Historical Exklusiv Band 102

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DIE COUNTESS UND DER SCHÖNE LÜGNER von ANN LETHBRIDGE
Freund oder Feind? Nicoletta, Countess Vilandry, soll auf einem Ball herausfinden, ob der umschwärmte Frauenheld Gabriel D’Arcy für Frankreich spioniert. Plaudert er nach einem Kuss sein Geheimnis aus? Noch bevor Nicoletta mehr erfährt, fällt ein Schuss! Überstürzt muss sie nach Cornwall fliehen – gemeinsam mit dem faszinierenden Gabriel D’Arcy …

SKANDAL UM LADY CAROLINE von DEBORAH HALE
Lady Caroline wird in eine skandalöse Liebesfalle gelockt. Unerbittlich verbannt ihr Gemahl sie daraufhin nach Cornwall. Doch kaum ist sie in ihrem Exil angekommen, macht sie eine stürmische Entdeckung: Er ist ihr gefolgt! Und während die ersten Frühlingsblumen erblühen, erwacht in Caroline eine neue Hoffnung …


  • Erscheinungstag 28.03.2023
  • Bandnummer 102
  • ISBN / Artikelnummer 0859230102
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Ann Lethbridge, Deborah Hale

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 102

1. KAPITEL

August 1804

Welchem Zeitvertreib ging ein Angehöriger des britischen Hochadels wohl nach, während Napoleon auf der anderen Seite des Ärmelkanals ein gewaltiges Heer um sich scharte, um England zu erobern? Nun, es sah ganz danach aus, als wäre die Teilnahme an Lady Heatherfields Sommerball die einzig denkbare Möglichkeit für die Crème de la Crème der oberen Zehntausend. Verdrossen betrachtete Gabriel D’Arcy – der erst seit Kurzem der neue Marquess of Mooreshead war – die Ballgäste, die sich in der überhitzten Halle zusammengefunden hatten. Hatten diese Menschen denn gar keine Ahnung, in welcher Gefahr sich ihr Vaterland befand? War ihnen die Not des gemeinen Volkes etwa gleichgültig? Offenbar, denn es sah nicht danach aus, als würde ihre Festtagslaune durch irgendetwas sonderlich getrübt.

Der helle Widerschein unzähliger Kerzen in den goldumrahmten Spiegeln ließ Gabriels Augen beinahe tränen, als er all die anderen Adeligen beobachtete. Unwillkürlich stellte er sich die Frage, wie sich all die wohlfrisierten Köpfe in einem Korb unterhalb der Guillotine ausmachen mochten. Denn dort würden sie unweigerlich enden, wenn Napoleon Bonaparte mit seiner gefürchteten Armée de l’Angleterre in ihr Land einfiel, um England ein für alle Mal zu unterwerfen.

Gabriel – von seinen Freunden auch Gabe genannt – war jedoch wild entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um dieses Schreckensszenario zu verhindern. Um das zu erreichen, hatte er viel – nahezu alles – aufgegeben, was ihm etwas bedeutete. Seine Prinzipien. Seine Ehre. Von seinem rechtmäßigen Erbe einmal ganz zu schweigen. Verdammt sollte sein Vater sein, der ihm aus Rache nicht mehr als einen Titel hinterlassen hatte.

Zwar waren sein Vater und er sich noch nie einig gewesen, wenn es um Politik, den Umgang mit Pächtern oder darum gegangen war, wie tyrannisch sich der alte Marquess seiner Ehefrau gegenüber benommen hatte. Doch nie im Leben hätte Gabe damit gerechnet, dass sein Vater ihn als Schande der Familie und Verräter seines Heimatlandes bezeichnen würde. Seitdem war allerdings viel Wasser den Fluss hinuntergelaufen. Mittlerweile war sein Vater tot, und Gabes aufsässiges Verhalten gegen die väterliche Diktatur hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war – zu einem mittellosen Marquess und rastlosen Spion.

Allerdings hütete er sich davor, sich seine Ungeduld oder gar seinen Unmut anmerken zu lassen. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie schnell die Gerüchteküche zu brodeln beginnen konnte, wenn man seine Gefühle offen zur Schau stellte. Es war schon schlimm genug gewesen, als Einzelheiten aus dem letzten Willen seines Vaters an die Öffentlichkeit gelangt waren. Die Mütter unverheirateter Töchter, die Gabe seit seiner Jugend das Leben schwer gemacht hatten, hatten sich empört von ihm abgewandt, sobald allgemein bekannt geworden war, dass sein Vater ihm keinerlei Vermögenswerte hinterlassen hatte. An einen verarmten Marquess verschwendeten diese ehrgeizigen Damen, die ihre Töchter ausschließlich mit einer guten Partie zu verheiraten gedachten, keinen weiteren Gedanken. Nicht, dass Gabe deswegen sonderlich verstimmt gewesen wäre. Er beabsichtigte keineswegs, jetzt schon in den Stand der Ehe zu treten – und bezweifelte ernsthaft, dass er das überhaupt jemals tun würde.

Gabe störte es nicht, dass man ihm hinter vorgehaltener Hand vorwarf, sein verschwenderisches Junggesellendasein durch Glücksspiel zu finanzieren sowie unerfahrene Grünschnäbel an den Spieltisch zu locken, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nein, er war sogar eifrig darauf bedacht, diesem Ruf zu jeder sich ihm bietenden Gelegenheit gerecht zu werden.

Spekulationen darüber hingegen, weswegen ihm das rechtmäßige Einkommen aus seinem Erbteil vorenthalten wurde, trafen ihn empfindlich. Es hieß nämlich, dass er die Französische Revolution unterstützte. Das verletzte Gabes Stolz sehr, obwohl natürlich auch diese kühnen Theorien wohlbedacht unter das Volk gestreut worden waren, um seine Tarnung aufrechtzuerhalten. Alles diente einem höheren Ziel, das all die Opfer wert war, die Gabe auf sich nahm.

Glücklicherweise war ihm die schlimmste Schmach, die er sich vorstellen konnte, allerdings bislang erspart geblieben: die Verachtung der anderen Adeligen, mit der sie ihn strafen würden, wenn jemals herauskommen sollte, womit Gabe tatsächlich sein Geld verdiente. Aus ihrer Sicht durfte ein Mann sehr wohl unschuldige Frauen verführen, einen Kontrahenten im Duell töten oder seine eigene Ehefrau betrügen – solange er es offen und ehrlich tat. Doch Gabes Spiel mit verdeckten Karten würde ihn für den ton zu einer Persona non grata – zu einer unerwünschten Person – werden lassen.

Solange diese letzte Grenze nicht überschritten wurde, ließ Gabe die anderen über ihn denken, was sie wollten, während er sein Leben riskierte, um das ihre zu retten. Wenn es nach ihm ginge, würde er London ein für alle Mal den Rücken kehren. Doch um seine geheimen französischen Kontakte auch weiterhin pflegen zu können, blieb ihm keine andere Wahl, als nach außen hin die Fassade des charmanten Schürzenjägers und unverbesserlichen Spielers zu wahren.

Aus diesem Grund ließ er sich am heutigen Abend auch auf dem Ball von Lady Heatherfield blicken.

Ein Mann rempelte Gabe im Vorbeigehen scheinbar versehentlich an.

„Ich bitte vielmals um Verzeihung, Monsieur“, sagte der rotgesichtige, korpulente Herr und verbeugte sich tief. „Monsieur Armande, à votre service – zu Ihren Diensten.“

Es handelte sich um den Kontaktmann, auf den Gabe an diesem Abend gewartet hatte. „Mooreshead. Zweifellos macht Ihnen diese unerträgliche Hitze ebenfalls zu schaffen“, erwiderte er, wobei er den vereinbarten Erkennungscode verwendete. Dabei hätten sie den eigentlich gar nicht benötigt. Monsieur Armande, ein vermeintlicher Flüchtling vor der napoleonischen Regierung, verdiente seinen Lebensunterhalt damit, Informationen zu verkaufen. Mehr als ein Mal waren die beiden Männer sich in den vergangenen Jahren begegnet.

