Du sollst meine Prinzessin sein - Kapitel 4


~ Kapitel 4 ~

    Das war jedoch nicht weiter verwunderlich. Während dieser seltsamen verwirrenden Tage hatte sie sich stets nach dem Abendessen, sobald Ben gebadet und eingeschlafen war, in ihr Zimmer zurückgezogen und gelesen. Den Fernseher hatte sie absichtlich gemieden. Sie hatte nicht wissen wollen, was man über ihre Schwester und Ben zu sagen hatte.

    „Gibt es ein Problem?“

    Seine samtige Stimme klang kühl. Er schien sie schon einige Zeit angesehen zu haben.

    „Warum sind Sie hier? Ist etwas passiert? Etwas Schlimmes? Gibt es schlechte Nachrichten?“, fragte sie gepresst.

    „Außer den erwarteten? Nein. Haben Sie die Berichte nicht gesehen?“ Seine Miene war vollkommen verschlossen. Offenbar war er es nicht gewohnt, dass man so mit ihm sprach, aber das kümmerte Lizzy nicht.

    „Ich bin auf Wunsch meines Vaters hier. Aus Gründen, die auch Ihnen offensichtlich sein müssten, Miss Mitchell.“

    „Ich verstehe nicht ganz.“

    Sein Mund bildete eine schmale Linie, und er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu.

    „Wir besprechen diese Angelegenheit später“, meinte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder allein Ben zu.

    Angst machte sich in ihr breit. Wie sie das Frühstück überstand, wusste sie nicht. Und obwohl es ihr nicht gefiel, war sie dankbar für Bens muntere Unterhaltung mit dem Prinzen. So gelang es ihr, wenigstens ein paar Bissen zu schlucken.

    Kaum war Ben mit seinem Frühstück fertig, stand sie auf.

    „Komm mit, Ben“, sagte sie.

    „Tio Rico hat versprochen, mit mir schwimmen zu gehen.“

    „Nicht direkt nach dem Essen“, erwiderte sie ruhig. „Davon bekommst du Bauchschmerzen. Außerdem musst du erst deine Zähne putzen“, fügte sie hinzu und führte ihn aus dem Zimmer.

    Oh Gott, was jetzt? dachte sie, als sie den langen Flur betraten. Warum war er zurückgekommen? Und warum sollte seine Rückkehr für sie offensichtlich sein? Für sie war gar nichts offensichtlich. Sie wollte nur, dass alles vorbei war, und mit Ben wieder in ihr Cottage einziehen.

    Nachdem Ben seine Zähne geputzt hatte, gingen sie wieder hinunter in den Salon, wo seine Spielzeuge waren.

    Prinz Enrico wartete bereits auf sie.

    „Das ist eine gute Eisenbahn, Ben“, sagte er.

    Begeistert rannte Ben auf ihn zu. „Zu Hause habe ich eine größere, aber wir konnten nicht alle Teile mitnehmen.“ Er setzte sich neben die aufgebauten Gleise und begann dem Prinzen, der sich neben ihn hockte, die einzelnen Lokomotiven zu erklären.

    Abrupt wandte Lizzy den Kopf ab. Sie wollte nicht sehen, wie sich der Stoff der maßgeschneiderten Hose über Ricos muskulöse Beine spannte.

    Verflixt! War es nicht schon schlimm genug, dass er ein Prinz war?

    Sie ließ sich auf eines der Sofas gleiten. Wollte der Mann denn überhaupt nicht mehr gehen?

    Augenscheinlich nicht. Er blieb, wo er war, und lauschte Bens begeisterten Worten über seine Züge. Lizzy versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, und scheiterte völlig.

    Nach einer Ewigkeit stand Ben plötzlich auf.

    „Können wir jetzt schwimmen gehen?“

    Erleichtert erhob sie sich. „Gute Idee. Komm, wir holen deine Sachen.“ Sie nickte unbehaglich in Richtung des Prinzen, der gleichzeitig mit ihr aufgestanden war.

