Darf ich ihm gehören? - 10. Kapitel
10. KAPITEL
Ryan kam kurz nach zehn zu ihr. Und Erleichterung breitete sich in Ronni aus wie eine süße warme Woge. Bis sie seine hoch gewachsene, breitschultrige Gestalt auf der anderen Seite der Glastür erblickte, hatte sie sich nicht einzugestehen gewagt, dass er vielleicht nicht kommen würde.
Ronni sprang vom Bett auf, wo sie sich mit einem Buch niedergelassen hatte, auf das sie sich rein gar nicht zu konzentrieren vermochte. Und sie lief auf Ryan zu.
Er fing sie in seinen Armen auf und küsste sie. Ronni erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich, legte ihm dann die Hände auf die Schultern und sah ihm in die Augen.
„Ich … ich habe auf dich gewartet, gehofft … Ich hatte solche Angst, du würdest nicht kommen …“
Seine Augen wirkten seltsam, ein wenig traurig und beinahe zu verständnisvoll. „Ich bin doch da. Das ist deine letzte Nacht, stimmt’s? Morgen bist du fort.“
„Nur in meiner Wohnung.“
„Richtig.“
„Ryan. Bitte, sei doch nicht so. Ich … habe nachgedacht. Ich habe Lily und den Kindern heute von meinem Umzug erzählt.“
„Lily hat es erwähnt. Sie war ausgesprochen … um mich bemüht. Ich hatte den Eindruck, sie glaubt, du hättest mir das Herz gebrochen, – aber auch, dass ich darüber hinwegkommen werde.“
Von einem gebrochenen Herzen wollte Ronni lieber nichts hören. Drängend erkundigte sie sich: „Wie geht es Drew?“
„Gut. Ein bisschen distanziert vielleicht. Wieso?“
„Er war sehr verletzt, als ich es ihm gesagt habe.“
„Das wundert mich nicht. Er hält sehr große Stücke auf dich. Er hat mir sogar gesagt, ich sollte dich heiraten.“
„Ja, ich weiß. Er hat es mir erzählt.“
„Also warum überrascht es dich dann, wenn es ihn verletzt, dass du gehst?“
„Ich bin nicht überrascht. Ich bin nur … Vielleicht habe ich mir einfach nicht gut genug überlegt, wie er sich dabei fühlt.“
Ryans Tonfall war ausdruckslos. „Mir erscheint es ziemlich offensichtlich, dass, egal was du sagst, dein Weggehen für ihn nicht nur eine vorübergehende Sache ist. Seine Mutter hat ihn auch ‚verlassen‘, hast du das vergessen? Und sie ist nie wieder zurückgekommen.“
Ronni ließ die Hände sinken und trat einen Schritt zurück. „Hör mal. Also gut, ich habe mich geirrt. Es war eine blöde Idee, eine total blöde Idee.“
„Glaubst du das?“
Ärgerlich sah sie ihn an. „Ja, das glaube ich. Und ich habe es mir anders überlegt. Ich werde es nicht tun.“
Ryan ließ den Blick so lange auf ihr ruhen, dass es ihr vorkam wie eine Ewigkeit. Dann meinte er: „Weil ich dir deshalb böse bin. Und wegen Drew.“
„Ja. Genau. Ist das nicht Grund genug?“
Wieder entstand eine endlos lange Pause. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Nein, ist es nicht.“
Ronni traute ihren Ohren nicht. Gepresst fragte sie: „Also dann. Was wäre genug?“
„Das ist eine gute Frage. Und ich wette, du wirst die Antwort darauf finden. Für dich selbst. Und in der dafür erforderlichen Zeit.“
„Ryan. Was willst du damit sagen?“
„Dass ich glaube, Lily ist nicht die Einzige, die hier ihren Raum braucht. Ich glaube, du brauchst ihn genauso.“
„Nein, ich …“, versuchte sie zu protestieren.
„Würdest du mich bitte erst ausreden lassen?“
Am liebsten hätte Ronni ihn angeschrien, aber natürlich tat sie das nicht. Sie hielt den Mund.
Und Ryan sagte: „Ich habe mir in den vergangen Tagen sehr viele Gedanken darüber gemacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dein Umzug letztendlich die beste Möglichkeit ist, um wegzugehen.“
Ronni gab sich alle Mühe, ihn zu überzeugen und ihm zu zeigen, dass sie ihre Meinung tatsächlich geändert hatte. Doch Ryan ließ sich nicht umstimmen. Nach einer halben Stunde verließ er sie, noch immer unverrückbar in seinem Entschluss, dass er wollte, dass Ronni ging.