„Wohl wahr.“ Der dickliche Franzose verbeugte sich ein weiteres Mal. „Glücklicherweise frischt der Wind ein wenig auf und lässt auf einen Wetterumschwung hoffen.“

Wohl eher auf eine französische Invasion, obwohl auf die natürlich niemand hoffte. Offenbar hatten Napoleons Pläne sich geändert – die Frage war nur, inwiefern. „Dann wollen wir beten, dass es schon bald so weit ist, Sir.“

„Ganz meine Meinung. In den letzten fünf Tagen hat mir diese Hitze wirklich außerordentlich zugesetzt.“

Fünf Tage? Gabe war nicht davon ausgegangen, dass sie schon so rasch reagieren würden. Er musste unbedingt nach Cornwall zurückkehren, um alles vorzubereiten. Doch zuvor musste er herausfinden, was genau sich an dem Plan geändert hatte. „Wir alle würden einen Wetterumschwung sehnlich begrüßen, selbst wenn er Sturm mit sich bringen sollte.“

„Der Kapitän Ihrer Jacht Phoenix wäre sicher sehr an einem solchen interessiert.“

Seine Anweisungen würden also auf sein Schiff geschickt werden. Warum hatte man Gabe den ganzen weiten Weg nach London kommen lassen, um ihm das mitzuteilen? „Ich sorge dafür, dass er es erfährt.“

Armande zog seine Schnupftabakdose hervor und bot Gabe etwas von dem Inhalt an. „Sie befinden sich in Gefahr, mon ami“, sagte er leise. „Man vertraut Ihnen nicht. Man hat jemanden geschickt.“ Er lächelte unverbindlich, während er in normaler Lautstärke weitersprach. „Nur Engländer halten es für eine gelungene Idee, an einem schwülen Sommerabend so viele Menschen in einem Saal zu versammeln.“

„Wer?“, fragte Gabe mit gedämpfter Stimme ungehalten. So viele Jahre hatte er darauf verwandt, das Vertrauen von beiden Kriegsparteien zu gewinnen – wenn ausgerechnet jetzt seine Tarnung ins Wanken geriet, könnte das katastrophale Auswirkungen zur Folge haben. Seine Frage war doppeldeutig – wer war geschickt worden? Und von wem? Armande war weder der einen noch der anderen Seite verpflichtet. Gabe sah sich um, als würde er über die Worte des Franzosen nachdenken. „Ich bin überrascht, dass sich überhaupt jemand zu dieser Jahreszeit in der Stadt aufhält.“

Bedauernd schüttelte Armande den Kopf, was bedeutete, dass er auf keine von Gabes Fragen eine Antwort wusste. „Damit ist meine Schuld beglichen“, raunte er.

Gabe hatte ihn einst in einer dunklen Nacht bei einer illegalen Aktion davor bewahrt, von der britischen Küstenwache gefangen genommen zu werden. Das hatte zwar zu seinen Aufgaben gehört, aber selbst ein Mann wie Armande, der aus dem Krieg seinen Profit schlug, war ein wenig Ehrgefühl zu Eigen.

„Zweifelsfrei ist jetzt der passende Zeitpunkt für eine Erfrischung“, erwiderte der Franzose laut.

„Die finden Sie dort drüben, Monsieur. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend“, sagte Gabe und deutete auf den Alkoven, in dem ein Bediensteter einen Tisch bewachte, der sich unter der Last der auf ihm befindlichen Bowlen durchzubiegen drohte. Der Franzose verbeugte sich ein letztes Mal und entfernte sich.

Wer misstraut mir?, überlegte Gabe fieberhaft. Die Franzosen? Oder die Engländer?

Beides war denkbar. Oder handelte es sich lediglich um eine Vermutung, die jeder Grundlage entbehrte? In der Welt der Spionage konnten Gerüchte leicht aus dem Ruder laufen.

„Wie ist es denn in Norfolk gewesen?“, erklang eine Stimme hinter ihm, und eine kräftige Hand wurde auf Gabes Schulter gelegt.

Als er sich umdrehte, blickte er in das strenge Gesicht eines seiner ältesten Freunde. Bane, Earl of Beresford. Einer der Handvoll Menschen, denen Gabe sein Leben anvertraut hätte. Bane war Industrieller und besaß Minen und Fabriken, welche die britische Kriegsmaschinerie im Gang hielten. Würde Napoleon die Macht übernehmen, wäre Bane einer der Ersten, der um seinen Kopf fürchten müsste.

„Norfolk ist … eben Norfolk“, entgegnete Gabe lächelnd und wusste sehr wohl, dass sie sich keineswegs über Norfolk unterhielten. Vor Jahren hatte er Bane in einem Moment der Schwäche all seine dunklen Geheimnisse anvertraut – und somit sein Leben. Im Gegenzug gestattete Bane ihm, sein Familienanwesen Beresford Abbey in Cornwall als Geheimbasis zu verwenden. „Manners ist langsam wie eh und je. Boote kommen und legen wieder ab. Manche mit legaler, andere mit illegaler Fracht an Bord.“ Er versuchte, stets so dicht wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. Man wusste schließlich nie, wer zuhörte.

„Es tut gut, dich wieder in der Stadt zu sehen“, sagte Bane kurz angebunden, wie es nun mal seine Art war. „Komm zum Dinner. Nächste Woche. Es wäre uns eine große Freude, wenn du uns beim Essen Gesellschaft leisten würdest.“

„Ich schätze, du möchtest mit mir über Politik und die britische Wirtschaftslage sprechen. Arme Mary.“

Banes Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf, als der Name seiner Frau fiel. „Sie ist daran gewöhnt. Und sie hat selbst ein paar ziemlich vernünftige Gedanken zu dem einen oder anderen Thema. Also, kommst du?“

Die elegante Lady Mary hatte einen schlanken, hübschen Hals. Unwillkürlich musste Gabe wieder an die Guillotine denken und erschauderte. Rasch schob er die dunklen Gedanken beiseite und nickte zustimmend. „Es wäre mir eine große Freude, aber ich fürchte, so lange bin ich nicht mehr in London.“ Die Neuigkeiten, die ihm soeben zugetragen worden waren, machten es unumgänglich, dass er schnellstmöglich Sceptre von den Ereignissen in Kenntnis setzte. Im Gegensatz zu den Angehörigen des Innenministeriums, die dem Parlament unterstanden, war die Geheimorganisation Sceptre niemand Geringerem als dem Hannoverschen Herrschaftshaus unterstellt, dem König George III. angehörte. Die Agenten von Sceptre standen in dem Ruf, sich äußerst rücksichtslos durchzusetzen, um den Schutz der britischen Krone zu gewährleisten.

„Dann eben nächstes Mal, wenn du wieder in London bist“, sagte Bane, bevor er sich zum Gehen wandte. „Sag mir vorher rechtzeitig Bescheid, dann sorge ich dafür, dass wir einen ungestörten Abend miteinander verbringen. Versuch bitte, in der Zwischenzeit nicht so viel Staub aufzuwirbeln.“

Nachdem sein alter Freund gegangen war, hielt Gabe im Ballsaal nach einer passenden Tanzpartnerin Ausschau, um seinem Ruf als Schwerenöter gerecht zu werden. Er war auf der Suche nach einer Frau, die ihm nicht gleich die kalte Schulter zeigte. Glücklicherweise gab es eine Reihe von Damen, die liebend gerne mit einem Mann von undurchsichtigem Ruf kokettierten – vorausgesetzt, es blieb bei einem oberflächlichen Techtelmechtel, bei dem Gabe die Damen mit seinem unwiderstehlichen Charme bezauberte.

Plötzlich begannen die Gäste im gegenüberliegenden Teil des Ballsaals, lauter zu reden – ein untrügliches Zeichen dafür, dass etwas Skandalöses im Gange war – oder jemand Aufsehenerregendes den Saal betreten hatte.

Die Zuschauer am Rand der Tanzfläche machten bereitwillig Platz, um jemanden vorbeizulassen, und kurz darauf sah auch Gabe die Frau.

Er hatte sie zuvor noch nie gesehen. Sie war weder besonders groß noch auffallend zierlich. Ihr Haar war weder braun noch kastanienfarben noch rotblond. Seltsamerweise schien es eine faszinierende Mischung aus allen Farben zu vereinen. Ihre Gesichtszüge waren nicht klassisch schön und trotzdem attraktiv. Besonders die himmelblauen Augen, die von dunklen Wimpern umrahmt würden, erregten Gabes Aufmerksamkeit. Ob sie wohl gefärbt sind? fragte er sich unwillkürlich. Und warum interessierte ihn das überhaupt? Im Gegensatz zu den anderen Frauen war sie nicht mit Schmuck überladen, und trotzdem wurde sie von niemandem übersehen. Ihre Schönheit wurde allein von dem Glanz eines schlichten Colliers aus Perlen um ihren Hals betont.

Trotzdem scharten sich die Reichen und Schönen um sie wie Bienen um einen Honigtopf. Prunkvoll gekleidete Damen schienen förmlich an ihren Lippen zu hängen, während die männlichen Ballgäste die Blicke nicht von der zarten Haut ihrer nackten Schultern und des zart schimmernden Dekolletés reißen konnten. Unwillkürlich wusste Gabe, dass sie Französin sein musste, denn nur wenige britische Frauen hätten es gewagt, ein so durchscheinendes silberfarbenes Gewand zu tragen, das keinen Zweifel an den darunter befindlichen sinnlichen Rundungen offenließ. Vielleicht eine gerade in der Stadt eingetroffene Emigrantin? Oder eine Französin, die während seiner Abwesenheit in den vergangenen Monaten nach London gekommen war?

Diese Frau jedenfalls war sündhaft schön auf eine erfrischende, überraschende Art und Weise. Gabe stellte verwirrt fest, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, denn in letzter Zeit war er nur äußerst selten für die Reize des weiblichen Geschlechts empfänglich gewesen.

