Darf ich ihm gehören? 2. Kapitel

 

2. KAPITEL

Ronni griff nach ihrer Taschenlampe. Da wurde Ryan bewusst, dass er sie nicht gehen lassen wollte. Noch nicht.

     Er sagte: „Und? Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit? Im Häuschen drüben, meine ich?“

     Ronni ließ die Taschenlampe liegen. „Ja. Es ist ganz entzückend. Nochmals herzlichen Dank, dass Sie es mir angeboten haben.“

     „Kein Problem. Nicht im Geringsten.“

     „Gut. Na dann …“

     „Erzählen Sie mir mehr. Über Ronni. Und inwiefern sie sich von Veronica unterscheidet.“

     Sie lachte, es klang ein wenig nervös. „Ach was. Es ist schon sehr spät, und ich sollte besser …“

     „Es interessiert mich, ehrlich. Und außerdem regnet es noch viel zu stark. Sie können noch nicht gehen.“

     „Nicht?“

     „Nein. Sie müssen warten, bis der Regen nachlässt.“

     Zweifelnd blickte sie ihn an. „Und was ist, wenn er gar nicht nachlässt?“

     „Irgendwann wird er das schon tun. Und ich würde wirklich gerne wissen, warum Sie Ihren Namen geändert haben.“

     „Ernsthaft?“

     „Ja.“ Ryan lehnte sich vor. „Erzählen Sie.“

     Ronni zögerte, und gestand dann: „Veronica ist … ein bisschen schüchtern.“

     „Schüchtern?“, wiederholte er ermutigend.

     Vorsichtig fuhr sie fort: „Veronica fehlt es an Selbstvertrauen. Sie … macht sich zu viele Sorgen.“

     „So sind Sie gewesen? Als Kind?“

     Trotzig hob sie das Kinn. „Ja. Aber ich hab’s überwunden.“

     „Indem Sie Ihren Namen geändert haben?“

     „Nein, die Namensänderung war lediglich der äußere Ausdruck dafür.“

     „Klingt ja sehr tiefschürfend.“

     „Sie wollten es ja wissen.“

     Sie lachten beide, und dann fragte Ronni: „Und was ist mit Ihnen? Haben Sie nie den Wunsch gehabt, Ihren Namen oder irgendetwas anderes an sich zu verändern?“

     „Jetzt da Sie es erwähnen, erinnere ich mich, dass ich mir irgendwann mal wirklich gewünscht habe, ich würde Bud heißen.“ Gespielt finster sah Ryan sie an. „Lachen Sie nicht. In der fünften Klasse kann Bud ausgesprochen männlich klingen.“

     „Ryan war also nicht männlich genug?“

     „Ich habe gelernt, damit zu leben.“

     „Gut. Das gefällt mir nämlich sehr viel besser als Bud.“ Wieder streckte sie die Hand nach der Taschenlampe aus.

     Doch ehe sie sie zu fassen bekam, erklärte Ryan: „Vergessen Sie es. Es gießt noch immer in Strömen.“

     „Aber ich …“

     „Bleiben Sie. Erzählen Sie mir mehr von sich.“

     „Was denn zum Beispiel?“

     „Zum Beispiel, warum Sie Kinderärztin geworden sind.“

     Darüber musste Ronni keine Sekunde lang nachdenken. „Aus dem üblichen Grund. Ich mag Kinder.“

     „Im Gegensatz zu Erwachsenen?“

     „Nein, es ist kein Gegensatz, sondern eine Präferenz. Kinder haben einen so natürlichen … Optimismus. Ich mag ihr Staunen und ihre Einfachheit. Und außerdem sie sind unglaublich widerstandsfähig.“

     „Das heißt, es sterben Ihnen weniger weg.“

     Dies war zwar eine etwas krasse Art, es ausdrücken, aber Ronni widersprach ihm nicht. „Das stimmt. Und jetzt sind Sie dran. Was hat Sie denn dazu bewogen, sich ausgerechnet die Krankenhausverwaltung auszusuchen?“

     „Ich leite gerne.“

     Ronni schnitt ein Gesicht. „Das ist alles?“

     „Ich arbeite gerne mit Menschen zusammen. Es gefällt mir, Projekte zu organisieren, Dinge von Anfang bis Ende durchzuziehen.“

     „Sie meinen, Sie beherrschen die Dinge gerne.“

     „Das ist richtig. Ist daran irgendwas zu beanstanden?“

     „Nein, gar nicht.“ Sie grinste verschmitzt.

