The Shape of My Heart

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Große Gefühle? Bloß nicht! Courtney hat bereits einen geliebten Menschen verloren und will diesen Schmerz nicht noch mal erleben. Da hält sie die Welt lieber auf Abstand! Gelegentliche Blicke hinter ihre ausgeflippte Fassade erlaubt sie nur ihrem Mitbewohner Max, der seine verletzte Seele ebenfalls gut verbirgt: unter der Macho-Maske des superheißen Bikers. Standhaft verdrängt Courtney, wie sehr sie sich auch körperlich zu Max hingezogen fühlt - wild entschlossen, ihm eine gute Freundin zu sein und sonst gar nichts! Doch dann bittet Max sie, ihm bei einem gefürchteten Familientreffen beizustehen - das beider Leben für immer ändern wird …

"Der elegante und raffinierte Erzählstil ist einmalig für das Genre."

New York Times-Bestellerautorin Jay Crownover über "I Want It That Way"

"Ann Aguirre hat das Talent, starke Figuren zu schaffen, die ihre Leser an sich fesseln."

Publishers Weekly

"Ich habe längst aufgehört, mich darüber zu wundern, wie gut Ann Aguirre ist."

Leserstimme auf Goodreads


  • Erscheinungstag 10.06.2016
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495618
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

W äre mein Leben eine romantische Komödie, ich wäre nicht der Star.

Ich wäre die geistreiche, witzige Freundin, die der Reese-Witherspoon-Figur erklärt, dass sie ihrem Herzen folgen soll, und ich würde von America Ferrera gespielt, Hollywoods Version von einem hässlichen Entlein. Aber ich hatte keine Angst davor, nicht den gesellschaftlichen Schönheitsidealen zu entsprechen; ich verspürte auch nicht den geheimen Wunsch, meine Brille abzunehmen und meine Haare zu schütteln, sodass der Mann, den ich insgeheim liebte, erkennen würde, wie schön ich eigentlich war. In meinen Augen machte mein Aussehen die Sache leicht. Jeder, der mit mir zusammenkam, wollte ohne Frage wirklich mich. Doch im Moment rangierte Romantik sowieso an letzter Stelle auf meiner To-do-Liste.

„Du bist zu wählerisch“, sagte Max.

Er lag auf dem Fußboden in meinem Zimmer und überflog auf seinem Tablet seine E-Mails, während unsere zukünftige Exmitbewohnerin Nadia mithilfe ihres Freundes gerade dabei war, ihre letzten Habseligkeiten nach unten zu schaffen. Die andere Hälfte meines Raums war deswegen inzwischen sehr leer. Brummig warf ich ein Plüschtier in Form eines Erkältungsbazillus nach Max, aber er wehrte es mit beeindruckenden Reflexen ab, ohne seine Tätigkeit an dem Tablet zu unterbrechen. Er hatte auf dem Campus Zettel mit der Beschreibung des Zimmers und seiner E-Mail-Adresse verteilt, um eine neue Mitbewohnerin für unser Apartment zu finden.

„Tausch mit mir. Du kannst dir mit Angus das große Zimmer teilen und dann wen auch immer ihr wollt nebenan einquartieren.“

Wie erwartet, lehnte er ab. „Wir werden weitergucken. Wie wäre es hiermit? ‚Hey, ich heiße Kara. Ich studiere Sport im zweiten Semester und arbeite nebenbei im Kelvin’s. Ich habe euren Flyer gesehen und würde euch gerne kennenlernen. Mein Vermieter hat meine Wohnung verkauft, und nun suche ich etwas Neues.‘ Sie klingt nett. Und sie hat sogar alle Wörter richtig geschrieben.“

Ich tat so, als dächte ich darüber nach. „Ja, grundlegende Kenntnisse in Rechtschreibung sind mir wichtig. Setz sie auf die Rückrufliste.“

„Du klingst, als würden wir hier die Schauspieler für einen Film casten.“

„Das hier ist wesentlich wichtiger“, erinnerte ich ihn. „Dieser Mensch wird in meinem Zimmer wohnen und mich vermutlich beim Schlafen beobachten.“

„Ich wünschte, ihr würdet euch helfen lassen“, meinte Nadia, die hereingekommen war, weil sie ihre letzte Kiste holen wollte.

Ty, ihr großer, rothaariger Freund, nahm ihr einen der Kartons ab. Sein vier Jahre alter Sohn rannte im Wohnzimmer herum, wo Angus saß, den das allerdings nicht zu stören schien. Ich winkte den beiden zu, stand aber nicht auf. Um ehrlich zu sein, war ich etwas angespannt wegen Nadias Umzug, auch wenn sie nur eine Etage tiefer zog. In den sechs Monaten seit meinem Einzug waren wir gute Freundinnen geworden. Ich hatte damals Laurens Hälfte des Zimmers übernommen; sie war Nadias beste Freundin aus der Highschool gewesen, also hätte es mich nicht überrascht, wenn Nadia mir gegenüber Vorbehalte gehabt hätte. Doch stattdessen hatte sie mir von Anfang an das Gefühl gegeben, hier zu Hause zu sein.

Sie hatte uns auch rechtzeitig darüber informiert, dass sie mit Ty zusammenwohnen wollte, allerdings hatte ich nicht darauf reagiert. Denn insgeheim hatte ich darauf gehofft, dass ihre Pläne scheiterten – immerhin war sie im Begriff, bei Tys Sohn so etwas wie die Mutterrolle zu übernehmen.

„Ist schon gut“, erwiderte ich. „Ich war diejenige, die sich zu spät darum gekümmert hat.“

Max nickte. „Wenn ich die Zettel nicht gemacht hätte, würde Kaufman hier immer noch darauf warten, dass die perfekte Mitbewohnerin vom Himmel fällt“, meinte er zu Ty.

„Das könnte funktionieren. Eine Mitbewohnerin, die Fallschirmspringerin ist, wäre ziemlich cool.“

Ty grinste. „Ich würde mir den Kopf über die Miete zerbrechen.“

„Allerdings.“ Max winkte, als sie aufbrachen und den Rest von Nadias Sachen runtertrugen. „Hier ist noch eine aussichtsreiche Kandidatin. ‚Hab eure Anzeige gelesen. Über mich: Carmen, Hauptfach Schauspiel, erstes Semester. Ich habe keine nervtötenden Angewohnheiten und eine Aversion dagegen, obdachlos zu sein. Mail mir zurück!‘“

„Wie soll ich bitte auswählen …“

„Sie hat ein Bild angehängt.“ Max reichte mir das Tablet. „Ich bin geneigt, ihr zuzusagen.“

Als ich das Bild sah, wusste ich, warum. Carmen hatte langes, seidiges schwarzes Haar, goldene Haut, große braune Augen und eine umwerfende Figur. Ich würde zwar mit ihr ins Bett gehen, aber ich wollte auf keinen Fall im gleichen Zimmer mit ihr wohnen. Die möglichen Probleme, die daraus entstehen konnten, machten mich jetzt schon ganz kirre.

Ich schüttelte den Kopf und gab ihm sein Tablet zurück. „Auf keinen Fall.“

„Warum nicht? Sie ist perfekt.“

„Sie hat ein Foto von einem Miss-Wet-T-Shirt-Wettbewerb geschickt, Mann. An Leute, die sie überhaupt nicht kennt. Spricht das etwa für ihren gesunden Menschenverstand?“

Laut seufzte er. „Eher nicht.“

„Ich will nicht nach Hause kommen und feststellen, dass hier jemand gerade einen Amateurporno in meinem Zimmer dreht.“

„Warum nicht? Ich glaube, das würde sich prima auf einem Lebenslauf machen.“

„Du hast sie nicht mehr alle!“

Max lachte und warf einen Blick zur Tür, wo Angus lässig am Türrahmen lehnte und wie immer aussah wie ein Fotomodell.

Meine Mitbewohner waren beide ziemlich sexy – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Der blonde, grünäugige Angus entsprach den Männern auf dem Cover der GQ: wohlhabend, höflich, glatt rasiert und perfekt angezogen. Er roch immer unglaublich gut. Max war der Typ tätowierter Motorradfahrer mit charmanten Grübchen und zerzausten Haaren. In diesem Moment hatte ich die beiden in meinem Schlafzimmer, was so etwas war wie ein Sechser in der Heiße-Typen-Lotterie, aber keiner von ihnen war an mir interessiert. Angus hatte einen Freund, und Max hatte ausreichend Frauen, die ihn ständig übers Handy belagerten. Doch es war nicht so, dass ich einem von ihnen hin-terherschmachtete. Seit Amy hatte ich keine Beziehung mehr gehabt und war auch nicht auf der Suche. Dennoch waren die beiden ein wahrer Leckerbissen für die Augen.