    Zu ihrer größten Bestürzung befand er sich jedoch bereits im Wasser, als sie, die Tasche mit den Schwimmsachen in der Hand, das Schwimmbad betraten.

    Mit raschen Kraulzügen durchquerte Rico das Wasser und hielt inne, als er das Ende des Beckens erreichte, an dem sie standen.

    „Ben, da bist du ja“, sagte er. „Komm ins Wasser.“

    Entsetzt und fasziniert zugleich starrte Lizzy ihn an. Er hatte sich halb aus dem Wasser gestemmt und die Arme auf dem Beckenrand abgestützt. Wassertropfen perlten von seiner Brust.

    Sein Oberkörper war glatt und muskulös, perfekt definiert, wie bei einem Sportler.

    Sie wandte den Blick ab. So schnell er konnte, zog Ben seine Kleider aus. Mit zusammengebissenen Zähnen blies sie seine Schwimmflügel auf und streifte sie ihm über die Arme.

    „Schneller, schneller“, rief Ben und wand sich voller Vorfreude. Kaum war sie fertig, rannte er los und sprang ins Wasser.

    Hastig sammelte Lizzy seine Kleidung ein und ging zu den Liegestühlen hinüber, die vor der Fensterfront aufgereiht waren. Lizzy war froh, dass Rico vor ihr im Wasser gewesen war, so blieb ihr wenigstens eine Peinlichkeit erspart.

    Sie setzte sich. In diesem sonnendurchfluteten Bereich war ihr in ihrer Kleidung viel zu warm, aber daran ließ sich nichts ändern.

    Es schien dem Prinzen unglaublich viel Spaß zu machen, mit einem vierjährigen Kind im Pool zu planschen. Er spritzte mit Wasser, tauchte unter und jagte Ben wie ein Hai, bis der Junge glücklich aufschrie.

    Verärgerung und Wut stiegen in ihr auf. Was sollte das? Warum tat Prinz Enrico das? Es trug nur dazu bei, Ben zu verwirren, das war alles. Und es weckte den Wunsch nach etwas in ihm, das er niemals haben konnte.

    Er hat keinen Vater. Er hat keinen Onkel. Er hat niemanden. Nur seine Tante.

    Und es war Ben gegenüber nicht fair, ihn einen Blick auf ein Leben mit einem Vater erhaschen zu lassen. Mit einem Vater, der mit ihm spielte und ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkte.

    Der ihn zum Lachen brachte.

    Lizzy wollte nach Hause. Sie wollte, dass die Sache endlich vorbei war. Vorbei und vergessen.

 

Rico half Ben aus dem Pool. Er warf einen Blick in die Richtung, in der Lizzy saß. Ihr Gesicht war von der Sonne gerötet. Sie sah furchtbarer aus denn je.

    Die halb spöttischen, halb sachlichen Worte seines Bruders kamen ihm in den Sinn. „Du bist der Experte, wenn es um Frauen geht. Und wenn sie hässlich ist, umso besser. Dann bist du immun gegen sie.“

    Zumindest Letzteres entsprach der Wahrheit. Was allerdings den ersten Teil anging … mit dieser Sorte Frauen kannte er sich ganz und gar nicht aus.

    Mit anmutiger Leichtigkeit stemmte er sich aus dem Pool. Lizzy hatte Ben bereits in ein Handtuch gehüllt und trocknete den Jungen ab. Rico schlenderte zu den abgeteilten Kabinen hinüber, um sich umzuziehen.

    Seine Miene wurde hart. Je eher er die Angelegenheit hier regelte und nach San Lucenzo zurückkehren konnte, desto besser.

    Aber es hatte gutgetan, Ben kennenzulernen.

    Paolos Sohn.

    Sein Gesichtsausdruck wurde wieder weich.

    Ich kümmere mich um ihn, Paolo. Das verspreche ich dir, sprach er in Gedanken zu seinem Bruder.

