Es erschien Rico wie grausame Ironie, dass sie immer noch davor zurückschreckte, ihn zu heiraten. Letzten Endes musste er drastische Worte finden.
„Es ist die einzige Möglichkeit, Sie zu beschützen. Und Ben.“
Lizzy starrte ihn an, ihr Gesicht vor Angst verzerrt.
„Das ist ein Trick. Eine weitere Falle.“ Ihre Stimme klang hohl.
„Nein. Ich schwöre, ich habe nicht gewusst, was meine Familie plant. Wenn ich könnte, würde ich Sie nach England zurückbringen, aber ich kann nicht. Italien war meine einzige Chance, denn jetzt ist mein Vater gezwungen, mit den italienischen Behörden zu verhandeln. Das verschafft uns ein wenig Zeit. Aber sollten Sie versuchen, nach England zurückzukehren, wird man Sie verhaften. Mein Vater wird alle italienischen Grenzen beobachten lassen. Und glauben Sie nicht, dass er das nicht kann. Sein Ziel ist es, Sie und Ben zu trennen. Sobald Sie getrennt sind, wird ein Gericht die Trennung unter irgendeinem Vorwand für rechtmäßig erklären.“
Er tat einen tiefen Atemzug. „Der einzige Ausweg, sie beide zu beschützen, ist der, den ich gerade genannt habe. Wenn wir verheiratet sind, kann niemand Sie anrühren und Ben auch nicht. Nicht auf legalem Wege. Außerdem wird der Palast jede Publicity vermeiden wollen und deshalb die vollendeten Tatsachen akzeptieren müssen. Ich kenne meinen Vater. Einen offenen Bruch mit mir wird er nicht riskieren. Diese Art Skandal wird er auf keinen Fall heraufbeschwören.“
Er blickte zu ihr hinüber, wie sie Ben fest in den Armen hielt, der in dem gleichmäßigen Schaukeln des Wagens eingeschlafen war. „Ich bin der einzige Mensch, der Sie beschützen kann.“
„Warum?“ Fast unhörbar stellte sie ihre Frage. „Warum tun Sie das für uns?“
„Ich habe Ihnen mein Wort gegeben“, erwiderte er.
In seinem Kopf erklang Lucas Stimme. Er beschrieb die grauenhafte Kindheit, die er für Ben geplant hatte.
Wut stieg in ihm auf. Wut über seinen Vater, seine Mutter, seinen Bruder … über die ganze verdammte, verdrehte, hartherzige, empfindungslose Familie.
Wie hatten sie überhaupt nur daran denken können?
Aber er wusste es längst. Pflicht und Ansehen waren das Einzige, was für die Ceraldis zählte. Jeder Skandal, jedes Aufsehen, jeder Eklat musste vermieden werden.
Und um das zu erreichen, waren sie bereit, ein vierjähriges Kind aus den Armen seiner Mutter zu reißen.
Wieder blickte er zu den beiden hinüber. Also hatte Luca ihn wie einen gutgläubigen Trottel hereingelegt? Hatte ihn ausgesandt, die Tante mit seinem Charme zu umgarnen, um ihr das Kind zu stehlen? Hatte ihm weisgemacht, er solle ihr die Ehe anbieten, damit sie sich in falscher Sicherheit wiegte? Er presste die Lippen zusammen.
Danke für die Idee, Luca – sie ist wirklich gut.
Lizzy hatte das Gefühl, sie würde fallen. Als stürze sie in eine bodenlose Grube. Nur Ben war da, an dem sie sich festhalten konnte. Und es war wichtiger als alles andere, dass sie genau das tat. Wenn sie ihn losließ, wäre er für immer verloren.
Heiße Furcht strömte durch ihre Adern. Wieder und wieder durchlebte sie die entsetzlichen Ereignisse im Palast – als sie erkannt hatte, dass sie eingesperrt war und ihr klar wurde, dass das nur eines bedeuten konnte.
Ihr Blick streifte den Mann, der neben ihr in der kühlen steinernen Kirche stand. Seine Miene war angespannt und verschlossen.
Vertrauen Sie mir, hatte er gesagt.
Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, hatte er gesagt.
Konnte sie ihm vertrauen? Wollte er sie wirklich retten? Oder bloß wieder in eine neue Falle locken?
Doch was er vorhatte, veränderte auch sein Leben für immer. Er hatte sich seinem Vater widersetzt und seinen Bruder niedergeschlagen, damit er sie und Ben in Sicherheit bringen konnte.
Er tut es für Ben. Weil er weiß, dass es grausam wäre, ihn von mir zu trennen. Und genau aus diesem Grund habe ich zugestimmt. Für Ben.
Alles andere war unwichtig.
Der Priester sagte etwas. Es war eine kleine Kirche, kaum mehr als eine Kapelle, irgendwo in den Bergen, sie hatte keine Ahnung, wo. Im Wagen hatte es eine leise Unterredung zwischen dem Prinzen und seinem Bodyguard gegeben, der nicht nur bedingungslos loyal zu seinem Herrn stand, sondern in dessen Verwandtschaft es offensichtlich auch einen Großonkel gab – eben jenen Priester.
Der zerbrechlich wirkende ältere Mann umschloss die Hände des vor ihm stehenden Paares mit seinen eigenen und sprach feierliche Worte, die sie nicht verstand, die sie aber, das wusste sie, in dem heiligen Bund der Ehe mit dem Mann neben ihr verbanden.
