Der Marquess, der niemals heiraten wollte

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Jede ihrer entzückenden Sommersprossen würde er am liebsten einzeln küssen – woher kommt bloß dieser frivole Gedanke beim Anblick der neuen Gouvernante? Der Marquess of Cheswick versteht sich selbst nicht! Er weiß nur, dass sie auf jeden Fall auf Hampford Castle bleiben muss, um seine drei übermütigen Schwestern zu bändigen. Maßlos ist sein Erstaunen, als er seinen Irrtum erkennt: Der hinreißende Rotschopf Louisa ist keine Gouvernante, sondern eine junge Lady, die vor ihren durchtriebenen Verwandten geflohen ist. Nur eine Ehe könnte ihr helfen, ihr Erbe und ihre Zukunft zu sichern! Doch leider hat sich der Marquess geschworen, niemals zu heiraten …


  • Erscheinungstag 12.11.2024
  • Bandnummer 414
  • ISBN / Artikelnummer 0814240414
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

England, 1810

Louisa erwartete zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag keine Geschenke. Ihre Tante und ihr Onkel, deren Mündel sie seit zehneinhalb Jahren war, hatten ihr in all der Zeit nicht ein einziges Mal etwas geschenkt. Wenn sie sich einmal über ihre fadenscheinigen Kleider beklagte oder über die Kälte in ihrem Zimmer, in dem nie ein Feuer brannte, pflegte Tante Rockingham zu erklären, es sei Louisas eigenes Verschulden.

Lady Louisa Bracken war das einzige Kind des dahingeschiedenen Vierten Earl of Rockingham. Sein jüngerer Bruder Alfred war der Fünfte Earl geworden und hatte seine Gattin und vier Söhne auf das Anwesen mitgebracht. Louisa war der Obhut von Onkel und Tante anheimgegeben worden, und das Vermögen ihrer Mutter, das sie erben würde, war drei Treuhändern anvertraut worden. Für ihren Unterhalt war ihrem Onkel eine jährliche Unterstützung auszuzahlen.

Tante Rockingham beteuerte, dieser Zuschuss reiche kaum für die allernötigste Kleidung, und konnte tagelang über Louisas selbstsüchtigen Vater wettern, der seinem einzigen Bruder nicht zugetraut hatte, die finanziellen Interessen seiner Nichte zu wahren. Seltsam genug kleidete Tante Rockingham sich in edelste Seide und feinsten Musselin. Und hatte zu jedem Gewand die farblich passenden Handschuhe. Auch ließ sie nie eine Londoner Saison aus, mit der Behauptung, dass sie für Onkel Rockingham da sein müsse, derweil er seinen Sitz im Parlament wahrnahm.

Wenn aber Louisa bettelte, mitkommen zu dürfen, wandte sie jedes Mal ein, dass für ein solch kostspieliges Unterfangen nicht genug Geld vorhanden sei.

Als Louisa ihre Strümpfe anzog, merkte sie, wie ihr linker großer Zeh direkt vorne durch ein Loch wieder herauskam. Freudlos auflachend dachte sie, sie müsse wohl die allerärmste Erbin in ganz England sein. Ihr stand nicht einmal ein ungelerntes Hausmädchen zur Verfügung, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein. Und generell hatten die Hausmädchen bessere Kleidung als sie. Noch nie hatte Louisa einen gestopften Strumpf bei einem gesehen, noch einen geflickten Riss in den Kleidern. Sie holte Nadel und Faden hervor, die sie stets im Saum ihrer Röcke stecken hatte, und besserte das neue Loch in dem Strumpf geschickt aus.

Heute würde sich alles ändern. Louisa war endlich einundzwanzig und damit volljährig und konnte ihr Vermögen in Besitz nehmen. Während sie ihr Kleid zuknöpfte, beschloss sie, dass sie nicht länger unter der Fuchtel ihrer Tante ausharren würde. Sie würde ihre Erbschaft nehmen und nach London gehen, um der Königin vorgestellt zu werden – wie einst ihre Mutter – und sich selbst einen passenden Gemahl zu suchen.

Sie würde Greystone Hall, ihr Heim, nicht einmal vermissen. Als Kind hatte sie es geliebt, aber in den letzten Jahren war es ihr wie ein Gefängnis vorgekommen. Ihre Tante erlaubte ihr nichts, außer sonntags die Kirche zu besuchen. Nicht einmal an den schlichten örtlichen Geselligkeiten durfte sie teilnehmen. Nicht dass es eine Rolle gespielt hätte … Louisa konnte nicht tanzen. Ihre Tante hatte nachdrücklich betont, dass sie es sich nicht leisten könne, für Louisa eine Gouvernante einzustellen, geschweige denn einen Tanzmeister. Gleich am Tag, nachdem Louisas Vater begraben worden war, war ihre damalige Gouvernante entlassen worden. Seufzend zog Louisa ihre Schuhe an, die zu eng waren und drückten. Was für eine Partie konnte sie schon machen, wenn sie nicht einmal wusste, wie sich eine junge Dame betrug?

Louisa fand ihre Tante an ihrem Sekretär in dem gerade neu ausgestatteten Blauen Salon beim Briefeschreiben. Sie war eine Furcht einflößende Frau mittleren Alters mit ausgeprägten Zügen und einem großen schwarzen Leberfleck auf einer Wange. Heute trug sie ein reizendes Tageskleid aus Jakonett und dazu ein dreireihiges Perlenhalsband. Ein Häubchen verbarg ihr schwarzes, von Grau durchzogenes Haar nicht vollständig.

Wie lange Louisa dieser Frau hatte gefallen wollen! Versucht hatte, sich zu ändern und ihre so schwer zu erlangende Anerkennung zu gewinnen! Aber einerlei, wie liebenswürdig, bescheiden und gehorsam sie war, Tante Rockingham liebte sie nicht. Hatte sie nicht einmal gern! Es muss etwas mit mir nicht stimmen, dachte Louisa, dass nicht einmal meine engsten Verwandten mich leiden können.