Beiläufig sah sie ihn an und hob kaum merklich eine Augenbraue. Offenkundig war sie interessiert – mehr als das, Gabe schien ihre Leidenschaft zu entfachen. Ihr sinnlicher Blick gab ihm das Gefühl, von einem Lavastrom durchflutet zu werden. Wie gebannt ließ er sich von dem abwägenden Ausdruck ihrer hellblauen Augen gefangen nehmen. Flüchtig meinte er, so etwas wie Verletzlichkeit in ihrem Blick erkennen zu können. Doch er korrigierte sich gleich darauf selbst – dieses zauberhafte Geschöpf strahlte eine schier unerschütterliche Selbstsicherheit aus.

Plötzlich begann er zu begreifen. Sie musste diejenige sein, vor der man ihn gewarnt hatte.

Es waren also die Franzosen, die ihm misstrauten. Wie typisch für dieses Volk, dass es glaubte, er habe den Reizen einer Frau nichts entgegenzusetzen. Offenbar hatte sein sorgfältig konstruierter Ruf als Schürzenjäger den Feind zu diesem Trugschluss verleitet. Selbstverständlich fand er diese Frau außergewöhnlich attraktiv, doch es gab wohl keinen Mann hier im Saal, auf den das nicht zutraf.

Verdammt noch mal. Wenn er mit seiner Vermutung richtiglag, blieb immer noch die Frage offen, warum man ausgerechnet jetzt seine Loyalität auf die Probe stellen wollte. Es würde äußerst anstrengend sein, an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen zu müssen. Allerdings hätte Gabe es anstelle der Franzosen auch nicht anders gemacht. Auch er hätte Sicherheit darüber erlangen wollen, auf welcher Seite er stand. Schließlich spielte der Marquess of Mooreshead in ihren Plänen eine ausschlaggebende Rolle – wenn er absprang, würde das den Zeitplan für eine französische Invasion um Monate zurückwerfen. Auf gar keinen Fall wollte Gabe, dass die andere Seite unruhig wurde, denn das würde das Unterfangen, sie ein für alle Mal in ihre Grenzen zu verweisen, unnötig erschweren.

Falls er Sceptre von seinen Überlegungen bezüglich der fremden Frau berichtete, würde man von ihm verlangen, die Gefahr zu eliminieren – schnell, brutal und vor allem endgültig. Genau so, wie Marianne aus dem Weg geschafft worden war. Als er daran dachte, wurde ihm plötzlich ganz kalt.

Nein. Nicht ohne einen Beweis. Verdächtigungen allein genügten nicht. Gabe musste herausfinden, wer die Fremde geschickt hatte – und aus welchem Grund. Nur ein Narr würde sich mit einer Gefahr konfrontieren, ohne wenigstens zuvor in Erfahrung gebracht zu haben, woher sie überhaupt kam.

Plötzlich waren alle seine Sinne so geschärft wie vor einem bevorstehenden Kampf. Ohne sich etwas von seiner Anspannung anmerken zu lassen, schritt er ruhig durch den Saal, wobei er im Vorübergehen höflich lächelnd die anderen Ballgäste grüßte. Doch seine Haut kribbelte vor Erregung, und es kam ihm vor, als würde sein Körper in Flammen stehen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so lebendig gefühlt hatte – und das alles nur wegen eines flüchtigen Blicks.

Als er an den anderen Gästen vorbeiging, hörte er den Namen der Fremden. Nicoletta, Comtesse de Vilandry hieß der neue Stern am Himmel der gehobenen Gesellschaft.

Während Gabe sich dem Tisch mit den Erfrischungen näherte, registrierte er erleichtert, dass Monsieur Armande nirgendwo zu sehen war. Angestrengt ging er in Gedanken die französischen Adelsgeschlechter durch. Vilandry. Ein sehr alter Name. Er war sicher, dass sich dahinter die Gefahr verbarg, vor der Armande ihn hatte warnen wollen.

Plötzlich wurde die Hitze in seinem Körper von eiskalter Entschlossenheit zurückgedrängt. So oder so – ihm blieb nichts anderes übrig, als persönlich die Geheimnisse der Comtesse de Vilandry zu erkunden, bevor er nach Cornwall zurückkehrte. Und das hieß, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.

Zweifellos bedeutete Gabriel D’Arcy, Marquess of Mooreshead, eine große Herausforderung für Nickys Talente. Der kühle Ausdruck seiner stahlgrauen Augen hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er zu kämpfen verstand – und den Sieg gewohnt war. Das war beileibe kein Mann, den man unterschätzen durfte. Man hatte sie vor ihm gewarnt, auch wenn er in dem Ruf stand, ausgesprochen charmant zu sein.

Als sich ihre Blicke soeben kurz getroffen hatten, war etwas Seltsames geschehen. Beinahe hätte Nicky die Maske ihrer perfekt einstudierten Rolle der Comtesse de Vilandry fallen lassen. Die verführerische Comtesse, zu der sie einst geworden war, um ihre furchtbare Ehe zu überstehen, war für einen winzigen Moment Nicky Rideau gewichen – dem wehrlosen Mädchen, das sie früher einmal gewesen war. Vielleicht war Mooresheads faszinierende Ausstrahlung schuld daran – die blonden Locken, der männliche Körper, der Ausdruck bedingungsloser Entschlossenheit. Auf den ersten Blick wirkte er keineswegs wie ein Mann, der sein Vaterland hinterging.

Bestürzt hatte sie das erregte Kribbeln wahrgenommen, das sie bei seinem Anblick verspürt hatte – und das, obwohl sie normalerweise bei solchen Aufträgen nie etwas empfand. Wäre Vilandry noch am Leben, dann hätte er ihr sicher angesichts dieser Schwäche eine schallende Ohrfeige versetzt. Verführung fand ohne Gefühle statt. Die Frau durfte den Mann niemals bewundern. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, ihn zu bezaubern und zu quälen.

Als sie ihren Fehler bemerkt hatte, war sie augenblicklich wieder zu der unnahbaren Comtesse geworden. Für Nicky Rideau war es zu spät – schon vor vielen Jahren hatte man sie zu Grabe getragen. Die Comtesse hingegen ließ sich niemals von ihren Sehnsüchten treiben. Gleichgültig, wie gut aussehend oder charmant ein Mann auch sein mochte – er stellte keine Bedrohung für eine Frau dar, die ihr Handwerk von einem wahren Meister seines Fachs gelernt hatte. Sie würde Mooresheads Geheimnisse ergründen und den Beweis für seinen Verrat finden.

Ein Versagen kam nicht infrage, wenn sie von Paul die falschen Ausweispapiere bekommen wollte, mit deren Hilfe sie nach Frankreich reisen konnte. Seitdem sie erfahren hatte, dass ihre Schwester möglicherweise noch am Leben war, wurde sie von Selbstvorwürfen geplagt.

Wenn sie Mooreshead überführte, würde sie endlich die Gelegenheit erhalten, sich Gewissheit zu verschaffen.

Allerdings war es eine delikate Aufgabe, sich einem Mann mit seinem Ruf auf sinnliche Weise zu nähern. Nicky hatte sich im Vorfeld über ihr neues Opfer informiert. Ein Lebemann. Ein Verräter an seinem Vaterland. Ein Mann, der aufs Ganze ging und im Nahkampf anderen haushoch überlegen war. Ein unverbesserlicher Schürzenjäger, dem kaum mehr am Herzen lag als der tadellose Schnitt seines Mantels und der sorgfältig gebundene Knoten seiner zweifelsohne teuren Krawatte. Ein Mann, der immer zu lachen pflegte – gleichgültig, ob er im Spiel ein Vermögen gewann oder verlor. Ein Mann, der auf großem Fuß lebte, ohne es sich eigentlich leisten zu können, wenn man den Gerüchten glauben durfte. Allein das hätte schon genügt, um Nickys Misstrauen zu wecken.

Vermutlich würde es nicht leicht sein, eine Schwachstelle bei Mooreshead auszumachen, der so unbekümmert vor sich hin zu leben schien. Zumindest für jede gewöhnliche Frau kein leichtes Unterfangen, doch die Comtesse war hervorragend geschult in den Künsten der Manipulation und Verführung. Ihr Ehemann hatte alles darangesetzt, seine junge Frau darin zu unterweisen, wie sie ihn zufriedenstellte – und gleichzeitig dazu benutzt, Freunde und politische Feinde nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Erschaudernd dachte sie daran zurück.

Trotzdem würden sich Vilandrys Lektionen auch bei ihrem neuesten Auftrag bewähren. Selbst falls Paul sie nicht nach Frankreich schickte, um die Briten im Krieg zu unterstützen, hätte sie endlich genügend Geld beisammen, um sich die Reise selbst leisten zu können.

Als sie sich im Ballsaal umsah, bemerkte sie, dass Mooreshead mittlerweile am Tisch mit den Erfrischungen stand und gelangweilt den Tanzenden zusah – zumindest erweckte er den Anschein.

Lächelnd wandte Nicky sich an ihre Begleiterin, die stämmige Mrs. Featherstone. Zwar benötigte Nicky als Witwe im Grunde keine Anstandsdame, doch die ältere Dame mit den grauen Locken verhalf Nicky nicht nur zu einer angesehenen Reputation. Sie war außerdem ihre Verbindungsperson zum Chef des Spionagerings.

