Du sollst meine Prinzessin sein Kapitel 1


~ Kapitel 1 ~

„Oh my darling, oh my darling, oh my darling Benjamin …“

Lizzy sang munter weiter, während sie den Buggy die schmale Landstraße entlangschob. In dem Baum auf der Spitze des Hügels hatten sich Krähen versammelt. Das letzte Licht des Tages verflüchtigte sich nach Westen in Richtung Meer. Der Frühling neigte sich dem Ende zu. Gänseblümchen blühten am Straßenrand. Von der Atlantikküste her blies ein beständig zunehmender Wind, der ihre Haare, trotz des festen Pferdeschwanzes, in krissligen Strähnen vor ihr Gesicht wehte. Aber was kümmerte sie ihr schreckliches Haar, ihre Kleider von den Wohltätigkeitsverkäufen und ihr nichtssagendes Aussehen? Ben war es gleichgültig, und er war das Einzige auf der Welt, das wichtig war.

„Sing weiter“, bat er, kaum dass sie geendet hatte. Und sie tat ihm den Gefallen. Zudem war Ben ein unkritisches Publikum. Lizzy besaß keine gute Stimme, doch ihren vierjährigen Sohn störte das nicht. Auch nicht, dass seine Kleider und seine Spielsachen von allen erdenklichen Flohmärkten des kleinen Küstenstädtchens in Cornwall stammten.

Dass er keinen Daddy hatte, war ebenfalls kein Problem für ihn, obwohl die meisten anderen Kinder einen besaßen.

Er hat mich, und das ist alles, was er braucht, dachte Lizzy, umklammerte die Griffe des Buggys fester und beschleunigte ihre Schritte. Es war schon spät und wurde langsam dunkel. Aber Ben hatte so viel Spaß am Strand gehabt, dass sie länger als ursprünglich geplant geblieben waren.

Die Nähe zum Strand war der Hauptgrund für Lizzy gewesen, vor elf Monaten ihre Wohnung in London zu verkaufen und in das winzige heruntergekommene Cottage zu ziehen. Es war viel besser, ein Kind auf dem Land großzuziehen als in der Stadt.

Ihre Gesichtszüge wurden weich.

Ben. Benjamin.

Der Gesegnete.

Das bedeutete sein Name, und es entsprach ganz der Wahrheit. Er war gesegnet mit einem Leben voller Liebe, und sie war gesegnet mit ihm. Keine Mutter konnte ein Kind mehr lieben als sie.

Nicht einmal eine leibliche Mutter.

Tiefe Trauer breitete sich gemeinsam mit dem vertrauten Schmerz in ihr aus. Maria war so jung gewesen. Viel zu jung, um von zu Hause fortzugehen, viel zu jung, um als Model zu arbeiten, viel zu jung, um schwanger zu werden und viel zu jung, um zu sterben. Noch vor ihrem zwanzigsten Geburtstag war sie in Frankreich bei einem schrecklichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Maria – so wunderbar, so hübsch. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren, großen blauen Augen und dem Lächeln eines Engels.

Ihre Eltern waren fassungslos gewesen, als Maria eines Tages nach Hause kam und erzählte, der Agent einer Modelagentur habe sie entdeckt. Lizzy hatte ihre achtzehnjährige Schwester zu ihren ersten Probeaufnahmen ins Londoner West End begleitet. Die beiden Mädchen hatten völlig unterschiedlich auf diese Erfahrung reagiert. Maria mit Begeisterung. Sie hatte sich in dem Modemilieu sofort zu Hause gefühlt. Lizzy hingegen kam sich fehl am Platz vor. Ihr war unbehaglich zumute, als leide sie an einer schrecklichen Krankheit.

Lizzy wusste, um welche Krankheit es sich handelte. Seit der Geburt ihrer Schwester war sie für ihre Eltern unwichtig geworden. Ihre einzige Funktion war es, auf Maria aufzupassen. Und genau das hatte sie getan. Sie begleitete Maria zur Schule, blieb bis spät in die Nacht in den Clubs bei ihr, half ihr bei den Hausaufgaben und dann beim Examen. Obwohl die intelligente Maria, wie ihre Eltern sie beständig erinnerten, nicht viel Hilfe gebraucht hatte – vor allem, weil Lizzys eigene Examensresultate nicht gerade berauschend waren. Aber hatte jemand erwartet, dass sie berauschend waren? Nein, niemand. Und niemand erwartete, dass sie der Welt irgendetwas Bleibendes hinterließ. Deshalb und weil ein Studium viel Geld kostete, war Lizzy nicht aufs College gegangen. Das Geld war für Marias Ausbildung gespart worden.

