Julia Ärzte Spezial Band 16

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GEBORGEN BEI DR. TAYLOR von JESSICA MATTHEWS

Bange Tage der Ungewissheit liegen vor Schwester Megan. Hat sie sich bei einem Patienten angesteckt, oder ist sie gesund? Zu ihrer Freude kümmert sich ihr Chef Dr. Jonas Taylor in dieser Zeit aufopfernd um sie. Wenn sie doch nur sicher sein könnte, dass er ihr nicht nur aus Pflichtgefühl eine Schulter zum Anlehnen bietet ...

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  • Erscheinungstag 17.02.2024
  • Bandnummer 16
  • ISBN / Artikelnummer 8203240016
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Jessica Matthews, Lilian Darcy, Carol Marinelli

JULIA ÄRZTE SPEZIAL BAND 16

1. KAPITEL

„Wo sind die anderen geblieben?“ Gene Webber legte einige Unterlagen auf den brusthohen Tresen vor dem Stationszimmer und schaute sich in der fast unheimlich leeren Notaufnahme um.

Megan Erickson blickte von dem Blatt in ihrer Hand auf und lächelte den sechsundzwanzigjährigen Sanitäter an, mit dem sie schon einige Jahre zusammenarbeitete. „Wenn hier nichts los ist, verdrücken sie sich meistens.“

„Nun, wenn du Dr. Taylor siehst, sag ihm bitte, wir hätten die Ergebnisse, die er haben wollte.“

„Gern. Weißt du, wo er ist?“

Gene schüttelte den Kopf. „Nachdem Dr. Fleming kam, sind beide verschwunden.“

„Dwight ist hier?“, fragte sie, überrascht, dass er nicht einmal die Zeit gefunden hatte, wie üblich kurz Hallo zu sagen.

Gene zuckte mit den Schultern. „Er kam vor fünf, zehn Minuten herein und erkundigte sich nach dir. Du warst gerade bei Mrs. Johnson.“

„Weit können sie eigentlich nicht sein. Hat Dwight irgendeine Nachricht hinterlassen?“

„Nicht, dass ich wüsste. Aber ich kann mal nachfragen, wenn du möchtest.“

„Spar dir die Mühe. Ich sehe ihn bestimmt später.“ Sie lächelte. „Sehr wahrscheinlich holt er sich Tipps für seine Reise nach Mexiko.“ In den letzten sechs Monaten hatte Dwight immer wieder davon gesprochen, für einen Monat als Missionsarzt nach Mexiko zu fahren, und in zwei Wochen war es nun so weit. Sie freute sich für ihn, aber sie würde sich lieber Gedanken um Ehe und die Zusammenlegung zweier Haushalte machen. Nach dem Tod ihres Bruders und seiner Frau hatte sie deren Kinder Angela und Trevor zu sich genommen und ihre eigenen Pläne erst einmal zurückgestellt. Nun aber wollte sie sie in die Tat umsetzen, so schnell wie möglich.

„War Dr. Taylor schon einmal in Mexiko?“

„Wo ist der Mann noch nicht gewesen?“, meinte sie ironisch. Dr. Jonas Taylor war so bodenständig wie Löwenzahnsamen. Seit vier Wochen machte er hier Vertretung für einen Kollegen, der unbezahlten Urlaub genommen hatte, weil seine Frau schwer krank war, und würde noch drei Monate bleiben. Danach wäre Stanton ein weiterer Punkt auf seiner bereits beeindruckenden Referenzliste.

Trotz oder vielleicht sogar wegen seiner vielen verschiedenen Erfahrungen war er ein hoch qualifizierter Notfallmediziner. Einen besseren hätte sie sich nicht wünschen können. In jeder Situation behielt er einen klaren Kopf.

Und zudem war er der attraktivste Mann, den sie kannte – abgesehen von denen in Modezeitschriften.

Neben ihm wirkte Dwight, blond und ebenfalls gut aussehend, eher farblos.