„Ma chère madame“, sagte sie. „Warum müssen die Engländer es nur immer so warm in ihren Räumen haben? Ich habe das Gefühl, als würde ich gleich verdursten.“

„So schlimm, meine Liebe?“, fragte die ältere Frau und sah unauffällig zu dem Alkoven mit den Getränken. Als sie ihr Ziel entdeckte, lächelte sie leicht. „Weshalb ist eigentlich nie ein Diener da, wenn man einen benötigt? Lassen Sie mich sehen, was ich für uns tun kann“, erklärte sie und ging zu dem Erfrischungsstand hinüber.

Kurz darauf kehrte sie mit Mooreshead im Schlepptau wieder zurück, der zwei Champagnerkelche trug. Dankbar nahm Nicky ein Glas von ihm entgegen.

„Comtesse“, sagte Mrs. Featherstone. „Darf ich Ihnen Lord Mooreshead vorstellen? Er ist so freundlich gewesen, mich eben zu retten. Mylord, die Comtesse de Vilandry.“

Lächelnd machte Nicky einen höflichen Knicks und war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass sie dem Marquess somit einen verführerischen Einblick in ihr Dekolleté ermöglichte. Eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen ließ, wie sie feststellte. Jede andere Frau wäre womöglich errötet, sie hingegen wartete geduldig, bis er ihr wieder ins Gesicht sah, bevor sie ihm die Hand entgegenstreckte. „Mylord.“

„Comtesse.“ Fest und doch gleichzeitig sanft hielt er ihre Hand umfasst, während er sich formvollendet vor ihr verbeugte. „Mrs. Featherstone hat mir erzählt, dass Sie bereits seit einem Monat in der Stadt sind“, fuhr er fort. „Ich bedauere es außerordentlich, Sie nicht früher in London willkommen geheißen zu haben. Hätte ich gewusst, dass die Welt aus den Fugen gehoben werden würde, hätte ich sicherlich nicht etwas so Langweiliges wie einen Aufenthalt auf dem Land in Erwägung gezogen.“

Seine Stimme klang tief und angenehm, und seinen Augen sah man an, wie gerne er lachte – allerdings wusste sie nicht, ob über sich selbst oder die Welt im Allgemeinen.

Unwillkürlich musste sie auf seine breiten männlichen Schultern starren und spürte wieder dieses verräterische Kribbeln in ihrem Bauch, das eine Frau in Gegenwart eines beeindruckenden Mannes empfand. Sie musste sich in Acht nehmen vor jemandem, dem es so leichtfiel, ihr Verlangen zu entfachen. Diese Schwäche für ihn konnte ihre ganze Mission gefährden. Allerdings fürchtete sie sich nicht zu sehr, denn sie verstand sich sehr gut darauf, Verlangen für ihre eigenen Zwecke einzusetzen – sie würde Mooresheads verräterischem Tun ein Ende bereiten.

Sacht neigte sie den Kopf. „Ein äußerst charmanter Gedanke, Mylord, aber gleichzeitig auch eine himmelhohe Übertreibung.“

Lachend presste er eine Hand auf seine Brust. „Bei meiner Ehre, Mylady, Ihre Worte treffen mich zutiefst.“

„Das ist nicht meine Absicht gewesen.“

Mrs. Featherstone berührte Nicky am Arm. „Würden Sie mich für einen Moment entschuldigen, Mylady? Ich würde gerne mit einer lieben Freundin sprechen, die soeben erschienen ist. Ich fürchte, wenn ich sie nicht gleich anspreche, finde ich sie nachher in diesem Gedränge nicht mehr wieder.“

Eine Ausrede, die sie sich zuvor gemeinsam überlegt hatten, um Nicky allein mit Mooreshead zu lassen. „Selbstverständlich“, erwiderte Nicky. „Ich befinde mich während Ihrer Abwesenheit in guter Gesellschaft Seiner Lordschaft.“

„Ich tue mein Bestes“, meinte Mooreshead und verbeugte sich höflich, als Mrs. Featherstone ging. Einen Augenblick darauf blickte er Nicky verführerisch lächelnd an. „Um meiner Pflicht als Gesellschafter auf gebührende Weise erfüllen zu können, dürfte ich um den nächsten Tanz bitten, Mylady?“

Sie fühlte sich versucht, seinem unwiderstehlichen Charme auf der Stelle nachzugeben, so sehr bannte sie die männliche und selbstbewusste Ausstrahlung Mooresheads, doch sie wusste, dass das kein besonders kluger Schachzug gewesen wäre. Wenn sie sich zu leicht einverstanden erklärte, würde er misstrauisch werden – oder gelangweilt. Bedauernd seufzte sie. „Vielen Dank, aber ich muss leider ablehnen. Diesen Tanz habe ich bereits jemand anderem versprochen. Später vielleicht?“

Wie aufs Stichwort gesellte sich in diesem Moment der junge Mann, der sie um den ersten Tanz gebeten hatte, kaum dass sie den Ballsaal betreten hatte, zu ihnen. Er verbeugte sich und bot ihr den Arm an. „Mein Tanz, wenn ich mich nicht irre, Mylady“, sagte er triumphierend. Als er Mooreshead sah, nickte er ihm kühl zu. „Mylord.“

„Sie gehört ganz Ihnen“, erwiderte Gabe so selbstverständlich, als stünde ihm das Recht zu, über die Comtesse zu verfügen. „Der Tanz vor dem Abendessen ist der unsere, habe ich recht? Ich bin rechtzeitig wieder bei Ihnen.“

Widerstrebend musste sie darüber lächeln, dass er sie auf so raffinierte Weise zum Essen eingeladen hatte. „Aber sicher. Bis dann.“

Nachdem Mooreshead sich verneigt hatte, schlenderte er davon. Nun, das war einfacher, als ich erwartet hatte, dachte Nicky. Beinahe etwas zu einfach.

Sie musste sich vorsehen, nicht zu bereitwillig zu erscheinen, damit er keinen Verdacht schöpfte. Ein Mann, der in der gefährlichen Welt der Spionage zu Hause war, würde nicht so leicht in die Irre zu führen sein.

Die Comtesse hatte Gabe mit ihrer Kühnheit verzaubert – und mit ihren kornblumenblauen Augen, die ihm verrieten, wie intelligent diese Frau war – und wesentlich lebenserfahrener, als man angesichts ihrer Jugend annehmen mochte.

Trotzdem würde er unter anderen Umständen die Bekanntschaft mit dieser Dame nicht weiter vertiefen – zumal die Featherstone ganz offensichtlich nicht mit offenen Karten spielte. Vielleicht war es purer Zufall, dass die Comtesse Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, nachdem er vor einer Gefahr gewarnt worden war. Zufall, dass sie gerade in dem Augenblick in Erscheinung getreten war, nachdem Gabe neue Anweisungen aus Frankreich erhalten hatte. Doch er glaubte nicht an Zufälle.

Der sprichwörtliche Fehdehandschuh war ihm vor die Füße geworfen worden, und er konnte es sich angesichts der angespannten Lage nicht leisten, ihn zu ignorieren. Es ärgerte ihn maßlos, dass ihn die weiblichen Reize dieser Frau so faszinierten. Er stieß den Atem aus und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Auf jeden Fall musste er in Erfahrung bringen, warum man sie geschickt hatte und wessen man ihn überhaupt verdächtigte. Während er im Ballsaal umherging und mit Bekannten Höflichkeiten austauschte, informierte er sich gleichzeitig über die neuesten Gerüchte, die den Pulsschlag der oberen Zehntausend beschleunigten. Offenbar wusste man nur wenig über die Comtesse de Vilandry – abgesehen davon, dass alle sie bedingungslos verehrten.

Männer und Frauen bewunderten sie gleichermaßen – die Comtesse setzte neue Maßstäbe für Mode und guten Geschmack. Es bestand kein Zweifel daran, dass Gabe die schöne Französin einer näheren Betrachtung unterziehen musste.

Verlangen regte sich in ihm bei dieser Vorstellung – und Gabe erstarrte vor Schreck. Schon seit Jahren hatte keine Frau vermocht, ihm so eine Reaktion abzuringen. Nie ließ er eine nah genug an sich heran, denn Marianne hatte ihn gelehrt, was für ein Fehler es war, Frauen sein Herz zu offenbaren. Warum sollte die Comtesse anders sein?

Plötzlich wurde er sich seiner Einsamkeit schmerzlich bewusst. Fühlte er sich etwa deswegen so sehr zu dieser Fremden hingezogen, weil sie, wie er, ein Geschöpf von Lügen und der Dunkelheit war?

Rasch bemühte er sich, die unerfreulichen Schatten der Vergangenheit wieder abzuschütteln. Seine Aufgabe war einfach. Er musste lediglich herausfinden, ob sie diejenige war, vor der Armande ihn gewarnt hatte – und falls dem so war, das Problem beseitigen.