     Einen Augenblick lang hörte man nur den Regen draußen an den Fensterscheiben.

     Da Ryan bemerkte, dass Ronni wieder nach ihrer Taschenlampe blickte, stellte er ihr eine weitere Frage über ihre Arbeit. Ronni lehnte sich zurück, und eine Weile unterhielten sie sich über ihre jeweiligen Jobs, deren Herausforderungen und das Lohnenswerte daran.

     Schließlich erhob Ronni sich, und da sie nicht gleichzeitig nach der Taschenlampe griff, hielt Ryan sie auch nicht zurück. Sie trat an die Anrichte, um sich die Familienfotos darauf anzusehen. Eines nach dem anderen nahm sie in die Hand, betrachtete es eingehend und stellte es dann wieder hin.

     Als sie an ein Fotostudio-Porträt von Patricia kam, erkundigte sie sich: „Ihre Frau?“

     Er nickte. „Sie ist vor etwas über zwei Jahren gestorben. Akute myeloische Leukämie.“

     In Ronnis Augen sah er den verstehenden Blick der Medizinerin: Krebs der weißen Blutkörperchen, der vom Knochenmark ausging und diese rasch vermehrte, bis sie die Produktion der normalen roten Blutkörperchen unterbrachen und dann in den Blutkreislauf hinaus gelangten, wodurch sie in Organe und Gewebe eindrangen, vor allem in Milz und Leber.

     „Wir dachten zuerst, sie hätte eine schwere Form der Grippe. Keine vier Monate später war sie tot. Es war … hart für uns alle. Und für Andrew … ich meine, Drew … ganz besonders, glaube ich. Er war damals sieben, alt genug, um besser als Lisbeth und Griffin zu begreifen, was vor sich ging. Alt genug, um zu verstehen, dass er seine Mutter verlor, und zu wissen, als sie starb, dass sie wirklich nicht mehr wiederkommen würde.“

     Sorgfältig stellte Ronni das Foto an seinen Platz und kehrte zu ihrem Sessel zurück, ohne sich jedoch hinzusetzen. „Ich sollte …“

     Ryan hielt die Hand empor. „Hören Sie das? Es regnet immer noch …“

     „Vielleicht hört es ja überhaupt nicht mehr auf.“

     „Doch, irgendwann bestimmt.“

     Sie wechselten einen langen Blick, an dessen Ende Ronni sich doch wieder auf den Stuhl sinken ließ. „Und was jetzt?“, fragte sie.

     „Jetzt sollten Sie mir erzählen, welche Filme Sie mögen“, forderte Ryan sie auf.

     Ronni tat wie geheißen. Sie mochte Komödien. Ryan hingegen zog denen Action-Filme vor. Danach spann sich das Gespräch weiter fort zu Lieblingsgerichten und Traumurlaubsorten, den Colleges und Universitäten, die sie besucht hatten, und zu den Professoren, an die sie sich erinnerten.

     Ronni erzählte von ihrem Medizinstudium und davon, dass sie während ihrer Assistenz-Zeit kaum mehr als zwei Stunden Schlaf auf einmal bekommen hatte. Und endlich landeten sie bei dem Thema, welche Dinge sie am allermeisten ärgerten.

     „Preisetiketten, die nicht abgehen“, erklärte Ronni.

     Ryan fand: „Mailboxen. Ich hasse Mailboxen. Das ist nur wieder eine neue Ausrede, warum Leute nichts ans Telefon gehen.“

     „Aber ich wette, Sie haben eine Mailbox.“

     Dem vermochte er nichts entgegenzuhalten. „Schuldig im Sinne der Anklage.“

     Noch immer trommelte der Regen aufs Dach, als Ronni auf die Uhr in dem Bücherregal am Fenster schaute. „Oh, du liebe Güte! Es ist schon vier Uhr morgens.“

     Dennoch wollte Ryan, dass sie blieb. „Warten Sie doch noch etwas ab, ob es nicht weniger wird, ehe Sie über den Hof zurückwaten.“

     „Ich bin schon seit zwei Stunden hier.“

     „Und vielleicht müssen Sie auch noch zwei dableiben.“

     „Klar, dann kann ich ja gleich hier frühstücken …“

     „Warum nicht?“

     „Weil …“

     „Weil …?“

     Sie starrte ihn an. Es gab sicherlich hundert gute Gründe dafür, weshalb sie jetzt gehen sollte, oder schon längst gegangen sein sollte. Aber ihr fiel beim besten Willen keiner ein.