„Guten Morgen, Tante“, begann sie nun, wobei ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Ich hoffte, heute mit Ihnen sprechen zu können.“

Ihre Tante schaute verkniffen und gereizt drein. „Ich schreibe gerade dringende Briefe. Vielleicht finde ich später noch Zeit für dich.“

Zwar krallte Louisa, ihren Mut sammelnd, die Hände in den Stoff ihres Rockes, fuhr jedoch fort: „Ab heute bin ich volljährig. Damit bin ich nun im Besitz meines Erbes und möchte nach London gehen. Unverzüglich.“

Ihre Tante schnaubte abfällig und schüttelte den Kopf. „Ach, du dummes Mädchen! Du kannst unmöglich ohne mich nach London. Dafür fehlt das Geld. Der arme Barnabas hat ein Vermögen verloren … durch skrupellose Falschspieler. Außerdem braucht eine junge Dame von Stand eine Anstandsdame, um auf Gesellschaften gehen zu können. Ich finde, dass ich dieses Jahr viel zu erschöpft bin, um dich zu begleiten. Du wirst einfach bis zum nächsten Jahr warten müssen. Oder vielleicht bis zum Jahr darauf.“

Louisas Schultern sackten, aber noch wollte sie nicht aufgeben. „Bestimmt hat einer meiner Treuhänder eine Gattin, die als meine Chaperone fungieren und mich der Königin vorstellen könnte.“

„Aber das sind nicht deine Vormünder.“

„Ich bin einundzwanzig, Madam. Ich brauche keinen Vormund mehr.“

Tante Rockingham legte die Feder nieder. Ihr Mund war nur noch eine schmale Linie. „Zugegeben, du bist alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen. Aber das Testament deines verblichenen Vaters gestattet dir nicht, dein Erbe anzurühren, bevor du fünfundzwanzig bist oder verheiratet mit jemandem, den dein Vormund befürwortet.“

Noch weitere vier Jahre?

Louisas Magen verkrampfte sich vor Entsetzen. Sie hätte sich in einem gewaltigen Wutanfall auf den Boden werfen und schreiend mit den Beinen strampeln mögen. Noch weitere vier Jahre in ihrem eigenen Heim eingesperrt zu sein! Das war nicht auszuhalten! Mit einer Tante, die nichts für sie übrighatte, und einem Onkel, der ihre bloße Existenz ignorierte.

„Aber ich bin sowieso schon alt für eine Debütantin. Die meisten jungen Damen werden mit siebzehn bei Hofe präsentiert. Ich fürchte, ich verliere sämtliche Chancen.“

„Ich wollte es eigentlich nicht erwähnen“, äußerte ihre Tante missmutig, „aber du bist eine wenig begünstigte, sommersprossige junge Frau. Selbst wenn ich dich nach London brächte, wäre es höchst unwahrscheinlich, dass du einen passenden Gemahl fändest. Es wäre Zeit- und Geldverschwendung!“

Louisa legte die Hände an ihre heißen Wangen. Ihr sank das Herz, und sie fragte sich, ob das alles zutraf. Ihr Haar war flammend rot wie Herbstlaub, ihre Augen moosgrün. Aber Gesicht und Arme waren von Sommersprossen übersät. Kleine, bräunliche unschöne Punkte.

Und sie war groß und dünn. Zumindest verglichen mit ihrer Tante. War sie wirklich hässlich? War ihr wenig einnehmendes Äußeres der Grund, dass ihre Tante keine Zuneigung für sie empfinden konnte?

Louisa schluckte schwer, versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken. „Dann soll ich noch weitere vier Jahre hier bleiben?“

„Lass mich offen sprechen, Louisa!“ Die Tante schenkte ihr einen vernichtenden Blick. „Ich hatte längst gehofft, dass Barnabas sich aufraffte. Aber er beharrt darauf, er sei noch zu jung zum Heiraten, und dann sind da seine Schulden zu begleichen. Also wirst du noch ein oder zwei Jahre warten müssen, ehe du verheiratet wirst. Danach wirst du dann als Barnabas’ Gattin der Königin vorgestellt werden.“

Barnabas war Louisas ältester Cousin und Erbe des Titels. Er war ein untersetzter, mürrischer junger Mann und einige Zoll kleiner als sie selbst. Wie seine Mutter hatte er einen großen schwarzen Leberfleck, nur unten am Kinn. Bis heute war sein einziges hervorstechendes Talent, sowohl von Eton als auch Oxford relegiert worden zu sein. Er aß zu viel. Trank zu viel. Widmete sich zu oft dem Glücksspiel. Und wenn man den Hausmädchen glaubte – was Louisa tat –, glotzte er lüstern und konnte seine Hände nicht bei sich behalten. Er war fünf Jahre älter als sie und der letzte Mann auf Erden, den sie heiraten würde. Wenn sie nur daran dachte, lief es ihr vor Widerwillen kalt den Rücken hinab. Sie konnte unmöglich seine Frau werden.

Louisa schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann es meinem Cousin nicht verübeln, dass er mich nicht heiraten will. Ich will ihn auch nicht heiraten.“

„Natürlich will Barnabas dich heiraten“, sagte die Tante besänftigend. „Er ist nur schlicht noch nicht so weit.“

„Aber Tante …“

„Louisa!“ Das kam laut und schrill. „Das wird nicht weiter diskutiert! Geh lieber und schau, ob Mrs. Barker etwas für dich hat, das auszubessern wäre. Ich kann dich hier nicht den ganzen Tag unter den Füßen haben. Ich muss meine Korrespondenz erledigen.“

Mit hängenden Schultern schleppte Louisa sich auf der Suche nach der Haushälterin in die Küche. Als sie die Tür öffnete, stand dort das gesamte Personal aufgereiht, und sofort kamen alle herbei, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Die Köchin Mrs. Hatch, eine runde, rotwangige, heitere Frau, präsentierte ihr sogar einen kleinen Kuchen, den sie mit einem zierlichen Schwan aus Zuckerguss verziert hatte.