Jason Taylor, mit seinen dunklen, militärisch kurz geschnittenen Haaren, vermittelte auf den ersten Blick Strenge. Doch ein schelmisches Zwinkern in den nachtblauen Augen und das humorvolle Lächeln milderten diesen Eindruck. Die sonnengebräunte Haut verriet, dass der Mann sich gern in freier Natur aufhielt.

Er war groß und schlank, was erstaunlich war angesichts der Mengen Essen, die er in sich hineinschaufeln konnte. Gerüchten zufolge gab es kaum eine Sportart, die er nicht beherrschte – hervorragend, wie Megan vermutete.

Jonas Taylor war eindeutig der tollste Mann in der Notaufnahme, seit die Pilgerväter das Krankenhaus gegründet hatten.

„Stimmt. Ich wäre schon zufrieden, wenn ich ein Viertel von dem gesehen hätte, was er gesehen hat“, bekannte Gene.

„Ich auch … aber wofür sollte er sein Geld auch sonst ausgeben?“

Gene seufzte. „So gut möchte ich es haben.“

„Ja, aber vergiss nicht … das Gras auf der anderen Seite des Zauns erscheint einem immer grüner.“

„Aber nur, weil er sich Kunstdünger leisten kann …“

Megan lachte. „Kopf hoch! Vielleicht gewinnst du bald im Lotto.“

„Ich hoffe es.“ Nochmals schaute er sich um. „Hast du etwas dagegen, wenn ich kurz für eine Minute in die Cafeteria laufe und mir ein paar Erdnussbutterkekse kaufe? Sie sind immer so schnell weg.“

Megan lachte. Sie kannte seine Schwäche für Erdnussbutter. „Lauf nur, aber trödle nicht.“

„Keine Bange. Ich bringe dir sogar einen mit.“

„Zwei sind besser – dann kannst du auch fünf Minuten bleiben.“

„Abgemacht.“

Er eilte davon, und Megan versuchte sich wieder auf ihre Unterlagen zu konzentrieren, aber vergeblich. Ihre Gedanken beschäftigten sich nun mit Dwight, und leider waren es keine schönen Gedanken.

Einen Monat vor dem Unfalltod ihres Bruders und seiner Frau hatte Dwight ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hatte ihn angenommen. Durch den Unglücksfall wurde ihr Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Sie nahm die kleinen Waisen bei sich auf und schaffte es, Angela und Trevor eine liebevolle Mutter zu werden. Das Mädchen war inzwischen vier Jahre, der Junge achtzehn Monate alt.

Auf Dwights Vorschlag hin beschlossen sie, ihre Hochzeit so lange zu verschieben, bis alle sich an die neue Situation gewöhnt hätten. Zuerst war sie von seiner Rücksichtnahme begeistert gewesen, aber ihre Zuversicht schwand rasch, als sie begriff, dass er keine Zukunftspläne schmieden wollte.

Ihre Zweifel verstärkten sich, als ihr auffiel, dass er selbst nach bald einem Jahr die Kinder letztendlich nur zu tolerieren schien und nicht zu lieben, wie sie es inzwischen tat. Manchmal glaubte sie sogar, dass sie ihn störten.

Hatte es überhaupt Sinn, ihn zu heiraten, falls ihre Vermutungen stimmten?

Sie seufzte. Vielleicht hatte sie ihn in der letzten Zeit etwas vernachlässigt. Aber die Kinder brauchten ihre ganze Zuwendung. Vielleicht half es, wenn sie und Dwight sich nun einige Wochen lang nicht sahen. Vielleicht würden sie und er die Lage klarer sehen. Sagte man nicht, ein bisschen Abstand täte der Liebe gut? Sie hoffte es.

Megan verscheuchte ihre privaten Probleme, überflog ihre Notizen, unterschrieb sie und schloss die Krankenakte.

Gene kehrte zurück.

„Hier ist dein Anteil.“ Er reichte ihr die kleinere Tüte.