     Sie senkte die Augen. Waren tatsächlich bereits zwei Stunden vergangen? Das erschien ihr kaum möglich. Ryan hatte sie zum Reden gebracht, und dann … war die Zeit einfach verflogen.

     „Kommen Sie“, versuchte er sie zu überreden. „Nur noch ein bisschen.“

     Sie sah ihn an, und er lächelte. Er besaß eine Art zu lächeln, die irgendwie ungewollt wirkte, so als würde er nicht oft davon Gebrauch machen. Und das machte es zu etwas Besonderem, es löste in Ronni das Gefühl aus, etwas Besonderes zu sein.

     Sie hatte gehört, dass Ryan Malone imstande war, Geld aus einem Stein zu pressen. Er war der Vorkämpfer für den Plan gewesen, Millionen an Spenden für den Anbau eines viel benötigten neuen Flügels am Honeygrove Memorial zu sammeln. Dieser neue Flügel befand sich bereits im Bau und sollte im September, also in gerade mal acht Monaten, eröffnet werden.

     Alle bewunderten ihn und fragten sich, wie er es geschafft hatte. Doch als Ronni ihm in diesem Moment in die Augen blickte, verstand sie sein Geheimnis. Der Mann besaß eine eindrucksvolle Präsenz, eine natürliche Zurückhaltung und ein widerstrebendes Lächeln, das umwerfend war. Eine unschlagbare Kombination, ob es sich um wohlhabende Spender handelte, die davon überzeugt werden mussten, ihm ihr Geld anzuvertrauen, oder darum, eine Frau dazu zu überreden, die ganze Nacht aufzubleiben und mit ihm über Gott und die Welt zu reden.

     Sag, dass du gehen musst, und zwar jetzt, beharrte Ronnis klügere innere Stimme. Aber als sie den Mund aufmachte, war alles, was herauskam: „Nun ja, vielleicht könnte ich …“

     „Oh, Ryan! Ich hätte nie gedacht, dass Dr. Powers noch hier ist.“

     Die Schwiegermutter, die zur Rettung eilt, schoss es Ronni durch den Kopf. Die ältere Frau stand in der Tür zum Flur, den Bademantel vor der Brust zusammengefasst, und blinzelnd, als sei sie eben aus dem Tiefschlaf erwacht, was vermutlich auch der Fall war.

     „Ich bin aufgewacht und dachte, ich höre Stimmen. Deshalb bin ich heruntergekommen. Ich … ich hoffe, ich störe nicht irgendwie …“

     Ronni nahm ihre Taschenlampe an sich und ging auf die Tür zu. „Ich wollte gerade gehen.“

     „Nun, das würde ich annehmen. Es ist ja so spät“, sagte Lily.

     „Warten Sie.“ Ryan erhob sich aus seinem Drehstuhl. „Ich bringe Sie über den Hof zurück.“

     Seine Schwiegermutter protestierte: „Ryan, draußen schüttet es.“

     „Sie hat recht“, fiel Ronni sogleich ein. „Es wäre wirklich sinnlos, wenn wir beide nass würden.“

     „Ich bringe Sie rüber“, wiederholte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich hole nur schnell einen Schirm.“ Er kam um seinen Schreibtisch herum, ging zwischen den beiden Frauen unter der Tür durch und kommandierte dann über die Schulter gewandt: „Lily, und du gehst jetzt wieder ins Bett.“

 

Fünf Minuten später standen Ryan und Ronni vor der Glastür zum Schlafzimmer des Gästehauses.

     Ronni betrachtete bedauernd seine Füße. „Jetzt sind Ihre Hausschuhe auch ruiniert, genau wie die Ihres Sohnes.“

     „Die werden schon wieder trocknen.“ Das Regenwasser, das von dem Dachüberhang über ihnen herabströmte, traf hart auf Ryans Schirm, prallte davon ab, bespritzte die Schuhe und durchnässte seine Pyjamahose bis zur halben Wadenhöhe.