„Mitbewohnerversammlung“, verkündete Angus, schlenderte zu meinem Bett und ließ sich aufs Fußende fallen. „Irgendwelche Fortschritte bezüglich der neuen Mitbewohnerin?“

Ich zog die Schultern hoch und schlang meine Arme um ein Plüschkissen, das dieses Mal die Form einer bezaubernden Eizelle hatte. „Ich arbeite daran.“

„Das stimmt. Sie hat bereits vier Bewerberinnen abgelehnt, seit ich hier bin.“

Finster blickte ich Max an. „Das bringt uns jetzt nicht weiter.“

„Doch, ich lese dir seit zehn Minuten E-Mails vor.“

Ich achtete nicht auf ihn und stieß Angus’ Oberschenkel mit dem Fuß an. „Kennst du nicht jemanden, der was sucht? Vorzugsweise keinen dahergelaufenen Fremden.“

„Ehrlich gesagt ist das mit ein Grund, warum ich hier bin.“

Ich hüpfte auf und ab, sodass sein Kopf auf der Matratze wippte. „Raus damit.“

„Ich studiere mit Kia zusammen Medizin. Sie hat erwähnt, dass sie mit ihrem Freund Schluss machen will, doch sie schiebt es auf, weil das bedeutet, dass sie ausziehen muss. Ich habe nichts gesagt, weil ich erst mit euch sprechen wollte, aber …“

„Ist sie nett?“, unterbrach ich ihn in dem Moment, in dem Max fragte: „Ist sie heiß?“

Breit grinste Angus mich an. „Ja und ja. Ich glaube, sie würde gut hier reinpassen.“

Dann holte er sein Handy heraus und suchte in seinen Fotos herum, bis er ein Selfie von sich mit einem hübschen, afroamerikanischen Mädchen gefunden hatte. Sie hatte ein tolles Lächeln, strahlend und freundlich, dunkle Haut und kurze Haare. Schon auf dem Bild hatte sie eine nette Ausstrahlung. Vielleicht passte es ja wirklich.

„Ruf sie an“, sagte ich zu Angus.

„Du meinst, ich habe die ganzen Flyer umsonst gestaltet?“, stieß Max knurrend hervor, aber ich sah, wie froh er war, dass das Thema sich vielleicht erledigt hatte.

Er stand auf und drängte sich zwischen Angus und mich auf die Matratze. Drei Menschen auf einem Doppelbett war vermutlich nicht das, was der Hersteller im Sinn gehabt hatte. „Wenn ihr mein Bett kaputt macht …“, meinte ich.

„Pst, es klingelt.“ Angus warf uns einen Blick zu, als wären wir ungezogene Kinder. „Kia? Ich bin’s. Hast du eine Minute?“ Das klang wie der Code für Kannst du frei sprechen?

Sie sprach laut genug, dass ich ihre Antwort hören konnte. „Ja. Ich kann dir meine Mitschriften mailen.“

„Verstanden. Ruf mich zurück, wenn du kannst.“

„Wow“, brachte Max hervor. „Klingt, als wäre der Freund ein echter Kontrollfreak.“

Angus nickte. „Ich sage ihr schon seit drei Monaten, dass sie da wegmuss.“

„Misshandelt er sie?“ Die Antwort würde meine Meinung darüber, ob wir ihr das Zimmer vermieten sollten, nicht ändern, doch vielleicht müssten wir die Sicherheitsvorkehrungen für sie verstärken.

„Das kommt darauf an, wie du misshandeln definierst. Meiner Meinung nach ist er übermäßig daran interessiert, wohin sie geht und mit wem sie spricht. Und er kann mich nicht leiden. Und zwar gar nicht.“

„Homophob?“, fragte ich.

„Der Typ ist Nachwuchsrepublikaner, also … vermutlich ja. Er trägt oft Pullunder und stammt aus einer konservativen Familie aus Oklahoma. Treue Kirchgänger, du weißt schon …“

„Ah. Das erklärt einiges“, entgegnete Max.

Angus’ Handy summte, und er nahm sofort ab und stellte auf Lautsprecher. „Kia?“

„Was gibt’s?“

„Macht Duncan dir heute mal wieder das Leben schwer?“

„Ja, wie immer.“ Sie klang müde.

Kein Wunder. Sie studierte Medizin, was anstrengend genug war, und hatte einen schwierigen Freund; sie hatte also mehr als genug am Hals. Aber wir mussten ihr schnell sagen, dass wir mithörten, bevor sie etwas offenbarte, das sie Fremden gegenüber vielleicht nicht sagen würde. „Hey, hier ist Courtney aus Angus’ WG.“

„Und ich bin Max, der andere.“

„Ist das hier eine Konferenzschaltung?“ Sie hörte sich eher belustigt als genervt an, was schon mal ein guter Anfang war.

„Ich habe mit ihnen gesprochen, und wenn du den Idioten abschießen willst, kannst du hier einziehen. Du würdest dir das Zimmer mit Courtney teilen. Willst du mal vorbeikommen und dir angucken, ob es was für dich wäre?“

„Ja, bitte.“ Ihre Antwort kam aus tiefstem Herzen.

Eine Stunde später saß Kia auf unserer Couch, nachdem wir ihr eine kurze Führung durch das Apartment und mein halb leeres Zimmer gegeben hatten. Sie war größer als ich und auch schlanker, doch das war Nadia auch gewesen. Allerdings schüchterte sie mich nicht so ein, wie Nadia das am Anfang getan hatte. Ich mochte sie und wollte gern, dass sie bei uns einzog. Wenn wir stattdessen Sportstudentin Kelly anrufen müssten, wäre ich echt enttäuscht.

„Ich will ganz ehrlich sein“, meinte ich.

Max stieß mir mit dem Ellbogen in die Rippen. Ich würde ihr natürlich irgendwann sagen, dass ich bi war, doch es gab keinen Grund, das gleich zu Beginn aufs Tapet zu bringen. Ich warf Max einen finsteren Blick zu und fuhr fort: „Ich leide unter leichten Zwangsstörungen, und es könnte sein, dass ich deine Bücher und/oder CDs in alphabetischer Reihenfolge sortiere, wenn du hier einziehst.“

Sie lachte. „Lass dich nicht aufhalten. Ich habe keine Zeit für Zwangsneurosen, und es stört mich nicht, wenn du Ordnung hältst. Hauptsache, ich finde meine Sachen wieder.“

„Keine Sorge, du wirst nach Hause kommen und feststellen, dass deine ganzen Schminksachen nach Marken sortiert sind.“

„Hey, ich teile mir wesentlich lieber ein Zimmer mit jemandem, der Ordnung hält. Das tut mein Freund nämlich gar nicht.“

„Du meinst, dein Exfreund?“, fragte Angus hoffnungsvoll.

„Gib mir ein paar Tage. Ist nächstes Wochenende früh genug?“ Mit einem fragenden Blick erhob Kia sich.

„Ja, das ist super.“ Ich bekämpfte den Drang, sie zu umarmen.

„Okay, dann lasst uns mal Handynummern austauschen.“

Angus schickte ihre Kontaktdaten weiter, bevor sie zu Ende gesprochen hatte, und ich sendete ihr eine Test-SMS. Ihr Handy piepte zweimal, was bedeutete, dass Max das Gleiche getan hatte.

Kia grinste. „Ich schätze, ich muss mir keine Gedanken machen, ob ich hier willkommen bin. Dann drückt mir mal die Daumen.“

„Schieß ihn ab“, sagte ich mit meiner ermutigendsten Stimme.

Max begleitete sie zur Tür. „Sehe ich genauso. Schieß ihn ganz weit aus deiner Umlaufbahn.“

Sobald die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, fasste ich Angus an den Händen und wirbelte ihn im Kreis herum. „Sie ist perfekt. Ehrlich. Danke. Du ahnst gar nicht, wie erleichtert ich bin.“

„Spar dir den Siegestanz auf, bis sie eingezogen ist. Man kann nie wissen. Duncan könnte sie überreden, ihm noch eine zweite Chance zu geben. Sie steht schon seit einem Jahr kurz davor, ihn zu verlassen.“

Ich seufzte, als die Zufriedenheit schwand. „Das sagst du mir jetzt?“

„Nur die Ruhe. Wenn es nötig ist, teilen wir die Miete durch drei, bis wir die Richtige gefunden haben. Ich kann es mir für einen Monat leisten, und ich weiß, Angus kann das auch.“ Max legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich mit aufs Sofa. „Komm, zocken wir ein bisschen.“

Angus zerzauste meine Haare, und ich tat, als wolle ich seine Hand wegschlagen. „Hey, Finger weg.“

„Ich kann nicht anders, es ist so bezaubernd und stachelig.“

Meine Mutter bezeichnete meinen derzeitigen Look als „Punk-Phase“ und erklärte mir jedes Mal, wenn wir uns sahen, dass sie um ein schnelles Ende derselben betete. Sie hoffte immer noch, dass ich statt Doc Martens und Cargohosen hübsche Kleider tragen, meine Haare wachsen und mir die Nase richten lassen würde. Doch die Hoffnung war gering – was meine Mutter in den Wahnsinn trieb. Sie wollte gern, dass ich einen netten jüdischen Arzt heiratete oder selbst Ärztin wurde. Natürlich stand das auch nicht zur Debatte. Da ich nicht genau wusste, was ich eigentlich tun wollte, hatte ich angefangen, Betriebswirtschaft zu studieren, obwohl mir meine Freunde, die bereits ihren Abschluss hatten, ständig sagten, dass ich mich spezialisieren müsste, weil ich sonst nie einen Job finden würde.