Das Mittagessen war ebenso schrecklich wie das Frühstück. Wieder empfand Lizzy zugleich Besorgnis und Erleichterung darüber, dass Ben so fröhlich mit Prinz Enrico sprach. Alles, was sie zu tun hatte, war, am Tisch zu sitzen und zu versuchen, ihr Essen durch eine Kehle zu schlucken, die von Minute zu Minute enger wurde.

    Anschließend wandte der Prinz sich endlich ihr zu. „Beschäftigen Sie Ben bitte mit einigen Spielsachen. Ich warte in der Bibliothek auf Sie.“

    „Er hält nach dem Essen einen Mittagsschlaf. Ich komme, sobald er eingeschlafen ist.“

    Rico nickte kurz, und sie führte Ben die Treppe hinauf.

    Wie immer brauchte Ben eine Ewigkeit, um einzuschlafen, sodass ihr Nervenkostüm, als sie ihn endlich allein lassen konnte, reichlich dünn geworden war.

    Der Prinz erwartete sie in der Bibliothek. Ein Stapel Tageszeitungen in Englisch und Italienisch lagen auf dem niedrigen Tisch aus. Er jedoch saß in einem der Ledersessel und studierte die „Times“.

    Diese respektable Zeitung beteiligte sich doch sicherlich nicht an den Klatschgeschichten über ihre Schwester und seinen Bruder.

    Doch auf der Seite, die er las, ging es um internationale Politik. Er legte die Zeitung beiseite, erhob sich und deutete auf einen Stuhl ihm gegenüber.

    „Bitte setzen Sie sich.“ Seine Stimme klang kühl.

    Nervös nahm sie Platz, ein flaues Gefühl im Magen.

    „Es ist von einiger Dringlichkeit, und ich bin mir sicher, Sie werden gutheißen, dass wir über die Zukunft meines Neffen sprechen.“

    Lizzy starrte ihn an. „Was meinen Sie damit?“

    Kurz flackerte Verärgerung in seinen Augen auf, dann war sie wieder fort.

    „Ich vermute“, sagte er vorsichtig, als wäre sie ein kleines Kind, „die Nachricht über Bens Abstammung war ein großer Schock für Sie. Nichtsdestotrotz muss ich Sie bitten, sich auf die Folgen dieser Entdeckung zu konzentrieren. Wie Sie selbst war sich meine Familie unglücklicherweise, aber unter den gegebenen Umständen verständlich, nicht bewusst, dass Paolo einen Sohn besitzt. Nun, da das nicht mehr der Fall ist, werden selbstverständlich baldmöglichst Schritte unternommen, um die Situation richtigzustellen.“

    „Richtigzustellen?“, wiederholte sie.

    Rico atmete tief ein. „Natürlich. Ben wird in San Lucenzo leben.“

    Ein kalter Schauer lief Lizzy über den Rücken. Es war, als würde sich ihre Wirbelsäule in Eis verwandeln.

    „Nein!“

    Das Wort drang automatisch über ihre Lippen. Instinktiv.

    Sie sah, wie sich seine Miene anspannte und dann denselben Ausdruck annahm, mit dem sie ihm damals begegnet war. Fassungslosigkeit.

    „Miss Mitchell, verstehen Sie wirklich nicht, dass sich die Lebensumstände Ihres Neffen geändert haben? Es ist undenkbar, dass der Sohn meines Bruders irgendwo anders als in seinem eigenen Land aufwächst.“

    „Nein“, unterbrach sie ihn. „Wir gehen nach Hause … zurück nach Cornwall, sobald das möglich ist. Je eher, desto besser.“

    Aus dunklen Augen starrte er sie lange an.