     Ronni schaute zu dem Schirm auf. „Lieben Sie Oregon auch so wie ich? Wenn es gerade nicht regnet, ist der nächste Regen bereits im Anzug. Aber weshalb beschwere ich mich eigentlich? Ich habe meine Assistenz-Zeit in Seattle verbracht, hatte ich Ihnen das schon erzählt? Dort war’s noch schlimmer.“

     „Und hier“, erinnerte er sie, „kriegen wir im Sommer tatsächlich sogar Sonnenschein. Und dann gibt’s da noch das Lachsfischen, und die phantastische, zerklüftete Pazifikküste nur zwei Autostunden entfernt.“

     „Und die Tulpen im Frühling, mit denen das Tal weit und breit übersät ist …“ Sie lachte ein wenig atemlos. „Ich …“ Ronni wusste nicht recht, was sie als Nächstes sagen sollte. Schließlich meinte sie scheu: „Vielen Dank für …“

     „Dafür dass ich Sie die ganze Nacht wach gehalten habe?“, ergänzte Ryan bereitwillig.

     „Ja. Aber nicht nur das. Sondern auch dafür, dass Sie mich hierher begleitet haben. Dass Sie so … galant sind.“

     „Galant“, meinte er trocken. „Genau.“

     „Nun, Mr. Malone, ich …“

     „Waren wir nicht schon beim Vornamen?“

     „Oh … ja, richtig …“

     Ihr Haar wirkte so hell und lebendig. Am liebsten hätte Ryan es berührt, es zwischen seinen Fingern gerieben und die Regennässe darin gespürt. Er wollte sich herunterbeugen und sein Gesicht darin vergraben, sich alle Sinne von ihrem zarten, verführerischen Parfum betören lassen. Und dann wollte er sie küssen. Langsam und gründlich.

     „Also dann, gute Nacht, Ryan“, sagte Ronni.

     Er musste zurücktreten, damit sie die Tür öffnen konnte. Mit einem Winken der Taschenlampe schlüpfte sie hinein.

     „Gute Nacht, Ronni“, flüsterte Ryan, als sie die Tür hinter sich schloss, und blieb solange stehen, bis sie ihm noch einmal zuwinkte und dann die Vorhänge zuzog.

     Schließlich, nach ein oder zwei Minuten, gab er sich einen Ruck und kehrte mit langen Schritten in das große Haus zurück.

     Nachdem er dort etwas Trockenes angezogen hatte, schaute er bei seinen Kindern hinein.

     Die beiden Jüngeren schliefen tief und fest. Lisbeth war eng in ihre Decke gewickelt, sodass nur ihr kleines Stupsnäschen zu sehen war. Griffin dagegen hatte die Decke weggestoßen und sich dann gegen die nächtliche Kühle zu einer Kugel zusammengerollt.

     Ryan dachte an Tanner, seinen jüngeren Bruder, der früher auch manchmal im Winter seine Decke verloren hatte. Ehe Tanner fünf Jahre alt war, wurden sie zum ersten Mal getrennt. Doch in den ersten anderthalb Jahren nach dem Tod ihrer Eltern hatten sie in engen Betten Seite an Seite in einem staatlichen Pflegeheim geschlafen. Und wenn Tanner sich freigestrampelt hatte, hatte Ryan ihn wieder zugedeckt.

     Behutsam, um ihn nicht zu wecken, steckte Ryan die Bettdecke um seinen vierjährigen Sohn wieder fest. Danach trat er leise in Andrews, ach nein, Drews Zimmer ein.

     Kaum stand er im Raum, richtete der Junge sich auf. „Dad?“

     „Du solltest schlafen“, flüsterte Ryan vorwurfsvoll.

     „Dad, es tut mir leid. Was ich getan habe.“

     Ryan setzte sich zu ihm aufs Bett. „Es ist schon okay. Hauptsache, du tust es nicht wieder.“

     „Nein, bestimmt nicht.“

     „Dann ist es ja gut.“

     „Ronni war nicht sauer. Sie ist nett.“

     Sein Vater lächelte unwillkürlich. „Du magst sie, hm?“

     „Ja.“

     „Ich auch.“ Sehr sogar.