„Danke. Sie sind ja noch warm.“

„Frisch aus dem Ofen, hat man mir gesagt.“

Sie erhob sich. „Dann trinke ich einen Kaffee dazu. Wenn du mich brauchst, weißt du, wo ich zu finden bin.“

„Okay, aber vergiss nicht … Falls du Dr. Taylor siehst …“

„Sage ich ihm, dass du nach ihm suchst.“

„Du musst es ihr sagen.“

Jonas Taylor und Dwight Fleming standen an der Kaffeemaschine im Personalraum der Notaufnahme.

Dwight seufzte schwer. „Ja. Die Frage ist nur, wann? Vor meiner Abreise oder nach der Rückkehr?“

„Wenn ich mir hundertprozentig sicher wäre, würde ich diese Sache nicht noch wochenlang mit mir herumschleppen wollen“, erwiderte Jonas offen. „Es wäre außerdem Megan gegenüber nicht fair.“

„Warten hieße wohl nur, das Unausweichliche hinauszuschieben, oder?“

„Genau.“ Jonas war überrascht, dass der Kollege mit ihm über solch private Dinge sprach, denn er war erst seit Kurzem am Stanton Community Hospital. Für ihn war Dwight ein flüchtiger Bekannter, mit dem er gelegentlich nach einer anstrengenden Nacht im Dienst noch auf ein Bier in eine nahe gelegene Bar gegangen war. „Aber vielleicht solltest du noch einmal mit jemand anders darüber reden. Jemand, der …“

„Das geht nicht.“

„Wieso?“

Dwight fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Weil alle, die ich kenne, Megan lieben. Ich höre immerzu Lobeshymnen auf sie, sie sei ein Engel, weil sie die Kinder ihres Bruders aufzieht. Eine richtige Heilige, wenn du weißt, was ich meine.“

„Und du stehst dann wie das Böse in Person da!“

Dwight nickte niedergedrückt. „Die Sache ist die, ich finde sie ja auch wundervoll. Sie ist wirklich ein besonderer Mensch.“

Jonas gab ihm im Stillen recht. Megan Erickson war eine der besten Notaufnahmeschwestern, mit denen er je zusammengearbeitet hatte, und er hatte wirklich eine Menge kennengelernt. Sie war klug, schön und besonnen, was vor allem in Stresssituationen von großem Vorteil war. Hatte sie Dienst, lief auf der Station alles wie geschmiert.

Ihre rehbraunen Augen strahlten Intelligenz und Humor aus, und sie lächelte gern und oft. Dazu kamen eine kecke Nase, samtene Haut und eine Figur, die einen Mann zu heißen Fantasien reizte.

Gern wäre er einmal mit ihr ausgegangen. Zwei Dinge hielten ihn davon ab: der Diamant an ihrem Finger und die Tatsache, dass sie der Typ Frau war, die einen Ehering tragen sollte. Sie war eine Frau, die ein Mann seiner Familie vorstellte – also eine, um die er konsequent einen weiten Bogen schlug.

Aber träumen durfte man doch, oder?

Ihr fröhliches Wesen war erstaunlich, denn in der Abteilung gingen Gerüchte um, in den letzten Jahren wäre sie nicht gerade auf Rosen gebettet gewesen.

Und nun gab er ihrem Freund, nein, ihrem Verlobten, einen Rat, der noch ein paar Dornen mehr bedeutete!

Manchmal war das Leben nicht einfach.

„Wie auch immer“, fuhr Dwight fort, „bei dir gehe ich davon aus, dass du unvoreingenommen bist und mir eine offene Antwort gibst.“

Normalerweise steckte Jonas seine Nase nicht in fremder Leute Angelegenheiten. Es erschien ihm Energieverschwendung, da er kaum länger als ein paar Monate an einer Arbeitsstelle blieb. Aber Dwight hatte ihn um Rat gefragt, und auch wenn es Megan wehtun würde, er musste aufrichtig sein. Mit Ehrlichkeit kam man immer am weitesten.