Bis zum Abendessen war noch gut eine Stunde Zeit, weswegen er ins Kartenspielzimmer ging und sich die Zeit mit einer Partie Faro vertrieb. Das war in jedem Fall angemessener, als am Rand der Tanzfläche zu stehen und die Comtesse mit sehnsüchtigen Blicken zu verfolgen. Es war allgemein bekannt, dass Gabe den Frauen nicht nachstellte – sie kamen von ganz allein zu ihm. Und die Einzigen, die Erfolg mit ihren Annäherungsversuchen hatten, waren die, denen der Sinn lediglich nach schönen Stunden ohne weitere Verpflichtungen stand.

Das Spiel an seinem Tisch war äußerst riskant, der Einsatz hoch und vermochte seine innere Anspannung ein wenig abzulenken. Trotzdem war er ständig versucht, in den Ballsaal zurückzukehren und zu überprüfen, ob er sich diese Anziehungskraft nur eingebildet hatte. Zum Leidwesen seiner Mitspieler erhöhte er den Einsatz – und gewann ein weiteres Mal. Nachdenklich musterten sie ihn, und Gabe ahnte, was sie dachten – ob er sie betrogen hatte?

Ruhig erhob er sich von seinem Platz, strich unter den missbilligenden Blicken der übrigen Spieler seinen Gewinn ein und kehrte in das farbenprächtige Gedränge des Ballsaals zurück. Trotz der vielen Gäste sah er die Comtesse sofort. Eine mysteriöse Frau, die gerade dadurch auffiel, dass sie nicht mit funkelnden Juwelen behangen war und trotzdem mit ihrem verführerischen Glanz alle anderen Frauen übertraf. Augenblicklich entflammte Gabes Lust auf ein Neues.

Er unterdrückte einen Fluch. Gleichgültig, ob der Feind sie nun geschickt hatte oder nicht – er bedauerte bereits, dieser schönen Französin begegnet zu sein.

Die musikalische Vergnügung vor Beginn des Dinners war ein Cotillion, ein lebhafter französischer Figurentanz mit wechselnden Partnern. Erfreut stellte Nicky fest, dass Mooreshead ein überaus talentierter sowie ausnehmend anmutiger Tänzer mit einer überwältigend erregenden männlichen Ausstrahlung war. Stets war er dort, wo sie ihn erwartete, drehte sich immer zur richtigen Seite und ließ nie eine Figur aus. Dabei unterhielt er sich höflich mit ihr, und gleichgültig, wie komplex die Abfolge der erforderlichen Tanzschritte auch war, er ließ nie auch nur den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass seine Tanzpartnerin für ihn im Augenblick das Wichtigste war. Nur wenige Männer beherrschten diese Fähigkeit so formvollendet wie Mooreshead, und Nicky war entsprechend beeindruckt.

„Wie gefällt Ihnen London?“, erkundigte er sich, als sie abermals auf der Tanzfläche aufeinandertrafen und einander die Hände reichten.

„Es scheint eine äußerst ehrenwerte Stadt zu sein.“

Er zog eine Augenbraue hoch und betrachtete sie amüsiert. „Würden Sie denn eine andere Eigenschaft bevorzugen?“

Die Choreografie des Tanzes verlangte, dass sie sich kurz voneinander trennten, und Nicky lächelte ihrem neuen Partner zu, der daraufhin errötete und sich prompt vertanzte.

Am Ende der Reihe traf sie wieder auf Mooreshead, und gemeinsam mit ihm durchschritt sie die Gasse, welche durch die anderen Paare gebildet wurde. „Ich habe keine Vorliebe für unehrenwerte Dinge, falls Sie darauf anspielen sollten“, erwiderte sie lächelnd. „Aber ich finde London ein wenig eintönig.“

„Dann müssen Sie ja von den Londoner Gentlemen äußerst enttäuscht worden sein.“

Ah, da war es also – sein Angebot, näher mit ihm bekannt zu werden. Am Ende der Reihe trennten sie sich, um sich drei Tanzfiguren später kurz die Hände zu reichen und sich anmutig zu drehen. Durch den Stoff ihrer Handschuhe hindurch spürte Nicky die angenehme Wärme von Mooresheads Haut, und ein wohliger Schauer durchströmte sie – eine verwirrende Mischung aus sinnlicher Erwartung und dezentem Ärger über sich selbst. Ja, der Mann war überaus attraktiv. Vermutlich konnte keine Frau diesen klassisch schönen Gesichtszügen widerstehen, dem sinnlichen Schwung seiner Lippen und dem goldenen Schimmer, den das sanfte Kerzenlicht auf sein blondes Haar zauberte. Doch Nicky durfte niemals vergessen, dass er ein Verräter war und von dem Erfolg ihrer Mission Hunderte von Menschenleben abhingen. Möglicherweise sogar Tausende. Und nicht nur Soldaten, sondern auch Unschuldige würden sterben, wenn Nicky versagte. Kalte Entschlossenheit breitete sich in ihr aus. Ihre Arbeit war viel zu wichtig, als dass sie es sich hätte erlauben können, schlichtem sinnlichem Verlangen nachzugeben.

Fragend sah sie ihn an. „Dann darf ich davon ausgehen, dass Sie es besser machen würden?“

Gelassen lächelte er, und Nicky hatte das Gefühl, dass ihr Herzschlag einen winzigen Moment lang aussetzte.

„Dessen bin ich mir sogar ziemlich sicher“, entgegnete er mit seiner samtig dunklen Stimme, und Nicky wurde plötzlich ganz warm.

Entschlossen atmete sie aus. Nein, hier ging es nicht um ihre Sehnsüchte. Die Pflicht kam als Erstes – und sie durfte Minette nicht vergessen. Sie würde Mooreshead nur dann in die Falle locken können, wenn sie sich kühl und distanziert zeigte und ihn glauben ließ, nicht das geringste Interesse an ihm zu haben. Nichts weckte den Jagdtrieb eines Mannes mehr als eine kalte Schulter – vor allem dann, wenn er es gewohnt war, von den Frauen umschwärmt zu werden.

„Wie Sie meinen“, sagte sie betont gleichgültig und bemerkte etwas in seinem Blick, das sie nicht deuten konnte. Verärgerung vielleicht? Oder war es etwas anderes? Früher oder später würde sie es erfahren.

Jedenfalls schwieg Mooreshead daraufhin bis zum Ende des Tanzes, und als es Zeit für den Imbiss wurde, legte Nicky eine Hand sacht auf den Arm, den Mooreshead ihr höflich anbot. Unter dem edlen Stoff des eleganten Anzugs spürte sie kräftige Muskeln, was sie angenehm überraschte. Ihrer Erfahrung nach neigten die Männer der gehobenen Gesellschaftsschicht nicht selten dazu, körperliche Ertüchtigung zu vernachlässigen. Nur zu gerne hätte sie erkundet, wie stark Mooreshead wirklich war und ob sein Körper tatsächlich dem einer griechischen Götterstatue ähnelte, an die sie denken musste, wenn sie ihn ansah. Vermutlich würde sie bereits in nicht allzu ferner Zukunft eine Antwort auf ihre Frage erhalten – natürlich nur im Zuge ihrer Pflichterfüllung und nicht etwa, weil sie Gefallen daran fand. Ganz sicher nicht.

Im geschmackvoll eingerichteten Speisesaal hatte man für die Gäste kleine runde Stehtische aufgestellt. Das Büffet war auf einem Seitentisch aufgebaut, und während Nicky eine Auswahl zwischen Hummerpastetchen, Austern und ausgezeichneten kleinen Kuchen traf, hielt Mooreshead ihre Teller in der Hand. Anschließend führte er seine Begleiterin an einen Ecktisch, von dem aus man den ganzen Raum überblicken konnte und wo man vor allzu zudringlichen Annäherungsversuchen anderer Gäste geschützt war.

Nicky hätte an Mooresheads Stelle denselben Tisch gewählt.

Glücklicherweise unternahm niemand den Versuch, sich zu ihnen zu gesellen, und Nicky vermutete, dass der Ruf des Marquess nicht ganz unschuldig daran war.

„Zweifellos haben Ihnen alle anwesenden Gentlemen bereits Komplimente darüber gemacht, wie bezaubernd Sie aussehen“, sagte Mooreshead. „Gestatten Sie mir deswegen, Ihnen zu gestehen, wie geehrt ich mich fühle, dass Sie mit mir zu Abend essen?“

„Womit bewiesen wäre, dass Sie nicht nur charmant aussehen, sondern auch so zu reden verstehen.“

„Mylady sind zu freundlich.“

„D’accord“, stimmte sie zu. „Es sieht ganz danach aus, als würden wir einander bereits gut verstehen.“

Er lachte leise, und bei dem melodischen Klang seiner männlichen Stimme erschauerte Nicky wohlig. Nein, dachte sie verzweifelt, das will ich nicht, auf gar keinen Fall. Sie musste in dieser Angelegenheit unbedingt einen klaren Kopf behalten.

„Sie sind bestimmt schon lange in England“, bemerkte er. „Ihre Aussprache ist tadellos.“

Merci. Ich habe Frankreich gleich nach dem Tod meines Gatten verlassen.“ Sie selbst war auch nicht ungeschickt, wenn es darum ging, lediglich vage Informationen preiszugeben.

