Sybilla nicht die ganze Wahrheit erzählt, und womöglich war ihr aufgefallen, dass er ihr etwas verschwieg. Auch wenn er das niemandem gegenüber zugegeben hätte, wusste er, dass sie in ihm, sollte sie wieder sehen können, nichts anderes erblicken würde als das dämonisch aussehende Ungeheuer, dem er glich – eine Kreatur mit Narben, die sein Gesicht entstellten und sich über seinen halben Körper zogen. Er wusste, sie würde keinen Moment länger seine Frau sein wollen, so wie er nicht das Entsetzen in ihren Augen sehen wollte, wenn sie ihn anschaute. So oder so würde er sie freigeben.

Nicht gelogen waren seine Worte, dass ihre Hilfe in Alston benötigt wurde. Was er ihr im Gegenzug bieten konnte, war zwar nicht zwangsläufig ihre Freiheit, sondern eine Gelegenheit, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und Erfahrung darin zu sammeln, als Blinde an einem Ort zu leben, den sie noch aus der Zeit kannte, als sie sehen konnte. Wenn sie ihn dann verließ und anderswo ein neues Leben begann, würde sie sich dabei sicherer fühlen. So wie er von Neuem hatte lernen müssen zu gehen, zu sehen, zu kämpfen und zu reiten, musste auch sie noch einmal ganz von vorn anfangen. Und wo konnte sie das besser als in Alston, wo sie vermutlich jeden Winkel kannte? Aber das behielt Soren vorläufig noch für sich, weil Sybilla sich dem Punkt näherte, an dem Mitleid nichts anderes bewirken würde als ihren Willen zu brechen.

Soren wusste, dass dieser Moment nicht mehr fern war, da er ihn selbst durchlebt hatte.

Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen bedeutete, dass er ihr nach Kräften helfen würde, diese pechschwarze Nacht zu überstehen, die näher und näher rückte.

Zu gern hätte er mit jemandem über seinen Plan gesprochen, und er wünschte, Brice würde zusammen mit den Männern herkommen, die er ihm schickte. Dann hätte er wenigstens mit einem Freund reden können, denn so sehr es ihm auch missfiel, benötigte er bei seiner Unternehmung Hilfe. Er brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte.

Zum vierten Mal in dieser Nacht passierte er das Tor und entschied, dass er lange genug spazieren gegangen war. In der Feste würde er nach den Überresten des Webstuhls suchen und sich dann für den Rest der Nacht in sein Gemach zurückzuziehen. Am Morgen wartete mehr als genug Arbeit auf ihn.

Als er den Webstuhl fand und feststellte, dass sogar noch die Fäden mit ihren kleinen tönernen Gegengewichten an der Konstruktion hingen, nickte er zufrieden. Zwar besaß er keinerlei Erfahrung in der Arbeit mit Holz und erst recht kannte er sich nicht mit Webstühlen aus, weshalb er auch nicht beurteilen konnte, ob sich da noch etwas reparieren ließ oder ob ein komplett neues Modell her musste. Aber es gab hier Männer, die sich mit beidem auskannten, und mit ihnen würde er gleich am Morgen über diesen Webstuhl reden.

Er ging zurück zur Küche. Dabei bemerkte er ein Paar, das nahe der Tür zum Hof stand und sich unterhielt. Auf den ersten Blick erkannte er die beiden als Larenz und Aldys, die kratzbürstige Dienerin Sybillas.

Sehr interessant …

Soren hatte zuvor nicht darauf geachtet, in der Gesellschaft welcher Frauen der alte Mann anzutreffen war, doch das hier konnte für seinen Plan sogar sehr nützlich sein. Er brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte und dem auch Sybilla vertrauen würde. Gleich am nächsten Morgen musste er mit Larenz reden und sich dessen Mitarbeit sichern.

Als er den winzigen Raum erreichte, den er zu seinem Gemach bestimmt hatte, war Soren zu dem Schluss gekommen, dass zwischen ihm und Sybilla schon alles gut ausgehen würde. Er würde – wenn auch wohl nur vorübergehend – eine Ehefrau bekommen, und sie erhielt ihrerseits die Gelegenheit, Selbstsicherheit zu erlangen, die ihr von Nutzen sein würde, wenn sie Alston verließ und anderswo ein neues Leben begann.

Aber vielleicht würde sie auch einfach ihre Blindheit als unwiderruflich hinnehmen und bei ihm bleiben.