     „Dad? Du kannst jetzt ruhig wieder ins Bett gehen. Es ist alles in Ordnung.“

     „Drew, ich …“ Ryan erhob sich. „Leg dich hin und schlaf, ja?“

     Gehorsam streckte der Junge sich aus, die Decke bis unters Kinn hochgezogen, und Ryan ging zur Tür.

     „Dad?“

     „Was denn?“

     „Du hast mit Ronni über mich gesprochen, stimmt’s? Sie hat dir gesagt, dass du Drew zu mir sagen sollst.“ Da Ryan nicht gleich antwortete, fuhr Drew fort: „Es ist okay, Dad. Wenn du mit ihr gesprochen hast.“

     „Ja, das habe ich. Und jetzt schlaf. Morgen ist Pizza-Tag.“

     „Mit Onkel Tanner?“

     „Na klar, so wie immer.“

 

Am folgenden Tag um die Mittagszeit klopfte Ryans Schwiegermutter an die Glastür des Gästehauses, in der Hand zwei folienbedeckte Teller, und Ronnis Anorak über die Schulter gehängt.

     Ronni blickte von dem Karton voller Jeans und dicker Pullover auf, den sie gerade aufs Bett gestellt hatte, und machte auf.

     „Da ich Sie heute Morgen nicht habe wegfahren sehen, dachte ich mir, dass Sie den Sonntag zum Auspacken nutzen.“

     Mit einer Handbewegung lud Ronni sie ein, einzutreten.

     „Sieht aus, als machten Sie Fortschritte“, bemerkte ihre Nachbarin.

     Ronni sah zu dem Karton hin. „Eigentlich ist es gar nicht so viel. Das meiste habe ich für diesen Monat eingelagert.“

     „Sie freuen sich sicher schon auf Ihr neues Heim, nicht wahr?“

     „Ja, doch.“ Ein wenig gezwungen lächelten sie einander an, ehe Ronni nach ihrem Anorak griff. „Ich nehme Ihnen den mal ab.“

     „Oh, natürlich.“

     Nachdem Ronni die alte Jacke über eine Stuhllehne geworfen hatte, drehte sie sich wieder zu ihrer Besucherin um. „Mrs. …?“

     „Mein Name ist Underhill. Aber bitte, nennen Sie mich doch Lily.“

     „Ich bin Ronni.“

     „Also gut, Ronni.“ Lily hob die Teller. „Ich dachte, vielleicht hätten Sie Appetit auf einen kleinen Imbiss.“

     „Das ist aber sehr aufmerksam von Ihnen.“

     „Ach, das ist doch nichts weiter.“

     Erneut lächelten sie einander an, und Ronni schlug vor: „Nun, dann gehen wir doch am besten gleich in die Küche.“

     „Ja, gern.“

     Auf dem runden Küchentisch aus Kiefernholz entfernte Lily die Folie von den Tellern, auf denen jeweils ein Sandwich und eine Portion Salat angerichtet war.

     „Das sieht köstlich aus“, meinte Ronni.

     „Es ist Roastbeef mit Meerrettich. Ich hoffe, Sie sind keine Vegetarierin?“

     „Nein, ich liebe Roastbeef mit Meerrettich. – Möchten Sie vielleicht einen Kaffee dazu?“

     „Nur ein Glas kaltes Wasser, bitte.“ Lily holte Besteck aus einer der Schubladen, und dann setzten sie sich zum Essen gemeinsam an den Tisch.

     „Es schmeckt wunderbar“, sagte Ronni.

     „Ach, es ist doch nur ein Sandwich“, wehrte Lily ab. „Aber ich muss gestehen, ich koche gerne. Meine Tochter Patricia … Ryans Frau, hat auch so gerne gekocht. Und dabei hat sie immer ihre schlanke Linie behalten. Abgesehen von ihren Schwangerschaften hatte sie nie mehr als Größe 36.“ Ein Schatten trat in Lilys Augen. „Und zum Schluss war sie dann so dünn.“ Leise fuhr sie fort: „Sie hatte Krebs … Es war hart ohne sie, für die Kinder, für Ryan, für uns alle.“

     Mit einer weiten Geste umfasste Lily den Raum. „Patricia hat das alles gemacht. Sie wollte, dass das Gästehaus freundlich und gemütlich ist. Und das Haupthaus hat sie auch selbst eingerichtet, sie hat alles eigenhändig ausgewählt. Sie hatte wirklich einen Sinn dafür, ein Heim einladend zu gestalten.“ Ihre Augen wirkten verdächtig feucht.