Nachdenklich betrachtete er sie, und Nicky ahnte, dass sie ihm viel zu jung vorkam, um bereits verwitwet zu sein. Doch Äußerlichkeiten konnten einen leicht in die Irre führen. Vermutlich wäre er entsetzt gewesen, wenn er erfuhr, dass sie im zarten Alter von zwanzig bereits fünf Jahre verheiratet gewesen war. „Das ist sicherlich eine schwierige Zeit für Sie gewesen“, sagte er schließlich ernst.

„Ich habe überlebt, was viele andere nicht von sich behaupten können.“

„Ich gratulieren Ihnen zu Ihrer Flucht.“

Das versuchte sie ebenfalls, doch immer wieder musste sie an das Feuer und die dämonische Fratze von Captain Chiroux denken. Wenn ihr damals bewusst gewesen wäre … Doch es war zu spät, um die Vergangenheit zu bereuen. Inständig hoffte sie, dass Minette ebenfalls irgendwie überlebt hatte. Erst wenn sie darüber Gewissheit hatte, würde sie sich über ihre Flucht aus Frankreich freuen können – ansonsten blieb ihr nichts außer abgrundtiefem Bedauern darüber, ihre Schwester im Stich gelassen zu haben.

„Was haben Sie bisher gemacht?“, erkundigte er sich.

„Auf Sie gewartet.“

Erstaunt blickte er sie an, bevor er zu lachen begann, aber an seinen Augen konnte sie erkennen, dass es sich lediglich um gespielte Heiterkeit handelte. Sie spürte, dass dieser Mann weitaus gefährlicher war, als es den Anschein hatte, und unwillkürlich begann sie zu frösteln.

Betont unschuldig sah sie ihn an. „Ich stelle fest, dass Sie mir nicht glauben.“ Sie seufzte theatralisch. „Und ich bin untröstlich, dass ausgerechnet jetzt meine Begleiterin Madame Featherstone zurückkehrt und unser entzückendes Tête-à-tête unterbricht.“ Die Ärmste sah völlig erschöpft aus unter ihrer rotbraunen Kopfbedeckung, auf der eine Pfauenfeder hin und her wippte. Nun, das war auch gut so, denn schließlich war es ihre Aufgabe, ein wachsames Auge auf Nicky und Mooreshead zu haben – zumindest so lange, bis sie sicher sein konnten, dass er keinen Verdacht geschöpft hatte. Ein Mann, der in die Enge getrieben wurde, konnte äußerst gefährlich werden.

„Reiten Sie?“, fragte sie, kurz bevor die Witwe sie erreichte. „Normalerweise finden Sie mich morgens um sieben im Hyde Park – bevor er zu belebt ist.“

„So, Sie haben also eine Schwäche für einen schnellen Ritt“, erwiderte er und lächelte verschwörerisch, doch Nicky beschloss, nicht weiter auf die Anzüglichkeit seiner Bemerkung einzugehen, sodass er nach einer Weile hinzufügte: „Ich hole Sie um sechs mit meiner Kutsche ab. Bringen Sie Ihr Pferd und Ihren Stalljungen mit. Anschließend werden wir frühstücken.“

Statt einer Erwiderung lächelte sie zum Einverständnis gerade in dem Moment, in dem Mrs. Featherstone bei ihnen angekommen war. Augenblicklich erhob Mooreshead sich, um der älteren Dame lächelnd mit einer Verbeugung einen Platz anzubieten. Falls er sich durch die Gegenwart der anderen Frau gestört fühlte, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. An seinen Manieren gab es nichts auszusetzen. Trotzdem spürte Nicky, wie aufgewühlt er unter seiner nach außen zur Schau getragenen heiteren Fassade war.

Wie unter Engländern üblich, unterhielt sich die kleine Gesellschaft schon kurz darauf über das Wetter. Niemand war so ungehörig, auf den Krieg zu sprechen zu kommen.

2. KAPITEL

Es bereitete Gabe nicht sonderlich viel Mühe, den Wohnort der Comtesse de Vilandry herauszufinden. Jeder schien zu wissen, wo sie in Golden Square residierte. Obgleich nicht besonders luxuriös, handelte es sich um eine angesehene Adresse. Über die Begleiterin der Comtesse, Mrs. Featherstone, war nicht viel bekannt. Sie schien förmlich aus dem Nichts aufgetaucht zu sein, doch Gabe gab ohnehin nicht viel auf staubige Konventionen. Die Comtesse wurde im Allgemeinen als risikofreudig und lebhaft beschrieben, und Gabes Nachforschungen bezüglich ihrer Vergangenheit hatten nichts Auffälliges ergeben. Gesellschaftlich schien sie jedenfalls voll und ganz akzeptiert zu sein, und er begann, sich zu fragen, ob sein Verdacht möglicherweise unbegründet war.

Sceptre jedenfalls hatte ihm keine weiteren Auskünfte erteilen können.

Französische Emigranten waren in diesen Zeiten nicht außergewöhnlich. London platzte förmlich aus den Nähten vor Menschen, die vor Bonapartes Politik flohen. Je länger Gabe darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass keine der beiden Seiten so einfallslos sein würde, ihm eine so leicht zu durchschauende Falle zu stellen. Oder hoffte er das nur, weil er sich tief in seinem Inneren unwiderstehlich von dieser Frau angezogen fühlte? Dabei wusste er, wie gefährlich es für einen Mann war, sich dem Verlangen nach einer Frau hinzugeben – doch in seinem Fall war dieses Gefühl völlig uncharakteristisch. Bisher hatte er sich seit seiner Rückkehr aus Frankreich nur flüchtigen Bekanntschaften gewidmet, die lediglich dazu gedient hatten, seine Tarnung aufrechtzuerhalten. Nach Armandes Warnung hingegen konnte er nicht einfach darüber hinwegsehen, wenn eine Frau sich so offensichtlich um seine Gunst bemühte. Er musste überaus vorsichtig sein, denn ein falscher Schachzug genügte, um seine sorgfältig errichtete Tarnung wie ein Kartenhaus zusammenstürzen zu lassen.

Als er mit seinem Zweispänner vor das Haus der Comtesse fuhr, bemerkte er einen Stallburschen, der die Zügel einer kleinen schwarzen Stute hielt. Unruhig warf das Tier beim Anblick von der Kutsche den Kopf nach hinten. Gerade als Gabes Bursche vom Wagen gesprungen und zu den Pferden gegangen war, um sie festzuhalten, wurde die Eingangstür des Hauses geöffnet. Die Comtesse trat heraus, bekleidet mit einem hellblauen Reitkleid, das ihre wohlgeformte Figur betonte. Auf ihrem sorgfältig frisierten Haar thronte ein modischer Hut mit Schleier und verlieh ihr den Charme einer Abenteurerin.

Rasch sprang Gabe vom Wagen und ging der verführerischen Frau entgegen. „Guten Morgen, Comtesse“, sagte er und verbeugte sich. „Ich fühle mich durch Ihre Pünktlichkeit über alle Maßen geehrt.“

„Das brauchen Sie nicht, mon cher Mooreshead“, erwiderte sie lächelnd. „Meine Peridot liebt es einfach nicht zu warten.“

„Ihr Pferd ist von erlesener Schönheit – wie seine Herrin.“

„Und wesentlich ungeduldiger.“

Leise lachte er. Zweifellos war sie vertraut mit der hohen Kunst der Koketterie. Ein paar Stunden lang würde es ihm in ihrer Gegenwart sicherlich gelingen, seine dunklen Gedanken einmal zu vergessen. Vielleicht wäre sie ja auch dazu bereit, seine Lust zu befriedigen. Er spürte, wie sich das Verlangen in ihm regte. Doch Gabe durfte nicht vergessen, dass im Moment andere Dinge wichtiger für ihn waren. Beispielsweise der Umstand, dass er London so schnell wie möglich verlassen musste, um nach Cornwall zu reisen. Das würde er tun, sobald er sicher sein konnte, dass von der Comtesse keine Gefahr ausging.

Er nahm ihre Hand, um sie die Treppe herunterzugeleiten. „Dann darf ich Sie gewiss nicht länger warten lassen. Ich habe veranlasst, dass unser Frühstück um neun Uhr bereitsteht.“

Amüsiert sah sie ihn mit ihren strahlend blauen Augen an. „Sie scheinen zu wissen, was Sie wollen, Mylord.“

„Nur der Wagemutige vermag, das Herz einer schönen Frau zu erobern“, erwiderte er und deutete auf den Zweispänner. „Darf ich Ihnen behilflich sein?“

„Certainement“, entgegnete sie. „Aber sicher.“

Mühelos umfasste er ihre zierliche Taille und hob sie hoch. Überrascht stellte er fest, wie kräftig diese scheinbar so zierliche Frau zu sein schien. Der Körper einer passionierten Reiterin.

Kurzfristig wurde er abgelenkt von einer überaus verlockenden Vorstellung, in der sie beide sich einem Reitausflug hingaben, an dem allerdings keine Pferde beteiligt waren. Ein sinnliches Abenteuer zwischen den Laken – und wieder wurde Gabe von der Intensität seines Verlangens überrascht. Zweifellos würde er diese Bekanntschaft in vollen Zügen genießen, gleichgültig, wie kurz sie sein würde.