Aber alle Hoffnungen waren zerstört worden, als Maria ein Modelvertrag angeboten wurde.

„Jetzt kann Lizzy doch zur Universität gehen“, hatte Maria gesagt. „Ihr wisst, dass sie das immer wollte.“

Allein der Gedanke war lächerlich. Mit zwanzig war Lizzy zu alt, um Studentin zu werden, und einfach nicht intelligent genug. Außerdem wurde sie als Verkäuferin in dem kleinen Laden ihres Vaters in einem Londoner Vorort gebraucht.

„Lizzy, zieh von zu Hause aus“, drängte Maria sie, als sie zum ersten Mal nach dem Beginn ihrer Karriere zu Besuch gekommen war. „Sie behandeln dich wie ein Arbeitstier. Komm mit mir nach London. Wir können uns eine Wohnung teilen. Es ist toll dort, ehrlich. Jede Menge Spaß und Partys. Ich verpasse dir das richtige Styling, und wir können …“

„Nein.“ Lizzys Stimme klang scharf.

Maria hatte ihr Angebot freundlich gemeint. Aber die Vorstellung, die alte hässliche Schwester in einer Wohnung voller gut aussehender Teenager-Models zu sein, war zu schrecklich.

Sie hätte gehen sollen, das hatte sie schon damals geahnt. Wenn sie mit ihrer Schwester zusammengelebt hätte, hätte sie doch sicher von ihrer Affäre erfahren? Vielleicht hätte sie sie sogar verhindern können? Ein Gefühl von Schuld stieg in Lizzy auf. Zumindest hätte sie wissen können, mit wem Maria eine Affäre hatte.

Und das hätte bedeutet, überlegte sie mit einem Blick auf Bens helle Haare, sie würde wissen, von wem Maria schwanger geworden war.

Aber Lizzy wusste es nicht und würde es auch niemals erfahren.

Auf der Straße hinter ihr erklang ein Motorengeräusch. Instinktiv schob sie den Buggy dichter an den Straßenrand. Helle Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit. Der große Geländewagen wurde langsamer, als die Lichter Ben und Lizzy am Rand der Straße erfassten. Für einen Moment glaubte sie, der Fahrer würde anhalten. Doch der Wagen glitt an ihnen vorbei und beschleunigte wieder. Sie runzelte die Stirn. Die Straße führte ins Landesinnere, hier herrschte normalerweise nur wenig Verkehr. Vielleicht waren es Feriengäste, die Urlaub in einem entlegeneren Cottage machten. Oder vielleicht hatten sie sich einfach verfahren. Lizzy schob den Buggy um die letzte Kurve und blickte dann zu ihrem eigenen Cottage hinüber.

Zu ihrer größten Überraschung parkte der Geländewagen in ihrer Einfahrt.

Furcht breitete sich in ihr aus. Verglichen mit der Stadt war dies hier eine sehr sichere Gegend, aber Verbrechen waren natürlich auch hier nicht unbekannt. Sie steckte eine Hand in die Tasche, bereit, mit ihrem Handy den Notruf der Polizei zu wählen.

Als sie ihr kleines Gartentor erreichte, stiegen zwei Männer aus dem Fahrzeug.

„Haben Sie sich verfahren?“, fragte sie höflich.

Die beiden gaben keine Antwort, kamen nur weiter auf sie zu.

„Miss Mitchell?“

Die Stimme des Mannes war tief, und er sprach mit Akzent. Nervös blickte Lizzy ihn an. Die Dämmerung legte dunkle Schatten auf sein Gesicht. Sie ahnte seine Konturen, seine dunklen Augen … und noch etwas anderes. Etwas, das sie nicht benennen konnte.

Etwas, das sie nur zögerlich und vorsichtig antworten ließ: „Ja. Warum wollen Sie das wissen?“

Instinktiv trat sie näher an den Buggy heran, schob sich zwischen Ben und die fremden Männer.

