Auch wenn in Alston allmählich wieder eine gewisse Routine Einzug hielt, wie Sybilla durch das Fenster hörte, das ihr Portal zur Welt war, blieb sie weiter in ihren Gemächern. Das Stück Pergament, das Lord Soren ihr gebracht hatte, hielt sie die meiste Zeit über zusammengerollt in der Hand. Anstatt jemanden zu bitten, ihr den Text vorzulesen, verbrachte sie die nutzlosen Stunden damit, für die Seelen derer zu beten, die auf dem Pergament aufgeführt waren.
Für die Seelen derer, die ihretwegen gestorben waren.
Das Schlimmste an allem war, dass es ihr jetzt an Mut fehlte, ihre Gemächer zu verlassen und sich zu den Menschen zu begeben, die sich für sie eingesetzt hatten. Aber durch ihre Blindheit konnte sie ihnen auch nicht mehr so als Herrin dienen, wie sie es eigentlich sollte. Außerdem waren ihr mit der Ankunft von Lord Soren und seinen Leuten all ihre Aufgaben entzogen worden, die sie nach dem Tod ihrer Mutter für ihren Vater erledigt hatte. Und zusammen mit diesen Aufgaben waren ihr auch die Feste und alle Helfer weggenommen worden.
Nun herrschte hier ein anderer, dessen Leute über jeden Aspekt des Lebens in Alston wachten. Also saß sie nur noch in ihren Gemächern, wo sie sich vor all dem versteckte, was nicht mehr ihr gehörte, und wo sie sich auch vor den Leuten versteckte, denen sie hätte dienen sollen.
Sie konnte nicht mehr nähen und nicht mehr sticken. Sie konnte auch nicht mehr weben, was sie immer dann mit besonderem Eifer gemacht hatte, wenn sie von Sorgen gequält wurde oder keinen Schlaf finden konnte. Weben linderte ihre Rastlosigkeit und half ihr, sich zu konzentrieren. Wenn sie die Fäden hin und her bewegte, dann war sie in der Lage, um sich herum auch andere Muster zu erkennen. Jetzt dagegen konnte sie sich in keiner Weise mehr nützlich machen, sodass sie dasaß und betete … und sich immer wieder über eine Sache wunderte.
Seit dieser verheerenden ersten Nacht hatte Soren sie nicht wieder angefasst, und er war auch nie wieder auf seine Rechte als ihr Ehemann zu sprechen gekommen. Hatte er beschlossen, die Ehe nicht zu vollziehen? Wollte er sich von ihr trennen?
Sybilla rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, sie fühlte sich vom anhaltenden Nichtstun erschöpft. Ihre Gedanken kreisten nun um diese Möglichkeit.
Vor seinem Angriff hatte sie vorgehabt, ihn zu bitten, sie zu ihrer Cousine ins Kloster gehen zu lassen. Da niemand da war, der einen Anspruch auf Alston geltend machen oder ihm seinen Anspruch streitig machen würde, hatte sie gehofft, dass sein Zorn auf ihre Leute sich verflüchtigte. Vielleicht wäre er ja jetzt damit einverstanden, wenn sie sich nicht gegen die Aufhebung ihrer zum Scheitern verurteilten Ehe aussprach.
Es war ihr gelungen, ein paar Goldmünzen in den Saum ihres Mantels einzunähen, die als Spende an das Kloster genügen sollten, um ihr dort Zutritt zu verschaffen. In diesen schwierigen Zeiten würde man ihr sicher einen Platz geben.
Als hätten ihre bloßen Gedanken seine Aufmerksamkeit erregt, hörte Sybilla gleich darauf die leichten, federnden Schritte des Jungen, den er zu ihr schickte, wenn er Nachrichten zu überbringen hatte. Der Junge blieb im Korridor vor der Tür stehen und redete mit dem einzelnen Wachmann, der dort noch seinen Dienst verrichtete, seit Soren ihr seine Erlaubnis gegeben hatte, ihre Gemächer jederzeit zu verlassen, wenn sie das wünschte. Dann klopfte der Junge an und trat ein.
„Mylady“, meinte er und korrigierte sich sofort: „Ich wollte sagen, ich wünsche Euch einen guten Tag, Mylady.“ Er arbeitete eindeutig an seinen Manieren, und offenbar hatte er jemanden, der sie ihm beibrachte.
„Raed of Shildon“, erwiderte sie in einem Tonfall, der unbeschwerter klang, als ihr eigentlich zumute war. „Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Morgen.“ Warum sollte der Junge unter ihrer schlechten Stimmung leiden?