Unter Tränen lächelte Louisa, weil die Dienstboten ihren Geburtstag nicht vergessen hatten. Sie liebten sie, auch wenn sie hässlich war.

„Danke schön! Ach, vielen Dank!“, rief sie, während sie den Kuchen entgegennahm. „So einen schönen Kuchen habe ich noch nie gesehen! Ich bin das glücklichste Mädchen der Welt. Kommt alle, jeder soll ein Stück haben!“

„Mylady“, sagte der Butler, „wir können nicht zusammen mit Ihnen essen! Das würde sich nicht schicken.“

Louisa schnupfte auf und wischte sich die Augen. „Ach, bitte, esst doch mit, sonst muss ich diesen wunderbaren Kuchen ganz allein vertilgen, und auf meinem Geburtstag wäre das doch wirklich traurig.“

Also schnitt Mrs. Hatch den Kuchen fein in gleichmäßige Scheiben und reichte Louisa die erste. Sie kostete einen Bissen, und es schmeckte himmlisch – süß, butterig und zart. Ihre Tante gestattete ihr kaum einmal etwas Süßes, um Louisas Figur zu bewahren, behauptete sie. Ob dieses Gedankens schmeckte der nächste Bissen wie Asche. Sie zwang sich, zu schlucken, und spielte mit der Kuchengabel herum, unfähig, weiterzuessen.

„Bin ich wirklich hässlich?“, platzte sie heraus.

Mrs. Hatch fiel das Messer aus der Hand. „Was fragen Sie denn da, Mylady?“

„Natürlich nicht“, sagte Mrs. Barker und tätschelte Louisa die Schulter. Sie war eine sehr schlanke, ältere Frau mit feinen Zügen und weißem Haar. „Sie sind eine Schönheit, genau wie einst Ihre Mutter.“

Louisa spürte, wie sie errötete. Wegen des roten Haars und des hellen Teints war sie leider anfällig dafür. Sie senkte den Blick auf ihren Teller. „Meine Tante sagte, ich sei hässlich und würde keinen passenden Ehemann finden können. Sie besteht darauf, dass ich meinen Cousin Barnabas heiraten soll. Nur will er nicht jetzt schon heiraten … darum werde ich noch ein paar Jahre warten müssen.“

„Heiraten Sie bloß diesen Lüstling nicht, Mylady“, rief Lily, ein hübsches Hausmädchen, ein oder zwei Jahre jünger als Louisa, und drückte mitfühlend Louisas Handgelenk. „Er ist Ihrer nicht wert.“

„Die alte Hexe will ihrem Sohn nur Ihr Vermögen zuschanzen!“, warf Goodman ein, ein älterer Mann, ehemals unter Louisas Vater Stallmeister, doch da seine Art dem neuen Earl nicht gefiel, nun zum einfachen Stallknecht degradiert.

Louisa griff sich verzweifelt an ihre Kehle, die ebenso heiß war wie ihr Gesicht. Sie hatte keine liebende Familie, niemanden, der ihr helfen würde.

„Ich will Barnabas nicht heiraten. Er ist abscheulich. Nur weiß ich nicht, was ich tun könnte. Oder wen ich um Hilfe bitten könnte. Ich kenne nicht einmal die Namen meiner Treuhänder. Da ist der einzige Bruder meiner Mutter; er hat eine Pfarre in Somerset, aber ich hatte nie Kontakt mit seiner Familie … und schaut mich an! Keiner würde glauben, dass ich eine Lady bin oder eine Erbin.“

„Stimmt.“ Mrs. Barker wies mit ihrem knochigen Zeigefinger auf sie. „Aber das Wichtigste zuerst. Sie werden ein neues Kleid brauchen. Von den neuen Vorhängen im Blauen Salon ist noch ein Stück Stoff übrig.“

„Daraus kann ich eins nähen. Aber ich brauche auch neue Schuhe“, fügte Louisa hinzu. In ihren viel zu engen spürte sie ihre Zehen kaum noch.

„Mir sind meine zu klein geworden. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gebrauchte zu tragen?“, bot Lily an. „Mrs. Barker hat mir schon neue gekauft.“

„Ach, ich wäre dir so dankbar!“, rief Louisa.

„Und ich habe gerade eine Strohschute hübsch aufgeputzt. Die sähe an Ihnen bestimmt entzückend aus“, warf Mrs. Hatch ein.

„Lady Rockingham besitzt so viele Handschuhe, sie würde nicht einmal merken, wenn ein Paar fehlte“, meinte Miss Taley, die die Zofe der Gräfin war.

Goodman räusperte sich. „Ich könnte Sie mit dem Gig zum Pfarrhaus Ihres Onkels in Somerset bringen, Mylady. Die Kutsche darf ich nicht mehr lenken … bin der Countess nicht mehr fein genug.“

Zum ersten Mal seit Jahren spross Hoffnung in Louisas Brust, nur wollte sie den Dienstboten keine Schwierigkeiten machen, die gütiger zu ihr waren als ihre eigene Familie … und die sie als Einzige sehr gern hatten.

„Aber werdet ihr nicht alle Ärger bekommen?“

„Weswegen denn?“, fragte der Butler in seinem hochnäsigsten Ton. Meadows war vornehmer als ein Duke und mit seinem dunklen Haar und der Adlernase sah er auch aus wie einer.

An ebendieser aristokratischen Nase entlang schaute er nun hinab und äußerte dabei: „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich werde gewiss nie sagen, ich hätte Lady Louisa fortgehen sehen.“

„Und ich auch nicht“, bemerkte Mrs. Hatch und blinzelte ihr fröhlich zu. „Und Sie können das übrig gebliebene Haushaltsgeld von diesem Monat haben.“

Louisa lauschte erstaunt, wie sie einer nach dem anderen schworen, nicht das Mindeste von irgendwelchen Plänen ihrerseits gewusst zu haben. Sie tupfte sich Tränen der Freude aus den Augen und dankte allen von Herzen. Vielleicht war sie doch nicht ganz so hässlich und unliebenswert.

