Ein Earl für Miss Tallie

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Miss Thalia Robinson, genannt Tallie, weiß, dass auf sie – trotz ihrer Jugend – im Leben nicht mehr viel wartet. Als Waise darf sie glücklich sein, dass sie eine Beschäftigung darin gefunden hat, die drei niedlichen Kinder ihrer Cousine zu erziehen. So verbringt sie ihre Zeit mit stillen Tagträumen von der Liebe, bis ihre Cousine sie erneut zurate zieht: Magnus, der Earl of d’Arenville, ist auf Brautschau! Doch der anspruchsvolle Earl hat bisher jede Braut verschmäht. Vielleicht findet Tallie ja die junge Dame, die sein eisiges Herz zum Schmelzen bringt? Wenn sie sich nur nicht selbst danach verzehren würde, die zärtliche Aufmerksamkeit des Earls zu erringen …


  • Erscheinungstag 14.12.2024
  • Bandnummer 410
  • ISBN / Artikelnummer 0871240410
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Anne Gracie

Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Das Faszinierendste am Schreiben ist für Anne die Entstehung der Charaktere und die Entwicklung ihrer Leben. Oft wacht sie mitten in der Nacht auf und hat eine bestimmte Szene im Kopf, die dann häufig der Beginn des nächsten Romans ist. Anne selbst lebt in Melbourne in einem kleinen Holzhaus und widmet sich in ihrer Freizeit der Imkerei.

PROLOG

Yorkshire, Februar 1803

„Mylord, ich … ich bin mir sicher, dass Mr. Freddie …“ „Freddie?“, fuhr Magnus, Lord d’Arenville, dem Dienstmädchen ungnädig ins Wort. Das Mädchen errötete und strich sich mit den Händen fahrig über die gestärkte weiße Schürze.

„Äh … Hochwürden Winstanley, meine ich, Sir. Er wird Sie nicht mehr lange warten lassen, Sir, es ist nur so, dass …“

„Eine Erklärung ist nicht nötig“, beschied Magnus ihr kühl. „Ich bin gewiss, dass Hochwürden Winstanley erscheinen wird, sobald es ihm möglich ist. Ich werde warten.“ Er richtete den stählernen Blick seiner grauen Augen auf ein Aquarellgemälde, das in der Nähe hing, und signalisierte ihr damit unmissverständlich, dass sie entlassen sei. Das Dienstmädchen ging hastig rückwärts aus dem Salon, drehte sich um und rannte fast den Korridor entlang.

Magnus schaute sich im Zimmer um und bemerkte dessen wenig elegante Proportionen ebenso wie das verschlissene, schäbige Mobiliar. Durch ein einsames winziges Fenster sickerte spärliches Licht herein. Er schlenderte hinüber, sah hinaus und legte die Stirn in Falten. Das Fenster ging auf den Friedhof hinaus und gewährte den Bewohnern des Hauses einen deprimierenden Ausblick auf die Sterblichkeit.

Gott, wie unfassbar trostlos, dachte Magnus und setzte sich auf ein fadenscheiniges Sofa. Ob alle Pfarrer so lebten? Das nahm er nicht an, aber sicher war er sich nicht, denn sein Lebenswandel brachte ihn nicht gerade auf Tuchfühlung mit dem Klerus. Ganz im Gegenteil. Und hätte sein ältester Freund Freddie Winstanley sich nicht den Kragen eines Geistlichen umgelegt, würde Magnus nach wie vor in seliger Unwissenheit schwelgen.

Er seufzte. Angeödet, weltmüde und von einer unerklärlichen Unruhe erfasst, hatte er sich spontan entschieden, den langen Weg bis hinauf nach Yorkshire zu fahren, um Freddie zu besuchen, den er seit Jahren nicht gesehen hatte. Und nun, da er hier war, fragte er sich, ob es richtig gewesen war, unangekündigt in dem beengten, heruntergekommenen Pfarrhaus aufzutauchen.

Ein leises Kichern riss ihn aus seinen Betrachtungen. Stirnrunzelnd schaute er sich um. Niemand zu sehen. Wieder ertönte das Kichern. Magnus’ Miene verfinsterte sich. Er wurde nicht gern verspottet.

„Wer ist da?“

„Hallo, Mann.“ Die Stimme kam, leicht gedämpft, von einer kaum sichtbaren Ausbuchtung in den Vorhängen. Während er diese betrachtete, teilten sich die Vorhänge, und ein schelmisches kleines Gesicht spähte hervor.

Magnus blinzelte. Es war ein Kind, ein sehr kleines Kind – ein Mädchen, befand er nach einem Augenblick. Zwar war er noch nie einem Kind dieser Größe begegnet und verstand auch nichts von Kindermode, aber es schien ihm eher weiblichen Geschlechts zu sein. Es hatte dunkles lockiges Haar und große braune Rehaugen. Und es musterte ihn auf dieselbe vereinnahmende Weise, auf die so viele weibliche Wesen ihn ansahen.

Flüchtig schaute er zur Tür in der Hoffnung, irgendwer würde das Kind holen und dorthin zurückbringen, wohin es gehörte.

„Hallo, Mann“, wiederholte der kleine Fratz.

Magnus hob eine Augenbraue. Offenbar wurde von ihm eine Antwort erwartet. Wie zum Teufel redete man mit Kindern?

„Guten Tag“, sagte er nach einem Moment.

Daraufhin lächelte die Kleine und stürzte auf unsicheren Beinchen auf ihn zu. Entsetzt erstarrte Magnus. Entgegen seiner Erwartungen gelang es ihr, das Zimmer zu durchqueren und sein Knie zu erreichen, ohne zu Schaden zu kommen. Strahlend sah sie zu ihm auf und grub ihre feuchten, pummeligen Fäuste in seine makellose Hirschlederhose. Magnus zuckte zusammen. Sein Kammerdiener würde einen Anfall erleiden. Die Hände des Kindes waren zweifellos schmutzig. Und klebrig. Magnus mochte nicht das Geringste über Kinder wissen, aber davon war er aus unerfindlichen Gründen überzeugt.

„Hoch, Mann.“ Der Fratz reckte seine Ärmchen in der eindeutigen Absicht, hochgehoben zu werden.

Stirnrunzelnd starrte Magnus auf die Kleine hinab, darauf vertrauend, dass seine bis dato unangefochtene Fertigkeit, sich unerwünschte weibliche Geschöpfe vom Hals zu schaffen, auch in Bezug auf dieses zwergenhafte Exemplar nicht versagen würde.

Der Fratz starrte stirnrunzelnd zurück.

Magnus starrte finsterer.

Der Fratz starrte finster zurück. „Hoch, Mann“, wiederholte die Kleine und hämmerte mit ihrer winzigen Faust auf sein Knie ein.

Magnus warf einen gehetzten Blick zur offenen Tür, die nach wie vor erschreckend leer war.

Mit seiner kleinen klebrigen Faust zupfte das Mädchen ihn am Arm. „Hoch!“, befahl es erneut.

„Nein danke“, erwiderte er höflich, aber möglichst frostig. Herrgott, wollte denn niemand kommen und ihn retten?

Die großen Augen wurden umso größer, und ein trauriger Zug legte sich um den kleinen Rosenknospenmund. Die Unterlippe bebte. All dies in Magnus’ zynischen Augen unmissverständliche Zeichen dafür, dass ein weibliches Wesen kurz davorstand, in lautstarkes, erpresserisches Wehgeschrei auszubrechen. Offenbar begannen sie früh damit. Kein Wunder, dass sie es so formvollendet beherrschten, sobald sie erwachsen waren.

Das kleine Gesicht verzog sich.

O Gott, dachte Magnus verzweifelt. Ihm blieb nichts anderes übrig – er würde die Kleine hochheben müssen. Mit spitzen Fingern fasste er sie bei der Taille und hob sie behutsam hoch, bis sie auf gleicher Augenhöhe mit ihm war. Ihre winzigen Füße baumelten herab, während sie ihn ernst musterte.

Sie streckte die rundlichen, mit Grübchen übersäten Arme aus. „D’ücken!“

Wieder war ihre Forderung unmissverständlich. Vorsichtig barg er sie an sich, doch sie schlang ihm jäh die Arme um den Hals und klammerte sich überraschend fest an ihn. Binnen Sekunden hatte sie es sich auf seinem Schoß bequem gemacht und sich an einen seiner Arme geschmiegt, wobei sie ihm eifrig das Krawattentuch ruinierte. Es derart kunstvoll zu falten hat mich ja auch nur eine geschlagene halbe Stunde gekostet, dachte er bissig.