    „Miss Mitchell, stellen Sie sich absichtlich dumm?“ Es war eine rhetorische Frage, denn er sprach gleich weiter. „Sie können nicht mehr zurückgehen. Verstehen Sie das denn nicht? Ihr Neffe kann nicht das Leben weiterführen, das Sie ihm gegeben haben. Er muss in sein eigenes Land kommen.“

    „Das ist lächerlich und absurd“, erwiderte sie entschieden. „Warum in aller Welt sollte sich Ihre Familie mit dem unehelichen Kind Ihres verstorbenen Bruders belasten? Stets wird der Junge Sie an Paolos Affäre mit meiner Schwester erinnern. Schauen Sie“, fuhr sie fort, ohne ihm die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, „falls Sie sich Sorgen machen, dass ich verrückt genug bin, mit der Presse zu sprechen … ich unterschreibe jedes Papier und jeden Vertrag. Das Einzige, was ich für Ben will, ist eine glückliche heile Kindheit. Er kann nichts für seine Herkunft, und ich werde nicht zulassen, dass sie ihn negativ beeinflusst.“

    Wieder starrte er sie an. Lizzy wünschte, er würde das nicht tun. Nicht nur, weil er die außergewöhnlichsten Augen besaß, die sie je gesehen hatte, sondern auch, weil er sie ansah, als würde sie von einem anderen Planeten kommen.

    Dann sprudelten italienische Worte über seine Lippen, wütend und unverständlich. Schließlich, und es schien ihn enorme Anstrengung zu kosten, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen, wechselte er ins Englische.

    „Sie scheinen nicht zu begreifen. Mein Bruder hatte keine Affäre mit Ihrer Schwester.“

    „Aber Sie haben eben gesagt …“

    Mit erhobener Hand brachte er sie zum Schweigen.

    „Er hat sie geheiratet.“

    Wie betäubt und völlig verwirrt öffnete Lizzy den Mund. „Meine Schwester hat Ihren Bruder geheiratet?“

    „Ja. Am Tag vor dem tödlichen Autounfall. Ich habe die Heiratsurkunde gesehen. Sie ist rechtsgültig. Offensichtlich“, seine Stimme war trocken wie Sand, „war der Name Ceraldi auch dem Standesbeamten unbekannt.“

    Vollkommen verwirrt stand sie auf. „Das glaube ich nicht.“

    Denn wenn Maria und Paolo verheiratet waren, dann bedeutete das, Ben war …

    Nein. Nein, das konnte nicht sein! Es war unmöglich. Ben war nur … Ben.

    Aber wenn seine Eltern geheiratet hatten und sein Vater der Prinz von San Lucenzo war, dann war Ben …

    Sie setzte sich wieder. Ihre Beine schienen sie nicht mehr tragen zu können.

    „Das ist nicht wahr.“ Ihre Stimme klang schwach. Mit weit geöffneten Augen starrte sie zu ihm hinüber. „Bitte … bitte sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist. Bitte.“

 

Rico blickte sie an. Lizzy konnte unmöglich gemeint haben, was sie gerade gesagt hatte. Niemand würde das tun. Sie hatte soeben erfahren, dass ihr Neffe ein königlicher Prinz war. Und doch flehte sie ihn an, ihr zu sagen, dass es nicht stimmte.

    „Das ist wohl kaum ein Thema für Scherze. Aber jetzt, da Sie es wissen, sollten Sie einsehen, dass es außer Frage steht, dass Ben in seinem eigenen Land aufwächst, bei seiner eigenen Familie.“

    Plötzlich blitzten ihre Augen auf.

    „Es ist mir egal. Und wenn Sie mir erzählten, dass Ben der König von Siam wäre. Ich werde ihn nicht aus seinem Leben und allem, was er kennt, entwurzeln. Was heißt das schon, dass er ehelich geboren wurde? Ihr Bruder war der jüngste Sohn, also wird Ben wohl kaum den Thron erben, nicht wahr?“

    Ihre schrille Stimme nagte an Ricos bereits angespannten Nerven. Die Reaktionen der Frau waren völlig unvorhersehbar. War sie wirklich so naiv? Musste er ihr alles haarklein erklären?