„Ihr Bursche folgt uns?“, fragte er, nachdem er den Wagen umrundet hatte, um auf seine Seite zu steigen.

„Ja.“

„Dann lass sie jetzt los, Jimmy“, wies Gabe seinen Burschen an, und kurz darauf setzten die Pferde sich in Bewegung.

„Kommt Ihr Stallbursche denn nicht mit uns?“, erkundigte die Comtesse sich.

„Wir haben doch Ihren.“

„Ja, aber wer kümmert sich während unseres Ausritts um Ihre Pferde? Oh!“ Sie lachte. „Mylord, Sie sind ein ganz schlimmer Mann.“

Er lachte ebenfalls. „Ich bin schon ziemlich lange in der Stadt, Comtesse. Dabei habe ich gelernt, die Gesellschaft einer bezaubernden und schönen Frau voll und ganz zu genießen.“

„Ich mache mir nichts aus Komplimenten.“

„Und wenn sie der Wahrheit entsprechen, Mylady?“

„Auch dann nicht“, erwiderte sie sanft.

Beim Klang ihrer weichen Stimme musste Gabe unwillkürlich an einen samtigen Brandy denken, der wärmend seine Kehle hinunterrann.

„Doch Sie sollten besser wissen, Mylord“, fuhr sie fort zu erklären, „dass Ihnen Ihr Ruf vorauseilt. Man hat mich gewarnt, dass jede Frau in London um ihre Tugend zu fürchten beginnt, sobald Sie ihr ein Lächeln schenken.“

„Nennen Sie mich doch einfach Gabe“, meinte er nur und wich ihrem herausfordernden Blick aus, indem er vorgab, sich ganz und gar darauf zu konzentrieren, zwei langsameren Kutschen vor ihnen auszuweichen.

„Gabe?“

„Die Kurzform für Gabriel.“

„Ein Teufel, der nach einem Engel benannt ist? Très amusant – wie amüsant.“

„In der Tat. Aber das haben Sie bestimmt schon gewusst.“ Sicher hatte sie seinen Namen schon vorher gekannt, und er wollte in ihren Augen nicht wie ein Dummkopf dastehen oder sich auf Wortspielereien einlassen. Eigentlich wünschte er nur den Beweis dafür, dass sein Verdacht unbegründet war. Obwohl das eigentlich keinen Sinn ergab, wenn er näher darüber nachdachte, denn im Grunde wollte er natürlich wissen, wer der Feind war, vor dem Armande ihn gewarnt hatte. Da wäre es wirklich am einfachsten, wenn die Comtesse diejenige war, nach der er suchte. Dann könnte er heute das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen und gleich morgen früh nach Cornwall aufbrechen. Fragend sah er sie an.

Gut gelaunt erwiderte sie seinen Blick und ließ nicht erkennen, was wirklich in ihr vorging. Oberflächlich betrachtet schien sie lediglich ein kokettes Gespräch mit ihm im Sinn zu haben. „Wollen Sie mich wirklich um das Vergnügen an der Pointe bringen?“

„Im Laufe der Zeit ist sie ein wenig abgenutzt.“

Sie lachte glockenhell, und seltsamerweise berührte ihr Lachen etwas in seinem Herzen. „Dann ist es ja nur gut, dass wir das gleich zu Anfang geklärt haben. Sie dürfen mich Nicky nennen. Nicoletta ist etwas umständlich für einen Engländer auszusprechen, finden Sie nicht auch?“

„Nicky“, wiederholte er und ließ sich den Namen förmlich auf der Zunge zergehen. „Das passt zu Ihnen.“

Nachdenklich musterte sie ihn. „Ist das als Kompliment gemeint?“

„Einer Frau, die so bezaubernd ist wie Sie, mangelt es bestimmt nicht an Komplimenten.“

„Bezaubernd? Keineswegs. Ich schätze, man nennt es eher das gewisse Etwas, n’est-ce pas – meinen Sie nicht auch?“

„Ich meine, dass wir in diesem Wortgefecht ein Unentschieden erreicht haben.“

„Gefecht?“ Sie runzelte die Stirn. „Wir führen doch keinen Krieg. Entspannen Sie sich, mon ami, und begreifen Sie den bevorstehenden Ausritt als Auftakt eines wundervollen Tages.“

In der Zwischenzeit hatten sie ihr Ziel erreicht, und Gabe half seiner Begleiterin gut gelaunt von der Kutsche herunter. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal die Gesellschaft einer Frau so sehr genossen hatte. Es kam ihm so vor, als würde er seit Langem endlich wieder aus der Dunkelheit heraus ans Licht treten. Diese rätselhafte Frau strahlte etwas aus, das sich nicht einfach in Worte fassen ließ. Er spürte, wie er sich danach verzehrte, ihren Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Doch gleich darauf wurde sein Hochgefühl von finsteren Gedanken wieder zunichtegemacht. Was, wenn Nicky tatsächlich die französische Spionin war, vor der Armande ihn gewarnt hatte? Vielleicht gelang es ihm ja, ihre Auftraggeber von seiner Loyalität zu überzeugen, ohne dieses wundervolle Geschöpf aus dem Weg schaffen zu müssen – zumindest nicht sofort.

„Ich kann es kaum erwarten zu beobachten, wie Sie dieses herrliche Pferd bewegen“, sagte Gabe, als sie aufsaßen.

Abschätzend betrachtete sie seinen muskulösen rotbraunen Wallach, der nicht nur stark, sondern auch schnell wie der Wind war. „Ich wette meinen Handschuh, dass Sie gleich nur noch die Staubwolke von Peridot und mir sehen werden.“

Abermals eine Herausforderung. Offenbar war das ein ausgeprägter Wesenszug dieser Frau – und darüber hinaus ein äußerst reizvoller. „Dann bin ich gespannt, wie Sie mich davon überzeugen wollen“, antwortete Gabe und presste die Fersen in Bacchus’ Flanken.

Der kühle Morgenwind schien in Nickys Wangen zu beißen. Das taubenetzte Gras funkelte wie unzählige Diamanten im Sonnenlicht, und sie fühlte sich sorglos und glücklich. Beinahe so, als wäre die Comtesse nichts weiter als ein dunkler Traum und sie wieder das junge unbeschwerte Mädchen von einst. Glücklicherweise ritt Mooreshead weit vor ihr. Der junge Marquess war viel zu gescheit, als dass er sie durch einen geschenkten Sieg beleidigen würde. Auf keinen Fall durfte er ihr jetzt ins Gesicht sehen, sonst wäre es um ihre Tarnung geschehen. Sie atmete tief ein und bemühte sich darum, die Fassung zurückzuerlangen.

Vergangene Nacht hatte Paul sie daran erinnern müssen, wie gefährlich Mooreshead in Wirklichkeit war. Auf gar keinen Fall durfte sie sich von seinem verführerisch unbeschwerten Auftreten täuschen lassen. Was hatte wohl geschehen müssen, um einen einflussreichen, gut erzogenen Mann wie ihn zu einem Verräter werden zu lassen? Sie würde ziemlich geschickt vorgehen müssen, um seinen Verrat aufzudecken und ihn der Gerechtigkeit zu überantworten.

Sie zwang sich, nicht an das Ende, sondern an etwas Erfreulicheres zu denken, und trieb Peridot weiter an. Trotzdem erreichte Gabe als Erster das Ziel und drehte sich mit einem jungenhaften Lächeln zu ihr herum. Nicky spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte.

Beschämt von ihrer mädchenhaften Reaktion, zügelte sie ihre Stute vor ihm und lächelte Mooreshead etwas gezwungen an. Auf Nickys Kommando hin neigte Peridot den Kopf vor den Gewinnern.

„Was für eine Schönheit“, sagte Mooreshead zufrieden. „Und so schnell.“

„Nicht schnell genug“, erwiderte Nicky. „Ihr Wallach ist zwar nicht hübsch, dafür aber stark.“

Zufrieden tätschelte Gabe sein Reittier. „Wie ich sehe, kennen Sie sich mit Pferden aus.“

„Wenn dem so wäre, dann hätte ich bestimmt nicht einen meiner neuen Handschuhe verwettet.“ Mit klopfendem Herzen streckte sie dem Marquess die behandschuhte Hand entgegen und konnte es kaum erwarten, seine Berührung zu spüren. Kühnheit war stets der beste Weg, einem Mann zu begegnen, der glaubte, dass er alle Fäden in der Hand hielt.

Betont langsam streifte er seine Handschuhe ab und klemmte sie unter die muskulösen Oberschenkel, bevor seine Finger die von Nicky umschlossen. Ohne Zweifel war er ein großer, kräftiger Mann, und sie spürte seine Wärme selbst durch das feine Ziegenleder des Handschuhs. Ein wohliger Schauer erfasste sie, doch sie ließ sich nichts anmerken, während sie Gabe scheinbar gelassen zusah. Behutsam löste er den winzigen Knopf des Handschuhs oberhalb ihres Handgelenks, bevor er sie galant dort küsste. Die Berührung seiner weichen Lippen auf ihrer Haut ließ Nicky ein weiteres Mal erschauern.