Sie plapperte in einem fort vertraulich auf ihn ein, mit einer Mischung aus Englisch und einem unverständlichen Kauderwelsch. Dann und wann unterbrach sie sich, um ihm, so klang es jedenfalls, eine Frage zu stellen, die Magnus mechanisch beantwortete. Allmächtiger, wenn irgendwer ihn so sähe, wäre sein Ruf unrettbar dahin. Aber er hatte keine Wahl – er wollte nicht noch einmal sehen, wie sich dieses kleine Gesicht verzog.

Einmal hielt sie mitten in einer Geschichte inne, die offenbar besonders verzwickt war, schaute zu ihm auf und betrachtete sein Gesicht mit einem höchst sonderbaren Blick. Leises Unbehagen befiel Magnus. Er fragte sich, was sie vorhaben mochte. Prompt streckte sie die Hand aus und zeichnete die lange, vertikale Vertiefung in seiner rechten Wange mit einem ihrer kleinen, weichen Finger nach.

„Was is’ das?“

Er wusste nicht, was er antworten sollte. Eine Falte? Eine Furche? Ein langes Grübchen? Niemand hatte je die Dreistigkeit besessen, ihn darauf anzusprechen. „Ähm … das ist meine Wange.“

Abermals fuhr sie nachdenklich über die Vertiefung, ehe sie sein Kinn in die Hand nahm, seinen Kopf drehte und mit dem Finger über die Furche auf der anderen Wange glitt. Danach strich sie sanft und feierlich über beide Furchen gleichzeitig. Einen Moment lang sah sie ihn eingehend an, bevor sie lächelnd den Faden ihrer Geschichte wieder aufnahm. Dann und wann hob sie die Hand, um ihm mit einem winzigen Finger über die Linie auf seiner Wange zu fahren.

Allmählich verstummte ihr stetes Geplapper, und immer wieder sackte ihr der kleine Lockenkopf nach vorn. Plötzlich gähnte sie und kuschelte sich tiefer in seine Armbeuge. „Heia machen“, murmelte sie, und schon spürte er, wie der kleine Körper zutiefst entspannt gegen ihn sank.

Sie schlief. Tief und fest – hier in seinen Armen.

Kurz versteifte Magnus sich und überlegte, was er tun solle, ehe er langsam wieder zu atmen begann. Er war sich seiner Stärke bewusst – sowohl seiner körperlichen als auch seiner weltlichen –, doch nie zuvor in seinem Leben war ihm das warme Gewicht eines schlafenden Kindes anvertraut worden. Es war eine Verantwortung, bei der ihm angst und bange wurde.

Etwa zwanzig Minuten lang saß er reglos da, bis sich im Korridor etwas rührte. Eine hübsche junge Frau lugte herein, einen gehetzten Ausdruck auf dem Gesicht. Freddies Gattin. Joan. Jane. Oder war es Jenny? Magnus war sich ziemlich sicher, sie von der Hochzeit her wiederzuerkennen. Sie setzte an, etwas zu sagen, ehe sie die kleine schlafende Gestalt in seinen Armen entdeckte.

„Oh, dem Himmel sei Dank!“, rief sie aus. „Wir haben sie schon überall gesucht.“

Sie drehte sich um und rief jemandem im Korridor zu: „Martha, lauf und richte Mr. Freddie aus, dass wir sie gefunden haben.“

Sie wandte sich wieder Magnus zu. „Es tut mir sehr leid, Lord d’Arenville. Wir dachten, sie wäre in den Garten entwischt, und haben alle draußen nach ihr gesucht. War sie arg lästig?“

Magnus gedachte seines ruinierten Krawattentuchs und seiner nicht länger makellosen Hirschlederhose. Er hatte einen Krampf im Arm, weil er sich nicht rühren konnte, und ihn beschlich der unschöne Verdacht, dass er einen feuchten Fleck auf dem Gehrock hatte, weil der Dreikäsehoch ihm im Schlaf auf den Ärmel gesabbert hatte.

„Ganz und gar nicht“, erwiderte er bedächtig. „Es war mir ein Vergnügen.“

Und zu seiner großen Überraschung stellte Magnus fest, dass es ihm ernst damit war.

1. KAPITEL

London, Februar 1803

„Ich will, dass du mir hilfst, eine Ehefrau zu finden, Tish.“

„Oh, gewiss. Hinter wessen Frau bist du her?“, entgegnete Laetitia schnippisch, um ihr Erstaunen zu überspielen. Es passte nicht zu ihrem selbstgenügsamen Cousin Magnus, irgendwen um Hilfe zu bitten.

Mit seinen kühlen grauen Augen sah er sie durchdringend an. „Ich meinte eine Braut. Meine Liebschaften suche ich mir selber aus, vielen Dank“, konterte Magnus steif.

„Eine Braut? Du? Ich fasse es nicht, Magnus! Mit ehrbaren Frauen hast du seit Jahren kaum auch nur geredet …“

„Und deshalb brauche ich jetzt deine Hilfe. Ich wünsche, dass die Hochzeit so bald wie möglich stattfindet.“

„So bald wie möglich? Himmel! Die kupplerischen Mütter werden völlig aus dem Häuschen geraten!“ Laetitia lehnte sich in ihrem Sessel zurück und musterte ihren Cousin mit leicht hämischer Erheiterung, die eleganten nachgezogenen Brauen in geheuchelter Verblüffung gehoben. „Der unbezwingbare Lord d’Arenville stürzt sich ins Gerangel, um eine Braut zu ergattern?“ Plötzlich wurden ihre hart dreinblickenden blauen Augen schmal. „Darf ich fragen, was dich dazu bewogen hat? Ich meine, dass du eine Braut suchst, ist an sich nichts Außergewöhnliches – du wirst sehr bald eine Familie gründen müssen –, aber diese ungebührliche Hast legt nahe … Es besteht doch keine … äh … finanzielle Notwendigkeit für diese Ehe, oder, Magnus?“

Magnus funkelte sie einschüchternd an. „Sei nicht albern, Tish. Nein, es ist so, wie du vermutest – ich habe mich entschlossen, eine Familie zu gründen. Ich möchte Kinder haben.“

„Du meinst Erben, Magnus. Söhne sind es, die du brauchst. Du willst ja keinen Stall voller Mädchen, oder?“

Magnus antwortete nicht. Ein Stall voller Mädchen klang gar nicht so übel, fand er. Kleine Mädchen mit großen klaren Augen. Mädchen, die ihm das Krawattentuch ruinierten, derweil sie ihm lange, verworrene Geschichten erzählten. Aber Söhne wären ebenfalls gut, dachte er, als er sich Freddies Sohn Sam mit den strammen Beinchen ins Gedächtnis rief.

Im Grunde beschäftigte ihn nichts weniger als die Notwendigkeit, einen Erben zu zeugen, obwohl er der Letzte seines überaus vornehmen Namens war. Bis zu seiner Reise nach Yorkshire war es ihm herzlich gleich gewesen, ob Name und Titel mit ihm starben. Schließlich hatten sie ihm in seiner Kindheit und Jugend nur Unglück beschert.

Allerdings würde es weit einfacher sein, der Gesellschaft weiszumachen, d’Arenville sei an einem Erben gelegen, als alle wissen zu lassen, dass ein kleiner, klebriger Fratz eine unerwartete Schwachstelle in seinem Panzer aufgedeckt hatte. Denn das war lachhaft, wie er sich tausendmal vor Augen geführt hatte. Er brauchte nichts. Und niemanden. Das hatte er nie getan und würde es nie tun. Diese Lektion hatte er in sehr jungen Jahren gelernt.

Doch die Schwachstelle blieb. Ebenso wie die Erinnerung an ein schlafendes, vertrauensvolles Kind in seinen Armen. Und an den winzigen weichen Finger, mit dem dieses Kind ihm neugierig über die Furche in seiner Wange gefahren war.

Zu schade, dass er Laetitia um Hilfe bitten musste. Er hatte sie nie gemocht und sah sie nur, wenn Pflicht oder Zufall sie zusammenführten. Aber irgendwer musste ihn einem geeigneten Mädchen vorstellen, verdammt! Sofern er Kinder wollte, musste er das ganze leidige Brimborium ertragen, das mit der Beschaffung einer Gattin einherging. Laetitia würde die Sache beschleunigen können, und zwar ohne allzu viel Gewese.