Es war vollbracht. Ben und seine Mutter befanden sich in Sicherheit. Erleichterung breitete sich in Rico aus. Er dankte dem Priester und schwor sich insgeheim, er würde nicht zulassen, dass der Mann für seine Tat Ärger bekäme. Dann bedankte er sich bei der Haushälterin, die zusammen mit Gianni die Rolle der Trauzeugen übernommen hatte. Jetzt blieb nur noch eines zu tun.
Er brachte Ben und Lizzy zurück in den Wagen. Gianni nahm auf dem Fahrersitz Platz. Er wusste, wohin die Reise ging.
„Ich habe Hunger“, verkündete Ben. Er war aufgewacht und hatte an Giannis Seite die Zeremonie über sich ergehen lassen – ohne wirklich zu verstehen, was die Erwachsenen da taten.
„Bald gibt es etwas zu essen, ich verspreche es“, erwiderte Rico und strubbelte ihm über die Haare. Es war noch nicht ganz dunkel, aber sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Natürlich wäre er lieber geflogen, aber das war viel zu gefährlich.
Allerdings war dieser Wagen bereits wesentlich unauffälliger als der vorherige – Gianni hatte den Austausch vorgenommen. Der Mann hatte sich wirklich eine lebenslange Belohnung verdient. Und nun konnte er mit einem weiteren Trumpf aufwarten.
„Magst du Pizza?“, fragte er und reichte eine große Plastiktüte nach hinten. „Mittlerweile ist sie zwar kalt, aber immer noch gut. Von der Haushälterin meines Großonkels, für den bambino.“
Bens Miene hellte sich auf. „Ja, gerne“, sagte er.
Rico sah zu, wie Lizzy das Essen auspackte und dem Kind ein Stück Pizza in einer Papierserviette reichte. Während sie aßen, zog er sein Handy aus der Hosentasche. Es dauerte eine Weile, bis sich am anderen Ende jemand meldete.
„Jean-Paul, ich habe etwas für dich …“
Die in hastigem Französisch geführte Unterhaltung dauerte eine Weile. Als Rico die Verbindung trennte, verspürte er eine neuerliche Woge der Erleichterung. Ebenso fühlte er jedoch auch die ängstlichen Blicke, die auf ihn gerichtet waren.
„Das war ein Freund von mir, derjenige, der mich vor der Geschichte über Paolos verschollenen Sohn gewarnt hat. Ich vertraue ihm. Ich habe ihm erzählt, dass wir gerade geheiratet haben und eine Familie für Ben sein werden. Er wird die Geschichte zurückhalten, bis ich ihm mein Okay zur Veröffentlichung gebe. Das ist das Druckmittel, das ich gegen meinen Vater einsetzen kann. Ich werde ihm ein bisschen Zeit geben, die neuen Fakten zu akzeptieren. Doch wenn er weiterhin stur bleibt, darf Jean-Paul die Geschichte drucken – ohne Einverständnis des Palastes. Das ist die einzige Wahl, die ich meinem Vater lasse.“
Sein Tonfall war finster, als er endete. Er ließ das Telefon in die Tasche gleiten.
„Ich kann immer noch nicht fassen, was mein Vater getan hat. Meine Eltern haben Paolo geliebt, er war der Einzige von uns Dreien, den sie nicht wie einen Prinzen, sondern wie einen Sohn behandelt haben. Deshalb dachte ich …“, er schwieg einen Moment. „Ich dachte, sie würden Ben ebenso lieben.“
Ein kummervoller Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Ich schäme mich für sie. Schäme mich für das, was sie getan haben.“
Plötzlich berührte er Lizzys Arm. Nur für einen Moment.
„Und ich schäme mich für mich selbst.“
Mitgefühl schimmerte in ihren Augen. „Es tut mir so leid, es tut mir so unendlich leid, dass Sie tun mussten … was Sie getan haben. Ich werde versuchen, nicht …“, sie schluckte und verstummte.
Was sollte sie sagen? Ich werde versuchen, Ihnen keine allzu groteske Ehefrau zu sein?
„Es kann funktionieren“, meinte er nach einem Augenblick. „All die Gründe, die ich Ihnen in England genannt habe, sind immer noch gültig.“
Sie konnte nicht antworten. Was hätte sie auch sagen können?
Dass sie ihn aus denselben Gründen wie damals nicht hatte heiraten wollen?
Dafür war es zu spät.
Der Wagen glitt durch die Nacht. Neben ihr hatte Ben seine Pizza aufgegessen. Nachdem sie die Reste beiseitegeräumt hatte, kuschelte er sich auf ihren Schoß und war bald eingeschlafen.
Ich habe das Richtige getan. Das einzig Richtige. Das einzig Mögliche, um ihn zu beschützen, versicherte sie sich leise.
Ihr Blick traf den seines Onkels.
Ein seltsames Gefühl ergriff von Rico Besitz.
Ich habe getan, was ich tun musste. Das ist alles. Es war meine Pflicht, fuhr es ihm durch den Kopf.
Pflicht. Aber sie unterschied sich von seinen bisherigen Verpflichtungen.
Er empfand sie nicht als Last.
Für Paolo, für dessen Sohn und für die Frau, die nun unter seinem Schutz standen, hatte er das Richtige getan. Nur er hatte es tun können. Das seltsame Gefühl wurde intensiver. Er versuchte herauszufinden, was es war.
Sinnvoll. Er hatte etwas Nützliches getan.