Und was Dwights Sicht der Dinge betraf, die konnte er nur zu gut verstehen. Andere hätten ihn vielleicht ermuntert, der Kinder wegen bei Megan zu bleiben, aber für Jonas war das kein ausreichender Grund. Keine Ehe war besser als eine schlechte Ehe.

„Wie schon gesagt, ich an deiner Stelle würde es nicht länger aufschieben“, unterstrich er seine Meinung noch einmal.

„Du hast recht. Ich trage die Sache schon seit letztem Sommer mit mir herum, seit ihr Bruder ums Leben kam.“

„Jetzt haben wir April!“ Jonas war fassungslos. „Ist das wirklich dein Ernst?“

Dwight zuckte mit den Schultern und wurde rot. „Ich dachte, meine Gefühle würden sich ändern, aber das war nicht der Fall. Dann, vor ein paar Wochen, deutete sie an, wir sollten langsam wieder an die Hochzeit denken.“

„Du täuschst dich, wenn du glaubst, dass sich Megans Verantwortungsbewusstsein ihrer Familie gegenüber abschwächen wird. Entweder machst du weiter oder nicht. Besser, früher reinen Tisch zu machen als später.“ Er spülte seinen Becher aus und schenkte das würzige schwarze Gebräu ein, das die Abteilung am Laufen hielt.

„Ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll.“

„Sei ehrlich. Das schuldest du ihr.“ Sie würde sich aufregen, aber sie war auch eine vernünftige Frau. Eigentlich müsste sie längst wissen, dass es keinen Sinn mehr hatte. Dwight hatte sie fast ein Jahr lang hingehalten.

Dwight musterte ihn.

„Was ist?“

„Hast du das schon einmal gemacht?“, fragte Dwight.

„Was? Mich entlobt?“ Als er nickte, grinste Jonas. „Ich habe schon eine Reihe interessanter Frauen verlassen, aber es war nie etwas Ernsthaftes. Wie kann ein Mann sich freiwillig an eine binden, wenn die Auswahl so groß ist?“

Das war seine gewohnte Ausrede für sein Singledasein. Es war einfacher, ein voreingenommenes Bild anderer zu bestätigen, als über den wahren Grund zu reden. Zumal er ihn selbst nicht genau kannte. Außer, dass er keine feste Bindung wollte. Er hatte nichts gegen die Ehe – er kannte eine Menge netter Menschen, die verheiratet waren – aber für ihn war das nichts.

Und so wie es aussah, auch für Dwight Fleming nicht. Zumindest nicht mit einer Frau, die von heute auf morgen mit zwei kleinen Kindern und einem kränkelnden Vater konfrontiert war.

Wenn ein Mann eine Frau wirklich liebte, würden ihn diese Dinge nicht stören, was nur bewies, Dwight liebte Megan nicht.

Na also, er tat Megan sogar noch einen Gefallen, oder?

„Sag ihr einfach die Wahrheit“, riet er. „Gesteh, dass du noch nicht so weit bist. Dass dir deine Karriere wichtiger ist, als ein Haus auf Kredit, einen Mini-Van und einen Golden Retriever anzuschaffen.“

Dwight straffte die Schultern. „Okay, das mache ich.“

„Wann?“

Noch schien Dwight dazu bereit, aber wenn er nicht handelte, solange sein Mut anhielt, könnte er es vielleicht verschieben. Im schlimmsten Fall bis zu seiner Rückkehr.

Megan verdiente es nicht, von einem Mann so lange vertröstet zu werden, vor allem nicht von einem so oberflächlichen wie Dwight.