Sie sehnte sich danach, ihn zu bitten, doch morgen Abend zu ihr in die neue Wohnung zu kommen. Aber sie unterließ es. Sie hatte zu viel Angst davor, wie seine Antwort ausfallen könnte.
Da ihr offensichtlich keine andere Wahl blieb, verstaute sie daher am nächsten Morgen ihre restlichen Habseligkeiten im Wagen und schloss das Häuschen hinter sich ab.
In der neuen Wohnung dauerte es nicht lange, bis Ronni alles eingeräumt hatte.
Es sah wirklich sehr schön aus. All die Dinge, die sie ausgesucht hatte, von den naturweißen Zimmerdecken über die malvenfarbenen Fliesen bis hin zum beigefarbenen Berber passten hervorragend zusammen. Die Räume wirkten gemütlich und leicht zugleich.
Es gefiel Ronni.
Nur zu dumm, dass ihr die Wohnung so unendlich leer erschien.
Als sie zurückfuhr, um Drew abzuholen, gab sie auch gleich die Hausschlüssel zum Gästehäuschen ab. Lily nahm sie mit einem Nicken und einem kühlen „Danke“ entgegen.
Den ganzen Tag war Ronni bereits beunruhigt gewesen, ob Drew sich womöglich weigern würde, mit ihr zu fahren.
Aber als Lily ihn rief, kam er die Treppe hinunter, marschierte zur Haustür hinaus und stieg ins Auto. Auf der Fahrt zum Supermarkt äußerte er sich nicht weiter. Und während er sich mit größter Entschlossenheit, ja fast verbissen darauf konzentrierte, jeden einzelnen Kunden anzusprechen, der dort durch die Türen ging, ignorierte er Ronni völlig.
Er sammelte siebenundsiebzig Dollar und achtundsechzig Cents.
Auf dem Heimweg versuchte Ronni mit ihm zu sprechen, indem sie ihm sagte, wie großartig es ihm gelang, Geld für den neuen Krankenhaus-Flügel zu sammeln, und wie sehr sie ihn dafür bewunderte, dass er so viel Arbeit da hineinsteckte.
Drew schaute nur aus dem Seitenfenster und antwortete nicht.
Schließlich erklärte Ronni verzweifelt: „Drew, es wird bestimmt alles gut. Glaub mir das doch bitte.“
Er fuhr lediglich fort, aus dem Fenster zu blicken, als ob er von dem Anblick kahler Weißdorn-Bäume und Holzhäuser absolut fasziniert sei.
Sobald Ronni in die Auffahrt zu seinem Haus eingebogen war, sprang Drew aus dem Wagen und rannte den Weg zur Haustür hinauf, ohne ihr noch einen einzigen Blick zu gönnen.
Ronni sah ihm nach, wie er die Tür aufriss und drinnen verschwand. Mehrere Minuten lang blieb sie so sitzen und überlegte, ob sie dem Jungen hinterher gehen und noch einen Versuch unternehmen sollte, die Kluft der Verletztheit und des Missverständnisses zu überbrücken, die sich gähnend zwischen ihnen aufgetan hatte.
Ich könnte auch die anderen Kinder sehen, dachte sie. Ich könnte Griff bei seiner neuesten Bauklotz-Kreation helfen, und Lizzy und ich könnten …
Nein. Es schien Ronni zu falsch, ja sogar unaufrichtig, zuerst auszuziehen und dann am selben Tag noch wieder anzuklopfen und mit den Kleinen spielen zu wollen, als sei nichts geschehen. In der Hoffnung, auf diese Weise Drew dazu zu bringen, dass er ihr verzieh und die Dinge so sehen konnte, wie sie sie sah.
Aber wie soll er dazu in der Lage sein, fragte sie sich.
Inzwischen war ja nicht einmal sie selbst mehr imstande, ihren eigenen Standpunkt anzuerkennen. Was gab es da schon zu erkennen außer der Wahrheit? Ich bin ausgezogen, sagte sie sich. Und das ist doch eine viel eindeutigere Aussage, als es all meine Beteuerungen und Versprechungen für eine Versöhnung in der Zukunft je sein können.
Ronni kehrte zu ihrer Wohnung zurück, wo sie zunächst die Ausrüstung für die Spendensammlung wegräumte. Und danach ertappte sie sich dabei, dass sie sich tatsächlich danach sehnte, das nervtötende Geräusch ihres Piepers zu hören. Sie wünschte, eine aufgeregte Mutter oder ein besorgter Vater würde anrufen, um Dr. Powers’ klugen Rat einzuholen. Irgendetwas, um die Erinnerung daran zu verdrängen, wie Drew sich von ihr abgewendet und geflüstert hatte: Ich hasse dich. Und dann der Klang von Ryans Stimme, so neutral und endgültig, als er erklärt hatte: Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dieser Umzug von dir schließlich doch die beste Entscheidung ist.