Er kehrte zum eigentlichen Thema zurück. „Wirst du mir helfen, Tish?“

„Was genau schwebt dir vor? Almack’s? Bälle, Abendgesellschaften und Anstandsbesuche?“ Sie lachte. „Ich muss gestehen, ich kann mir nicht vorstellen, wie du vor den Augen all der vernarrten Mütter den charmanten Beau mimst, aber es ist einen Versuch wert, und sei es nur zu Unterhaltungszwecken.“

Das Bild, das sie heraufbeschworen hatte, ließ ihn innerlich zusammenfahren, doch seine Miene blieb unbewegt und eine Spur abweisend. „Nein, nicht ganz. Ich dachte eher an eine Hausgesellschaft.“

„Eine Hausgesellschaft?“ Sie erschauderte kaum merklich. „Ich hasse die Provinz zu dieser Jahreszeit.“

Magnus zuckte mit den Achseln. „Sie muss ja nicht allzu lange dauern. Etwa eine Woche sollte genügen.“

„Eine Woche!“ Laetitia kreischte fast. „Eine Woche, um eine Braut zu umwerben! Grundgütiger, der ton wird sich bis in alle Ewigkeit das Maul darüber zerreißen.“

Magnus biss die Zähne zusammen. Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben, wäre er auf der Stelle gegangen. Aber seine Cousine war eine junge und nach außen hin ehrbare Matrone mit gesellschaftlichem Einfluss – genau das, was er brauchte. Niemand sonst konnte ihn so problemlos mit tauglichen jungen Damen bekannt machen. Und das, ohne den lästigen Umweg über den grässlichen Heiratsmarkt zu nehmen – wo er sein Werben unter dem wachsamen Blick Hunderter Augen betreiben müsste. Wieder fuhr er innerlich zusammen. Laetitia mochte ein oberflächlicher Hohlkopf mit einer Vorliebe für gehässigen Klatsch sein, und es widerstrebte ihm, sie in irgendeiner Angelegenheit um Hilfe zu bitten, doch sie war seine einzige Option.

„Wirst du es tun?“, fragte er abermals.

Berechnung stahl sich in Laetitias dezent geschminkte Züge. Magnus kannte diesen Ausdruck; für gewöhnlich begegnete er ihm bei weniger respektablen Frauen, wenngleich er ihn zuallererst bei seiner Mutter kennengelernt hatte. Er entspannte sich. Mit diesem Aspekt des weiblichen Geschlechts wusste er umzugehen.

„Es dürfte nicht leicht für mich werden, mich zu absentieren – die Saison mag noch nicht begonnen haben, aber wir haben zahlreiche Verpflichtungen …“ Sie warf einen bedeutungsvollen Blick zum Spiegel über dem Kaminsims, in dessen vergoldetem Rahmen ein halbes Dutzend Prägedruck-Einladungen steckte.

„Und so kurzfristig eine Hausgesellschaft auf Manningham zu organisieren …“ Sie seufzte. „Nun, es wäre eine Menge Arbeit, und ich müsste zusätzliches Personal einstellen, weißt du … und George wäre nicht unbedingt angetan, denn es würde sehr kostspiel…“

„Ich werde selbstverständlich für sämtliche Kosten aufkommen“, unterbrach Magnus sie. „Und es würde sich für dich lohnen, Laetitia. Würden Diamanten es dir erleichtern, eine oder zwei Wochen lang auf deine Bälle und Abendgesellschaften zu verzichten?“

Laetitia schürzte die Lippen, verärgert ob seiner Unverblümtheit, jedoch nicht in der Lage, dem Köder zu widerstehen. „Was …?“

„Halskette, Ohrringe und Armreif.“ Der Blick seiner kalten grauen Augen begegnete dem ihren mit zynischem Gleichmut. Seine kühle Selbstsicherheit brachte Laetitia auf.

„Oh, Magnus, wie vulgär du bist. Als würde ich dafür bezahlt werden wollen, dass ich meinem allerliebsten Cous…“

„Dann möchtest du keine Diamanten?“

„Nein, nein, nein, das habe ich nicht gesagt. Natürlich, wenn es dir ein Anliegen ist, mich mit einem kleinen Gunstbeweis zu entschädigen …“

„Gut, abgemacht. Du lädst ein halbes Dutzend Mädchen ein …“

„… und deren Mütter.“

Kaum merklich verzog er das Gesicht, wodurch seine kühle Unnahbarkeit Risse bekam. „Das lässt sich wohl nicht vermeiden. Wie dem auch sei, du lädst sie ein, und ich wähle eine aus.“

Laetitia erschauerte leicht. „Wie kaltblütig, Magnus. Kein Wunder, dass man dich den Eiszapf…“

Sein frostiger Blick ließ sie mitten im Satz verstummen. Magnus stand auf, um zu gehen.

„Du willst doch nicht etwa schon aufbrechen?“, protestierte Laetitia.

Er musterte sie mit einem Anflug von Verwirrung. „Wieso nicht? Es ist alles geklärt, oder nicht?“

„Aber welche Mädchen soll ich einladen?“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Er sah sie ratlos an und zuckte mit den Schultern. „Verdammt, Tish, ich habe keine Ahnung. Das ist deine Aufgabe.“ Er schritt zur Tür.

„Nicht zu fassen! Du willst, dass ich dir eine Braut aussuche?“, rief sie schrill.

Gereiztheit flackerte in seinen Augen auf. „Nein, ich werde sie mir selbst unter den Mädchen aussuchen, die du auswählst. Herrgott, Tish, hast du es immer noch nicht begriffen? Worüber reden wir denn seit einer Viertelstunde?“

Laetitia starrte ihn benommen an. Er verwandte nicht mehr Sorgfalt auf die Auswahl einer Braut als auf den Kauf eines Pferdes. Weniger gar. Magnus war äußerst wählerisch, was seine Pferde anging.

„Gibt es … Ich meine, hast du spezielle Anforderungen?“, fragte sie schließlich.

Magnus setzte sich wieder. Seine Überlegungen waren nicht über Kinder hinausgegangen, doch es war wohl eine berechtigte Frage. Er dachte kurz nach. „Sie muss gesund sein, versteht sich … und natürlich von hervorragender Abstammung. Hm … gute Zähne, hinlänglich intelligent, aber sanftmütig … und das Becken sollte nicht zu schmal sein – gebärfreudig, du weißt schon. Ich glaube, das war es.“

Laetitia biss die Zähne zusammen. „Wir sprechen schon über eine Dame, richtig? Oder bist du bloß auf eine Zuchtstute aus?“

Magnus überging ihren Sarkasmus. Abermals zuckte er mit den Schultern. „Mehr oder weniger, schätze ich. Das Muttertier interessiert mich eher wenig, mir geht es vor allem um den Nachwuchs.“

„Kümmert es dich nicht einmal, wie sie aussieht?“

„Nicht besonders. Allerdings würde ich jemanden bevorzugen, der zumindest halbwegs attraktiv ist, denke ich. Aber nicht schön. Eine schöne Ehefrau beschwört zu viel Ärger herauf.“ Um seine Lippen zuckte es spöttisch. „Ich habe genügend schöne Ehefrauen kennengelernt, um zu wissen, was für eine Versuchung sie darstellen – für andere.“

Die subtile Anspielung entging Laetitia nicht, und zu ihrem Verdruss spürte sie sich unter seinem mokanten Blick leicht erröten. Zu gern hätte sie ihm seine Bitte in die ebenmäßigen weißen Zähne gerammt, aber einer geschenkten Diamantkette mitsamt Ohrringen und Armreif schaute man nun einmal nicht ins Maul.

Im Gegensatz zu Lord d’Arenvilles Braut.

„Ich werde mein Bestes geben“, versprach sie säuerlich.

Der schwarze Ritter neigte sich herab, packte sie bei der Taille und zog sie hinauf auf sein edles Streitross, außer Reichweite der geifernden Wölfe, die nach ihren Fersen schnappten.

„Hinfort mit euch, ihr elenden Köter!“, rief er mit erregend tiefer, maskuliner Stimme. „Dieser Leckerbissen ist nicht für euch bestimmt!“ Er schloss sie fester in die Arme, beschützend, zärtlich, besitzergreifend. „Halte dich fest, meine Hübsche, bei mir bist du sicher“, raunte er ihr ins Ohr, wobei ihr sein warmer Atem durch die Löckchen in ihrem Nacken strich. „Und nun, da ich dich in den Armen halte, Tallie, meine kleine Liebste, werde ich dich nie wieder loslassen.“ Er presste sie sich fest an die breite, kräftige Brust, neigte den Kopf vor, um sie zu küssen …

„Miss? Miss Tallie? Alles in Ordnung?“

Tallie schreckte aus ihrem Tagtraum hoch. Die Knöpfe, die sie gerade sortierte, sprangen über den Tisch, und fahrig versuchte Tallie sie zu haschen. Brooks, der alte Butler ihrer Cousine, und Mrs. Wilmot, die Haushälterin, beugten sich besorgt vor.