 

Als Sybilla nach einer unruhigen Nacht erwachte, wünschte sie sich, den Rest des Tages im Bett zu verbringen, da sie durch das Fenster den Sturm und den Regen hören konnte. Der Sturm wehte so heftig, dass die meisten Leute vor ihm Schutz suchten, nur Lord Sorens Männer hielten sich auf dem Hof auf und übten trotz des schlechten Wetters Kampftechniken. Hin und wieder übertönte Sorens Stimme den Kampflärm, wenn er Anweisungen erteilte. Als Gytha und Aldys hereinkamen, schickte Sybilla sie unter dem Vorwand, abermals unter Kopfschmerzen zu leiden, wieder fort und blieb weiter im Bett. Von Zeit zu Zeit kam Aldys vorbei, um nach ihr zu sehen, aber selbst das konnte Sybilla nicht dazu bewegen, das Bett zu verlassen.

Die Männer beendeten ihre Kampfübungen gerade rechtzeitig, bevor es noch schlimmer zu regnen begann und Blitz und Donner den Aufenthalt im Freien zu einem riskanten Unterfangen machten. Inzwischen hatte Sybilla sich aus dem Bett gequält und die Sachen zurechtgelegt, die sie anziehen musste. Das Unterhemd stellte für sie kein Problem dar, doch die Schnüre des Mieders würde sie ohne fremde Hilfe nicht zuziehen können.

Sybilla hoffte, dass Aldys bald wiederkommen würde, damit sie ihr Kleid schließen konnte. Sie nahm eine Decke vom Bett und wickelte sich darin ein, um die Kälte zu vertreiben, die das Wetter mitgebracht hatte. Kaum hörte sie, wie die Tür aufging und Aldys hereinkam, sprang sie von ihrem Platz und drehte der Tür den Rücken zu.

„Aldys, schnell, binde die Schnüre, ich kann das nicht allein“, sagte sie. Ein kalter Schauer lief ihr über die Haut, als sie die Decke wegnahm, damit ihre Dienerin an die Schnüre herankam.

Die Finger, die nach den Schnüren griffen, waren jedoch nicht die ihrer Dienerin, weshalb Sybilla sich wegzudrehen versuchte. Der Unbekannte fasste sie aber an den Schultern und brachte sie dazu, vor ihm stehen zu bleiben. Das leise Lachen verriet, dass es sich um Lord Soren handelte.

„Ich bin zwar nicht Aldys, aber ich bin mir sicher, dass ich die Schnüre deines Mieders auch meistern werde.“ Er begann sie fester zu zurren, dabei spürte Sybilla die Wärme seiner Finger, die immer wieder ihre Haut berührten.

Ihr verräterischer Körper erinnerte sich an Sorens Berührungen, und sie versuchte sich gegen die Hitze zu wehren, die durch ihre Adern strömte. Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn er die Schnüre löste, den Stoff zur Seite schob und seine Hände auf ihre nackten Brüste legte? Und wie wäre es, wenn er sie dann wieder gegen seine harte, muskulöse Brust drückte? Wenn er … „So, Sybilla. Das wäre erledigt“, sagte er und trat einen Schritt zurück.

Ihre Wangen mussten inzwischen rot glühen, so heiß war ihr, und ihre Brustspitzen drückten fast schon fordernd gegen den Stoff ihrer Kleidung. Würde er solche Feinheiten bemerken? O ja, ganz sicher sogar! Ein Mann, der so viel Erfahrung mit Frauen gesammelt hatte, musste das erkennen. Zweifellos achtete er bei jeder Begegnung mit einer Frau auf Hinweise darauf, ob und wie erregt sie war, wenn er sie erst einmal zu seiner Beute erklärt hatte.

Sie atmete tief durch und versuchte, die Beherrschung über sich zurückzuerlangen, nachdem seine bloße Nähe sie schon so außer Kontrolle gebracht hatte.

„Ich danke Euch, Lord Soren“, sagte sie.

„Soren ist mein Name, Sybilla. Ich möchte, dass du mich so anredest, nicht länger mit ‚Lord Soren‘ und ‚Ihr‘ und ‚Euch‘.“

Das erschien ihr zu gefährlich, also wechselte sie schnell das Thema. „Ich weiß nicht, wo Aldys hin ist“, sagte sie stattdessen und ging ein paar Schritte nach vorn, wobei sie nur hoffen konnte, dass sie nicht gegen die Zimmerwand lief.