„Ich passe sie vor Dienstschluss ab.“

Jonas zählte sich nicht zu den besonders romantischen Männern dieser Erde, aber für eine solche Unterhaltung gab es entschieden bessere Plätze als die Notaufnahme. „Willst du das nicht lieber irgendwo machen, wo es ein wenig … ruhiger ist? Zum Beispiel im Restaurant gegenüber? Um halb vier ist dort nie viel los.“

Dwight runzelte die Stirn. „Gute Idee.“

Jonas klopfte ihm auf die Schulter. „Du schaffst das schon. Und bestimmt könnt ihr Freunde bleiben.“ Wann immer Jonas sich von einer Frau trennte, tat er es auf möglichst freundschaftlicher Basis. Drei schlichte Regeln machten es ihm möglich. Erstens: niemals Pläne über das kommende Wochenende hinaus machen. Zweitens: keine tiefergehenden Gespräche über persönliche Dinge. Und drittens: niemals, unter keinen Umständen, ihre Familie kennenlernen!

„Ich denke auch.“ Aber so ganz überzeugt schien er nicht.

„Und du sagst ihr alles?“

„Ja, ich werde ihr alles sagen.“

Voller Vorfreude auf eine Kaffeepause eilte Megan in Richtung Konferenzzimmer, das den Mitarbeitern außerhalb von Sitzungszeiten als Pausenraum zur Verfügung stand. Sie sah Dwight und Jonas an der Kaffeemaschine stehen. Die beiden waren offenbar so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie ihr Kommen nicht bemerkten. Um nicht zu stören, holte sie leise einen Becher aus dem Schrank und wartete, dass sie zu Ende sprachen.

„Und du sagst ihr alles?“, fragte Jonas.

„Ja, ich werde ihr alles sagen“, versprach Dwight. „Gleich nach … Oh, hallo, Megan … ich habe dich gar nicht hereinkommen sehen.“

Sie marschierte zur Kaffeemaschine, schenkte sich ein und wunderte sich dabei über Dwights schuldbewussten Ausdruck. „Offensichtlich nicht. Ach, übrigens, Jonas, Gene hat die Laborwerte für Sie.“

Er leerte seinen Becher. „Danke.“

„Ihr wirkt für einen so ruhigen Morgen ziemlich angespannt“, bemerkte Megan. „Was ist los?“

Jonas setzte sein Killerlächeln ein. „Angespannt? Wir doch nicht!“

Sie tat es mit einer lässigen Handbewegung ab und sah Dwight fragend an. „Ich habe zufällig deine letzte Bemerkung mitbekommen. Ihr habt euch über das junge Mädchen von dem Autounfall gestern unterhalten, stimmts?“

Eine Achtzehnjährige war bei dem Auffahrunfall nicht angeschnallt gewesen und kopfüber durch die Windschutzscheibe geflogen. Dabei hatte sie ausgedehnte Gesichtsverletzungen erlitten.

Die beiden Männer warfen sich einen schnellen Blick zu. „Ja, das haben wir …“, begann Jonas.

„Nein“, sagte Dwight zur selben Zeit.

Megan hob eine Augenbraue. „Das sollte keine Fangfrage sein, Jungs.“

Dwight straffte die Schultern. „Nein, wir haben nicht über einen Patienten gesprochen. Überhaupt nicht über Fachliches.“

„Oh … Worüber dann?“

„Wir müssen uns unterhalten“, sagte er bestimmt.

Jonas hielt es für besser, sich zu verabschieden. Schließlich war er nicht ganz unschuldig an dem, was jetzt kommen würde.

„Ich sehe mir mal diese Laborwerte an“, murmelte er und verließ eilig den Raum.