2. KAPITEL

Lord Simon Anthony Peregrine Stringham, Marquess of Cheswick, allgemein von seiner Familie „Wick“ genannt, war das Oberhaupt der Familie, während seine Eltern, der Duke und die Duchess of Hampford, in Afrika umherreisten, um Wildtiere in ihre natürliche Umgebung zurückzubringen. Sie würden etwa ein Jahr fort sein, und ihm war die Aufgabe übertragen worden, ein Auge auf seine fünf jüngeren Geschwister zu haben.

Das reichte, um einen permanent in kalten Schweiß ausbrechen zu lassen.

Leider hatte Wick die Jagdgesellschaft seines besten Freundes, des Dukes of Sunderland, vorzeitig verlassen müssen, denn er befürchtete, dass sein Anhang während seiner Abwesenheit nur Chaos anrichten würde. Oder schlimmer, dass abermals das Scharlachfieber ausbrechen könnte, wie damals vor fast zehn Jahren, als seine Eltern schon einmal nach Afrika gereist waren. Da war seine jüngste Schwester Becca gerade drei Jahre alt gewesen.

Als er in London eingetroffen war, hatte er sich zumindest des Wohlbefindens seines Bruders vergewissert. Lord Matthew Stringham lebte in einer Junggesellenwohnung und arbeitete bei Mr. Stubbs, ihrem Großvater mütterlicherseits. Wie der besaß auch Matthew ein Talent für die Rechtswissenschaft und arbeitete gerade daran, sich in dieser Sparte eine einträgliche Zukunft aufzubauen. Er hatte über die Besorgnis seines großen Bruders gelacht.

Wick hatte vorsorglich auch bei seiner verheirateten Schwester Mantheria, der Duchess of Glastonbury, mit ihrem dreijährigen Söhnchen vorbeigeschaut, hatte sie in seinem Phaeton einmal um den Park kutschiert und ihnen bei Gunther’s Eis spendiert, um seinen Status als Lieblingsonkel zu festigen.

Seine beiden mittleren Schwestern Lady Frederica und Lady Helen waren sicher in dem formidablen Internat der Miss Veronica Cluess in Bath untergebracht. Selbiges hatte seiner jüngsten Schwester Lady Rebecca – Becca – nicht gefallen, also hatte er für sie eine Gouvernante eingestellt, Miss Young, die Nichte des Pastors Robertson aus dem Dorf nahe dem Schloss.

Er war der Frau noch nicht begegnet, doch konnte sie beste Zeugnisse vorweisen. Daher hatte er sie schriftlich gebeten, umgehend die Stellung auf Hampford Castle anzutreten. Becca war ein Schatz und seine Lieblingsschwester, doch sich selbst überlassen konnte sie recht anstrengend sein … und leider wählte sie sich allzu gern Nager zum Schmusetier.

Er ließ die Peitsche über den Köpfen seiner Grauen schnalzen, und sofort beschleunigten die Pferde ihren Schritt, als ob auch sie wüssten, dass sie bald daheim sein würden.

Nun musste er nur noch ein Auge auf das Hampford-Anwesen und die neue Gouvernante werfen, dann wären all seine Sorgen bezüglich der Familie ausgeräumt.

Konzentriert lenkte er das Gespann durch Hampford Castles Südtor. Für den gewöhnlichen Besucher war das alte Bauwerk ein großer, dunkler, abschreckender Ort. Aber für Wick war diese steinerne Masse mit ihren vielen Türmen und Brüstungen Heimat und Zuhause.

Er warf einem Stallknecht die Zügel zu und sprang aus dem Phaeton, um sich sofort in einer festen Umarmung wiederzufinden. Beccas Kopf reichte ihm kaum bis zu den Schultern, doch im Augenblick bohrte sie ihn recht schmerzhaft in seinen Magen. Sanft nahm er sie bei den Armen und schob sie zurück, um ihr ins Gesicht schauen zu können.

Beccas Haar war ebenso braun wie seines, doch ihre Augen waren nicht braun, sondern blau und blitzten meistens vor Übermut. Heute jedoch standen Tränen darin. Auf ihrer Nase fanden sich neue Sommersprossen, und ihr Kleid mit der Schürze war mit Schmutz befleckt – nichts Ungewöhnliches.

„Was ist denn los, Becca, mein Herz?“

Sie schniefte und fuhr sich mit einem Finger unter der Nase durch, der Schmutz auf ihrem Gesicht zurückließ. „Wick, es war nicht meine Schuld!“

„Was denn, Liebes?“

Becca blinzelte heftig, griff nach ihrem unordentlichen Zopf und nestelte daran herum, den Blick auf ihre Füße geheftet. „Miss Young ist gegangen.“

Es dauerte ein, zwei Sekunden, bis er sich erinnerte, wer zum Teufel Miss Young war.

Sachte besorgt fragte er: „Was ist passiert? Was hast du gemacht?“

Seine kleine Schwester atmete tief ein. „Mademoiselle Jaune hat sie dauernd ‚süßes Flittchen‘ gerufen.“

Wick schwankte zwischen Lachen und wütendem Gebrüll. Der gelbe Ara mit der fehlenden Klaue war berühmt für seine unflätigen Reden. Papa hatte ihn in einem Elendsquartier einem einbeinigen Seemann abgekauft, weil der den Vogel in einem viel zu engen Käfig hielt, und hatte ihn freilassen wollen, doch Mademoiselle Jaune kam immer wieder zum Schloss zurück. Papa hatte erklärt, dass in Gefangenschaft geschlüpfte Tiere oft zu domestiziert waren. Sie waren nicht imstande zu jagen oder sich selbst Futter zu suchen.