     „Sie vermissen sie sicher sehr“, meinte Ronni mitfühlend.

     Lily atmete tief ein und strich sich die Papierserviette auf dem Schoß glatt. „Ich … habe sie allein aufgezogen, zum größten Teil. Ihr Vater starb, als sie zwei war.“

     „Klingt, als hätten Sie es gut gemacht.“

     „Ich habe mein Bestes getan. Wir standen uns so nahe. Ich habe mir so viel für sie gewünscht. Und sie … hat alle meine Träume für sie wahr gemacht. Jedenfalls solange … wie sie bei uns war. Sie war dreiundzwanzig, als sie Ryan geheiratet hat. Sie hätten sie an ihrem Hochzeitstag sehen sollen. Patricia so blond, schlank und groß. Und Ryan an ihrer Seite, dunkel, gut aussehend, und voller Stolz. Von Anfang an wusste ich, was für einen Ehemann er abgeben würde – ehrlich und verantwortungsbewusst, ein guter Ernährer. Alles, was eine Frau sich nur wünschen konnte.“ Mit einem kleinen Lächeln beugte Lily sich zu Ronni. „Gut genug sogar für meine geliebte Tochter, wenn Sie wissen, was ich meine.“

     Ronni lächelte zurück. „Ja, ich denke schon.“

     Ein paar Minuten lang schwiegen sie und widmeten sich ihrem Essen.

     Dann sagte Lily: „Ryan hat mir berichtet, dass Sie der Meinung sind, wir müssten wegen Andrew nicht allzu beunruhigt sein.“

     „Das stimmt. Ich finde, Ihr Enkel ist ein großartiger Junge. Er wird nicht noch einmal heimlich zu mir kommen. Aber zur Sicherheit habe ich auch den Schlüssel entfernt.“

     „Fein.“ Lily nippte an ihrem Wasser. „Andrew ist ein guter Junge, er ist seinem Vater sehr ähnlich.“ Sie nahm ihre Gabel, legte sie jedoch wieder fort, ohne sie zu benutzen. „Offen gestanden ist Ryan derjenige, um den ich mir Sorgen mache. Er arbeitet immer so lang. Aber Sie wissen sicher selbst, wie das ist, nicht wahr? Ich nehme an, Ihr Arbeitspensum ist auch ziemlich anstrengend.“

     Oh Lily, dachte Ronni. Ich verstehe schon. Und du hast recht. Ryan und ich, wir sind beide viel zu beschäftigt, als dass wir irgendetwas miteinander anfangen sollten.

     „Er hat kaum Zeit für die Kinder“, fuhr Lily fort. „Aber er bemüht sich. Heute verbringt er den Nachmittag mit ihnen. Es ist eine Familienveranstaltung – Ryan und die Kinder, und Ryans Bruder Tanner. Sie gehen immer an einem Sonntag im Monat zu Pizza Pete.“

     Bei Pizza Pete gab es nicht nur Pizza, sondern auch alle möglichen Freizeitvergnügungen für Kinder.

     „Hört sich gut an“, sagte Ronni und meinte dann: „Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch noch einen Kaffee möchten?“

     „Ach, eigentlich sollte ich das lieber nicht. Sie wollen sicher weiter auspacken …“ Lily wirkte ein wenig verloren, und einsam.

     In dem Bewusstsein, dass sie es vermutlich bereuen würde, drängte Ronni: „Kommen Sie, nur eine Tasse.“

     „Also gut. Es ist so nett, zur Abwechslung mal mit einer anderen Frau zu reden.“

     Lily blieb noch eine halbe Stunde, in der sie noch viel mehr über Patricia erzählte, was für ein entzückendes Kind sie gewesen sei, und was für ein hübsches junges Mädchen. Und wie sie in einem Versicherungsbüro gearbeitet hatte, um noch etwas dazu zu verdienen, als Ryan am Anfang seiner beruflichen Karriere stand.