    „Ein Mitglied des Hauses Ceraldi kann nicht als Privatperson eines fremden Landes aufwachsen.“ Er sprach langsam und hoffte inständig, dass sie endlich die Tragweite seiner Worte begriff. „Er muss von seiner Familie großgezogen werden …“

    „Ich bin seine Familie.“

    „Sie sind seine Tante, nicht mehr. Ich weiß zu schätzen, was Sie für den Sohn meines Bruders getan haben, und …“

    Wieder wurde er von ihrer schrillen Stimme unterbrochen. Seine Ungeduld wuchs. Es war nicht nur Lizzys Sturheit und ihre offensichtliche Naivität, die ihm auf die Nerven gingen, sondern auch ihre unerträgliche Angewohnheit, ihm ins Wort zu fallen.

    „Ich bin Bens gesetzlicher Vormund. Ich allein bin für ihn verantwortlich.“

    Rico kämpfte um seine Selbstkontrolle. „Als sein gesetzlicher Vormund wollen Sie doch dann bestimmt das Beste für Ben, oder? Sein Leben wird sich unermesslich verbessern, wenn er bei seiner Familie aufwächst. Welche Rechtfertigung, Miss Mitchell, haben Sie für Ihren Widerstand? Wie können Sie die Veränderung nicht begrüßen? Sie leben in sehr ärmlichen Verhältnissen. Das wird von nun an anders sein. Begreifen Sie das nicht?“

    Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während er auf ihre Reaktion wartete. Aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Offensichtlich musste er noch deutlicher mit ihr sprechen, so unangenehm das auch sein mochte.

    „Sie werden unter den Veränderungen in Bens Leben nicht zu leiden haben, Miss Mitchell. Sie werden immer seine Tante sein, und obwohl Bens neues Leben sich natürlich sehr von seinem bisherigen unterscheiden wird, werden auch Sie davon profitieren. Es wäre nicht angemessen, wenn die Tante meines Neffen in Armut lebte“, fuhr er fort und beobachtete sie genau. „Deshalb werden großzügige finanzielle Vereinbarungen zu Ihren Gunsten getroffen werden, als Anerkennung für das, was Sie für meinen Neffen getan haben. Sie haben vier Jahre Ihres eigenen Lebens geopfert, um sich um ihn zu kümmern – es ist nur recht und billig, dass Ihr unschätzbarer Beitrag gewürdigt wird. Aber nun werden Sie wieder in der Lage sein, das Leben einer jungen Frau zu führen, befreit von der Verantwortung, die Sie bislang auf sich genommen haben.“

    Sein Blick ruhte auf ihr. Er wartete darauf, dass sie den Sinn seiner Worte begriff. Doch ihre Miene blieb ausdruckslos.

    Das irritierte Rico. Musste er denn wirklich jedes noch so kleine Detail erklären?

    Aber bevor er noch etwas sagen konnte, stand sie auf.

    Es war eine hölzerne Bewegung, wie die einer Marionette. Ihr Blick war fest auf ihn gerichtet. In ihren Augen schimmerte etwas, das ihn verwirrte. Als sie sprach, klang ihre Stimme fremd.

    „Sie glauben doch nicht ernsthaft, Sie könnten mich von Ben trennen, oder? Denken Sie wirklich, ich würde zulassen, dass Sie mir Ben wegnehmen? Ich bin sozusagen seine Mutter! Hören Sie mir jetzt gut zu. Ben ist für mich wie mein eigener Sohn. Und das bedeutet, ich werde ihn immer beschützen, ihn vor allem beschützen, was sein Glück, sein emotionales oder körperliches Wohlergehen oder seine seelische Stabilität bedroht. Ich liebe ihn mehr als mein eigenes Leben. Ich könnte ihn nicht mehr lieben, wenn er mein eigenes Kind wäre. Er ist alles, was mir von meiner Schwester geblieben ist. Ich habe ihr geschworen, ich würde ihr Kind beschützen und ihm die Mutter sein, die sie nie sein durfte. Er ist mein Sohn. Es würde ihn zerstören, wenn er von mir getrennt würde. Wie können Sie überhaupt daran denken? Nichts wird je zwischen uns kommen. Und ich werde niemals zulassen, dass man ihn mir wegnimmt. Niemals!“