„Oh, ja, ja, alles bestens“, beeilte Tallie sich zu beteuern und spürte sich rot werden. „Ich habe nur töricht vor mich hin geträumt – und war in Gedanken meilenweit fort. Was gibt es denn?“

Brooks kredenzte ihr einen Brief auf einem Silbertablett. „Ein Brief, Miss Tallie. Von der Herrin.“

Tallie lächelte. Brooks benahm sich nach wie vor so, als führte er das Regiment über ein hochherrschaftliches Londoner Haus, obwohl er auf den Landsitz verbannt worden war, der Tallies Cousine Laetitia gehörte. Tallie nahm den Brief vom Tablett und dankte Brooks. Der gute Brooks – als wäre sie die Hausherrin und würde Korrespondenz im Salon empfangen. Dabei war sie nur eine arme Verwandte, die sich in albernen Fantasien erging, während sie ein Glas voll alter Knöpfe sortierte. Sie zerriss die Siegeloblate und begann zu lesen.

„Oh, nein!“ Tallie schloss die Augen, von jäher Bitterkeit übermannt. Sie hatte geglaubt, dass sie und die Kinder wenigstens einige Monate lang ihren Frieden haben würden, nun da Weihnachten vorüber war und Laetitia und George wieder in der Stadt weilten.

„Was ist, Miss Tallie? Schlechte Neuigkeiten?“

„Nein, nein – oder zumindest keine tragischen“, versicherte Tallie der betagten Haushälterin rasch. Sie schaute flüchtig zu Brooks hinüber und setzte zu einer Erklärung an.

„Cousine Laetitia schreibt, dass sie eine Hausgesellschaft hier geben werde. Wir sollen alles vorbereiten, um sechs oder sieben junge Damen und deren Mütter unterbringen und verköstigen zu können, möglicherweise auch einige Väter. Außerdem werden eventuell fünf oder sechs weitere Gentlemen eingeladen; das hat sie noch nicht entschieden. Und nach zwei Wochen soll es zum Abschluss einen Ball geben.“ Tallie sah Brooks und Mrs. Wilmot an, schüttelte fassungslos den Kopf und nahm einen tiefen Schluck von dem inzwischen kalten Tee, der neben ihr stand.

Mrs. Wilmot hatte mitgezählt. „Kost und Logis für bis zu fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Aristokraten und fast doppelt so viele Bedienstete, sofern jeder Herr und jede Dame jeweils nur einen Kammerdiener beziehungsweise eine Zofe mitbringt. Herrje, Miss Tallie, ich weiß wirklich nicht, wie wir das bewältigen sollen. Wann soll diese Hausgesellschaft denn stattfinden, hat sie das mitgeteilt?“

Tallie nickte, und ihr Blick ließ Böses ahnen. „Die ersten Gäste werden nächsten Dienstag eintreffen. Cousine Laetitia wird einen Tag vorher anreisen, um sicherzustellen, dass alles bereit ist.“

„Nächsten Dienstag? Nächsten Dienstag! Allmächtiger, Miss, was sollen wir nur tun? Vorkehrungen für sechzig oder mehr Gäste, die schon ab Dienstag eintrudeln! Das schaffen wir nie! Niemals.“

Tallie atmete tief durch. „Doch, das werden wir, Mrs. Wilmot. Uns bleibt gar nichts anderes übrig – das wissen Sie. Allerdings hat meine Cousine ausnahmsweise einmal die Mehrarbeit für Sie beide und all die anderen Dienstboten bedacht.“

„Und für Sie, Miss Tallie“, ergänzte Brooks.

Sie lächelte. Sie wusste, er meinte es gut, aber der Gedanke, dass selbst die Dienstboten ihrer Cousine sie als eine der ihren betrachteten, auch wenn man sie Miss Tallie nannte, war keineswegs tröstlich. Sie sprach weiter.

„Ich bin bevollmächtigt, so viel zusätzliches Personal einzustellen, wie wir benötigen. Wir sollen keine Kosten scheuen, wobei ich aber über alle Ausgaben genauestens Buch führen soll.“

„Keine Kosten scheu…“ Bei einer weniger würdevollen Gestalt hätte sich Brooks’ Gesicht mit einem glotzenden Fisch vergleichen lassen.

Tallie bemühte sich, eine ernste Miene zu wahren. Dass Cousine Laetitia so viel Rücksichtnahme an den Tag legte und ihrer Dienerschaft weiteres Personal zugestand, war an sich schon verwunderlich. Dass sie indes keine Kosten scheute, hätte jeden erstaunt, der sie kannte.

„Genau, denn sie sagt, dass die Hausgesellschaft für ihren Cousin Lord d’Arenville sei und er alles bezahlen werde. Deshalb soll ich Buch führen.“

„Aha.“ Brooks klappte den Mund zu und blickte vielsagend drein.

„Lord d’Arenville? Herrje, was sucht der auf einer Hausgesellschaft mit lauter jungen Damen … oh, ich verstehe.“ Mrs. Wilmot hatte offenbar begriffen und nickte. „Brautwerbung.“

„Wie bitte?“, fragte Tallie verwirrt.

„Er wandelt auf Freiersfüßen. Lord d’Arenville. Eine dieser jungen Damen muss seine Auserkorene sein, und er möchte Zeit mit ihr verbringen, bevor er ihr seinen Antrag unterbreitet. Vermutlich wird er das im Rahmen des Balls tun.“

„Soso, das ist es also. Endlich wieder ein turtelndes Pärchen in diesem alten Gemäuer.“ Brooks verzog das faltige Gesicht zu einem sentimentalen Lächeln.

„Du meine Güte, Brooks, Sie sind ein Romantiker, wie er im Buche steht“, sagte Mrs. Wilmot. „Ich kann mir diesen Lord d’Arenville ebenso wenig als junge Turteltaube vorstellen, wie ich mich auf einem meiner Biskuitkuchen durch die Lüfte fliegen sehe!“

Tallie unterdrückte ein Kichern angesichts dieses Bildes. „Und wieso das, Mrs. Wilmot?“, fragte sie.

„Wieso?“ Mrs. Wilmot wandte sich ihr überrascht zu. „Oh, richtig, Sie sind ihm nie begegnet, nicht wahr, meine Liebe? Ich vergesse ständig, dass Sie zu der anderen Seite von Madams Familie gehören. Nun, viel verpasst haben Sie nicht – ein durch und durch kalter Fisch, dieser Lord d’Arenville. Man nennt ihn auch den Eiszapfen, wissen Sie. Wenn Sie mich fragen, hat er nicht einen Tropfen warmes Blut im Leib.“

„Aber ich dachte, sämtliche Frauen hielten ihn für attraktiv“, warf Brooks ein. „Sie alle haben so sehr von ihm geschwärmt …“

„Ein hübsches Gesicht ist nicht alles, sage ich immer“, entgegnete die Haushälterin grimmig. „Er mag zwar schön sein wie die Statue eines dieser griechischen Götter, aber er ist auch genauso herzlich und lebendig!“ Sie schüttelte den Kopf, die Lippen abfällig geschürzt.

Tallies Neugier war geweckt, doch sie wusste, dass sie kein Gerede über die Gäste ihrer Cousine befeuern sollte. Und sie hatten mehr als genug zu tun, auch ohne ihre Zeit damit zu vergeuden, sich an Spekulationen zu ergötzen. Oder über Götzen zu spekulieren, dachte sie, den griechischen Gott vor Augen, und lachte in sich hinein.

„Also gut“, verkündete sie, „welch ein Glück, dass wir mit Lord d’Arenville nur insofern etwas zu schaffen haben, als wir sein Geld ausgeben und ihm hinterher die Rechnung präsentieren dürfen. Und wenn wir uns über die Kosten keine Gedanken machen müssen, können wir das Personal im Dorf einquartieren. Ich denke, wir sollten damit anfangen, dass wir eine Liste der zu erledigenden Dinge erstellen.“ Sie schaute auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. „In einer halben Stunde werde ich wieder in der Kinderstube erwartet, also sollten wir uns sputen.“

Später am Abend verließ Tallie langsam die Kinderstube, in der ihre drei Schützlinge müde gähnend in ihren Betten lagen. Sie spürte deren liebevolle Gutenachtküsse noch feucht auf ihrer Wange und nahm sich vor, sich besser zu beherrschen. So konnte es nicht weitergehen.

Das Maß an Widerwillen, von dem sie heute Morgen befallen worden war, hatte sie erschreckt. Und es war nicht etwa Laetitias Gedankenlosigkeit geschuldet, sondern der schlichten Tatsache, dass sie nach Hause kommen würde.

Es war grundfalsch, so zu empfinden; das war ihr bewusst. Sie sollte Laetitia für so vieles dankbar sein – dafür, dass sie ihr ein Heim gegeben hatte und sie auf ihre Kinder aufpassen ließ … Immerhin handelte es sich um Laetitias Heim und Laetitias Kinder. Laetitia hatte jedes Recht darauf herzukommen, wann immer es ihr beliebte.