„Wer sind diese Männer?“, fragte Ben neugierig. Er verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf die Fremden werfen zu können.

„Wir müssen mit Ihnen sprechen, Miss Mitchell“, fuhr der Unbekannte nun fort. „Es geht um den Jungen.“

„Wer sind Sie?“ Lizzys Stimme klang schrill und getrieben von Furcht.

„Es besteht kein Grund zur Sorge“, entgegnete der andere Mann beschwichtigend. Er war ein wenig schlanker und älter. „Ich bin Polizist. Sie befinden sich in Sicherheit.“

Ein Polizist? Lizzy starrte ihn an. Er sprach mit demselben Akzent wie der jüngere Mann, der seinen Blick unverwandt auf Ben gerichtet hatte.

„Sie sind keine Engländer.“

Der erste Mann zog die Augenbrauen hoch und wandte sich ihr zu. „Natürlich nicht“, entgegnete er, als sei das eine vollkommen lächerliche Bemerkung. „Miss Mitchell“, fuhr er ungeduldig fort. „Wir haben einiges zu besprechen. Bitte lassen Sie uns ins Haus gehen. Sie haben mein Wort, dass Ihnen nichts geschieht.“

Der Polizist öffnete das Gartentor und drängte sie den kurzen Pfad zur Eingangstür des Cottages entlang. Wie betäubt tat sie, worum sie gebeten worden war. Eine angespannte Unruhe ergriff sie. Im Hausflur hielt sie inne, um Bens Sicherheitsgurte zu lösen. Sofort wand er sich aus dem Buggy und drehte sich nach den beiden wartenden Männern um.

Lizzy richtete sich auf, schaltete das Licht ein und musterte nun ebenfalls die Fremden. Der Jüngere hielt seinen Blick wieder fest auf Ben gerichtet.

Die beiden Dinge, die sie nun an ihm bemerkte, sandten widersprüchliche Gefühle durch ihren Körper.

Das eine war, dass er der bestaussehende Mann war, den sie je zu Gesicht bekommen hatte.

Das zweite, dass er auf verstörende Weise dem Sohn ihrer Schwester ähnelte.

 

Wie in Zeitlupe half Lizzy Ben aus seiner Jacke und aus den Schuhen, zog dann ihre eigene Jacke aus, faltete den Buggy zusammen und lehnte ihn gegen die Wand. Oh Gott, was passierte hier? fuhr es ihr durch den Kopf.

„Da geht es in die Küche“, verkündete Ben und marschierte voran. Er betrachtete die unerwarteten Besucher interessiert.

Die Küche wirkte winzig mit den beiden Männern darin. Sofort stellte Lizzy sich hinter Ben, der auf einen Stuhl kletterte, um größer zu sein. Immer noch beobachteten die beiden Unbekannten den Jungen aufmerksam. Langsam bekam sie Angst.

„Was soll das?“, fragte sie scharf und legte schützend ihre Arme um Ben. Der Mann, der Ben ähnlich sah, wandte sich an den Polizisten und sagte rasch etwas in einer fremden Sprache.

Italienisch erkannte sie. Doch diese Erkenntnis half ihr auch nicht weiter. Sie verstand kein Italienisch.

„Prego“, murmelte er jetzt. „Captain Falieri wird sich in einem anderen Zimmer um den Jungen kümmern, während wir …“, er hielt kurz inne, „… uns unterhalten.“

„Nein“, erwiderte sie automatisch.

„Der Junge ist in Sicherheit“, sagte der Mann und wandte sich an Ben. „Hast du irgendwelche Spielsachen? Captain Falieri würde sie gerne sehen. Magst du sie ihm zeigen?“

„Ja“, erklärte Ben gewichtig und sprang vom Stuhl. Dann sah er Lizzy an. „Darf ich? Bitte!“

Sie nickte. Ihr Herz raste, als der ältere Mann Ben aus der Küche begleitete. Angenommen, er würde mit Ben das Haus verlassen. Angenommen, er fuhr mit ihm weg. Angenommen …

„Dem Jungen wird nichts passieren. Ich will nur nicht, dass er bei unserem Gespräch dabei ist.“

Es lag Missbilligung in seiner Stimme. Als würde Lizzy Probleme machen. Als würde sie eine Last sein.