    Ihre Gesichtszüge hatten sich vor Wut verzerrt, aber sie konnte nicht aufhören zu reden. „Sind Sie verrückt oder einfach nur bösartig, überhaupt daran zu denken, uns zu trennen? Niemand nimmt einem Kind die Mutter weg. Niemand.“ Sie schloss die Augen. Ihre Kehle brannte, ihr Atem ging stoßweise. „Oh Gott, wie konnte es nur zu diesem Albtraum kommen?“

    Ihre angsterfüllte Frage hallte durch die Stille, die sich über sie gesenkt hatte. Zitternd wie ein Blatt im Wind stand sie da.

    Dann, zögernd, antwortete er. Seine Stimme klang tief und melodisch.

    „Niemand wird Ihnen Ben wegnehmen. Sie haben mein Wort.“

 

Rico stand in seinem Schlafzimmer, den Telefonhörer an das Ohr gepresst. Er blickte in den Garten hinunter. In den ersten Strahlen der Abendsonne spielten Ben und seine Tante auf dem Rasen Fußball. Die Tore waren mit jeweils zwei Stöcken markiert. Ben schoss und traf, er riss die Arme hoch und imitierte den Jubel eines professionellen Torschützen. Seine Tante machte eine übertrieben resignierte Geste und zielte dann ihrerseits auf sein Tor. Es war ein schlechter Schuss, den Ben mit Leichtigkeit hielt und sofort in einen weiteren Treffer verwandelte. Wieder stieß er einen triumphierenden Schrei aus.

    „Was soll das heißen, sie will ihn nicht hergeben?“, fragte Ricos Bruder am anderen Ende der Leitung. „Sie ist doch nur seine Tante, welche Rechte hat sie schon?“

    „Juristisch wasserdichte Rechte“, erwiderte Rico trocken.

    Nach einer kurzen Pause erwiderte Luca scharf: „Sie will mehr Geld, nehme ich an?“

    „Sie will ihren Sohn“, entgegnete er mit derselben Schärfe.

    „Der Junge ist bloß ihr Neffe.“

    „Sie hat ihn wie einen Sohn großgezogen, und er sieht sie als seine Mutter an. Was sie, im rechtlichen Sinne, ja auch ist. Sie hat ihn nach seiner Geburt adoptiert. Wenn sie sich also nicht von ihm trennen will, müssen wir das akzeptieren.“

    Wieder entstand eine Pause.

    „Wie viel hast du ihr angeboten?“, fragte Luca schließlich.

    „Luca … hier geht es nicht um Geld. Sie ist nicht bereit, überhaupt nur darüber nachzudenken, verstehst du?“ Er schwieg einen Moment. „Und ich auch nicht mehr. Die Verbindung zwischen ihnen ist die von einer Mutter zu ihrem Kind. Ich habe den ganzen Tag mit ihnen verbracht. Es mag uns nicht gefallen, aber so ist es nun einmal. Unsere einzige Möglichkeit besteht darin, sie zu überzeugen, mit dem Jungen in San Lucenzo zu leben. Ich werde mein Bestes tun, das zu erreichen. Aber ich habe ihr mein Wort gegeben, niemand würde ihr den Jungen wegnehmen.“

    Draußen im Garten konnte Rico die beiden immer noch Fußball spielen hören. Plötzlich wollte er nichts sehnlicher, als mitzuspielen.

    „Rico“, riss Luca ihn aus seinen Gedanken, „sag und tu im Moment gar nichts. Ich werde mit unserem Vater sprechen. Es wird ihm nicht gefallen, aber …“ Rico konnte fast hören, wie Luca die Schultern zuckte. „Ich rufe dich wieder an.“

    Die Leitung war tot. Ricos Blick fiel wieder auf die Gestalt, die auf dem Rasen mit Ben spielte. Sie trug eine Art Trainingsanzug, sackartig und formlos. Das spröde Haar hatte sie zu einem festen Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie sah übergewichtig und unproportioniert aus. Doch was bedeutete dem Jungen ihr Äußeres? In diesem Moment jagte Ben dem Ball nach, stolperte und fiel ins Gras. Sofort war sie an seiner Seite, umarmte ihn, untersuchte sein Knie und küsste es, bevor sie ihr Spiel wieder aufnahmen. Ganz alltägliches mütterliches Verhalten.