Das Problem lag bei Tallie. So wie stets. Schuld waren ihre törichten Fantastereien und albernen, kindischen Hirngespinste. Sie gerieten außer Kontrolle. Tag für Tag so zu tun, als wären diese drei entzückenden Kinder die ihren. Als wäre deren Vater eine schneidige und romantische, wenn auch leicht nebulöse Gestalt, die in ein ruhmreiches Abenteuer gezogen war. Um Piraten zu bekämpfen, vielleicht, oder ein geheimnisvolles neues Land zu erkunden. Wie oft sie davon geträumt hatte, dass er auf seinem pechschwarzen Ross nach Hause kam und sie und die Kinder mit exotischen Geschenken bedachte. Und nachdem sie die Kinder gemeinsam ins Bett gebracht hatten, schloss er sie in die Arme, küsste sie zärtlich und sagte ihr, dass sie seine Hübsche sei, seine Liebste, sein kleiner Schatz …

Nein. Das musste aufhören. Sie war niemandes Hübsche, niemandes Schatz. Der Vater dieser Kinder war der ungehobelte, sterbenslangweilige George, der zu viel trank und Tallie in den Allerwertesten kniff, wann immer sie so unachtsam war, ihm zu nahe zu kommen. Er besuchte seine Kinder nur zu Weihnachten, um ihnen ein, zwei Shilling in die Hand zu drücken und ihnen den Kopf zu tätscheln. Und die Mutter dieser Kinder war Laetitia, die schöne, selbstsüchtige, bezaubernde Laetitia, eine Zierde des Londoner ton.

Tallie Robinson war ein Niemand – eine entfernte, mittellose Cousine; ein unscheinbares, gewöhnliches Mädchen ohne Vorzüge; ein Mädchen, das dankbar dafür sein sollte, auf dem Land leben und drei reizende Kinder betreuen zu dürfen.

Es würde keinen verwegenen Ritter oder schönen Prinzen geben, hielt sie sich eindringlich vor Augen. Das Beste, worauf sie hoffen konnte, war die Gunst eines freundlichen Gutsbesitzers. Eines Witwers womöglich, mit Kindern, die eine Mutter brauchten. Eines Witwers, der sie in der Kirche bemerkte. Der ihr schlichtes braunes Haar und ihre schlichten braunen Augen und ihre schlichten, zweckmäßigen Kleider sah und zu dem Schluss kam, dass sie annehmbar sei. Er würde sich nicht an ihrer spitzen Nase und dem Dutzend unansehnlicher Sommersprossen stören – denen auch noch so viel Zitronensaft oder Buttermilch nichts anzuhaben vermochte. Er würde sich nicht daran stören, dass einer ihrer Vorderzähne leicht schief stand oder dass sie ihre Fingernägel früher bis aufs Nagelbett abgekaut hatte.

Tallie blickte hinab auf ihre Hände und lächelte stolz ob ihrer glatten, eleganten Nägel. Wenigstens diesen Makel hatte sie erfolgreich beseitigt, seit sie die Schule abgeschlossen hatte. Ihr freundlicher Gutsbesitzer würde stolz auf sie sein … Verflixt und zugenäht – sie tat es schon wieder. Nutzte den kleinsten Anlass, um sich Flausen in den Kopf zu setzen. Verschwendete Zeit, obwohl es tausenderlei Dinge zu tun gab, um Cousine Laetitias Hausgesellschaft zu arrangieren. Tallie eilte die Treppe hinab.

Der russische Prinz ließ die Peitsche über den geschwungenen Hälsen seiner prächtigen grauen Pferde knallen, um sie anzutreiben. Das Karriol schwankte bedrohlich, doch der Prinz schenkte dem keine Beachtung – er setzte den niederträchtigen Entführern nach … Nein! Lord d’Arenville war kein Prinz, ermahnte Tallie sich streng, während sie sich das Haar richtete und sich die Röcke glatt strich. Er war real. Und er war hier, um Zeit mit seiner auserkorenen Braut zu verbringen. Er würde nicht in einer ihrer närrischen Fantasien auftauchen.

Aber Mrs. Wilmot hatte recht – er war in der Tat attraktiv. Tallie wartete darauf, dass ihre Cousine sie zu sich bitten und dem Ehrengast vorstellen würde. Er war erst vor wenigen Minuten eingetroffen, mit Kutschermantel und einem Kastorhut mit geschwungener Krempe. In einem feschen Karriol, gezogen von zwei perfekt aufeinander abgestimmten Grauen, war er die Auffahrt heraufgejagt. Tallie verstand nicht das Geringste von Pferden, doch sogar sie vermochte zu sagen, dass Gefährt und Gespann etwas Besonderes waren.

Sie hatte beobachtet, wie er behände vom Karriol gesprungen war. Er hatte seinem Pferdeknecht die Leinen zugeworfen und war zu seinen schweißnassen Pferden getreten, um sie zu begutachten, bevor er sich angeschickt hatte, seine Gastgeber zu begrüßen. Damit wären seine Prioritäten geklärt, dachte Tallie ironisch – Pferde vor Menschen. Mit Sicherheit kein Prinz.

Allerdings war er ungemein gut aussehend. Kurz geschnittenes dunkles Haar umgab dicht und federnd seinen wohlgeformten Kopf. Ein Gesicht wie gemeißelt, asketische Härte ausstrahlend. Eine lange, gerade Nase sowie feste, fein geschnittene Lippen, die nicht lächelten. Auch sein Kiefer war lang und mündete in ein markantes, kantiges Kinn, das von Entschlossenheit kündete. Er war hochgewachsen, hatte die langen, sehnigen Beine eines Reiters und war von schlanker Gestalt. Und als er den Mantel ablegte, sah sie, dass seine breiten Schultern nicht etwa auf Polster, sondern auf kräftige Muskeln zurückzuführen waren. Ein Athlet, kein Dandy … Ein Piratenkönig … Nein! Ein hochmütiger Gast ihrer hochmütigen Cousine.

Tallie schaute zu, wie er Laetitia begrüßte – eine knappe Verbeugung, eine hochgezogene Braue und ein gehauchter Kuss auf den Handrücken. Nicht mehr, als die Höflichkeit gebot. Somit war er keiner ihrer … Höflinge. Sie seufzte erleichtert. Es würde keine dieser Hausgesellschaften werden. Gut. Es war ihr zuwider, wenn ihre Cousine sie und die Kinder benutzte, um das zu vertuschen, was sie als ihre „kleinen Liebeleien“ bezeichnete.

Laetitia wandte sich ab, um ihm diejenigen Dienstboten vorzustellen, deren Namen er gegebenenfalls brauchen würde – Butler, Haushälterin und so weiter. Tallie beobachtete ihn und bemerkte, wie er den Blick seiner grauen Augen unter schweren Lidern hervor desinteressiert über Brooks und Mrs. Wilmot gleiten ließ.

„Und dies ist eine entfernte Cousine von mir, Miss Thalia Robinson, die hier lebt und alles in meinem Namen beaufsichtigt.“ Unbedeutende arme Verwandte, die mir am Rockzipfel hängt und auf meine Mildtätigkeit angewiesen ist, besagte ihr geringschätziger Tonfall.

Tallie knickste lächelnd. Der Blick der kalten grauen Augen streifte sie kaum eine halbe Sekunde lang. Tallie zuckte zusammen, weil sie wusste, dass Lord d’Arenville mit einem einzigen Blick die Sommersprossen, die spitze Nase und den schiefen Zahn erfasst hatte und zu einem vernichtenden Urteil gekommen war. Ihre hübschen Nägel hatte er nicht einmal zur Kenntnis genommen. Kein edler Ritter, dieser Mann, sondern ein grausamer Graf, der mit kaltem Kalkül den Ruin der Heldin plant … Genug!

Verzagt und enttäuscht sah sie zu, wie er das Haus betrat. Mrs. Wilmot hatte recht. Der Mann tat gerade so, als läge ihm die ganze Welt zu Füßen, obgleich er es nicht einmal bemerken würde, wenn diese vor seiner langen aristokratischen Nase zu Staub zerfiele! Sie fragte sich, welche der jungen Damen seine Auserwählte war. Sie mochte keine von ihnen, konnte sich indessen auch nicht vorstellen, dass überhaupt irgendwer diesen Eiszapfen zu ehelichen wünschte.

„Thalia!“ Ihre Cousine klang verärgert. Eilig lief Tallie ins Haus.

„Du hast gerufen, Cousine Laetitia?“ Sie gestattete sich nicht, Lord d’Arenville zu beachten, obwohl sie sich seiner Nähe überaus bewusst war.

„Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt!“ Ihre Cousine gestikulierte missmutig.