„Lord Soren lässt ausrichten, dass heute ein Bad zu Euch gebracht wird“, sagte er so bedächtig, als hätte er viel Zeit darauf verwandt, diesen Satz auswendig zu lernen. Welche Bedeutung diese Worte für sie und ihr Leben hatten, das konnte sich der Junge gar nicht vorstellen.
Ihre Dienerinnen verstanden sofort und gaben erschrockene Laute von sich, dann tuschelten sie miteinander. Sybilla lief ein eisiger Schauer über den Rücken, da ihr klar wurde, dass Lord Soren seine ehelichen Rechte einfordern würde … und zwar in der kommenden Nacht!
„Mylady?“ Der Junge räusperte sich und fügte hinzu: „Stimmt etwas nicht?“
„Nein, nein“, sagte sie hastig und schüttelte den Kopf. Es wäre unziemlich, wenn er zu seinem Herrn zurückkehrte und einen Bericht abliefern würde, in dem davon die Rede war, dass sie laut zu schreien begonnen hatte und dann in Ohnmacht gefallen war – auch wenn sie beides in diesem Moment am liebsten gemacht hätte. „Nein“, wiederholte sie mit etwas mehr Nachdruck, um nicht nur den Jungen, sondern auch sich selbst von ihren Worten zu überzeugen. „Gibt es sonst noch etwas?“
Er schwieg kurz, weil er wohl überlegte, ob da noch etwas war. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er die Brauen zusammenzog und angestrengt nachdachte, ob er noch etwas anderes auswendig gelernt und auf dem Weg zu ihr vergessen hatte. „Nein, Mylady, das war die ganze Nachricht.“
Schlurfende Schritte verrieten ihr, dass er ging. „Raed?“
„Aye, Mylady.“
„Wie alt bist du?“ Wäre sie nicht blind gewesen, hätte sie sein Alter anhand seiner Größe schätzen können. So aber hatte sie keinerlei Vorstellung von ihm.
„Fast neun Jahre, Mylady. Ich wurde mehr zum Winter als zum Sommer hin geboren“, erwiderte er.
Sie nickte, aber ihr wollte nichts einfallen, was sie sonst noch zu ihm hätte sagen können.
Wortlos verließ er daraufhin ihr Gemach, blieb noch einmal kurz an der Tür stehen und ging dann nach draußen. Diesmal redete er auch nicht mit dem Wachmann, und gleich darauf lauschte sie seinen Schritten, die sich im Korridor rasch entfernten.
Wie seltsam es doch war, dass ihr bis jetzt noch nie das Echo aufgefallen war, das Schritte auf Holzboden warfen. Vom Hahnenschrei am Morgen und dem gelegentlichen Gesang der nachtaktiven Vögel bei Sonnenuntergang abgesehen war sie bis vor ihrer Erblindung ohnehin auf kaum ein Geräusch aufmerksam geworden. Jetzt dagegen waren die Geräusche das Einzige, was ihr etwas über die Welt um sie herum verriet. Die Betätigungen, die sie durch die Tür und das Fenster hören konnte, waren der einzige Hinweis darauf, dass das Leben auch ohne sie weiterging. Momente später stürmten dann auch schon ihre Dienerinnen auf sie los.
„Er lässt Euch ein Bad kommen?“, rief Gytha. „Ein Bad, Mylady?“
„Das ist eine deutliche Nachricht, Mylady“, ergänzte die stets praktisch denkende Aldys. „Es scheint so, dass er Euch mehr als nur dem Namen nach zur Frau nehmen will.“
Was sollte sie darauf erwidern? Sybilla nickte nur stumm und verspürte ein ängstliches und zugleich auch aufgeregtes Kribbeln im Bauch. All ihre Überlegungen hinsichtlich ihrer Zukunft wurden durch diese eine Botschaft hinfällig, eine Botschaft überbracht von einem kleinen Jungen, der keine Vorstellung davon hatte, welche Folgen diese Worte für ihr Leben haben sollten. All ihre Pläne, Soren eine andere Lösung schmackhaft zu machen, waren vergebens, und sie fand sich mit einem Mal auf dem Weg in ein Leben, das in jeder Hinsicht dem zuwiderlief, was sie ihm in aller Ruhe hatte vorschlagen wollen.
Ein Leben als Ehefrau.
Als Ehefrau eines Mannes, der ihr weniger Beachtung schenkte als seinen eigenen Leuten? Eines Mannes, von dem sie nur die gewalttätige, lautstarke Seite kannte. Eines Mannes, der … der ihren Körper und damit ihr Leben und ihre Zukunft für sich beanspruchen würde.