Ich konnte mir ohnehin nicht vorstellen, in irgendeiner großen Firma angestellt zu sein, denn dann müsste ich mein Aussehen den dortigen Gepflogenheiten anpassen. Aber ich mochte meine Piercings – bei der letzten Zählung hatte ich acht: Augenbrauen, Nase, drei im linken Ohr, zwei im rechten, dazu eins im Bauchnabel. Ich wusste nicht, ob meine Mutter Letzteres je gesehen hatte. Vielleicht würde ich das Geld, das mein Granddad mir nach seinem Tod hinterlassen hatte, dazu nutzen, eine eigene Firma zu gründen, doch im Moment hatte ich keine Ahnung, welches Produkt oder welche Dienstleistung ich anbieten sollte.

Max stieß mich mit der Schulter an. „Spielst du jetzt oder nicht?“

„Ich bin dabei.“ Ich nahm den Controller in die Hand und gesellte mich zu ihm auf den Bildschirm, obwohl es mich nervte, dass ich in den meisten dieser Spiele ein Kerl sein musste.

„Viel Spaß. Ich gehe heute mit Del aus.“ Der helle Ton von Angus’ Stimme verriet mir, dass bei ihm alles gut lief, also winkte ich nur, als er ging, und konzentrierte mich darauf, Max nicht in den Rücken zu schießen.

Wir spielten eine Stunde, bevor ich Hunger kriegte. Ich drückte den Pausenknopf und schlenderte in die Küche. Max folgte mir und stützte sein Kinn auf meine Schulter, während ich in den Kühlschrank schaute. Max war sehr körperlich mit seinen Freunden; vielleicht war er als Kind nicht oft genug umarmt worden oder so. Nachdem ich hier eingezogen war, hatte ich erst gedacht, er versuche, mich anzumachen, doch er berührte und tätschelte Angus genauso oft wie mich, also nahm ich es einfach hin.

„Bitte, koch was“, flehte er.

Ich stieß ihm mit dem Ellbogen in den Magen. „Lass mich los, dann tue ich es vielleicht. Wollen wir Hamburger machen?“

„Sehr gern! Du bist einfach die beste Mitbewohnerin aller Zeiten.“

Kichernd stellte ich das gefrorene Hack in die Mikrowelle. „Krieg dich wieder ein, ich koch auch ohne dein Süßholzgeraspel.“

„Aber das bringt Spaß. Du ziehst deine Nase immer so süß kraus, wenn du lachst.“

Ich bekämpfte den Drang, meine Nase mit der Hand zu bedecken. Einige Mädchen konnten ganz bezaubernd die Nase rümpfen, so wie kleine Häschen, doch meine war zu lang – wie ein Schnabel, laut eines Ex, der von mir genug gehabt hatte. Aber es gab unzählige Mädchen mit dem gleichen Problem; ich war nichts Besonderes. Vermutlich war ich nicht mal die einzige Prinzessin, die mit Piercings und wilden Haaren rebellierte. Also schnitt ich nur eine Grimasse, statt ihm zu sagen, dass er mich für ein paar Sekunden verunsichert hatte. Max und ich hatten zweimal miteinander rumgemacht, als wir ein emotionales Tief gehabt hatten. Zum Glück hatten wir uns aufs Küssen beschränkt, sonst wäre es jetzt vielleicht schwierig, Hack zu braten, während er von den neuesten Reparaturen an seinem Motorrad erzählte.

„Warte mal, ich dachte, du bist fertig mit der Mühle?“

Tief seufzte er. „Die Überholung der Mechanik ist durch, aber jetzt arbeite ich an Schönheitsreparaturen. So lange, bis ich damit fertig bin.“

„Ah, das Schicksal der Welt hängt davon ab?“, neckte ich ihn und formte das aufgetaute Hack zu Hamburgern. Als Nächstes schnitt ich ein paar Zwiebeln, um sie zu karamellisieren.

„Ich habe es jemandem versprochen, das ist alles.“ Seine Miene war ernst, ganz anders, als der Typ, den ich seit drei Jahren kannte, sonst guckte.

Aber Max war insgesamt etwas … seltsam. Er vermittelte einem immer den Eindruck, nur an Spaß und Partys interessiert zu sein, aber ab und zu erschien es einem, als ob er eine Art Schalter umlegte und einem einen Blick auf den wirklichen Menschen hinter der Fassade ermöglichte. Um ehrlich zu sein, an diesem Kerl war ich weit mehr interessiert – an dem ernsten, klugen, intensiven Mann. Die meisten Menschen hatten keine Ahnung, dass er im Hauptfach Maschinenbau studierte, wozu man Kenntnisse in Physik, Thermodynamik, Kinematik, Statik und Elektrizität benötigte. Und ich wusste das auch nur, weil ich es auf Wikipedia nachgelesen hatte, nachdem ich erfahren hatte, was er studierte.

„Das klingt nach einer Geschichte“, meinte ich leise.

Er hielt meinen Blick gefühlt zwei Herzschläge lang fest, schließlich schaute er weg. „Das kann schon sein.“

Botschaft verstanden.

Ich machte unser Essen fertig, und wir aßen es vor dem Fernseher. Danach setzten wir unser Spiel fort. Gegen neun war mir langweilig. Ich legte den Controller zur Seite und streckte meine verspannten Muskeln, in dem ich den Rücken übertrieben durchbog. „Okay, ich bin durch.“

„Geh nicht“, bat er.

„Was?“ Erstaunt drehte ich mich zur Couch um und bemerkte den leeren, traurigen Ausdruck in seinen tiefdunklen Augen.

Mir kam es vor, als würde ich plötzlich frische Schnitte an seinen Handgelenken sehen, die sonst immer unter den Ärmeln seines Hemdes versteckt gewesen waren. Er senkte den Blick, seine dichten Wimpern verbargen den Ausdruck, doch es war zu spät. Ich kann nicht so tun, als hätte ich es nicht gesehen. Aber ich wusste auch nicht, was ich tun sollte. Wenn ich jetzt einen Witz riss, würde er den Hinweis verstehen, und es wäre, als wäre es nie passiert. Vielleicht wäre das am besten.

„Ich will nicht mehr spielen“, sagte ich.

„Wir könnten eine kleine Spritztour unternehmen.“

Es schien, als wollte Max an diesem Abend nicht alleine sein.

Er fuhr immer mit seinem Motorrad los, wenn er vor etwas davonlief, aber noch nie hatte er mich eingeladen, ihn zu begleiten. Ich hatte keine Ausrede, die Einladung abzulehnen, denn das Semester hatte noch nicht wieder angefangen. Also traf ich schnell eine Entscheidung.

„Okay, ich zieh mir nur eben was über.“ Meine Hose und mein Konzert-T-Shirt waren okay, also stieg ich nur in meine Stiefel und schlüpfte in einen Hoodie mit einem Totenschädel auf dem Rücken.

„Das ging aber schnell.“ Mit der einen Hand klapperte er mit seinen Schlüsseln, mit der anderen zog er mich aus der Wohnung und die Treppe hinunter. Als wir uns seinem Motorrad näherten, fragte er: „Bist du je auf so etwas gefahren?“

„Was glaubst du?“ Ich war neugierig, was er von mir dachte.

„Vermutlich … ja.“

„Das ist korrekt, Sir. Keine Sorge, das ist nicht mein erstes Mal.“

„Wenn du nur wüsstest, wie glücklich es mich macht, das zu hören.“ Er warf mir über die Schulter ein zweideutiges Grinsen zu, doch mir war klar, dass er es nicht ernst meinte.

Aber der verwundete Blick? Der war echt gewesen. Also setzte ich den Helm auf, stieg hinter ihm aufs Motorrad und schlang meine Arme um seine Taille. Ich musste nicht schön sein, um ihm die Freundin zu sein, die er brauchte, wenn es ihm nicht gut ging, es reichte, wenn ich mit ihm Motorrad fuhr und ihn von hinten wärmte.

Für ein paar Sekunden legte er seine Hand auf meine. „Halt dich fest. Ich will dir etwas Tolles zeigen.“

2. KAPITEL

W o fahren wir denn hin?“, brüllte ich.

Max antwortete nicht, sondern bog vom Highway ab auf eine wesentlich holperigere Straße. Ich schlang meine Arme enger um seine Taille. Er fuhr noch ein Stückchen weiter, und als er schließlich langsamer wurde, wurden auch die Fahrgeräusche leiser, sodass ich das Rauschen eines Flusses hören konnte. Schließlich hielt er an, stellte das Motorrad ab, und wir stiegen ab. Es war vollkommen dunkel.