Tallie blickte nach oben und unterdrückte ein Lächeln. Drei kleine Köpfe lugten über das Geländer, den Anweisungen zum Trotz, die Laetitia der Kinderstube erteilt hatte. Die Kinder sollten während der Hausgesellschaft weder zu sehen noch zu hören sein.

„Ich werde mich sofort darum kümmern, Cousine.“

„Deine Kinder, Tish?“ Seine Stimme klang tief und volltönend. Bei einem warmherzigeren Mann hätte sie anziehend gewirkt, dachte Tallie frech, während sie ihre Röcke raffte, um die Treppe hinaufzulaufen.

„Möchten sie nicht herunterkommen?“, fügte er hinzu.

Tallie hielt inne und sah ihn überrascht an. Der Eiszapfen interessierte sich für die Kinder ihrer Cousine? Nein, er schien vollauf damit beschäftigt zu sein, sich einen Fussel vom Ärmel zu wischen.

„Nein, möchten sie nicht“, entgegnete Laetitia rasch. „Es wird höchste Zeit, dass sie zu Bett gehen, und es ist eine von Thalias kleinen Pflichten, dafür zu sorgen, dass sie es tun. Thalia! Wenn ich bitten darf!“

Tallie rannte die Stufen hinauf, wobei sie sich auf die Lippe biss, um zurückzuhalten, was ihr ansonsten entschlüpft wäre. Höchste Zeit fürs Bett, soso! Um fünf Uhr nachmittags? Und eine ihrer kleinen Pflichten? Neben etwa hundert weiteren, die ihre Cousine tagtäglich gegen Bett und Brot von ihr einforderte. Sie erreichte den zweiten Treppenabsatz, wo zwei kleine Mädchen und ein Junge hockten. Von zwei Paar Augen beobachtet, hob sie das Kleinkind hoch, nahm das andere Mädchen bei der Hand und steuerte auf die Kinderstube zu. Der kleine Junge hüpfte voraus.

„Also, Magnus“, sagte Laetitia, „Brooks wird dich zu deinem Zimmer führen. Dort kannst du dich zurechtmachen, um gegen sechs meine anderen Gäste im Salon kennenzulernen. Brooks, lassen Sie umgehend heißes Wasser ins Zimmer seiner Lordschaft bringen. Und … Brandy, Magnus? Oder lieber eine Tasse Tee?“

„Ein Tablett mit Stärkungen steht oben bereit, Madam. Heißer Tee und Kaffee, belegte Brote und Brandy“, bemerkte Brooks. „Und auch das heiße Wasser erwartet seine Lordschaft schon.“

„Oh, äh, schön. Gut gemacht, Brooks“, erwiderte Laetitia.

„Miss Tallie hat all dies veranlasst, Madam. So wie für alle Gäste“, meinte Brooks und verbarg ein Lächeln. Nur eine weitere ihrer kleinen Pflichten. Er spürte den frostigen Blick von Lord d’Arenville auf sich und setzte seine übliche unbewegte Butler-Miene auf.

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Eure Lordschaft. Madam hat Ihnen das Blaue Zimmer zugewiesen, wie stets.“

„Thalia, du musst heute Abend mit uns an der Tafel essen. Dieser vermaledeite Jimmy Fairfax hat zwei Freunde mitgebracht, und nun fehlen uns Damen. Und hast du der Köchin ausgerichtet, dass wir neben der Gans auch die Kapaune auftischen müssen? Ich habe keine Zeit, den Speiseplan mit ihr zu besprechen, deshalb musst du das prüfen. Und sorge dafür, dass für die zusätzlichen Gäste Betten bereitgestellt werden. Ich bin völlig erledigt und muss mich vor dem Dinner ausruhen. Himmel, ich hoffe, Magnus weiß all die Arbeit zu schätzen, die ich mir seinetwegen mache. Ich bin froh, wenn alles vorbei ist.“

Tallie pflichtete ihr stumm bei. Die letzten zehn Tage waren anstrengend und enervierend gewesen, und sie zählte die Stunden bis zur Abreise der Gäste. Dennoch war sie stolz auf sich, weil alles relativ reibungslos lief.

Dieser Weisung allerdings vermochte sie nicht nachzukommen. „Ich habe keine passende Garderobe für das Dinner, Cousine.“

„Herrgott, Mädchen, als würde es irgendwen scheren, was du trägst. Niemand wird dich auch nur bemerken – du dienst nur dazu, die Zahl der Damen auszugleichen. Jeder alte Fetzen ist gut genug.“

„Ich habe nur ein Abendkleid, Cousine. Das, welches du mir vor einigen Jahren geschenkt hast, und wie du weißt, passt es mir nicht.“

„Dann ändere es ab, um Himmels willen! Oder lege dir ein Schultertuch oder dergleichen um. Ich kann doch nicht an alles denken! Jetzt lass mich allein, sofort, denn wenn ich nicht ein wenig Ruhe und Frieden finde, werde ich bis zum Dinner Kopfschmerzen haben, fürchte ich.“

„Ja, Cousine“, presste Tallie leise zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es ging ihr gehörig gegen den Strich, sich der Unfreundlichkeit ihrer Cousine derart fügsam zu beugen, aber die Armut hatte sie eine pragmatischere Sichtweise gelehrt. Im Augenblick fühlte es sich zwar unerträglich an, sich so behandeln zu lassen. Andererseits war Laetitia selten hier, und den Gutteil des Jahres über lebten nur Tallie, die Kinder und die Dienstboten auf Manningham. In Wahrheit, ermahnte sie sich streng, führte sie ein herrliches Leben. Eine Waise ohne Geld sollte dankbar dafür sein, ein Dach über dem Kopf zu haben. Dass sie keine Dankbarkeit empfand, war zweifellos eine Charakterschwäche.

Sie hastete nach unten. Mit der Köchin sprach sie über den Speiseplan, mit Mrs. Wilmot über die Unterbringung der unerwarteten Gäste und mit Brooks über die Weine für das Dinner, ehe sie wieder nach oben eilte, um sich um ihr Kleid zu kümmern.

Zehn Minuten darauf war sie am Boden zerstört. Laetitia war kleiner als sie und hatte eine zierliche, elfenhafte Figur. Das Kleid aus blassgrünem Musselin hätte viel Busen und Schulter zeigen und von einer hoch angesetzten Taille weich herabfallen sollen. An Tallie spannte der tiefe Ausschnitt, sodass ihr Busen genierlich hervorquoll. Die Taille war zu schmal, und ihre Fußknöchel waren auf skandalöse Weise entblößt. Tallie ging zu ihrem Kleiderschrank und durchstöberte ihn abermals in der verzweifelten Hoffnung, dass sich ihr wie durch Magie eine Alternative präsentieren würde. Zwei Tageskleider für den Winter, zwei Tageskleider für den Sommer, allesamt recht verschlissen und altmodisch. Sie seufzte und kehrte bedrückt zum grünen Musselin zurück.

Sie war nicht gerade geschickt mit der Nadel, und selbst wenn sie es gewesen wäre, hätte sie etwas, das zu klein war, nicht weiten können. Nach einigem Herumexperimentieren gelang es ihr, den Ausschnitt um ein altes Stück Spitze zu ergänzen, sodass er sie zumindest angemessen bedeckte, auch wenn er nach wie vor zu eng war. Am Saum befestigte sie einen Volant. Ihr war bewusst, wie albern das aussah, doch wenigstens waren dadurch ihre Knöchel verborgen.

Zu guter Letzt hüllte sie sich in ein großes Paisley-Tuch, um zu kaschieren, wie eng das Kleid saß. Für die Dauer des Dinners würde es sicherlich genügen. Sie betrachtete sich im Spiegel und schloss kurz die Augen, von Demütigung übermannt. Die grüne Farbe zauberte ihr interessante Glanzlichter ins Braun von Haar und Augen, und ihre Locken waren ausnahmsweise einmal gebändigt, und dennoch … sah sie vollkommen lachhaft aus! Aber, redete sie sich aufmunternd ein, Laetitia hatte recht. Niemand würde sie auch nur zur Kenntnis nehmen. Sie war lediglich eine zusätzliche weibliche Person – die arme Verwandte –, und sie würde sich davonstehlen, sobald das Dinner vorüber war. Außerdem mochte sie die Gäste ihrer Cousine nicht, also was kümmerte es sie, was diese von ihr hielten? Sie atmete tief durch und ging nach unten, um zu prüfen, ob alles für das Dinner hergerichtet war.

Magnus nahm einen weiteren Schluck Armagnac und fragte sich, wie lange er die affektierten mädchenhaften Allüren um ihn her noch ertragen würde. Um seine Laune stand es nicht zum Besten, und schuld an alledem war allein er selbst. Die Hausgesellschaft war eine Katastrophe gewesen.