„Miss Young ging wegen des Vogels?“

Becca biss sich auf die Unterlippe und sah so noch jünger aus als ihre dreizehn Jahre. „Sie sagte, entweder der Vogel oder sie. Da sagte Frederica, dass wir Mademoiselles Gesellschaft deutlich mehr schätzten, und Miss Young ging empört weg, zu Fuß. Sie nahm nicht mal ihre Sachen mit.“

„Moment!“ Wick hob abwehrend eine Hand. Sein Nacken kribbelte ahnungsvoll, und sein linkes Augenlid begann zu zucken. „Was macht Frederica hier? Die Sommerferien sind erst in zwei Monaten.“

Zwei weitere Monate der Ruhe und des herrlichsten Friedens.

Beccas freimütiges Gesicht lief rot an. „Also … dass Helen und Frederica heimgeschickt wurden, ist meine Schuld.“

Ihm lagen ein Dutzend Flüche auf der Zunge, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um sie vor seiner Schwester nicht auszusprechen.

„Wie kann es deine Schuld sein? Du warst ja nicht im Internat.“

Sie schniefte erneut, und ihr Kinn bebte. „Ich hatte Frederica erzählt, welches Mädchen mich im Internat immer schikanierte und mich dumm nannte … und so ging sie des Nachts her und schnitt ihr die Haare ab. Und da schickte die Vorsteherin sie heim.“

Wick war zwischen Stolz und Missbilligung hin- und hergerissen. Er war geradezu in Rage gewesen, als Becca ihm geschrieben hatte, sie wolle nicht mehr im Internat bleiben, weil ein Mädchen sie ständig hänselte und von allem ausschloss. Er hatte sie aus Bath abgeholt, doch viel mehr konnte er nicht tun. Nun war er ungewollt ein klein wenig befriedigt, weil jenes gemeine Ding einen Denkzettel bekommen hatte.

„Und was hat Helen angestellt, um auch heimgeschickt zu werden?“

„Nichts Besonderes.“

„Becca …“ Dieses Mal sprach er den Namen ohne den kosenden Zusatz aus, und sein Augenlid zuckte schon wieder.

Seine kleine Schwester griff erneut nach ihrem Zopf – eine nervöse Geste. „Sie legte jedem Mädchen, das nicht meine Freundin sein wollte, eine Schlange ins Bett. Aber keine giftigen! Nur Blindschleichen.“

„Also habe ich euch nun alle drei im Hause, und ohne Gouvernante!“

Becca nickte, und im gleichen Moment schossen die beiden anderen Schwestern geradezu aus dem doppelflügeligen Portal des Schlosses hervor. Frederica schaute selbstgefällig drein, doch Helen lächelte ihm zaghaft zu.

Normalerweise gelang es Frederica – sie war die Zweitälteste – sich aus Schwierigkeiten herauszulavieren, nicht jedoch dieses Mal. Sie war mit dem gleichen braunen Haar und der üppigen Figur ihrer Mutter gesegnet; mit beinahe siebzehn hätte sie über Schulmädchenstreiche hinweg sein sollen.

Helen war zwei Jahre jünger als sie und ähnelte keinem der anderen Mädchen. Sie war klein und zart, ein Strich in der Landschaft, mit flachsblondem Haar und riesigen blauen Augen. Wie ihr Vater war sie Tieren zugetan und schon eine kleine Zoologin, mit einer unglückseligen Neigung zu Schlangen.

Wick nahm seinen Hut ab und fuhr sich durchs Haar. Alle Verwünschungen, die er kannte, reichten nicht mehr aus. „Ich kann es nicht glauben! Das übersteigt alles bisher Dagewesene!“

„Es tut uns wirklich leid, dass wir dich so aufgeregt haben, Wick.“ Flehend legte Helen die Hände zusammen. „Ehrlich.“

Frederica schnaubte verächtlich und kreuzte die Arme vor der Brust. „Tut es uns nicht! Die kleinen Biester haben sich alles selbst redlich verdient.“

Wick schluckte, seine Kehle war ganz trocken und rau. „Mama wird toben. Ihr zwei solltet im Internat sein und euch auf euer Debüt vorbereiten und euch nicht wie die Wildfänge aufführen. Diese Geschichte hat vielleicht eure Chancen, einen passenden Gemahl zu finden, ruiniert und Beccas obendrein.“

Becca kaute heftig an ihrer Unterlippe. Helen schniefte, und ihr rann eine theatralische Träne über die Wange. Sie konnte auf Kommando weinen – ein nützliches Talent, das sie oft genug einsetzte, um sich aus Ärger herauszuwinden. Frederica schnaubte nur erneut und warf ihm vernichtende Blicke zu, nicht unähnlich denen ihrer Mutter.

„Wir sind Stringhams, Wick!“, sagte sie völlig unbeeindruckt. „Wir könnten in Unterwäsche die Straße entlanglaufen, und jeder verflixte Peer würde uns immer noch um unsere Hand anflehen.“

„Vielleicht bekämen wir sogar mehr Anträge“, meinte Helen kichernd.

Ehe er sich versah, lachten seine drei kleinen Schwestern fröhlich. Wick bekam eine Gänsehaut. Seine Schwestern waren wild und starrsinnig genug, ihnen war alles zuzutrauen. Und er hatte vom letzten Mal, da er sie hüten musste, gelernt, dass er das nicht allein schaffte.

Er musste diese Gouvernante wieder zurückholen.

Dieses Mal würde er seine Familie nicht enttäuschen.

3. KAPITEL

Louisa hatte die ganze Nacht hindurch genäht, damit das Kleid am Morgen fertig war. Es war ein schlichtes, hochgeschlossenes Gewand geworden, mit langen, eng anliegenden Ärmeln, die am Schulteransatz zu einem angedeuteten Puffärmelchen gerafft waren. Die Zofe ihrer Tante hatte nicht nur ein Paar Handschuhe stibitzt, sondern auch heile Strümpfe, die sich erstaunlich weich um Louisas Füße schmiegten.