„Ich habe sie losgeschickt, damit sie etwas für mich erledigt“, ließ er sie wissen. „Sie dürfte bald wieder hier sein.“

Das hieß also, bis zur Rückkehr ihrer Dienerin war sie mit ihm allein. Sie drehte sich um und versuchte zu bestimmen, wo sie in etwa stand. Seine Berührungen hatten sie jedoch so verwirrt, dass sie in ihren eigenen Gemächern die Orientierung verloren hatte. Plötzlich griff er nach ihrer Hand und zog Sybilla zu sich heran.

„Hier ist dein Stuhl“, sagte er leise, dirigierte sie noch ein paar Schritte in seine Richtung und legte ihre Hand auf die Armlehne. Sie setzte sich hin und schlang sich die Decke um, die sie die ganze Zeit mit einer Hand festgehalten hatte.

„Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich dich um einen Gefallen bitten, Sybilla.“

Seine Stimme verriet ihr, dass er auf Abstand zu ihr gegangen war, und sie entspannte sich ein wenig. „Einen Gefallen, Lord … Soren?“ Es würde eine Weile dauern, ehe sie sich daran gewöhnt hatte, die viel vertrautere Anrede zu benutzen.

„Euer kalter Regen macht meinen … Verletzungen zu schaffen. Darf ich noch einmal deine Gemächer benutzen, um ungestört ein Bad zu nehmen?“, fragte er.

„Ist es bei Euch … bei dir zu Hause wärmer als in England?“, erkundigte sie sich, während sie versuchte, sich nicht vorzustellen, wie er sich abermals nackt in ihren Gemächern aufhalten würde. Dabei half ihr die Erkenntnis, dass er ihr gegenüber noch nie von seinem Zuhause gesprochen hatte und sie allein auf Gythas Tratschgeschichten angewiesen war, um Dinge über ihn zu erfahren, die Gytha wiederum nur von Stephen gehört hatte.

„Oui“, antwortete er. „Aye. Der Wind vom Meer ist sanft, und die Sonne wärmt das Land. Die Bretagne ist ein wunderschöner Ort.“

„Alston und England sind auch wunderschön“, erwiderte sie und kam sich dabei vor, als müsste sie die Ehre ihres Landes verteidigen.

„Aber hier regnet es häufig“, hielt er dagegen.

Das traf zwar zu, jedoch hatte sie keine Erfahrung mit dem Wetter an anderen Orten, daher konnte sie nichts dazu sagen, ob es irgendwo mehr oder weniger regnete als hier. Mit ihrem Vater war sie nur einmal bis nach Hexham gekommen, deshalb hatte sie keine geeigneten Vergleichsmöglichkeiten.

„Also? Darf ich mir ein Bad kommen lassen?“, hakte er nach.

„Aye, Lor… Soren. Wann möchtest du baden?“

Die Diener benötigten einige Zeit, um das Wasser zu erhitzen und alles zu ihr zu schaffen. Und sie würde diese Zeit woanders verbringen müssen, überlegte sie, wobei ihr der Gedanke kam, unbedingt die Küche aufzusuchen, damit sie dem Koch für alles danken konnte, was er am Abend zuvor für sie zubereitet hatte.

„Ich hatte gehofft, dass du einverstanden sein würdest, da ich Aldys bereits losgeschickt habe, um alle Vorbereitungen zu treffen.“

Sie stand auf und zog die Decke noch fester um sich, dann nickte sie. In den letzten Tagen hatte sie beim Gehen die Schritte mitgezählt, so wie Guermont es machte, wenn er sie begleitete. Daher wusste sie, die Tür war sechs Schritt von ihr entfernt. Sie hatte sie eben erreicht, da bemerkte sie, dass Soren dicht hinter ihr war.

„Du musst nicht weggehen, während ich bade, Sybilla.“

„Ich möchte, dass du ungestört baden kannst“, erwiderte sie und tastete nach dem Riegel.

„Ich habe dich gestern Abend erschreckt, und ich möchte mich für mein kühnes Verhalten entschuldigen“, sagte er leise.

Sie war sich nicht sicher, was sie mehr erschreckt hatte – sein Verhalten oder die Reaktionen ihres Körpers. Dass ein Fremder sie so intim berührte und ihr Körper dennoch nur nach mehr verlangen konnte, das erschien ihr unglaublich. Sie hob den Riegel an.

„Wohin willst du gehen?“, fragte er und blieb weiter so dicht hinter ihr stehen, dass sein Atem über ihr Gesicht strich.

„Ich war schon seit vielen Tagen nicht mehr unten im Saal. Ich glaube, ich werde den Menschen dort einen Besuch abstatten“, antwortete sie und versuchte so zu klingen, als sei sie von ihrer Entscheidung absolut überzeugt.