Ohne ein Wort zu sagen, führte Max mich zwischen Bäumen hindurch auf das Rauschen des Flusses zu.

„Wenn du mir Angst machen willst, gelingt dir das hervorragend.“

„Vertrau mir.“ Er nahm meine Hand, und wir verschränkten unsere Finger ineinander.

Hier draußen gab es nur das schnell fließende Wasser, den Wind in den Blättern und das Zirpen von Insekten. Als wir zwischen den Bäumen hervortraten, stockte mir der Atem. Vor mir öffnete sich ein sternenklarer Himmel, darunter war der Fluss zu sehen mit Felsgestein und der Gischt der Wellen, die sich daran brachen. Das Mondlicht schimmerte auf dem Wasser – ein Märchenpfad, der Menschen ins Verderben lockte, wenn man den alten Legenden Glauben schenken wollte.

„Wow. Wie hast du das hier denn entdeckt?“

„Ich fahre nachts viel rum …“ Er sah nachdenklich aus, als er hinzufügte: „‚Er ist der Erde Auge; wer hineinschaut, misst die Tiefe seines eigenen Wesens.‘“

„Hast du wirklich gerade Thoreau zitiert?“ Warum tat ich so überrascht? Ich wusste doch, dass Max klüger war, als er auf den ersten Blick wirkte.

„Gehst du immer nur nach dem Äußeren, Kaufman?“

„Tut mir leid. Das war ein Reflex. Bitte beeindrucke mich weiter mit deinem unglaublichen Wissen.“

„Nein, jetzt bin ich irgendwie verunsichert. Aber guck dir das doch mal an hier … das ist doch toll, oder?“

Ich nickte. „Genau, wie du es versprochen hast.“

„Komm, wir gehen noch ein kleines Stück weiter.“ Er führte mich zu einer Anhöhe über dem Fluss. „Manchmal schlafe ich hier draußen.“

„Nadia war überzeugt, dass du bei irgendeinem One-Night-Stand untergekommen bist oder in der Werkstatt geschlafen hast, wenn du nicht nach Hause gekommen bist.“ Es war seltsam, das zu ihm zu sagen, als wären wir eine Familie, aber manchmal fühlte unsere WG sich eben genauso an.

„In der Werkstatt riecht es nach Öl und Schweiß.“

„Ich verstehe, warum es dir hier besser gefällt. Obwohl ich mir vermutlich in die Hose machen würde, wenn das erste Mal eine Eule heult. Gibt es hier überhaupt Eulen?“

„Ja, die gibt es hier, du Stadtmädchen.“

„Hey, ich bin in Chicago aufgewachsen, und meine Mutter ist aus Prinzip gegen Zelten. ‚Unser Volk ist lange genug durch die Wildnis gewandert, und von jetzt an schlafen wir in warmen Betten‘, sagt sie immer.“

„Sie klingt ganz schön eigensinnig.“

„Allerdings.“

„Komm, setz dich. Oder hast du Angst?“

„Nein, alles gut.“ Auch wenn ich nicht genau wusste, warum er mich mit hierhergenommen hatte, konnte ich nicht leugnen, dass es wunderschön war. Ich ließ mich im Schneidersitz neben ihm nieder.

Max atmete zitternd aus und starrte auf den Fluss. Er achtete darauf, mich nicht anzuschauen. „Ich habe heute einen Anruf von meinem Dad bekommen.“

Nach allem, was ich über Max wusste – was nicht viel war, da er nicht oft über seine Vergangenheit sprach –, war das eine große Sache. In den drei Jahren, die wir uns schon kannten, hatte er seine Familie nicht ein einziges Mal erwähnt. „Und?“

„Mein Großvater ist gestorben.“ Seine Stimme verriet mir nicht, wie ich reagieren sollte, und es war so dunkel, dass ich sein Gesicht nicht richtig erkennen konnte.

„Okay, ist das jetzt ein ‚Oh-nein-das-tut-mir-so-leid-Moment‘ oder eher die ‚Puh-zum-Glück-ist-der-alte-Sack-endlich-tot-Variante‘? Du musst mir ein wenig helfen, Max.“

Einen Moment saßen wir schweigend da. „Ein bisschen von beidem. Weißt du, ich stamme von einer langen Reihe gewalttätiger Arschlöcher ab. Routinierte Trinker, leicht zu beleidigen und stolz, obwohl keiner von denen jemals irgendetwas auf die Reihe gekriegt hat.“

„Sieht so aus, als ob du da nicht richtig reinpasst.“ Ich legte meine Hand auf seine, die auf seinem Knie lag, und er lehnte sich ein wenig in meine Richtung. Nicht für einen Kuss, aber um seinen Kopf auf meine Schulter zu legen.

„Du sagst immer das Richtige.“ Seine Stimme war weicher, wärmer nach meinen sanften Worten.

„Was ist denn mit der Beerdigung? Willst du, dass ich dir helfe, einen Kranz auszusuchen oder so?“

„Nein, das ist es ja. Ich habe dich hierhergebracht in der Hoffnung, dass der herrliche Ausblick dich so weichkochen wird, dass du mir einen Gefallen tust.“

„Was für einen Gefallen?“ Er hatte keine Haustiere und noch keine Vorlesungen, in die ich für ihn gehen könnte, um mitzuschreiben – ich hatte keine Ahnung, was Max ausgerechnet von mir brauchen könnte.

„Ich hatte gehofft, dass du mit mir zur Beerdigung fährst. Nach Providence.“

„Was?“ Ich sah ihn überrascht an. „Warum das denn?“

„Ich war nicht mehr dort, seit ich studiere, und ich will meinen Dad auf keinen Fall unter vier Augen sehen. Nicht mal für eine Minute. Das … das wäre nicht gut.“

Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob es nicht jemand anders gab, den er fragen könnte, doch ich tat es nicht, denn ich kannte die Antwort bereits. Es gab niemanden, und ich würde ihn nicht zwingen, das zuzugeben. Aber bevor ich meine Tasche packte, um mit ihm wegzufahren, wollte ich noch ein paar Sachen wissen.

„Wie lange wären wir weg?“

„Die Fahrt dauert zwölf Stunden, aber wir würden regelmäßig Pausen einlegen, weil du es nicht gewohnt bist, so lange auf einem Motorrad zu sitzen. Ich schätze, alles in allem wären es fünf Tage.“

„Warte mal, wir fahren mit dem Motorrad ganz bis nach Rhode Island?“

Als er seinen Kopf drehte, kam der Mond hinter einer Wolke hervor, und sein Lächeln war gut zu erkennen. „Du hast wir gesagt. Also schätze ich, die Antwort auf deine Frage ist ja.“

„Wenn ich schon so verrückt bin, das zu machen, schuldest du mir aber ein paar Insiderinformationen über das Warum.“

„Warum?“

„Du weißt, was ich meine. Warum könnt ihr euch nicht so lange zusammenreißen und höflich zueinander sein, bis ihr deinen Großvater zu Grabe getragen habt? Oder was auch immer ihr Schegez-Jungs so macht.“ Den letzten Satz sagte ich mit neckendem Unterton.

Max holte sein Handy heraus und schaltete es an. Es war so hell, dass es mich kurz blendete. Dann schob er seine dichten schwarzen Haare zurück und enthüllte eine dünne weiße Narbe. Das Display ging aus und ließ mich mit dem Eindruck seiner gebräunten Haut, den dunklen Augen und der im starken Kontrast dazu stehenden Narbe zurück. „Die habe ich von meinem Dad gekriegt, als ich elf war. Eine Bierflasche. Er hat sie nach mir geworfen, und ich habe mich nicht schnell genug geduckt.“

„Verdammt.“

„Das ist nicht das einzige Souvenir aus meiner Kindheit.“ Er zuckte mit den Schultern, als wäre es nicht wichtig. „Aber das ist nicht der Grund, warum ich ihm nicht verzeihen kann.“

„Was ist passiert?“

„Im Moment brauche ich erst einmal eine Antwort. Kommst du mit?“

Angus und ich hatten keine Jobs, anders als Max und Nadia. Obwohl sie mit meinem Lebensstil nicht einverstanden waren, schickten meine Eltern mir immer noch regelmäßig Unterhalt und bezahlten meine Studiengebühren. Ich hatte also durchaus die Möglichkeit, mit ihm nach Providence zu fahren, aber ich war mir nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das zwischen Max und mir alles verändern würde.

„Na gut“, sagte ich.

„Ich danke dir, Kaufman. Du hast keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet.“

„Weil du die Beerdigung nicht verpassen willst?“

Max schüttelte den Kopf. „Weil mein Bruder auch dort ist.“

Bevor ich weiter fragen konnte, stand er auf, klopfte sich die Hose ab und hielt mir seine Hand hin. Ich nahm sie und ließ mich von ihm auf die Füße ziehen. Wir gingen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren, und ich überlegte die ganze Zeit, wie schlimm es wohl werden würde. Meine eigene Familie war zwar nicht perfekt, aber auch nicht schlimm. Wir stritten uns nur, weil ich mich nicht ihren Erwartungen beugen wollte, und die Waffe meiner Mutter waren Schuldgefühle.