Mrs. Hatch setzte ihr den neuen Hut auf und knüpfte die Bänder zu einer hübschen Schleife. Die Köchin musste Stunden gebraucht haben, um die künstlichen Blumen und Bänder darauf zu arrangieren, doch anstatt ihn für sich zu behalten, bestand sie darauf, dass Louisa ihn nehme. Louisa wurden die Augen feucht, als sie Mrs. Hatch dankte und sie herzlich an sich drückte. Die Köchin erwiderte die Umarmung liebevoll. Seit Louisa klein war, machte die ältere Frau ein Spiel daraus, sie in der Küche einzufangen und ihr dann einen Kuss aufs Haar zu drücken.

Bei Mrs. Hatch hatte sie sich immer behütet und geliebt gefühlt. Anders als bei ihrer Tante, die sie unaufhörlich daran erinnerte, welch unerwünschte Last sie war.

Lily kam und brachte ihr die alten Schuhe, die viel besser passten als Louisas eigene und außerdem viel hübscher und auf Hochglanz poliert waren. Das Einzige, was noch fehlte, war ein Jäckchen oder ein großer Schal. Aber das machte nichts. Sie trug ein neues Kleid, einen neuen Hut, neue Handschuhe, Strümpfe und sogar gute Schuhe. In ihrer Tasche klimperte das übrig gebliebene Haushaltsgeld.

Dann aber trat Mrs. Barker hinter sie und legte ihr einen großen, wunderschönen Spitzenschal um die Schultern. „Den habe ich selbst geklöppelt. Eigentlich sollten Sie ihn zu Ihrer Hochzeit bekommen, aber heute brauchen Sie ihn viel dringender.“

Behutsam betastete Louisa die zarte Spitze. Etwas Schöneres habe ich noch nie gesehen, dachte sie. Nicht einmal die Tante besaß etwas so Feines. Wie viele Stunden Mrs. Barker wohl daran gesessen hatte? Ihr stiegen Tränen in die Augen, während sie die Haushälterin umarmte. „Ich werde gut darauf achtgeben, das verspreche ich Ihnen. Und ich werde ihn auch tragen, wenn ich einmal heirate.“

Goodman mischte sich ein und sagte in seinem üblichen rauen Ton: „Wir sollten uns beeilen, Mylady. Es wird langsam hell, und da wären wir besser schon außer Sicht.“

Louisa unterdrückte ihre Gefühle; noch einmal dankte sie allen, dann folgte sie Goodman hinaus in die kalte, nasse Morgendämmerung. Er hatte die Pferde schon vor dem alten Gig eingespannt, nicht das prächtige Paar, das die Karriole ihres Onkels zog, sondern kräftige, verlässliche Arbeitspferde vom Gutshof des Anwesens. Sie ließ sich von ihm auf den Bock helfen und setzte sich neben ihn.

Dann zog er die Zügel an. „Hüh!!“

Die Grenzen Greystone Halls erstreckten sich über gut zehn Meilen. In mehr als zehn Jahren war Louisa nicht darüber hinausgekommen. Trotzdem wollte sie sich jede Kleinigkeit einprägen. Jeden Baum. Die Wege. Das Tal. Denn sie wollte nie wieder zurückkehren. Ihr Plan war, eine Londoner Saison mitzumachen und wie einst ihre Mutter einen Mann zu heiraten, den sie liebte. Schon als Kind hatte sie gewusst, dass ihre Eltern einander liebten und auch ihr kleines Mädchen von ganzem Herzen liebten. Einzig dieses Wissen hatte Louisa oft geholfen, all die eintönigen Tage, die sie auf Greystone Hall festsaß, durchzustehen.

Sie gähnte. Es fiel ihr zusehends schwerer, die Augen offen zu halten. Das Nähen bis spät in die Nacht machte sich bemerkbar, und das sachte Schwanken und Schaukeln des Wagens tat sein Übriges, sodass ihre Lider schließlich nachgaben.

Als sie ein paar Stunden später aufwachte, schmerzte ihr Hals von der unbequemen Haltung, und ihr Magen knurrte gewaltig. Sachte rieb sie sich den Nacken.

„Wir sind fast da, Mylady“, sagte Goodman und wies auf ein einsam stehendes Haus ein Stück die Straße voraus, das dicht bei einer Kirche stand.

Sie nahm ihre kleine Reisetasche vom Boden des Wagens auf und drückte sie an sich. Was, wenn ihr Onkel sich weigerte, ihr zu helfen? Wenn er sie zurück zu Tante Rockingham schickte? Ihre Tante war gewitzt genug, um sie danach ständig überwachen zu lassen, damit sie nicht noch einmal entwischte. Sie mochte es nicht, wenn ihre Pläne durchkreuzt wurden. Dies hier war Louisas einzige Chance auf Freiheit. Sie betete, dass sie keine törichte Entscheidung getroffen hätte.

Goodman hielt den Wagen ein paar Dutzend Schritte vor der Pfarrei am Straßenrand an. „Hier lasse ich Sie besser ’raus.“

Sie hielt sich an seiner Hand fest und kletterte hinaus. Ihre Knie waren ganz wackelig. „Vielen Dank, Goodman. Ich schätze Ihre Hilfe mehr, als ich sagen kann.“

Er griff sich grüßend an den Hut, dann schnalzte er und trieb die Pferde an. Sie schaute ihm nach, wie er das Gespann wendete und die schmale Straße entlang zurückfuhr. Der Ärmste hatte noch eine lange Fahrt vor sich.

Louisa holte tief Luft und zwang ihre zitternden Glieder vorwärts, den Schotterweg entlang. Am Haus angekommen, blieb sie stehen. Die Haustür oder die Hintertür? Ihr Onkel und ihre Tante sollten den allerbesten Eindruck von ihr bekommen. Sie sah an sich hinunter. Ihr neues blaues Kleid war staubig von der Fahrt. Sicher musste sogar der hübsche neue Schal mit Essig gebleicht und gewaschen werden. Wie die respektable Tochter eines Earls sah sie wohl kaum aus. Also wandte sie sich dem Dienstboteneingang zu. Kurz und laut klopfte sie an die Tür.