Zehn Tage lang in der Gesellschaft vornehmer junger Frauen gefangen zu sein, wäre an sich schon schlimm genug gewesen – für dieses Martyrium hatte er sich jedoch innerlich gewappnet. Aber ihm hätte bewusst sein müssen, dass Laetitia eine Schar junger Damen aussuchen würde, die genauso waren wie sie – verwöhnt, eitel, geistlos und einfältig. Magnus war zu Tode gelangweilt.

Und verzweifelt – denn er hatte darauf gehofft, die jungen Damen unauffällig begutachten zu können, um diskret eine Wahl zu treffen und in aller Stille die Hochzeit in die Wege zu leiten. Ha! Von wegen! Seine vermaledeite Cousine war ungefähr so diskret wie ein Papagei! Das war ihm binnen weniger Tage klar geworden, als er erkannt hatte, dass er gejagt wurde – mit der Unauffälligkeit einer ihm nachsetzenden Hundemeute.

Sich hebende und bebende sahneweiße Busen wurden ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase gehalten. Wohlgeratene Fußknöchel blitzten unter züchtiger Bedeckung hervor. Und wann immer er ein Zimmer betrat, wurde so heftig mit den Wimpern geklimpert, dass er fast glaubte, einen Luftstrom zu spüren. Er hatte sich virtuose Darbietungen auf Harfe, Pianoforte und Flöte anhören und ganze Bände voller Aquarellmalereien ansehen müssen, mit der verschämten Bitte um sein sachkundiges Urteil. Seine erhabene männliche Meinung war zu jedem nur erdenklichen Thema eingeholt worden und wurde behandelt wie das Wort Gottes. Jede seiner widerwilligen Äußerungen wurde mit Seufzern, devotem Gekicher und übertriebener Bewunderung quittiert.

Sie behelligten ihn morgens, mittags und abends – im Garten, im Salon, im Frühstückszimmer. Einmal gar hinter den Stallungen, wo ein Mann zu Recht auf Frieden und Stille sollte hoffen dürfen. Aber es half nichts – heiratsfähige Fräulein lauerten ihm, so schien es, in jedem Winkel des Anwesens auf.

Doch obwohl ihm die Aufgabe, der er sich verschrieben hatte, zutiefst widerstrebte, war er nach wie vor entschlossen, sich eine Ehefrau auszusuchen. Die Hausgesellschaft hatte in ihm den Entschluss reifen lassen, dass es besser sei, die Sache schnellstmöglich hinter sich zu bringen. Jede Brautwerbung konnte für einen Einzelgänger wie ihn nur zum Spießrutenlauf werden, nahm er an, und wenn er sich jetzt nicht entschied, zögerte er das Unvermeidliche nur hinaus. Und dieses Sortiment an Mädchen unterschied sich wahrscheinlich nicht von dem derzeit auf dem Heiratsmarkt verfügbaren Rest.

Dumm war nur, dass Magnus sich keine von ihnen als Mutter seiner Kinder vorstellen konnte. Sie alle hatten bloß Stroh im Kopf und interessierten sich ausschließlich für Mode, Klatsch und männliche Schmeicheleien – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Und ebenso wie Laetitia verabscheuten sie das Landleben.

Das stellte ihn vor ein Problem. Aus unerfindlichen Gründen war er davon ausgegangen, dass seine Gattin mit den Kindern auf d’Arenville leben würde. Weshalb er von ihr erwartete, sich mit einem Leben auf dem Land zu begnügen, obwohl nur wenige Frauen seines Bekanntenkreises dies taten, war ihm selbst schleierhaft. Seine Mutter jedenfalls hatte das nicht getan. Die Provinz war ihr ein Gräuel gewesen. Andererseits wollte er niemanden wie seine Mutter zur Frau.

Freddies Ehefrau lebte offenbar zufrieden das ganze Jahr über mit Mann und Kindern im tiefsten Yorkshire. Die Kinder waren merklich glücklich, und das hatte Magnus tief beeindruckt – seine eigenen Eltern waren praktisch Fremde für ihn gewesen, die in unregelmäßigen Abständen in sein Zuhause eingefallen waren, ihre Besuche der Fluch seiner Kindheit.

Aber Freddies Ehefrau wirkte, als würde sie ihre Kinder aufrichtig lieben. Auch Magnus’ Mutter hatte ihn scheinbar geliebt – in der Öffentlichkeit. Freddies Frau mochte ihm also etwas vorgespielt haben, aber das glaubte er nicht. Sie liebte anscheinend auch Freddie. Allerdings war Freddie, wie Magnus wusste, ein liebenswerter Mensch.

Das galt nicht für ihn selbst. Er war ganz offensichtlich ein Kind gewesen, das man nicht hatte lieben können. Und daher war er heute ein Mann, den man nicht lieben konnte. Doch er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass seine Kinder die Chance bekamen, zu liebenswerten Wesen heranzuwachsen. Und somit geliebt zu werden.

Wieder blickte er sich im Zimmer um. Vermutlich war nicht auszuschließen, dass einige dieser flatterhaften Mädchen sich in die Mutterrolle fügen würden, aber es war schwer zu glauben, vor allem, da er seine Cousine als Exempel vor Augen hatte.

„Oh, es ist ein solch wunderbar milder Abend“, gurrte Laetitia. „Lasst uns vor dem Dinner ein wenig über die Terrasse flanieren. Komm, Magnus, als mein Ehrengast darfst du dir deine Begleiterin aussuchen.“

Ein Dutzend Frauen richtete den Blick auf ihn. Erwartungsvolle Stille machte sich breit. Magnus verfluchte seine Cousine stumm, weil sie ihn in Zugzwang brachte. Offenbar wollte sie die Hausgesellschaft zum Abschluss bringen, damit sie in die Stadt zu ihren zahllosen Vergnügungen zurückkehren konnte. Er lächelte. Keine Frau würde ihn dazu bringen, nach ihrer Pfeife zu tanzen.

„Als guter Gast sollte ich mich meiner charmanten Gastgeberin annehmen“, erwiderte er leichthin. „Wollen wir, Cousine?“ Er bot ihr seinen Arm und ließ ihr somit keine Wahl, und gemeinsam traten sie durch die verglaste Doppeltür hinaus auf die Terrasse. Die übrigen Gäste folgten ihnen.

Tallie schloss sich ihnen befangen an. Ihr war äußerst unbehaglich zumute. Einige der jungen Damen hatten ihr Kleid beäugt und ungeniert belustigt getuschelt und gekichert. Ihre Mütter schnitten Tallie, und zwei der männlichen Gäste hatten ihr anzügliche Angebote unterbreitet. Die Gäste hatten ihr gegenüber Laetitias Umgangston aufgegriffen – sie war schlicht eine Bürde, auf die man keinerlei Rücksicht zu nehmen brauchte, kaum besser als eine Dienstbotin, und in der gegenwärtigen Atmosphäre, geprägt von durchkreuzten Ambitionen, war sie ein willkommenes Opfer.

Sie war wütend, ermahnte sich jedoch, dass es sinnlos wäre, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen – diese Leute würden bald fort sein, und sie wäre wieder allein mit den Kindern, Brooks und Mrs. Wilmot. Es sollte nicht allzu schwer sein, die Gehässigkeit einer Handvoll schlecht erzogener Aristokraten über sich ergehen zu lassen.

Die blasse junge Marquise hielt das Kinn gereckt und ignorierte die bösartigen Beleidigungen, die der tumbe Pöbel ihr entgegenschleuderte, derweil der Karren dahinrollte. Sie war in Lumpen gehüllt, ihre herrlichen Kleider von den Gefängniswärtern gestohlen, aber ihre Würde war ihr geblieben …

Unauffällig schlich Tallie zum Rand der Terrasse und ließ den Blick von der steinernen Brüstung aus über den penibel gestutzten Rasen und die dahinter beginnenden Wälder schweifen. Es war eine wahrhaft bezaubernde Aussicht …

„Aaahh! Fort mit dir, du schmutziges Scheusal!“ Laetitias Kreischen schrillte durch die Luft. „So helft mir doch! Aaahh!“

Tallie eilte nach vorn, um zu sehen, was passiert war. Sie schob sich zwischen den herbeigelaufenen Gästen hindurch und schrie entsetzt auf.

Georgie, der kleine Sohn ihrer Cousine, war offenbar aus der Kinderstube entkommen und mit dem Welpen, den Tallie ihm vor einigen Wochen geschenkt hatte, auf Entdeckungstour gegangen. Er stand vor seiner Mutter und hielt ihr auf rührende Weise einen zerrupften Schneeglöckchen-Strauß hin. Seine Schuhe und seine Nanking-Hose waren mit Morast bedeckt, ebenso wie der Welpe. Dieser war auch der Stein des Anstoßes – schlammige Pfotenabdrücke verunzierten Laetitias neues narzissengelbes Seidenkleid.