Die Fahrt zurück zur Wohnung fühlte sich kürzer an als der Hinweg, vermutlich weil ich wusste, wo es hinging. Angus war noch nicht zu Hause, also nickte ich Max nur zu und ging in mein riesiges, halb leeres Zimmer. Überrascht merkte ich, dass er mir folgte und in der Tür stehen blieb, als warte er auf eine Einladung, eintreten zu dürfen.

„Du kannst ruhig reinkommen“, sagte ich.

„Ich war nicht sicher. Ich wollte dir nur sagen, dass du morgen früh um sieben fertig sein solltest.“

„Oh mein Gott, es ist schon Mitternacht. Geh ins Bett, Max.“ Nachdem ich den Wecker gestellt hatte, machte ich mich bettfertig, packte schnell meinen Rucksack und legte mich hin.

Am nächsten Morgen klopfte Max an meine Tür, als ich gerade dabei war, meine Stiefel zuzuschnüren. Ich hatte ein schwarzes Kleid und flache Schuhe eingepackt, dazu ein paar Unterhosen und einige T-Shirts zum Wechseln. Die Cargohose musste halten, bis wir wieder zu Hause waren. Zum Glück konnte die Fahrt auf dem Motorrad dank des Helms kein allzu großes Chaos mit meinen Haaren anrichten, sodass ich weder Lockenstab noch Glätteisen mitnehmen musste. Das machte es wesentlich einfacher für mich, mit leichtem Gepäck zu reisen.

„Fertig?“, fragte er, als ich aus dem Zimmer kam.

„Ja. Wir können los.“

„Danke.“

„Das hast du gestern Nacht schon gesagt.“

„Doppelt hält besser. Ich bin wirklich froh, dass du mitkommst, allein könnte ich da nicht hinfahren.“

Ein kleiner, neugieriger Teil von mir bemerkte, dass er nicht „nach Hause fahren“ sagte, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um weiter nachzuhaken. In der Küche blieb ich kurz stehen, um die Buchstabenmagneten am Kühlschrank neu zu arrangieren: „Weg. Später zurück.“ Ich würde Angus zu einem etwas respektableren Zeitpunkt eine SMS schicken und die Situation erklären, außer, unser Ausflug sollte aus mir jetzt noch unbekannten Gründen geheim bleiben.

„Wir schaffen das nicht an einem Tag“, sagte Max, als er unsere Taschen in der Seitentasche seines Motorrads verstaute. „Sonst kannst du dich danach nicht mehr bewegen.“

„Alles leere Versprechungen.“ Das war die Art Witz, die ich immer machte, und ich erwartete, dass er darauf einging.

Aber er hielt nur inne und runzelte die Stirn. „Ich finde das nicht heiß. Oder lustig.“

„Was?“

„Eine Frau so hart zu vögeln, dass es ihr wehtut. Bei der Vorstellung wird mir übel.“ Das waren mehr ernste Worte, als ich normalerweise innerhalb einer Woche von Max zu hören bekam, aber es war noch zu früh für mich, das zu analysieren.

„Aber es ist doch ein Unterschied, ob man den süßen Schmerz nach einer Nacht gutem, hartem Sex verspürt oder blutig und wund aus dem Schlafzimmer kriecht.“

„Ich weiß. Sorry. Aber ich bin da ein bisschen empfindlich …“

Ich hielt inne und fragte mich, was da wohl für eine Geschichte dahintersteckte, aber es war nicht der richtige Moment, danach zu fragen. „Okay. Wollen wir losfahren?“

Das Wetter war perfekt für eine Ausfahrt. Der Himmel leuchtete in Sommerblau, und es war keine einzige Wolke in Sicht. Doch nach zwei Stunden auf dem Motorrad wusste ich, was Max gemeint hatte. Es war nicht wie Autofahren. Meine Arme waren müde vom Festhalten, und mein Hintern war taub von den Hubbeln im Asphalt und der Vibration des Motorrads. Kurz nach zehn Uhr bog er auf einen Rastplatz in Ohio ein. Die Raststätte war riesig, beinahe wie ein kleines Einkaufszentrum mit vielen Parkplätzen, drei Fast-Food-Restaurants, Picknicktischen und einem Grünstreifen für Hunde. Als ich mein Bein über den Sattel schwang, um abzusteigen, stolperte ich, und mein Rücken tat weh. Ich hatte definitiv zu lange vornübergebeugt an Max gepresst auf dem Motorrad gesessen.

„Tut mir leid. Ich hätte früher eine Pause einlegen sollen. Hast du Hunger?“

„Ja. Ich habe nicht gefrühstückt, bevor wir losgefahren sind.“

„Ich auch nicht.“

„Aber erst mal muss ich mich ein bisschen frisch machen, also treffen wir uns da vorne bei den Restaurants.“

Ich ging auf Toilette, wusch mir meine Hände und hielt kurz inne, als mein Blick an meinem Spiegelbild hängen blieb. Spiegel waren zu ehrlich, sie zeigten mir eine Frau mit einer scharfen Nase und tief liegenden Augen. Die violetten Haare lenkten von ihrem Gesicht ab, so wie ein Vogel sein buntes Federkleid aufplustert. Meine Figur war ganz gut, obwohl ich um die Hüften und den Hintern herum ein bisschen zu viel Gewicht mit mir herumschleppte. Aber ich hatte inzwischen meinen Frieden damit geschlossen, dass ich keine Frau war, der Männer quer durch den Raum begehrliche Blicke zuwarfen. Ehrlich gesagt war ich sogar daran gewöhnt, dass ein Typ mich nur deswegen ansprach, damit sein Freund die Chance hatte, mit meiner heißen Freundin ein Gespräch anzufangen.

Wenn man das große Ganze betrachtete, waren diese Probleme winzig, und deshalb lächelte ich, als ich zu Max zurückkehrte, der bereits mit meinem Lieblingssandwich in der Hand auf mich wartete. Ich tat so, als müsse ich es erst überprüfen, während ich mich ihm gegenüber an den Tisch setzte. „Hmm. Bacon. Eier. Käse. Inspektion bestanden.“

„Freut mich zu hören. Ich wusste nicht, ob du Kaffee oder Saft wolltest, also habe ich dir beides mitgebracht.“

„Dann trink ich auch beides. Wie schlägst du dich denn so?“

„Das klingt ja so, als wäre ich hinfällig. So lange sind wir nun auch noch nicht gefahren.“

Ich senkte die Stimme und beugte mich vor, als wollte ich ihm ein schmutziges Geheimnis anvertrauen. Max kam mir ein Stück entgegen. „Ich meinte emotional.“

„Oh. Gar nicht gut.“ Der ausdruckslose Ton strafte die Wahrheit, die ich in seinen Augen sah, Lügen. „Ich weiß nicht mal, ob mein Bruder mit mir reden wird.“

„Was ist passiert?“

„Ich kann dir meine traurige Lebensgeschichte doch nicht auf einem Rastplatz erzählen, Kaufman.“

Da hatte er zwar irgendwie recht, aber ich konnte nicht leugnen, dass ich neugierig war. Ich fragte nicht weiter, aß mein Sandwich und folgte Max dann nach draußen, wo ich mich ungefähr fünf Minuten lang streckte. Max tat es mir gleich, dann fuhren wir weiter. Auch wenn er sehr aufmerksam war und alle zwei Stunden oder so eine Pause einlegte, damit ich mich etwas bewegen konnte, konnte ich nicht mehr, als wir das Zentrum von Pennsylvania erreicht hatten. Ich hätte sehr viel Geld dafür bezahlt, mich in eine warme Badewanne legen zu können, aber wir hielten an einem Interstate-Motel, in dem es natürlich nur eine Duschkabine gab.

Max bot an, mir ein Zimmer zu bezahlen, aber ich fand es albern, so viel Geld auszugeben. „Nimm einfach eins mit zwei Betten. Ist doch keine große Sache.“

„Danke. Mein Budget für diese Reise ist nicht besonders üppig.“

Ich hätte ihm sagen können, dass ich genug Geld dabeihatte und eine großzügig gedeckte Kreditkarte, aber ich war mir sicher, dass ihn das gekränkt hätte. Für Max war es eine Frage des Stolzes, für mich zu bezahlen, denn immerhin hatte er mich aus Gründen, die ich immer noch nicht ganz verstand, dazu überredet, ihn zu begleiten. Mit verschränkten Armen wartete ich am Motorrad, während er zur Rezeption ging und kurz darauf mit dem Zimmerschlüssel zurückkehrte.

„Komm, unser Zimmer liegt hinten.“

Ächzend stieg ich wieder auf das Motorrad und versuchte, nicht an den nächsten Tag zu denken. Max parkte kurz darauf und reichte mir die Schlüsselkarte.