Eine Frau mittleren Alters, mit Häubchen und Schürze, das weiße Haar in einen strengen Knoten gefasst, öffnete. „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“

Louisa fuhr zusammen, und ihr wurde der Mund trocken. „Ich möchte Pfarrer Laybourne sprechen.“

Die Frau schüttelte den Kopf und räusperte sich. „Er ist nicht hier, Miss.“

Louisas Zuversicht schwand. „Wann wird er zurück sein?“

„Gar nicht. Er wurde zum Domherrn von Sherbourne befördert und lebt nun dort mit seiner Familie. Der neue Pfarrer, das ist Reverend Nance, übernahm mich als Haushälterin. Aber er ist nicht verheiratet, da wäre es für Sie ungehörig, hierzubleiben.“

Louisa sank das Herz. „Wie weit ist Sherbourne von hier entfernt?“

„Dreißig Meilen, würde ich sagen.“

Louisa wurde schwindlig, und vor Erschöpfung kribbelten ihr alle Glieder. Bestürzt presste sie eine Hand gegen ihre angsterfüllte Brust. Das war eine unermessliche Entfernung, aber hatte sie denn eine Wahl?

„In welche Richtung liegt es?“

Die Frau trat aus der Tür, und Louisa folgte ihr matten Schrittes. „Halten Sie sich in der Stadt Richtung Süden.“ Sie wies vage mit einem Finger. „Und dann immer geradeaus. Sie können es nicht verfehlen. Aber kommen Sie doch erst einmal für eine Tasse Tee mit in meine Küche, Miss. Ich kann Sie doch nicht mit leerem Magen gehen lassen.“

Dankbar dachte Louisa später an das Mahl, während sie ging und ging, bis sie glaubte, ihre Füße müssten nur noch aus Blasen bestehen. Sie fürchtete, wenn sie endlich bei ihren Verwandten ankam, würde sie einen sehr schlechten ersten Eindruck machen. Sie war staubig und verschwitzt, und ihr so sorgsam frisiertes Haar war zerzaust.

An ihren Onkel Laybourne erinnerte sie sich nur vage. Auf der Beisetzung ihrer Mutter war er ihr ernst und düster erschienen und hatte kein Wort mit ihr gesprochen. Seine Gemahlin, die von starkem Husten geplagt war, hatte Louisa mit ihren dürren Armen umfangen und ihr versprochen, sie zu einem Besuch einzuladen, damit sie ihre Cousinen kennenlernen könne. Damals wäre Louisa zu gern mit ihr gegangen. Sie hatte nicht wissen können, wie schwerwiegend der Husten der Tante war. Kurz darauf war sie an der Schwindsucht gestorben, und der Onkel hatte wieder geheiratet. Diese neue Frau aber hatte Louisa nie auch nur geschrieben.

Was, wenn das Paar sie ablehnte wie Onkel und Tante Rockingham?

Was, wenn sie auch den beiden nicht gut genug war?

Sie schluckte; ihre Kehle war trocken, und ihr Magen knurrte laut vor Hunger. Sie trocknete sich die Stirn und hob den Blick von der Straße. Ein Gefährt kam ihr entgegen. Ihr stellten sich die Härchen auf den Armen auf, und ihr Herz begann heftig zu hämmern. Sie war alleine. Hatte keine Familie. Keine Freunde.

Könnte der Fahrer ihr gefährlich werden?

4. KAPITEL

Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er würde diese Gouvernante finden und ihr mehr Lohn bieten müssen. Seine Schwestern mussten unaufhörlich beaufsichtigt werden, und er konnte das nicht schaffen, wenn er sich außerdem um die Angelegenheiten des Besitzes kümmerte.

Wick seufzte abgrundtief. Er deutete mit dem Finger auf die drei Mädchen. „Macht nicht noch mehr Unsinn, während ich weg bin.“

„Nein“, versicherte ihm Helen und setzte ihr charmantestes Lächeln auf.

Das weckte seinen Argwohn. Seine eigentlich so süße Schwester war wie die Schlangen, die sie ständig mit sich herumtrug – man wusste nie, wann sie ihr stärkstes Gift einsetzen würde.

„Verlass dich lieber nicht drauf“, meinte Frederica.

Wenigstens war sie immer ehrlich.

„Wohin willst du denn, Wick?“, fragte Becca. „Du bist doch eben erst heimgekommen.“

„Eure verflixte Gouvernante suchen. Was ich euch zu verdanken habe!“, sagte er unwirsch. Dann rief er einem Groom zu, frische Pferde vor die Karriole zu spannen, da seine Grauen von der Herfahrt erschöpft waren.

Er drückte sich den Hut auf den Kopf und kletterte wieder auf den Kutschbock. Zwar war er staubig, müde und schrecklich durstig, doch was sonst konnte er tun?

„Welche Richtung hat sie eingeschlagen, Becca?“

Zögernd deutete seine kleine Schwester zum nördlichen Tor – das lag dem Dorf und dem Pfarrhaus, in dem Miss Youngs Verwandte wohnten, entgegengesetzt. Die dumme Frau hatte die falsche Richtung eingeschlagen.

Inzwischen war frisch angespannt, und Wick trieb die Pferde an. Der Weg wurde selten benutzt, trotzdem standen die schmiedeeisernen Tore immer offen. Nur einmal hatte sein Vater sie schließen lassen, als der Emu von Animal Island entwischt war.

Hätte ich doch die Gouvernante auf die gleiche einfache Weise aufhalten können!

Als er die Insel passierte, auf der sein Vater jene Tiere hielt, die zu sehr an Menschen gewöhnt waren, um noch ausgewildert zu werden, begann sein Puls unregelmäßiger zu schlagen. Sie lag nahe der Gruft, wo die geliebten Familienmitglieder ruhten. Sein Gram hatte sich im Laufe der Zeit nicht verringert. Eher war er schärfer und schmerzhafter geworden.

Jäh überkam ihn ein Gefühl von Schwäche, doch es wurde dunkel, und er musste Miss Young finden und sie sicher zurückbringen.