„Gut, dann nimm meinen Arm und lass dich von mir nach unten begleiten“, bot er sich an.

Da sie so schrecklich zitterte, war es wohl ein guter Vorschlag, denn sie vermutete, dass sie spätestens nach ein paar Stufen einen falschen Schritt machen und die Treppe hinunterstürzen würde. Er zog die Tür auf, dann legte er ihre Hand auf seinen Arm, der sich kalt und feucht anfühlte. An der Treppe angekommen, wartete er, bis sie nach dem Seil an der Wand gegriffen hatte. Er versetzte sie in Erstaunen, da er sich an Guermonts Vorgehensweise hielt und sie einen Schritt nach dem anderen machen ließ, während er auf dem Weg nach unten eine Stufe nach der anderen zählte.

Nach der Geräuschkulisse zu urteilen hatten im Saal viele Leute Zuflucht vor dem Unwetter gesucht. Da es in der Umgebung seit einer Weile immer wieder zu Rebellenangriffen kam, hatte Soren angewiesen, dass die Leute aus dem Dorf auf das Gut umziehen sollten. Das war mit ein Grund dafür, wieso es im Saal so laut zuging, doch der Lärm verstummte in dem Moment, als sie bei Soren untergehakt den weitläufigen Raum betrat.

Von Sorens Soldaten abgesehen kannte sie jeden in Alston von Kindheit an, dennoch kam sie sich vor, als wäre sie unter Fremden. Keinen von ihnen sehen zu können, weckte bei ihr in dieser Situation großes Unbehagen. Soren führte sie durch den Saal und gab ihr im Flüsterton Richtungsanweisungen, bis sie die große Tafel am Kopfende des Saals erreicht hatten, die dort immer stand.

„Bringt Lady Sybilla einen Stuhl!“, rief er, als sie um die Tafel herumgingen. Sie hörte das Gemurmel der Leute, hastige Schritte, und dann blieb Lord Soren zusammen mit ihr stehen. Er nahm seinen Arm fort und drehte sie so, dass sie sich hinsetzen konnte. Als er sich über sie beugte, um die Decke um ihre Schultern geradezuziehen, sagte er leise zu ihr: „Es sind nur zwanzig Schritte geradeaus und dann einer nach rechts, um die Treppe zu erreichen, aber ich werde Guermont herschicken, damit er dich abholt und in deine Gemächer begleitet, falls du dorthin zurück willst, bevor ich zu Ende gebadet habe.“

Bei seinen Worten wurde ihr wieder heiß, und besonders ihre Wangen begannen zu glühen. Sie wusste, er hatte das mit Absicht gemacht. Entspannen konnte sie sich erst, wenn er gegangen war, doch zumindest fand sie schnell heraus, dass er den Saal tatsächlich verlassen hatte, weil die Leute in diesem Moment wieder zu reden begannen. Es dauerte ein wenig, dann traute sich einer der Anwesenden, zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden. Andere folgten, und Sybilla unterhielt sich mit jedem Einzelnen von ihnen, fragte, wie es der Familie ging, und erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen. Viel Zeit verbrachte sie damit, bis ihr auf einmal etwas auffiel, als sie mit den Fingern über die Armlehnen des Stuhls strich und diese kunstvollen Schnitzereien ertastete, die sie nur zu gut kannte. Das … das war der Platz des Hausherrn der Feste – der Platz ihres Vaters! Plötzlich hatte sie das Gefühl, eine ungeheure Last würde auf sie einstürzen.

Ihr Vater war tot. Ebenso ihr Bruder. Jeder, von dem sie geliebt worden war und den sie geliebt hatte, war tot. Keiner war mehr da.

Und sie konnte nichts für ihre Leute tun, die sie jetzt am dringendsten brauchten. Sie konnte ihre Leute ja nicht einmal sehen! Sie wusste nicht, in welcher Verfassung sich jeder Einzelne befand. Niemals wieder würde sie in diese Gesichter blicken können, und nie wieder würde sie die Feste Alston im Morgengrauen oder bei Sonnenuntergang sehen.

Man hatte sie dazu bringen wollen, das Unvermeidliche zu akzeptieren, aber sie hatte sich geweigert. Und nun brach die Wahrheit über sie herein. Seit dem Unglück hatte sie keine Veränderung ihres Zustands erkennen können, keine Verbesserung, keinen schwachen Lichtschimmer. Nichts als Dunkelheit, wohin sie auch sah. Dunkelheit, die sie zu ersticken versuchte. Sie konnte spüren, wie die Schwärze ihr die Luft aus den Lungen zog.