     „Aber sobald Ryan finanziell abgesichert war, ist Patricia natürlich zu Hause geblieben. In der Hinsicht war sie altmodisch. Sie war davon überzeugt, dass ihre Kinder sie brauchten. Und dass ein schönes Heim zu gestalten und ihrer Familie nahrhafte, wohlschmeckende Mahlzeiten zuzubereiten, eine sehr wichtige und lohnenswerte Aufgabe war. Und sie hat Ryan auch so wunderbar unterstützt. Sie haben häufig Gäste gehabt, besonders in den letzten ein oder zwei Jahren vor Patricias Krankheit, nachdem er Geschäftsführer des Memorial geworden war und ein gewisses gesellschaftliches Image pflegen musste. Er brauchte den Kontakt zu den einflussreichen Kreisen hier, um das Geld für den neuen Anbau aufzutreiben. Sie haben davon gehört?“

     Ronni nickte.

     „Und wussten Sie, dass Ryans Bruder Tanner der Bauherr ist?“, plauderte Lily munter weiter. „Der Bau geht gut voran, aber vielleicht hatten Sie ja noch keine Gelegenheit, ihn zu sehen. Vermutlich sind Ihre Patienten im Kinderkrankenhaus?“

     „Ja, aber ab und zu habe ich auch im Memorial zu tun, um Patienten bei der Geburtsnachsorge zu betreuen. Der neue Flügel sieht recht imposant aus.“

     „Ja, sie beginnen gerade mit dem Innenausbau, der etwa hundert Millionen Dollar kostet. Aus dem Pembroke Fond. Da Ryan ein Pembroke-Stipendiat gewesen ist, war dies natürlich eine sehr hilfreiche Verbindung. Außerdem spielt er regelmäßig Squash mit Axel Pembroke, dem Präsidenten der Stiftung. Haben Sie ihn mal kennen gelernt? Ein komischer kleiner Mann.“ Lily zuckte mit den Schultern. „Und Patricia hat selbstverständlich ihren Anteil beigetragen, dessen können Sie versichert sein. Solch reizende Partys, für die sie alles selbst vorbereitet hat, vom perfekten Essen bis hin zu den Blumenarrangements. Sie wollte einfach keinen Partyservice beauftragen. Aber das war auch verständlich. Niemand konnte eine Party so wunderbar gestalten wie Patricia. Und dann, wenn alles fertig war, hat sie ihr herrliches blondes Haar zu einem schlichten Knoten frisiert, ein kleines schwarzes Kleid angezogen, und sah aus, als habe sie keinen einzigen Finger gerührt, um das Ganze zu organisieren. Sie war wirklich eine außergewöhnliche Gastgeberin. Ich glaube, Mr. Pembroke hatte sogar eine Schwäche für sie …“

     Als Lily schließlich mit zwei leeren Tellern und einem letzten lebhaften Winken aus der Hintertür ging, war Ronni nur allzu froh, sie gehen zu sehen.

     Ich kann es genau vor mir sehen, dachte sie, während sie Jeans und Pullover aus dem Karton auf ihrem Bett räumte. Jedes Mal wenn ich Ryan in der Auffahrt zuwinke, kommt Lily mit Mittagessen beladen hier an, mit endlosen Geschichten über die unersetzliche Patricia, der liebenden Ehefrau und Mutter und Supergastgeberin.

     Nicht dass Ronni irgendwelche Absichten hegte, diesen Ausbund an Tugend zu ersetzen. Nein, sie hatte höchst exakte Vorstellungen über ihr Leben. In denen selbstverständlich auch ein Mann vorkam. Aber nicht jetzt, frühestens in ein oder zwei Jahren. Im Augenblick musste Ronni ihre gesamte Aufmerksamkeit darauf richten, sich in ihrer Praxis zu etablieren, und auf ihre neue Wohnung, in die sie Ende des Monats einziehen würde – endlich ihr eigenes Zuhause …

     Lily hätte sich ihr Roastbeef-Sandwich sparen können. Ronni war nicht hinter Ryan Malone her. Ja, er war attraktiv, ausgesprochen attraktiv sogar. Und es war beunruhigend leicht gewesen, die ganze Nacht mit ihm zu reden. Aber es würde zu nichts führen. Das Timing war einfach nicht richtig.

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