Laetitia, den Umgang mit Hunden nicht gewöhnt, wich schreiend zurück und schlug hysterisch mit ihrem Fächer nach dem Welpen, der das für ein famoses Spiel hielt. Er sprang hoch und schnappte nach dem Fächer, wobei er ihr erlesenes Kleid großzügig mit Schlamm bespritzte.

Tallie bemühte sich noch immer, sich durch die Gästeschar zu drängen, als Lord d’Arenville den Welpen im Genick packte und dem kleinen Jungen reichte. Tallie erreichte das Kind in dem Moment, da dessen Mutter zu schimpfen begann.

„Wie kannst du es wagen, dieses dreckige Untier in meine Nähe zu lassen, du böser Junge! Siehst du, was es angerichtet hat? Dieses Kleid ist ruiniert! Wahrhaftig ruiniert!“

Das kleine Gesicht wurde schreckensbleich. Stumm streckte Georgie ihr den welkenden Schneeglöckchenstrauß entgegen, den Laetitia ihm ungeduldig aus den Händen schlug.

„Versuche ja nicht, mich um den Finger zu wickeln, Georgie! Siehst du, was du getan hast? Schau dir dieses Kleid an! Heute zum ersten Mal getragen, von der besten Schneiderin Londons gefertigt, und es hat Unsummen gekostet! Ruiniert! Und wieso? Weil ein böser Junge ein schmutziges Tier auf eine kultivierte Gesellschaft losgelassen hat! Wer hat dir erlaubt, die Kinderstube zu verlassen? Ich habe strikte Anweisungen gegeben. Für diesen Ungehorsam wirst du bestraft werden! Und dieses Tier ist eindeutig gefährlich! Es muss auf der Stelle erschossen werden! Jemand soll einen Stallburschen holen …“

Der kleine Junge wurde noch blasser. Sein zierlicher Körper bebte vor Entsetzen angesichts des giftigen Tonfalls seiner Mutter. Er verzog das Gesicht vor Angst und Kummer und drückte sich den Welpen fest an die Brust. Der Welpe winselte und wand sich, um sich zu befreien.

Magnus sah zu, so angespannt, wie er es seit seiner Kindheit nicht gewesen war. Er kämpfte dagegen an, während er das verschüchterte Kind und den Welpen betrachtete. Der Anblick rief Erinnerungen wach, und sein Blick verfinsterte sich nicht zuletzt aus Mitleid. Er bedauerte den Jungen, doch es stand ihm nicht zu, sich einzumischen, wenn eine Mutter ihr Kind maßregelte. Und außerdem musste es wohl so sein. Jedenfalls hatte seine eigene Kindheit genauso ausgesehen.

Es würde den Jungen schwer treffen, seinen geliebten Welpen zu verlieren, aber es war vermutlich besser für Georgie, sich möglichst früh ein dickes Fell zuzulegen. Haustiere wurden ausnahmslos als Druckmittel missbraucht, um gutes Benehmen zu erzwingen. Wenn der Junge erst lernte, sich dies nicht allzu sehr zu Herzen zu nehmen, würde sein Dasein leichter werden. Für Magnus jedenfalls war es so gewesen … wenngleich die Lektion ungemein hart gewesen war … Als er acht gewesen war, hatten bereits drei Haustiere für seinen Ungehorsam ihr Leben lassen müssen. Das letzte war eine Setter-Hündin namens Polly mit klaren, glänzenden Augen gewesen.

Polly, seine ständige Begleiterin und seine beste Freundin. Aber Magnus war eines Tages mit ihr auf die Jagd gegangen, statt seine griechische Übersetzung zu beenden, und sein Vater hatte Polly getötet, um seinem Sohn Verantwortung einzubläuen.

Magnus hatte eine Lehre daraus gezogen.

Mit acht Jahren hatte er gelernt, sein Herz nicht an Haustiere zu hängen.

Oder an sonst irgendetwas.

„Der bedauerliche Vorfall tut mir leid, Cousine.“ Es war die schäbige kleine arme Verwandte. Magnus beobachtete, wie sie sich zwischen den kauernden kleinen Jungen und dessen erboste Mutter schob, ihre ruhige Stimme ein Gegenpol zu Laetitias markerschütterndem Gezeter.

Dir tut es leid?“, keifte Laetitia weiter. „Ja, dafür werde ich sorgen! Die Kinder stehen unter deiner Obhut, also wie konnte dieses Kind aus der Kinderstube entwischen? Ich habe unmissverständlich befohlen …“

Magnus lehnte sich mit dem Rücken gegen eine riesige Gartenurne, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete die Szene unbewegt. Er bemerkte, dass die schlecht gekleidete kleine Cousine das Kind mit ihrem Körper abschirmte und so vor dessen eigener Mutter beschützte. Ein interessantes Manöver – für eine arme Verwandte.

Der kleine Junge drängte sich an ihre Röcke, den schlammigen Welpen nach wie vor auf dem Arm. Magnus sah, wie das Mädchen dem Kind unauffällig eine Hand in den Nacken legte. Sie streichelte den Jungen mit sparsamen, tröstlichen Bewegungen, woraufhin dieser sich entspannte und aufhörte zu zittern. Es dauerte nicht lange, bis Georgie sich vertrauensvoll an ihre wohlgerundete Hüfte schmiegte und den Kopf an ihrem Leib barg. Sie drückte ihn fester an sich, wobei sie die Rage ihrer Cousine weiterhin auf sich lenkte. Ihre Worte waren reumütig, ihr Gebaren hingegen verhalten aufsässig.

Faszinierend, dachte Magnus. War ihr nicht bewusst, was sie riskierte, indem sie ihrer Cousine trotzte? Und das alles, um ein Kind zu schützen, das nicht einmal ihr eigenes war. 

„Das Missgeschick war meine Schuld, Cousine“, behauptete sie. „Du darfst dem armen Georgie hier nicht gram sein, denn ich habe ihm erlaubt, die Kinderstube zu verlassen …“

Magnus entging nicht, dass der kleine Junge überrascht aufhorchte.

„Und es tut mir leid, dass dein Kleid besudelt wurde. Aber ich kann nicht zulassen, dass du den Welpen töten lässt …“

Du? Du kannst nicht …“, stotterte Laetitia.

„Nein, weil der Welpe weder Georgie noch dir gehört.“

Das Kind starrte zu der jungen Frau auf. Sie streichelte ihn beschwichtigend und fuhr fort: „Der Welpe gehört mir. Er … das Tier war ein Geschenk von … vom Pfarrer, und ich kann nicht zulassen, dass du ein Geschenk zerstörst, nur weil du ein wenig aufgebracht …“

„Du kannst nicht zulassen …“ Laetitia keuchte entrüstet.

„Ja, Welpen sind nun einmal Welpen, und kleine Jungen und Welpen ziehen einander anscheinend magisch an, nicht wahr? Deshalb war ich Georgie hier auch so überaus dankbar.“ Sie bedachte den kleinen Jungen mit einem warmen Lächeln.

„Dankbar?“ Laetitia wirkte wie vom Donner gerührt. Georgie blickte verwirrt drein. Magnus war wie gebannt.

„Ja, sehr dankbar sogar, denn ich war in letzter Zeit zu beschäftigt, um den Welpen auszuführen, und daher hat Georgie mir diese Aufgabe abgenommen, nicht wahr, Georgie, Schätzchen?“

Sie nickte ihm aufmunternd zu, und Georgie erwiderte das Nicken benommen.

„Ganz recht, und deshalb musst du den Schaden, den der Welpe deinem Kleid zugefügt hat, mir anlasten.“

„Aber …“

Das Mädchen beachtete sie gar nicht, sondern beugte sich zu dem Kind hinab. „Also, Georgie, ich glaube, du und mein Welpe hattet genügend Bewegung für diesen Abend, aber würdest du mir noch einen Gefallen tun, bitte?“

Er nickte.

„Würdest du, äh … Rover …“

„Satan“, korrigierte Georgie sie.

In ihren Augen blitzte es erheitert, doch sie redete bemerkenswert selbstbeherrscht weiter. „Ja, natürlich, Satan. Würdest du, äh, Satan bitte zurück zum Hundezwinger bringen und ihm den Schlamm abwaschen, mir zuliebe? Wie du siehst, trage ich Abendgarderobe, und Damen sollten in ihrem besten Kleid nicht zum Zwinger gehen.“

Unglücklicherweise lenkte sie mit ihren Worten die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihr „bestes Kleid“. Hier und da wurde gekichert, was sie erhobenen Hauptes ignorierte. Georgie indes starrte sie entsetzt an.

„Was ist denn, mein Engel?“, fragte sie.

Schuldbewusst streckte er einen dreckverschmierten Finger aus und ...

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