Um kurz nach sieben klopfte es an der Wohnungstür.
Ronnis Herz tat einen Sprung.
„Ryan!“, rief sie und eilte nach vorn, um aufzumachen. Überstürzt öffnete sie die Tür. „Ich bin ja so froh, dass du …“
Es war Kelly Hall.
Bedauernd zuckte die Freundin mit den Schultern. „Ich weiß, du hast jemand Interessanteres erwartet.“
Hastig machte Ronni einen Rückzieher. „Nein. Nein, das stimmt nicht. Wie geht es dir?“
„Gut. Ich habe gerüchteweise gehört, dass du an diesem Wochenende umziehst.“
„Gerüchteweise?“
„Ja. Von Marty Heber. Ich bin ihm gestern im Kinderkrankenhaus über den Weg gelaufen.“ Kelly überreichte ihr eine hübsch eingepackte Schachtel. „Ich bin nur gekommen, um dir ein kleines Einweihungsgeschenk zu bringen.“
„Komm doch rein.“ Ronni nahm die Schachtel entgegen. „Du kriegst eine Führung durch mein neues Heim.“
Stolz führte sie ihre Freundin durch die Räume, und Kelly bewunderte alles gebührend.
„Diese Tapete mit dem geometrischen Muster ist toll. Und die Holzjalousien sind genau richtig.“
Nach der Führung machten es sich die beiden Frauen im Wohnzimmer bequem. Dort machte Ronni Kellys Geschenk auf – einen kobaltblauen Töpferkrug.
„Oh, Kelly, der ist ja wunderschön.“
„Von einer hier ansässigen Töpferin hergestellt. Und jetzt, nachdem ich deine Badewanne gesehen habe, weiß ich, dass es die richtige Farbe ist. Wenn ich auch zugeben muss, dass ich in Erwägung gezogen habe, dir stattdessen einen Schwangerschaftstest für zu Hause einzupacken. Du kennst mich ja.“
Behutsam stellte Ronni den Krug auf den Couchtisch. „Ich habe mir schon einen Test besorgt. Letzte Woche.“
„Und?“
„Er war positiv.“
Kelly war nicht sonderlich überrascht. „Hast du schon eine … Entscheidung getroffen?“
„Ja. Ich werde dieses Kind bekommen. Und Ryan heiraten.“
„Darf ich dich dann mal was fragen?“
Ronni wusste zwar schon, wie die Frage lauten würde, meinte jedoch: „Nur zu.“
„Du hast doch in Ryan Malones Gästehaus gewohnt, oder?“
„Ja.“
„Warum machst du dir dann noch die Mühe, hierhin zu ziehen?“
„Das ist eine lange Geschichte. Und keine sehr schöne.“
„Es macht mir nichts aus, sie mir anzuhören. Wenn du sie erzählen willst.“
„Danke. Jetzt nicht. Aber vielleicht ein andermal. Falls du dann immer noch zur Verfügung stehst und bereit bist, mir zuzuhören.“
„Ich bin Ärztin. Ich stehe immer zur Verfügung.“
„Kelly, du bist ein Schatz.“
Kelly stieß geräuschvoll den Atem aus. „Eigentlich würde ich gerne vorschlagen, dass wir uns betrinken gehen, aber Alkohol ist ja jetzt bei dir kontraindiziert.“
„Zum Teufel aber auch.“
„Lass dir einen Termin in der Praxis geben. Bald, okay? Wir müssen dich noch einmal gründlich untersuchen, die üblichen Tests und …“
„Ich weiß, ich weiß. Schon gut, ich komme.“
Nachdem Kelly um kurz nach neun gegangen war, war Ronni wider jeglichen Erwartens wach geblieben, in der Hoffnung, dass Ryan doch noch auftauchen würde.
Aber das tat er nicht. Um Viertel nach elf ging sie schlafen und verbrachte eine unruhige Nacht. Jedes Mal wenn sie ein Geräusch hörte, erwachte sie und hoffte, Ryan wäre an der Tür. Doch vergeblich.
In den folgenden drei Tagen stürzte Ronni sich mit aller Kraft in die Arbeit und kümmerte sich so gut sie irgend konnte, um die Kinder anderer. Sie hörte zu, beschwichtigte Ängste und verteilte gute Ratschläge.