„Geh schon mal rein, ich hole uns was zu essen. Hast du auf irgendetwas Spezielles Lust?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich nehme meinen Rucksack schon mal mit, dann kann ich duschen, während du weg bist.“

„Gute Idee.“

„Einige Frauen fänden diese Bemerkung beleidigend, Cooper.“

„Du weißt, wie ich das meine.“

Grinsend nahm ich meinen Rucksack und lief mit steifen Beinen die rostige Außentreppe hinauf. Das Zimmer war so deprimierend, wie ich es erwartet hatte: altmodisches Dekor in zu grellen Farben mit einem kleinen Schreibtisch, einem winzigen Esstisch und einem schmuddeligen gestreiften Sessel. Aber zumindest gab es eine Kaffeemaschine und einen relativ neuen Fernseher. Zum Glück roch es nur ein wenig muffig, wie in einem Zimmer, das zu lange nicht benutzt worden war. Die Fenster ließen sich nicht öffnen, also stellte ich die Klimaanlage an, die so laut knatterte, dass ich mir vorstellte, wie kleine Gnome mit winzigen Hämmern auf den Radiator einschlugen. Immerhin wurde die Luft im Zimmer besser.

Ich nahm mir meinen Schlafanzug und ging ins Bad. Der Wasserdruck der Dusche war ordentlich, und ich ließ mir Zeit damit, den Reisestaub gründlich abzuschrubben. Als ich herauskam und mein Haar mit einem kratzigen Handtuch trocken rubbelte, war Max bereits zurück. Er hatte Pizza und Bier mitgebracht, die schon auf dem schäbigen Esstisch standen. Da er mich schon unzählige Male im Schlafanzug gesehen hatte, blinzelte er nicht mal, als ich zu ihm ging und mir ein Stück Pizza mit extra Käse, extra Pilzen und Paprika nahm.

„Vegetarische Pizza?“, fragte ich.

„Der Schinken sah nicht so vertrauenerweckend aus. Vegetarisch schien mir sicherer, weil wir ja morgen weiterreisen müssen.“

Ich grinste. „Deine Voraussicht ist beeindruckend.“

Die Pizza war gar nicht mal so übel und ganz sicher nicht die schlechteste, die ich je gegessen hatte. Mit der dicken, saftigen Pizza aus Chicago, mit der ich aufgewachsen war, konnte sie allerdings nicht mithalten. Nach dem Essen legte ich mich aufs Bett, stützte mich auf die Ellbogen und schaute das erste Mal an diesem Tag auf mein Handy. Ich hatte eine Nachricht von Angus und zwei von meiner Mutter. Angus hatte nur geschrieben: Ah, endlich bist du mit Max durchgebrannt! Benennt euer Erstgeborenes nach mir. Egal, ob Junge oder Mädchen. Macht keinen Mist! Seufzend las ich als Nächstes die mütterlichen Nachrichten.

Ma, SMS eins: Warum gehst du nicht ran?

Ma, SMS zwei: Wo bist du? Ich habe es auf dem Festnetz probiert. Weichst du mir aus?

Ja, das ist der einzige Grund, warum ich nicht ans Telefon gehen würde.

Sie war dagegen gewesen, dass ich aus dem Wohnheim ausziehe. Bis ich ihr erzählte, dass meine Mitbewohnerin Drogen nahm. Dann fand sie die Idee, in eine WG zu ziehen, ganz ausgezeichnet. Womit meine Mutter überhaupt nicht zurechtkam, war Spontaneität. Deswegen wäre sie über diese Reise mehr als verärgert gewesen, wenn sie davon gewusst hätte. Ferien sollten geplant werden, Courtney. Du kannst nicht einfach so wegfahren.

Ich tippte eine Antwort: „Ich bin bei einem Freund. Was ist los?“ Und das stimmte ja auch irgendwie, oder?

„Alles okay?“

„Hm?“

„Du siehst genervt aus.“

„Ach, das ist nur meine Mutter, die versucht, jeden meiner Schritte nachzuverfolgen. Ich bin überrascht, dass sie mich nicht wie einen Chihuahua hat chippen lassen. Obwohl, falls doch, wirst du vermutlich wegen Kidnappings verhaftet.“ Ich grinste und betastete meinen Hals, als suchte ich nach dem entsprechenden Chip.

Er hielt inne, ein Stück Pizza auf halbem Weg zum Mund. „Weißt du, das klingt, als wäre es schlimm, aber ich frage mich, wie es wohl wäre, Eltern zu haben, die sich so … für mich … interessierten.“

„Deine Mutter lebt nicht mehr?“

„Sie ist gestorben, als ich fünf war. Während der Geburt meines Bruders. Fruchtwasserembolie. Ich war vierzehn, bevor ich überhaupt verstanden habe, was das bedeutet.“

Ich weiß es immer noch nicht. Aber ich nahm mir vor, es auf Google nachzugucken. „Dann ist dein Bruder also sechzehn? Wie heißt er?“

Max nickte. „Michael, aber alle nennen ihn Mickey. Jedenfalls war das früher so. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seitdem mein Vater mich rausgeschmissen hat.“

„Warte mal, was?“ Ich hatte angenommen, dass er einfach sein schreckliches Zuhause ertragen hatte, bis er an der Mount Albion angenommen wurde, und dann mit einem Sayonara, Arschlöcher gegangen war.

„Ja. Ich bin auf mich gestellt, seit ich sechzehn bin.“

„Ist es mit deinem Vater eskaliert?“, fragte ich.

„Das kann man so sagen“, erwiderte Max leise. „Das war der Tag, als ich meinen Bruder für den Rest seines Lebens in den Rollstuhl gebracht habe.“

3. KAPITEL

S o viele Fragen kreisten durch meinen Kopf, aber Max hatte die Schultern beinahe bis zu den Ohren hochgezogen, das Kinn lag fast auf dem Tisch. Ohne mich anzusehen, zerfetzte er die Serviette in seinen Händen in vier Teile und dann noch einmal in zwei. Die untergehende Sonne schien durch das schmierige Fenster hinter ihm und bildete einen Heiligenschein um seine dunklen Haare, sodass die Strähnen eher blau statt braun oder kupferfarben schimmerten.

„Du musst mir keine Gutenachtgeschichte erzählen“, sagte ich leise.

„Doch, du musst es wissen. Damit du verstehst, was los ist, und warum es so angespannt sein wird, wenn wir erst einmal da sind.“

„Okay. Wenn du es mir erzählen willst, dann höre ich zu.“

Er sprach mit brüchiger, ungleichmäßiger Stimme, und die Papierstückchen in seinen Händen wurden immer kleiner. „Ich war sechzehn und hatte gerade meinen Führerschein gemacht. Mein Dad hatte getrunken und benahm sich wie ein Idiot. Also das Übliche. Als er anfing, auf Mickey loszugehen, habe ich mir die Schlüssel geschnappt. Ich wollte uns beide für eine Weile dort wegbringen. Du kennst mich – Weglaufen ist eine Spezialität von mir.“

„Das ist mir schon aufgefallen“, sagte ich mit einem kleinen Lächeln. „Das Motorrad, das Büro in der Werkstatt und der Ort am Fluss …“

„Ich dachte, das wäre das Klügste, weißt du? Aber ich bin zu schnell gefahren, und irgend so ein Idiot hat eine rote Ampel übersehen und ist voll in unsere Seite gekracht. Mickey hat das Schlimmste abbekommen … Er lag wochenlang im Krankenhaus, ohne dass wir wussten, ob er es schaffen würde. Nachdem er sich stabilisiert hatte, haben wir erfahren, dass er nie wieder würde laufen können.“ Er ballte die Hand zur Faust und schlug damit auf den Tisch, sodass der Pizzakarton tanzte. „Unfassbar, oder? Ich hatte Angst, dass mein Dad Mickey wehtun würde, aber dann war ich derjenige …“

„Das stimmt doch nicht“, unterbrach ich ihn. „Das war ein klassischer Unfall. Erzähl mir nicht, dass du dir die Schuld daran gibst.“

„Spar dir diesen Blick, Kaufman. Natürlich gebe ich mir die Schuld. Ich habe dir das außerdem nicht erzählt, damit ich dir leidtue, sondern damit du weißt, was los ist. Ich meine, mein Dad ist das größte Arschloch, das ich kenne, und selbst er hasst mich.“

„Was ist mit Mickey?“

„Wir haben nicht viel gesprochen, als ich gegangen bin. Jeden Tag denke ich, was wäre passiert, wenn ich den Scheiß von meinem Alten noch fünf Minuten länger ertragen hätte? Was, wenn ich einen Streit mit ihm angefangen hätte, anstatt mir die Schlüssel zu schnappen? Ich …“ Seine Stimme brach, und er atmete zitternd ein.

Bis zu diesem Moment hatte ich keine Ahnung gehabt, was für eine Last Max jeden Tag mit sich herumschleppte oder wie gut er darin war, das zu verbergen. Ohne zu überlegen, was ich tat, stand ich auf und ging um den kleinen Tisch herum. Unsicher blieb ich neben ihm stehen und sah ihn fragend an. Er beantwortete die Frage, indem er beide Arme um meine Taille schlang und mich auf seinen Schoß zog. Ich ließ zu, dass er seinen Kopf an meine Schulter legte, aber es war eine seltsame Situation. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, streichelte ich seinen Kopf.