Abrupt begann sie nach Luft zu schnappen und sprang auf, weil sie weglaufen wollte – fort von der Wahrheit und den Lügen, fort von jedem und allem. Aber sie konnte nicht weglaufen, weil sie nichts sah. Die Leute riefen ihren Namen und versuchten ihr zu helfen, aber die Rufe veränderten sich zu gellenden Schreien, zu Schmähungen und Beleidigungen, die ihr von allen Seiten entgegenschlugen. Sie stolperte vorwärts, versuchte die Schritte zu zählen, verzählte sich und blieb stehen, während sie spürte, dass die Leute ganz in ihrer Nähe waren.

Sie konnte nichts sehen!

Sybilla drehte sich wieder und wieder um sich selbst, während sie nach einem Licht in der Schwärze suchte, das ihr den Weg weisen konnte. Aber wohin sie auch sah, überall war es pechschwarz. Sie rieb sich die Augen, weil sie hoffte, die Schicht wegreiben zu können, die ihr die Sicht nahm. Und dann begann die Schwärze selbst um sie herumzuwirbeln.

Sie würde niemals wieder etwas sehen können.

„Hier, Mylady“, sagte jemand. „Eure Gemächer befinden sich in dieser Richtung.“

Sybilla versuchte zu sehen, wer ihr da helfen wollte, aber sie sah natürlich nichts. Die Stimme klang vertraut, doch sie wusste nicht den Namen, der dazugehörte, auch wenn sie ihr Gedächtnis noch so sehr anstrengte. Kurz darauf sagte der bekannte und doch so fremde Mann an ihrer Seite, die Treppe befinde sich nun unmittelbar vor ihr. Sie ließ seinen Arm los, stolperte die ersten paar Stufen hinauf, bis sie das Seil zu fassen bekam, an dem sie sich regelrecht nach oben zog. Mit einem Arm rieb sie dabei ständig an der Mauer entlang, sodass der Ärmelstoff mit jeder Unebenheit der Mauersteine in Berührung kam und mit jeder Stufe ein wenig mehr aufgerissen wurde.

Ihr Schleier verfing sich und wurde ihr vom Kopf gerissen, ihre Hände rutschten ein paar Mal und glitten schmerzhaft über das grobe Seil. Aber sie lief weiter. Von unten rief man ihren Namen, von oben genauso, aber sie sah niemanden.

Weil sie nichts und niemanden sehen konnte.

Außer Atem erreichte sie den Treppenabsatz, taumelte zu schnell ein paar Schritte weit und stieß gegen die Wand. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte, lief sie weiter, diesmal auf der Suche nach dem Mann, der ihren Zustand verursacht hatte. Seinetwegen war sie erblindet, und dafür würde sie ihn bezahlen lassen. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie die Tür zu ihren Gemächern erreicht hatte. Sie riss sie auf und achtete nicht auf diejenigen, die sich ein Stück hinter ihr befanden und ihren Namen schrien. Sie würden doch nur versuchen, sie aufzuhalten.

„Sybilla!“, rief Soren, als sie ins Zimmer gestürmt kam. Sie hörte, wie das Wasser wegen seiner hastigen Bewegung aus der Wanne auf den Fußboden spritzte, aber es kümmerte sie nicht. „Bleib stehen!“, forderte er sie auf, doch auch das kümmerte sie nicht.

Die Tür schlug hinter ihr zu.

Sie würde niemals wieder sehen.

Der Gedanke schlug wie ein Hammer auf ihren Kopf ein und bohrte sich wie eine Klinge in ihr Herz, sodass sie nach Luft zu schnappen begann. Sie hatte den Mann vor sich, der für ihre Blindheit verantwortlich war. Er hatte ihr das angetan, und er prahlte auch noch damit. Er hatte ihr das Land geraubt, er hatte ihr das Augenlicht geraubt, er hatte ihr das Leben geraubt.

„Sybilla“, redete er jetzt leiser auf sie ein. „Sybilla.“

Der Schmerz war so schrecklich, dass sie nicht anders konnte, als sich mit aller Wucht auf die Stimme zu stürzen. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn erwischte und ihm so wehtat, wie er ihr wehgetan hatte.


Die Debütantin und der Wüstling

Sold out

Das verbotene Verlangen des Ritters

Sold out

Die Lady und der nackte Earl

Sold out
Vorheriger Artikel Die Schöne und der Bastard - Kapitel 16
Nächster Artikel Die Schöne und der Bastard - Kapitel 14