Sie sah den Mann an, der sie über den Tisch hinweg beobachtete. Wieder versetzte ihr seine Ähnlichkeit mit Ben einen Stich. Bens Haut war hell, seine dunkler, doch die Gesichtszüge waren fast identisch.

Was, wenn er Bens Vater ist?

Lizzy verspürte ein flaues Gefühl im Magen, ihr Herz raste. Verzweifelt versuchte sie, Ruhe zu bewahren.

Selbst wenn er Bens Vater ist, darf er ihn ihr nicht wegnehmen!

Schwindel breitete sich in ihr aus. Sie musste sich an der Lehne des Küchenstuhls festhalten.

„Sie stehen unter Schock.“ Der tadelnde Tonfall war verschwunden. Er musterte sie eingehend, als versuchte er zu entscheiden, ob seine Beobachtung richtig war.

Sie hob den Kopf. „Was haben Sie denn erwartet?“

Der Mann ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Da war der altertümliche Herd, das alte Spülbecken, die abgenutzten Arbeitsflächen, der oft gescheuerte Küchentisch und der alte Fliesenboden.

„Nicht das“, murmelte er. Jetzt lag Geringschätzung in seiner Stimme. Und auf seinem Gesicht.

„Warum sind Sie hier?“, sprudelte es aus ihr heraus.

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Natürlich wegen des Jungen. Hier kann er nicht bleiben.“

Sie fühlte, wie das Blut in ihren Adern erstarrte.

„Sie können ihn nicht mitnehmen. Sie können nicht fünf Jahre nach der Schwangerschaft herkommen und …“

„Was?“ Dieses einzelne Wort war so unbeherrscht ausgesprochen worden, dass Lizzy innehielt.

Lange starrte er sie mit einem völlig überraschten Gesichtsausdruck an, als würde die ganze Welt keinen Sinn mehr machen. Lizzy hielt seinem Blick stand.

„Ich bin nicht Bens Vater.“

Plötzlich fühlte sie sich ganz schwach. Die Angst in ihrem Bauch verebbte langsam.

„Ich bin Bens Onkel. Mein Bruder Paolo ist sein Vater. Und wie Sie wissen, ist Paolo, genau wie Ihre Schwester Maria, tot.“

Lizzy wartete auf die Woge der Erleichterung. Der Mann, der ihre Schwester geschwängert hatte, war tot. Er war keine Bedrohung mehr für sie und auch nicht für Ben. Sie sollte Erleichterung darüber empfinden.

Aber das Gefühl blieb aus. Nur leere Trauer stieg in ihr auf.

Tot. Beide sind tot. Beide Eltern.

Plötzlich erschien ihr alles so unglaublich traurig. Ben waren die beiden Menschen genommen worden, die für sein Leben verantwortlich waren.

„Ich … es tut mir leid“, hörte sie sich selbst sagen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Für einen Moment änderte sich der Ausdruck in seinen Augen, als würden sie in dieser Sekunde dieselbe Empfindung teilen, dieselbe Trauer über den gemeinsamen Verlust. Doch dann, als fiele eine Tür ins Schloss, war es vorbei.

„Ich wusste nicht, wer Bens Vater ist“, erklärte Lizzy. „Meine Schwester hat das Bewusstsein nie wiedererlangt. Sie lag im Koma, bis Ben geboren werden konnte und dann …“ Sie unterbrach sich und blickte Bens Onkel an. „Wussten Sie von Ben?“

„Natürlich nicht. Seine Geburt war gänzlich unbekannt. Das scheint in Anbetracht der Umstände des Todes seiner Eltern unmöglich zu sein. Doch dank der gnadenlosen Nachforschungen eines schmierigen Journalisten, über die ich glücklicherweise rechtzeitig informiert worden bin, ist die Existenz des Jungen nicht länger geheim. Und aus diesem Grund“, seine Stimme wurde schärfer, die Ungeduld hatte sich wieder hineingeschlichen, „muss er sofort von hier fort. Zwar konnten wir Sie vor der Presse aufspüren, aber wenn es uns gelungen ist, Sie zu finden, dann können die Reporter das auch. Und das bedeutet, dass Sie und der Junge uns jetzt begleiten müssen. Ein sicheres Haus wurde bereits angemietet.“

„Welcher Journalist? Was meinen Sie mit ‚die Presse‘?“

„Stellen Sie sich nicht dumm. In dem Moment, in dem der Aufenthaltsort des Jungen bekannt wird, fällt die Presse wie eine Meute Hyänen hier ein. Wir müssen sofort abfahren.“

Verständnislos starrte Lizzy ihn an. Das war doch verrückt. Was war hier eigentlich los?