Warm spürte ich seinen Atem an meinem Hals und einen vollkommen unangemessenen wohligen Schauer auf meinem Rücken. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Es war nicht so, dass mir nie aufgefallen wäre, wie heiß er war. Er hatte diese seelenvolle, zerzauste Ausstrahlung, der Frauen jeglichen Alters nur schwer widerstehen können. Aber ich konnte viel besser damit umgehen, wenn er mich Kaufman nannte und sich mir offenbarte, als wenn er mit mir flirtete. Da Max im Moment vor allem eine Freundin brauchte, streichelte ich gute fünf Minuten seinen Rücken, bevor er seinen Kopf hob und mich ansah.

„Tut mir leid. Je näher wir Rhode Island kommen, desto schlimmer fühle ich mich.“

„Das verstehe ich. Natürlich machst du dir Gedanken, wie dein Bruder reagiert, wenn er dich sieht.“

Den Rest seiner Familie stellte ich mir ganz furchtbar vor. Er hatte mir zwar nur von seinem Dad erzählt, aber wenn seine Tanten oder Onkel oder Cousins halbwegs okay wären, hätten sie doch irgendwas unternehmen müssen, als sein alter Herr ihm eine Bierflasche an den Kopf geworfen hatte. Die Narbe sah aus, als wäre sie mit mindestens acht bis zehn Stichen genäht worden. Ich stellte mir Max als verängstigtes Kind vor, dem Blut aus einer Kopfwunde übers Gesicht lief, und mein Beschützerinstinkt erwachte zum Leben. Seit ich fünfzehn war, hatten die Leute mich immer als Zicke bezeichnet, weil ich so kämpferisch drauf war. Ja, ich war eine Zicke, und ich war bereit, es mit Max’ Familie aufzunehmen. Wenn die bei der Beerdigung nur ein verdammtes Wort gegen ihn sagen würden …

„Du siehst gerade besonders grimmig aus.“ Max lächelte leicht und sah mich mit schief gelegtem Kopf an. Interessant, dass ihn mein Gesichtsausdruck ganz offensichtlich faszinierte.

„Ich habe nur gerade überlegt, wie ich aus deiner Familie Hackfleisch mache, wenn die dir doof kommt.“ Ich zwirbelte noch ein bisschen an seinen Haaren herum und rutschte von seinem Schoß. „Deine Beine sind bestimmt ganz taub, oder?“

Max war eher schlank, ich wog mindestens so viel wie er, obwohl er größer war als ich. Aber er zuckte nur mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Wenn ich mich nicht irrte, stieg ihm auch eine leichte Röte in die Wangen. Wow, ich hätte nie gedacht, dass ich ihn mal rot werden sehe.

Ich räusperte mich und nahm mein halb aufgegessenes Stück Pizza mit zu dem Bett, auf das ich meinen Rucksack geworfen hatte. Ich hüpfte ein wenig darauf herum, ganz locker, als wenn das nicht gerade ein zutiefst emotionaler Moment zwischen uns gewesen wäre.

Schweigend warf Max die Serviettenfetzen weg und ging ins Bad. Ich hörte, wie die Dusche anging, was zu einem lauten Klopfen in den alten Rohren führte. Kurz stellte ich mir vor, wie die Rohre brachen und das Zimmer überfluteten, aber nichts geschah, und als Max barfuß zurück ins Zimmer kam, nur mit einem alten T-Shirt und einer Jogginghose bekleidet, hatte ich schon den Fernseher angeschaltet und schaute einen schlechten Actionfilm.

„Oh, den habe ich schon ungefähr achtmal gesehen.“ Sein lockerer Tonfall verriet mir, dass zwischen uns alles gut war.

„Dann mach dich bereit fürs neunte Mal.“

„Hey, Kaufman …“

„Ja?“

„Danke.“

„Hör auf. Deine grenzenlose Dankbarkeit macht mir Angst.“

„Ach so, das will ich natürlich nicht. Also werde ich stattdessen auf vertrautes Territorium zurückkehren und dich anmachen.“

Grinsend riss ich einen Zettel von dem Block neben mir, knüllte ihn zusammen und warf ihn nach ihm. „Ich werde nicht mit dir rummachen.“

„Heißt das, Sex ohne Knutschen ist vom Tisch?“

„Definitiv. Der ist zur Tür raus und im Garten angekettet.“ Er stieß einen gespielt sehnsüchtigen Seufzer aus. „Armer Koitus. Was hat er dir nur getan?“

„Es war der beste und der schlimmste Sex …“

Max lachte, und es fühlte sich großartig an, ihn so schnell, nachdem er mir von dem Unfall erzählt hatte, dazu bringen zu können. „Hast du wirklich versucht, einen Witz mit einem Dickens-Zitat zu machen, oder bilde ich mir das nur ein?“

„Das kommt darauf an“, erwiderte ich.

„Worauf?“

„Ob du es lustig fandst.“

„Auf jeden Fall.“ Er schenkte mir ein träges Grinsen, das kleine Fältchen um seine Augen bildete und seine Grübchen hervorhob.

Okay, hör auf, so bezaubernd zu sein, Max. Das irritiert mich.

„Dann war es absichtlich. Aber warum erkennst du als Naturwissenschaftler ein schlechtes Zitat aus Eine Geschichte aus zwei Städten?“

„Ich lese.“

„Dickens? Wirklich? Das glaube ich nicht.“ Ich tat so, als würde ich Würfel rollen lassen. „Natürlich ein Pasch! Jetzt sag mir die Wahrheit, oder ich muss drastische Maßnahmen ergreifen.“

„Okay, Dickens war Pflichtlektüre. Er steht nicht auf meiner Fun-Liste für den Sommer.“

„Ach ja? Was steht denn auf deiner Fun-Liste?“ Ich konnte mich nicht erinnern, ihn je mit einem Buch gesehen zu haben, aber er spielte oft an seinem Handy und mit seinem Tablet herum, also vielleicht las er darauf. „An Büchern, meine ich.“

„Oh, und ich hatte gerade vor, dir von den ganzen abgefahrenen Plätzen zu erzählen, an denen ich es im August getrieben habe.“

„Max.“ Ich unterlegte seinen Namen mit einem warnenden Unterton und klang ein bisschen wie die Frau unseres Rabbis in meiner Heimatgemeinde.

„Okay. Mein Lieblingsgenre ist Horror, aber ich mag auch Sci-Fi, aber nur neuen, abgefahrenen Kram, nicht diese langweiligen Geschichten, wo ein weißer Kerl das Universum rettet und dabei ein paar Weltraum-Hotties knallt.“

Die Überraschung reckte ihr Haupt wie ein neugieriges Wiesel. „Warte. Du liest hauptsächlich Genre-Fiction? Max Cooper, du erstaunst mich!“

„Aber erzähl es keinem, okay? Nicht, dass dir irgendjemand glauben würde.“ Er hob sein T-Shirt an und enthüllte attraktive Bauchmuskeln. Nicht megamuskulös, aber gut definiert mit einem leckeren V, das von der lose sitzenden Jogginghose betont wurde. „Ich meine, schau dir dieses Paket an.“

Zum Glück hatte meine Denkfähigkeit mich noch nie im Stich gelassen, egal, wie sexy, muskulös und gebräunt der Typ vor mir war. „Wenn du ein Mädchen bitten musst, dein Paket zu inspizieren, arbeitest du entweder bei der Post oder du bist ein bisschen zu verzweifelt, mein Lieber.“

Er grinste. „Ich mag es nicht, wenn du dich selber als Mädchen bezeichnest. Das ist erniedrigend.“

„Hey, ich darf das sagen. Typen dürfen das nicht.“

„Das werde ich mir merken.“

Danach hörten wir auf zu reden, aber das Schweigen war nicht unangenehm. Max wirkte so okay, wie es nur ging, wenn man bedachte, dass er auf dem Weg war, seinen Großvater zu beerdigen und seinen kleinen Bruder das erste Mal seit fünf Jahren wiederzusehen. Ganz zu schweigen von seinem schrecklichen Vater und dem Rest der Familie, die ihm in den nächsten zwei Tagen das Leben zur Hölle machen könnten. Für mich selbst war ein weiterer langer Tag auf dem Motorrad trotz der Schmerzen in meinem Hintern eine sehr viel angenehmere Vorstellung als die Ankunft in Providence.

Ich schlief noch vor zehn auf der Überdecke ein und bekam nichts mehr mit, bis ich irgendwann mitten in der Nacht von einem seltsamen Geräusch aufwachte. Verwirrt stützte ich mich auf einen Ellbogen und schaute mich um. Das ist nicht mein Zimmer, das ist nicht Nadia … Warte – oh. Max. Er warf sich im Bett neben mir herum, schlug mit dem Arm auf die Matratze und war in Schweiß gebadet.