Sie schluckte mühsam, da die Furcht ihr die Kehle zuschnürte. Ihre Wangen glühten bei dem Gedanken daran, mit diesem Mann das Bett zu teilen, den sie hoch zu Ross auf der Anhöhe gegenüber der Feste gesehen hatte. Sie erinnerte sich noch gut an sein riesiges Pferd, auf dem er gesessen und noch imposanter gewirkt hatte. Und natürlich erinnerte sie sich noch an seine hünenhafte Statur, als er zu ihr ins Bett gestiegen war.
„Gibt es irgendetwas, das ich Euch erklären kann, Mylady?“, fragte Aldys leise, die nun dicht neben ihr stand. „Ihr wart noch sehr jung, als Eure Mutter starb, und vielleicht …“
Sybilla ließ ihr keine Zeit, auf Einzelheiten einzugehen. „Ich bin auf das vorbereitet, was ich zu tun habe, Aldys. Auf jeden Fall besser vorbereitet als beim letzten Mal, als das Entsetzen mein Handeln bestimmte.“ Ganz gleich, ob es zutraf oder nicht, Sybilla sprach diese Worte aus, um sich selbst und ihre Dienerin davon zu überzeugen. „Ich glaube, das Zimmer sollte bis heute Abend gereinigt werden“, sagte sie, um die beiden Frauen zu beschäftigen, damit sie nicht nur über sie nachdachten. „Wirst du dich darum kümmern, Aldys?“
Zuerst dachte sie, ihre Dienerinnen könnten beleidigt sein, dass sie an der Sauberkeit ihrer Gemächer zweifelte, doch sie widmeten sich ohne zu zögern sofort dieser Arbeit – ganz so wie von ihr erhofft. Nur eine beiläufig geflüsterte Bemerkung, die Sybilla dennoch hören konnte, machte sie stutzig. Gytha schien zu glauben, dass sie ihre Bedenken leise genug äußerte und Sybilla nichts davon mitbekam. Aber die bekam jedes Wort mit und konnte nicht anders als am ganzen Leib zu zittern.
„Ihre Blindheit könnte ein Gottesgeschenk sein“, raunte Gytha Aldys zu. „So muss sie wenigstens nicht sein Gesicht sehen, wenn sie mit ihm das Bett teilt.“
So sehr Sybilla sich auch dagegen sträubte, gingen ihr diese Worte wieder und wieder durch den Kopf, sodass sie sich selbst in die Litanei der Gebete aufnahm, die sie im Verlauf der nächsten Stunden sprechen würde.
Raed konnte die Herrin gut leiden. In Shildon hatte es keine Herrin gegeben, nur den Herrn, und der war ein Tyrann gewesen. Jedenfalls hatten sich das seine Eltern immer erzählt, wenn sie glaubten, dass er schlief. Aber er hatte nicht geschlafen, sondern aufmerksam zugehört und dabei erfahren, welche Angst seine Eltern vor dem Mann gehabt hatten, der auf dem Anwesen des alten Lord Eoforwic über sie geherrscht hatte.
Als er sich jetzt seinen weiteren Aufgaben widmete, geriet er ins Grübeln, weil er fürchtete, dass er die Botschaft nicht so gut überbracht hatte, wie es ihm lieb gewesen wäre. Die Worte, die er so oft wiederholt hatte, bis er sie auswendig konnte, waren der Grund dafür, dass die Herrin bleich geworden war und dass ihre Hände angefangen hatten zu zittern. Sein Magen tat ihm weh, wenn er an den Anblick der Herrin dachte. Die Blicke der beiden anderen Frauen in den Gemächern waren genauso unerfreulich gewesen.
Er rannte die Stufen herunter und legte eine Pause ein, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand dabei beobachtet hatte, dann ließ er sich Lord Sorens Befehl noch einmal durch den Kopf gehen und erkannte seinen Fehler. Trotzdem verstand er nicht, wieso die Herrin so große Angst vor einem Bad hatte.
Zurück auf dem Hof, begab er sich dorthin, wo die Gefangenen die Mauer um die Feste herum reparierten. Die Feste war kleiner als die in Shildon, aber laut Larenz immer noch größer als die meisten hier in England. Larenz, der auf ihn aufpasste und ihm jeden Tag Aufgaben zuteilte, war mit der Armee des Invasorenkönigs über das Meer hergekommen. Es freute Raed sehr, dass er eines Tages der Knappe von Lord Soren sein würde, natürlich nur, wenn er seine Pflichten lernte. Und vielleicht würde er ja später, wenn er groß war, sogar irgendwann Ritter werden.
„Was ist los, Junge?“, fragte Larenz, als er näher kam.