„Ich verstehe Sie nicht. Ich verstehe überhaupt nichts. Warum sollte die Presse herkommen?“

„Um meinen Neffen zu finden. Was haben Sie denn gedacht?“

„Aber warum? Warum sollte sich die Presse für Ben interessieren?“

Jetzt starrte er sie an, als sei sie verrückt geworden.

„Wir haben nichts getan“, versicherte sie dem Mann mit dünner Stimme. „Warum sollte ein Journalist Interesse an Ben haben? Er ist ein vierjähriges Kind.“

„Er wurde geboren. Das ist Grund genug. Seine Abstammung garantiert das Interesse der Öffentlichkeit“, fuhr er sie wütend an. „Bestimmt werden Sie doch wenigstens das verstehen.“

Langsam machte Lizzy einen Schritt rückwärts. Es gefiel ihr nicht, in der Nähe dieses Mannes zu sein. Seine Gegenwart war überwältigend, verstörend.

Was meinte er mit Bens Abstammung? Außer dass er sehr gut aussah, war er ihr vollkommen unbekannt. Er war Italiener und musste durchaus wohlhabend sein, fiel ihr auf. Der Geländewagen war eines der neusten Modelle, seine Kleidung exklusiv.

Doch warum sollte das die Aufmerksamkeit der Presse auf sich ziehen? So einzigartig waren reiche Italiener nun auch wieder nicht, dass die Journalisten ständig Geschichten über sie schrieben.

Sie runzelte die Stirn. Aber was war mit seinem Bruder Paolo? Er hatte gesagt, sie müsse wissen, dass sein Bruder tot war. Doch wie hätte sie davon erfahren sollen? Sie kannte ihn doch gar nicht.

„Meine Schwester war kein Supermodel“, setzte sie vorsichtig an. „Sie stand ganz am Beginn ihrer Karriere. Kein Reporter würde sich für sie interessieren. Aber Ihr Bruder … war er in Italien berühmt? Vielleicht ein Filmstar? Ein Fußballspieler, ein Rennfahrer?“

Er sah sie an, als käme sie von einem fremden Planeten. Furcht stieg wieder in ihr auf.

„Das kann nicht sein“, entgegnete er tonlos. „Es ist einfach unglaublich, dass Sie das gerade gesagt haben.“ Seine Miene veränderte sich, und jetzt war es, als würde er einem kleinen Kind etwas erklären. „Mein Bruder war Paolo Ceraldi.“

„Es tut mir leid, der Name sagt mir nichts.“

In seinem Gesicht zuckte ein Muskel. Seine Augen waren wie schwarze Höhlen. „Spielen Sie keine Spielchen mit mir, Miss Mitchell. Der Name muss Ihnen etwas sagen, ebenso wie San Lucenzo.“

San Lucenzo? Vielleicht war das die Heimat von Bens Vater. Aber, selbst wenn, was sollte das alles?

„Das ist ein Land in der Nähe von Italien. Wie Monaco. Eines dieser Länder, die im Mittelalter gegründet wurden“, sagte sie vorsichtig. „Irgendwo an der Riviera. Viele reiche Menschen leben dort. Aber der Name Paolo Ceraldi ist mir unbekannt. Wenn er also dort eine berühmte Persönlichkeit ist, fürchte ich einfach, ich …“

In seinen Augen blitzte etwas auf. Er sprach mit kalter frostiger Höflichkeit, die alles andere als höflich war.

„Das Haus Ceraldi, Miss Mitchell, herrscht seit über achthundert Jahren über San Lucenzo.“

Schweigen senkte sich über sie. Absolutes Schweigen. Sie versuchte zu begreifen, was er da gesagt hatte, und scheiterte.

„Paolos Vater ist der herrschende Prinz.“ Er machte eine Pause, kurz und tödlich, während sein Blick den ihren festhielt. „Er ist der Großvater Ihres Neffen.“


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