Er fuhr weitere fünf Meilen. Wo konnte die verdammte Frau sein? Offensichtlich besaß sie keinen Orientierungssinn, sonst hätte sie schon lange begriffen, dass das Dorf nicht so weit entfernt lag. Sie hätte schon längst das Pfarrhaus erreicht haben können.

Er stand kurz davor, aufzugeben, als er eine Frau die Straße entlangtrotten sah, ihm entgegen. Gewiss hatte die dumme Person ihren Irrtum endlich erkannt. Erleichtert raffte er sich zusammen.

Er trieb die Pferde an, um schneller bei ihr zu sein. Sie trug ein blaues Kleid, das von den Knien abwärts dick mit Straßenstaub bedeckt war, und hielt eine kleine Reisetasche so krampfhaft fest, als enthielte die ihre gesamten Besitztümer. Vielleicht hatte sie doch ein paar Sachen eingepackt, ehe sie aufbrach? 

Als er näher kam, schaute sie zu ihm auf. Er hatte eine unscheinbare Gouvernante erwartet, mit praktischer Frisur, streng verkniffenem Mund und zupackenden Händen. Das alles fehlte der jungen Frau vor ihm. Sie war groß und schlank, aber wohlgeformt. Ihr Haar war ein Wust roter Locken, ganz ungebändigt. Ihre helle Haut war mit Hunderten niedlicher Sommersprossen übersät. Wick durchfuhr der unerklärliche Gedanke, dass es entzückend sein müsste, jede einzelne zu küssen.

Die junge Frau lächelte ihn an, doch mit Angst im Blick. Ihr Gesichtsausdruck glich dem seiner kleinen Schwester Becca, wenn sie in Schwierigkeiten steckte.

Wicks Verkrampfung ließ nach. Die arme Frau fürchtete sich sowieso – er musste ihr nicht noch den Kopf abreißen. So gern er es getan hätte.

„Mir scheint, Sie brauchen eine Mitfahrgelegenheit, Miss.“

Um ihn ansehen zu können, legte sie den Kopf in den Nacken. Ihre Augen waren strahlend grün und funkelten wie Smaragde. Direkt über ihrer Oberlippe saß eine Sommersprosse – die würde er zuerst küssen. Wenn er überhaupt je eine küsste. Was er nicht tun würde. Weil es sich nicht gehörte, denn sie war die Gouvernante. Und offen gesagt war er nie in Versuchung geraten, seine Gouvernante zu küssen. Miss Nix hatte nie Zuneigung erweckt oder Bewunderung für ihr Äußeres. Sie war ein alter Drache gewesen und hatte sich vor vier Jahren nach dem Debüt seiner Schwester Mantheria in den Ruhestand begeben.

„Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten, Sir“, antwortete die Dame in weichem Ton und in gepflegter Sprache. Kein Wunder, dass seine Schwestern sie untergebuttert hatten. Verglichen mit dieser sanften Person waren sie wilde Tiere.

Er streckte ihr seine behandschuhte Hand entgegen. „Sie können sich neben mich setzen.“

Die junge Frau senkte den Blick auf ihre Füße. Ihre Schultern waren angespannt. Vielleicht vor Verlegenheit.

„Seien Sie nicht zimperlich“, sagte er und spürte erneut Ärger in sich aufsteigen, was sich auch in seinem Tonfall spiegelte. „Es dämmert schon, und Sie wollen doch nicht allein auf der Straße bleiben.“

„Wohin wollen Sie mich bringen?“

„Natürlich nach Hampford Castle.“

„Aber da will ich nicht hin.“

Wick schnaubte und biss die Zähne zusammen. „Es ist zu spät am Tag, um anderswo hinzukommen. Und ich verspreche, dass meine Schwestern sich tadellos aufführen werden. Morgen können wir dann besprechen, wohin Sie sich wenden wollen. Ich werde Sie mit einer verflixten Kutsche hinbringen lassen, wohin Sie wollen.“

Falls er sie nicht überreden konnte zu bleiben. Wenigstens, bis er einen passenden Ersatz gefunden hatte. Es war klar, dass diese Miss zu jung, zu hübsch und zu süß war, um überhaupt Gouvernante zu sein. Ganz gewiss nicht für solche Teufelsbraten wie seine Schwestern.

Abermals streckte er ihr eine Hand entgegen, und dieses Mal fasste sie zu, und er zog sie neben sich auf den Bock. Sie saßen zu dicht beieinander, ihre Körper berührten sich fast. Ihre wilden Locken streiften sein Gesicht, und sie roch nach Vanille. Sein Lieblingsduft. Noch einmal sog er den Duft ein und beschloss, sich möglichst unpersönlich zu geben. Er rutschte ein wenig zur Seite und trieb die Pferde zu flottem Trab an. Gewaltsam verdrängte er die Gedanken an ihre entzückende Figur und an ihre zu große Nähe.

Die junge Frau sagte kein Wort. Was gut war, weil Wick keine Ahnung hatte, wie man mit einer Gouvernante sprach. Vor allem nicht mit einer widerspenstigen, die ihn noch dazu gegen seinen Willen anzog.

Als sie endlich vor dem Schloss ankamen, war der Hof schon von Laternen und Fackeln erleuchtet. Er lenkte den Wagen zu einem wartenden Groom, der Pferde und Karriole in Empfang nahm.

„Es wäre an der Zeit abzusteigen, Miss“, sagte er, während er selbst zu Boden sprang. Ohne auf Antwort zu warten, hob er sie vom Sitz, wobei ihr weicher Körper an dem seinen rieb und ihn neues Begehren erfasste. Als hätte er sich verbrannt, löste er seine Hände von ihrer Taille. Der Erbe eines Herzogtums umwarb keine Gouvernante, und er hatte ohnehin nicht die Absicht, überhaupt einer Frau den Hof zu machen. Einerlei, welchen Ranges. Er war absolut zufrieden mit seinem Junggesellendasein und trug schon genug Verantwortung.

Bereits dem Haus zustrebend schaute er sich noch einmal um.

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