Sie wünschte sich, sie könnte rund um die Uhr arbeiten und müsste nicht abends in ihre Wohnung zurück, wo alles genauso war, wie sie es sich in all den Jahren ohne ein eigenes Zuhause ersehnt hatte. Schön und ruhig, ein Zufluchtsort nach einem harten Arbeitstag. Ein Ort, ganz für sich allein, ihr wahr gewordener Traum – bis auf die Leere, die die Räume erfüllte.
Bis auf die Erinnerungen, die sie dort heimsuchten, Erinnerungen an Ryan und an Drew, an Lizzy und Griff. Sie vermisste sogar Lily …
Nein, Ronni wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie musste zu Ryan gehen, mit ihm diskutieren, mit ihm streiten, wenn nötig, – ihm sagen, dass sie ihren Fehler eingesehen hatte …
Doch irgendwie gelang es ihr nie, den Telefonhörer tatsächlich in die Hand zu nehmen. Immer wenn sie sich gerade dazu durchgerungen hatte, begann sie sich zu fragen, ob nicht vielleicht noch etwas anderes hinter Ryans Ärger stand. Ob er nicht doch insgeheim etwas gegen das Baby hatte.
Ronni fiel jener Nachmittag bei Pizza Pete wieder ein, wo sie gesehen hatte, wie Ryan und sein Bruder die Köpfe zusammengesteckt und so ernst miteinander gesprochen hatte, vermutlich über sie. Sie dachte an all die Jahre in ihrer Kindheit am Rande des Lebens anderer Leute, als sie so inständig gehofft hatte, dass irgendjemand sie doch lieb haben möge. Dass irgendjemand sie für einzigartig, intelligent und wunderbar hielt, und wollte, dass sie bei ihm blieb.
Und sie fragte sich: Habe ich mir hier meine Kindheitserfahrungen wieder erschaffen? Bin ich vielleicht doch eher Veronica als Ronni? Habe ich mich auf in eine unmögliche Beziehung eingelassen und bin dann schwanger geworden, um den Mann aus meinem Leben zu vertreiben, den ich liebe? Weiß ich denn wirklich nur, wie es ist, unerwünscht zu sein?
Diese und ähnliche düstere Gedanken hielten sie fest in ihrem Griff und ließen sie nicht mehr los. Sie ließen es nicht zu, dass Ronni die Initiative zum Handeln ergriff, um das Durcheinander aufzuklären, das ihr jede Nacht schlaflose Stunden bescherte.
Am Donnerstagmorgen regnete es, heftig und ausgiebig. Den ganzen Weg zur Praxis hatte Ronni die Scheibenwischer auf Höchstgeschwindigkeit eingestellt.
Marty Heber und sie kamen gleichzeitig auf den für sie reservierten Parkplätzen an.
Er winkte ihr beim Aussteigen zu, als sie beide vor dem Regen in den Schutz des Gebäudes flüchteten. Marty öffnete die Tür zur Praxis und ließ Ronni in das noch leere Wartezimmer vorangehen.
„Ich sage voraus, dass es heute den ganzen Tag lang schütten wird“, meinte er, während er die Tür hinter sich schloss und Kara, der Sprechstundenhilfe, zulächelte. Diese war bereits an ihrem von Aktenschränken umgebenen Arbeitsplatz hinter dem gläsernen Schiebefenster beschäftigt.
„Ach, ich liebe den Nordwesten einfach über alles.“ Ronni zog die Nase kraus.
Auf dem Weg zum Korridor, der zu den Sprechzimmern führte, begann Marty, seinen Mantel aufzuknöpfen. „Sieht aus, als hätte der Malone-Junge alles gut überstanden.“
Ronni blieb wie versteinert stehen. „Welcher Malone-Junge?“
Marty warf ihr einen erstaunten Blick zu und zuckte dann mit den Schultern. „Sorry. Ich dachte, du wüsstest es. Der Älteste, Andrew. Blinddarmentfernung. Gestern, am Spätnachmittag.“
Ronni war der Mund so trocken geworden wie Watte. „Ein Durchbruch?“
„Nein. Wir haben’s noch rechtzeitig erwischt. Keinerlei Verunreinigung der Bauchhöhle. Die Operation ist gut verlaufen, und Komplikationen unwahrscheinlich. Morgen oder übermorgen kann er wieder nach Hause.“
„Ist er im Kinderkrankenhaus?“
Marty nickte.
Sie legte ihm die Hand auf den nassen Ärmel. „Marty, ich …“
Er wies mit dem Kopf auf die Praxistür, wobei sich das Lampenlicht in seinen Brillengläsern spiegelte. „Geh ruhig. Randy und ich können für dich mit übernehmen.“
Wortlos drehte sie sich um und flog förmlich wieder hinaus in den strömenden Regen.