Nun trommelte ihr das Herz wie wild in der Brust. Überrascht von dieser Entdeckung, schluckte sie. Vor langer Zeit hätte vielleicht die naive Nicky derartige Empfindungen gehabt – lange bevor die Welt sich verändert hatte und sie zu einer Schachfigur im Spiel politischer Intrigen geworden war. „Sie haben den Handschuh gewonnen, Mylord, und mehr nicht.“

Er knöpfte den Handschuh wieder zu und tätschelte besänftigend ihre Hand. „Und Sie müssen ihn bis zur Rückkehr nach Hause behalten.“

Sehr großzügig von ihm und ein geschickter Schachzug obendrein. Sie nickte und tat so, als würde sie seine Geste rühren. Oh ja, dieser Mann gab sich vom Scheitel bis zu den Spitzen seiner polierten Reitstiefel durch und durch galant. Es fiel ihr schwer, ihn sich als Bösewicht vorzustellen. „Haben Sie es sich denn zur Gewohnheit gemacht, Damenhandschuhe zu sammeln?“

„Nur die Ihren.“

Sie nahm die Zügel in die Hand. „Dann ist es ja eine recht überschaubare Sammlung.“

Laut lachte er, männlich und wohlklingend, und Nicky musste sich zwingen, nicht dem Zauber zu verfallen, der von ihm ausging. Männer taten nie etwas Uneigennütziges, und sie pflegten stets dann am freundlichsten zu sein, wenn ihre Absichten am verderbtesten waren. Ihr eigener Ehemann war ein gutes Beispiel dafür gewesen, denn zunächst hatte sie ihn als Retter in der Not betrachtet. Stattdessen war er ihr Untergang gewesen.

Seite an Seite setzten sie ihren Ausritt fort. „Reiten Sie oft hier?“, erkundigte sie sich.

„Nur selten. Zu dieser Jahreszeit sind hier für meinen Geschmack zu viele Menschen“, erwiderte er unverbindlich lächelnd.

„Dann geben Sie also dem Landleben den Vorzug?“

„Alles hat seine Vorzüge. Was ist mit Ihnen? Stadt oder Land?“

Land. „Stadt.“ So, wie es einer Comtesse entsprach.

In einem kleinen Wäldchen unter einer Weide, deren Äste die Wasseroberfläche berührten, legten sie eine kurze Pause ein, um die Pferde trinken zu lassen. Kurz darauf, als sie im selben Augenblick die Tiere wieder zur Umkehr bewegen wollten, flogen einige Krähen aufgeschreckt hoch, und Gabes Wallach scheute. Ein lautes Knacken, wie von einem zersplitternden Ast, durchschnitt die Stille, und fluchend griff Gabe nach Peridots Zaumzeug. Bereits im nächsten Moment galoppierten sie gemeinsam davon.

Normalerweise hätte sie Gebrauch von ihrer Reitgerte gemacht, wenn ein Mann es gewagt hätte, Hand an ihr Pferd zu legen, doch Nicky hatte das Knacken augenblicklich richtig zugeordnet. Das war kein Ast gewesen, sondern ein Schuss, der ganz in der Nähe abgefeuert worden war. Erst nachdem sie das kleine Wäldchen hinter sich gelassen hatten, brachte Gabe die Pferde zum Halten.

„Wem haben Sie von unserem Treffen erzählt?“, fragte er.

Paul, dachte sie. „Niemandem“, erwiderte sie.

Zwar hatte sie nur ganz kurz gezögert, doch an seinem Blick erkannte sie, dass es ihm aufgefallen war. Verdammt. Der Schrecken hatte sie unvorsichtig werden lassen.

„Wem haben Sie davon erzählt?“, wiederholte er seine Frage.

„Meinem Stallburschen natürlich“, gab sie ruhig zurück. „Ich habe nicht gewusst, dass unsere Verabredung ein Geheimnis bleiben sollte.“

Er atmete tief ein und blickte über die Schulter zurück in die Richtung, aus welcher der Schuss gekommen zu sein schien. Nicky folgte seinem Beispiel, sah aber nichts außer den aufgeschreckten schwarzen Vögeln, die laut krächzend ihre Kreise zogen. Der Wind kam aus der falschen Richtung, weswegen sie nicht überprüfen konnte, ob man Schießpulver riechen konnte. „Jemand auf der Jagd, was meinen Sie?“, fragte sie und rümpfte die Nase.

„Eher unwahrscheinlich. Nicht im Hyde Park“, sagte er angespannt und sah zu dem kleinen Wäldchen zurück, als könnte er durch reine Willenskraft in den Schatten zwischen den Bäumen etwas erkennen. Schließlich wandte er sich wieder zu Nicky. „Oder … vielleicht haben Sie ja auch recht.“ Doch Nicky war sich sicher, dass er trotz seiner ruhigen Art innerlich ausgesprochen aufgewühlt war.

Er ließ die Zügel ihres Pferdes los. „Es wird Zeit, zur Kutsche zurückzukehren“, sagte er und zuckte zusammen, als er einen Handschuh auszog.

„Sie sind ja verletzt!“, rief Nicky, als sie das Blut auf seinem Unterarm sah, doch er würdigte die Wunde kaum eines Blickes.

„Das ist nur ein Kratzer“, erklärte er.

Jetzt verstand sie auch, weswegen er so rasch aus dem Wald hatte gelangen wollen. „Wir müssen zu einem Arzt.“

„Nein, das ist nicht notwendig.“ Er zog ein Taschentuch hervor, wickelte es um seinen Arm und beugte sich vor, um mit den Zähnen den Knoten zuzuziehen.

„Lassen Sie mich das machen“, sagte Nicky und band das Tuch fest. „Sie müssen jemanden einen Blick darauf werfen lassen.“

„Der Wirt des Gasthauses, in dem ich immer wohne, wenn ich in London bin, kann das tun. Er ist ein alter Freund von mir und schon allerhand von mir gewohnt. Ganz bestimmt werde ich mir nicht von einem dahergelaufenen Wilddieb meine Pläne ruinieren lassen, Mylady“, fügte er hinzu, bevor Nicky widersprechen konnte.

„Denken Sie denn, dass es ein Wilddieb war?“, fragte sie.

„Was hätte es denn Ihrer Meinung nach sonst noch sein können?“ Aufmerksam betrachtete er sie.

Ob er sie etwa verdächtigte, etwas mit den Schüssen zu tun zu haben? „Na, wenn Sie so sicher sind, dann brauche ich ja doch keine weiteren Vermutungen mehr anzustellen. Ich kenne die englischen Gepflogenheiten zwar nicht besonders gut, aber ich muss gestehen, dass die Menschen in Paris nicht einfach zur Jagd auf … auf …“

„Kaninchen“, ergänzte er.

Tiens. Zur Jagd auf Kaninchen gehen. Und dann auch noch mitten in einem königlichen Park.“

In einem zügigen Kanter kehrten sie zu dem Tor zurück, von dem aus sie zu dem Ausritt aufgebrochen waren. Hier hatte sie Mooreshead zu dem Wettstreit herausgefordert. Während des Rückweges beobachtete er aufmerksam die Umgebung, als suchte er sie nach weiteren verborgenen Gefahren ab. Nicky tat es ihm gleich. Wer hatte auf sie geschossen? Und aus welchem Grund?, überlegte sie fieberhaft. Wer mochte hinter dem Schuss in dem Park stecken?

Etwa Paul? Doch der würde gewiss nicht einen so plumpen Mordanschlag in der Öffentlichkeit inszenieren. Außerdem gab es keinen Grund für ihn, Mooreshead zu eliminieren, denn Nicky war noch nicht in den Besitz der Informationen gelangt, die zu beschaffen man sie beauftragt hatte. Oder hatte der Marquess noch andere Feinde, die ihm nach dem Leben trachteten? Möglicherweise steckte ein eifersüchtiger Ehemann hinter der Tat – oder eine verschmähte Geliebte. Wie dem auch sei, ihr Bauchgefühl verriet ihr jedenfalls, dass die Gefahr keineswegs gebannt war, und ihrem Gefühl hatte sie bisher stets vertrauen können. Hätte sie das vor einigen Jahren auch schon so konsequent getan, dann hätte sie Vilandry niemals geheiratet.

Als sie die Kutsche erreicht hatten, führte ihr Stallbursche Reggie das Gespann herum, wie sie es ihm vor dem Ausritt aufgetragen hatten. Alles schien so zu sein, wie es sein sollte. Bestimmt war der Zwischenfall eben im Park nur ein unglücklicher Zufall gewesen. Wahrscheinlich ein Wilderer oder jemand, der seine morgendlichen Schießübungen abgehalten hatte. Es hatte bestimmt...

Autor

Ann Lethbridge
Ann Lethbridge wuchs in England auf. Dort machte sie ihren Abschluss in Wirtschaft und Geschichte. Sie hatte schon immer einen Faible für die glamouröse Welt der Regency Ära, wie bei Georgette Heyer beschrieben. Es war diese Liebe, die sie zum Schreiben ihres ersten Regency Romans 2000 brachte. Sie empfand das...
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