    Erinnerungen stiegen in ihm auf. Oder eher das Fehlen von Erinnerungen. Wer hatte ihn aufgehoben, wenn er hingefallen war? Ein Kindermädchen? Oder wer von den Angestellten auch immer gerade Dienst hatte? Nicht seine Mutter. Seine Mutter hatte er immer nur um fünf Uhr am Nachmittag gesehen, wenn sie Tee getrunken und ihn und Luca nach ihren Fortschritten im Unterricht befragt hatte.

    Rico runzelte die Stirn. Paolo war der Einzige gewesen, der je neben ihr auf dem Sofa im Wohnzimmer hatte sitzen dürfen. Der Einzige, den sie umarmt hatte.

    Der Gedanke versetzte seinem Herzen einen Stich. Er würde seiner Mutter Paolos Sohn bringen.

    Rico schaute auf seine Uhr. Vor Ablauf einer Stunde würde Luca bestimmt nicht zurückrufen. Zeit genug, um seinem Neffen ein paar Fußballtricks beizubringen. Er stürmte die Treppe hinunter.

 

„Schluss jetzt, Ben, Schlafenszeit.“

    „Mummy … nur noch ein Tor. Bitte!“

    „Golden Goal“, warf Rico ein.

    „Na gut, aber nur dieses eine“, gab Lizzy nach.

    Es war eine seltsame halbe Stunde gewesen. Wie aus dem Nichts war der Prinz auf dem Rasen aufgetaucht und hatte sich an ihrem Fußballspiel beteiligt. Oder genauer hatte es übernommen.

    Ben war überglücklich.

    „Du kannst Schiedsrichter sein, Mummy“, wies er sie an.

    Sie setzte sich auf einen kleinen Hügel neben dem Spielfeld und sah ihnen zu. Ihre Emotionen befanden sich immer noch in wilder Aufregung, aber zumindest fühlte sie sich ein wenig ruhiger als noch am Morgen.

    Sie haben mein Wort, hatte er gesagt.

    Meinte er das ernst?

    Er hatte anders gewirkt, als er es ihr gesagt hatte. Wie oder warum, konnte sie nicht genau einschätzen.

    Und er hatte sie angesehen. Hatte ihr in die Augen geschaut.

    Als ob sie plötzlich zu einem wirklichen Menschen geworden wäre.

    Und während dieses Blicks war etwas passiert. Etwas, das den harten Knoten der Angst tief in ihrem Inneren zum ersten Mal ein wenig lockern ließ.

    Nur ein winziges bisschen.

    Etwas hatte sich verändert, als sie ihm ihre Furcht und ihr Entsetzen gezeigt hatte. Ihm gesagt hatte, ihn angeschrien hatte, dass sie niemals zulassen würde, dass man ihr Ben wegnahm, weil sie seine Mutter war.

    Aber nun hat er auch einen Onkel. Zwei Onkel. Und Großeltern.

    Eine Familie.

    Eine Familie, für die Ben nicht das peinliche Ergebnis einer Affäre war. Nein, sie wollten ihn bei sich haben, weil er der Sohn ihres toten Sohnes und ihres toten Bruders war.

    Gefühle wirbelten in ihrem Inneren.

    Wenn diese Familie nicht die Familie wäre, die sie tatsächlich ist, wäre Lizzy überglücklich gewesen.

    Aber genau das war das Problem. Sie waren, wer sie waren. Für dieses Problem gab es keine Lösung. Zwei Welten waren kollidiert – die normale Welt und die Welt, in der die Ceraldis lebten.

    Und Ben war in der Mitte gefangen.

    Und sie auch.


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