Das ist definitiv ein Albtraum.

Und definitiv nicht mein Zuständigkeitsbereich. Oder vielleicht doch? Er hatte mich eingeladen und gewusst, dass wir für die Dauer des Trips auf engem Raum zusammen sein würden. Also hatte er diese Entwicklung vielleicht vorausgesehen, und es machte ihm nichts aus?

Als er einen unverständlichen Fluch ausstieß, stieg ich aus dem Bett, ging zu seinem und hockte mich auf den Rand. „Max. Wach auf. Du störst mich.“ Es war das Erste, was mir einfiel, aber es weckte ihn nicht auf.

„Nein“, flüsterte er. „Nein, nein, nein!“

Die Qual in seiner Stimme verriet mir, dass er den Unfall noch einmal erlebte. Ich konnte nicht sagen, ob unser Gespräch den Traum hervorgerufen hatte oder ob er diesen Albtraum öfter hatte. So viel Zeit wir auch zu Hause miteinander verbrachten, ich hatte noch nie mit ihm in einem Zimmer geschlafen. Ich atmete tief ein, legte meine Hand auf seinen Kopf und strich ihm die feuchten Strähnen aus der Stirn. Im Licht, das von draußen hereinfiel, sah ich eine Träne aus seinem Augenwinkel rollen. So etwas hätte ich mir nie vorstellen können.

Verdammt. Max weint im Schlaf.

Mein Herz zog sich in meiner Brust zusammen, und ich konnte nicht anders, als mich vorzubeugen und meine Stirn an seine zu lehnen. Das reichte zum Glück, um ihn zu wecken. Er blinzelte ein paarmal und entspannte seine Hände. „Alles okay?“

„Schlechter Traum. Rutsch rüber.“ Da er nicht richtig wach war, murmelte er etwas und machte mir Platz. Rücken an Rücken schliefen wir ein.

Stunden später fing ich an, mich zu rühren, und war dann auf einen Schlag wach, als ich merkte, dass Max mich in den Armen hielt. Sein Arm lag stark und warm über meiner Taille, seine Hüfte war eng gegen meinen Hintern gepresst, und ich spürte jeden tiefen Atemzug in meinen Haaren.

Oh Mist. Keine gute Tat bleibt ungesühnt und so weiter.

Ich bezweifelte, dass ich aufstehen konnte, ohne ihn zu wecken. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte 5:45 Uhr, und draußen war es noch dunkel. Als ich mich bewegte, verstärkte er seinen Griff um mich und presste seine Lippen an meinen Hals. Das fühlte sich natürlich unglaublich an, aber es war immerhin schon acht Monate her, dass ich Sex gehabt hatte, und es brauchte nicht viel, um mich anzumachen.

Entschlossen hob ich seinen Arm und krabbelte aus dem Bett. Max rieb sich die Augen, als ich ins Badezimmer ging, um mir die Zähne zu putzen und mich anzuziehen.

„Okay, habe ich das gerade nur geträumt …“

„Es ist nichts passiert.“ Ich konnte ihm nicht sagen, dass er im Schlaf geweint hatte, also beschloss ich, in die Offensive zu gehen. „Mein Bett hatte hervorstehende Sprungfedern, das ist alles.“

„Aha. Hat dir jemals jemand gesagt, dass deine Haare nach Zitrone riechen?“

„Das ist nur das exklusive Motel-Shampoo.“

„Du konntest mir nicht widerstehen, hm? Früher oder später passiert das immer. Vielleicht sollten wir mal eben übereinander herfallen, um die sexuelle Spannung abzubauen?“

„Davon träumst du wohl. Du warst auf meiner Seite vom Bett. Es gibt russische Auftragsmörder, die viel Geld dafür zahlen würden, sich hier dranzukuscheln.“ Grinsend schlug ich mir auf den Hintern und zog Max dann die Bettdecke weg. „Komm, steh auf.“

Er schnappte sich ein Kissen, um es sich auf den Schritt zu legen. „Machst du Witze?“

„Oh. Du bist schon aufgestanden. Das nehme ich jetzt mal als Kompliment.“

„Ich muss mal“, murmelte er.

„Lass dir Zeit. Wenn ich nach draußen gehen soll, damit du …“

„Kaufman, wenn du nicht sofort aufhörst zu reden, bist du dran!“

Grinsend tanzte ich ein wenig vor ihm auf und ab, wackelte mit den Hüften und vollführte eine halbe Drehung. „Ja, klar. Was soll ich machen? Dich küssen? Hand anlegen? Das ist mir viel zu einseitig, das tun wir lieber nicht.“

Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht. „Es ist viel zu früh für diese Art von Unterhaltung.“

„Ganz meine Meinung.“

Max stapfte an mir vorbei und schlug die Badezimmertür hinter sich zu. Er blieb so lange bei laufendem Wasser drin, dass ich versucht war, ihn damit aufzuziehen, aber ehrlich gesagt, was ein Typ in der Dusche eines miesen Motelzimmers machte, ging nur ihn und das winzige Stück Seife etwas an. Also sagte ich nichts, während wir zusammenpackten und zum Motorrad hinauslie-fen. Aber ich dachte ein wenig darüber nach, während ich mich hinter ihn auf den Sattel schwang und mich an ihn kuschelte.

Hieran könnte ich mich gewöhnen.

Okay, Max meiner Mutter vorzustellen könnte den Herzinfarkt auslösen, mit dem sie mir immer drohte, wenn ich etwas tat, was das elterliche Missfallen erregte. Zum Beispiel hatte sie behauptet, kurz vor einem Infarkt zu stehen, als ich mich als bisexuell geoutet hatte. Mein Dad hatte sich sogar mit mir darüber gestritten; er meinte, dass es so etwas nicht gäbe und ich vermutlich einfach nur nicht zugeben wollte, lesbisch zu sein. Jedenfalls fand er, ich solle mich einfach wieder schweigend zurückziehen, online interessante Pornos gucken, wenn es denn sein musste, und die Frage meiner sexuellen Orientierung nicht weiter mit ihnen erörtern. Natürlich hatte er das nicht direkt so gesagt, doch ich wusste, dass das ungefähr seine Meinung zu dem Thema war.

„Bereit, weiterzufahren?“, fragte Max und startete den Motor.

„Ja. Bringen wir es hinter uns.“

Wie am Vortag fuhren wir in Zwei-Stunden-Intervallen und machten regelmäßig Pause. Max wurde immer angespannter, je näher wir Rhode Island kamen, und als wir die Staatsgrenze überquerten, fühlte sich sein Rücken unter meiner Wange an wie ein Stein. In Providence fuhr er auf den Parkplatz einer Tankstelle und hielt an. Mir war nicht ganz klar, was er hier wollte, aber ich fragte nicht, weil ich annahm, er bräuchte eine Minute, um sich zu sammeln. Max verschwand für zehn Minuten drinnen, und als er wieder herauskam, trug er eine Anzughose, ein zerknittertes Button-down-Hemd und die hässlichste Krawatte, die ich je in meinem Leben gesehen hatte.

„Die Totenwache hat bereits begonnen“, sagte er.

„Dann sollte ich mich auch umziehen.“ Ich hatte nicht gewusst, dass wir direkt zum Beerdigungsinstitut fahren würden.

Ohne ein weiteres Wort schnappte ich mir meinen Rucksack und bemühte mich dann, in meinem schwarzen Kleid und den Ballerinas so respektabel wie möglich auszusehen. Allerdings verzichtete ich darauf, mir die Haare zurückzufärben und die Piercings herauszunehmen. Dann musste ich versuchen, mit einem Rock zurück aufs Motorrad zu steigen. Daran hatte ich beim Packen nicht gedacht. Da ich schlecht im Damensitz fahren konnte, knüllte ich den Rock zwischen meinen Beinen zusammen.

Max jagte den Motor hoch, und ich konnte seine Anspannung beinahe mit den Händen greifen. Fünfzehn Minuten später hielten wir vor einem etwas heruntergekommenen Bestattungsinstitut namens „Cavanaugh and Sons“ an. Das Gebäude hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen. Wind und Regen hatten ihre Spuren hinterlassen, und in den Rissen im Bürgersteig wuchs Unkraut. Die meisten Läden in der Gegend hatten schwere Eisengitter vor den Fenstern; die restlichen Gebäude standen leer.

„Es ist schlimmer, als ich es in Erinnerung habe“, sagte Max und setzte den Helm ab. Er atmete ein paarmal tief durch, und ich legte meine Hand auf sein Herz, spürte, wie es raste bei der Aussicht, gleich seiner Familie gegenüberzutreten. Als ich ihn anschaute, hielt er meinen Blick fest. Ich passte meinen Atem seinem an, versuchte, ihn dazu zu bringen, sich zu beruhigen.

„Ich bin auf deiner Seite, Max. Das weißt du, oder?“

„Mein Vater würde mir die Faust ins Gesicht schlagen, wenn er wüsste, dass ich dich meine Schlachten kämpfen lasse.“

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