„Ich dachte, ich könnte dich heiraten“, sagte Dwight betreten, „aber ich kann es nicht.“

Megan stand stocksteif da, traute ihren Ohren nicht. „Meinst du die Ehe mit mir grundsätzlich, oder liegt es daran, dass ich zwei Kinder am Hals habe?“

Er zuckte kaum merklich zusammen. „Du weißt, ich liebe dich, Meggie.“

Diesen Kosenamen hatte sie noch nie gemocht. „Wenn dem so wäre, würden wir diese Unterhaltung nicht führen.“

„Die Wahrheit ist, ich sehe mich nicht in der Lage, die Vaterrolle zu übernehmen. Ich habe darüber mit Jonas gesprochen, und auch wenn ich Kinder will, dann doch nicht jetzt und gewiss keinen ganzen Haufen.“

„Zwei sind kein ganzer Haufen“, erwiderte sie ruhig und fragte sich, warum er auf einmal kalte Füße bekommen hatte. Aber hatte sie nicht auch bereits ihre Zweifel gehabt? „Warum hast du nicht schon früher etwas gesagt?“ Wie kam er dazu, sich mit einem Fremden über ihre Privatangelegenheiten zu unterhalten? Ein Fremder, der gleichzeitig ein Kollege war. „Wir hätten vielleicht eine Lösung gefunden.“

„Wann und wie denn?“ wollte er wissen. „Das letzte Jahr hatte ich praktisch keine Minute mit dir allein. Wann immer ich das Thema ansprach, hast du meine Vorschläge sofort rundweg abgelehnt.“

„Vorschläge? Du wusstest von Anfang an, dass ich die Kinder nicht ins Waisenhaus geben würde. Aber wenn du einen Rat haben wolltest, warum dann ausgerechnet von Jonas? Seit wann ist er Experte für Beziehungen?“

„Ich wollte eine unvoreingenommene Meinung. Er hat nur bestätigt, was ich bereits dachte.“

„Du hast ihn ausgesucht, weil er dir bestätigen würde, was du hören wolltest. So wie er lebt, würde er dir bestimmt nicht raten, die Beziehung weiterzuführen.“ Ihre Stimme bebte leicht.

„Megan, ich habe schon lange über all das nachgedacht. Ich hatte mich nur nicht getraut, es anzusprechen. Aber da ich in wenigen Tagen wegfahre, wollte ich keine unerledigte Angelegenheit zurücklassen.“

Früher einmal war sie das Licht seines Lebens gewesen – zumindest hatte er es so gesagt. Nun war sie nur noch eine unerledigte Angelegenheit.

Er sollte nicht erfahren, wie sehr er sie verletzt hatte. Megan riss sich zusammen. „Betrachte sie als erledigt, Dwight.“ Sie zog den Verlobungsring ab und legte ihn auf den Tisch. „Ex und hopp, stimmts?“

Sie ließ Kekse und Kaffee stehen, obwohl sie ihm beides am liebsten ins Gesicht gepfeffert hätte, und machte sich auf den Weg zur Tür.

„Es tut mir leid, Megan“, rief er ihr nach, „aber es ist besser so!“

Sie schenkte sich eine Antwort. Wahrscheinlich hätte sie sowieso kein Wort herausgebracht. Wenn er schon ihre Träume mit der gleichen klinischen Distanz zerstörte, die er seinen Patienten gegenüber zeigte, sollte er ihr die Demütigung nicht anmerken. Das gebot allein ihr Stolz.

Wie betäubt wanderte sie den Korridor entlang, ohne rechtes Ziel. Bis sie das Stationszimmer fast erreicht hatte und Jonas dort sitzen sah. Das Mitleid in seinen Augen ließ ihr das Blut ins Gesicht schießen.

Sofort änderte sie die Richtung und steuerte auf das nächste Untersuchungszimmer zu. Aber sie kam nicht weit. Jonas holte sie ein.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.

„Was glauben Sie denn?“ fuhr sie ihn an und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

„Hören Sie, es tut mir leid …“

„Ich will nicht darüber diskutieren.“

„In wenigen Minuten bekommen wir zwei Notfälle herein. Ein Betriebsunfall. Wenn Sie es nicht schaffen …“

„Ich kenne meinen Job, Dr. Taylor“, entgegnete sie, „und ganz gewiss brauche ich nicht noch mehr von Ihrer … Unterstützung!“

Das traf anscheinend, denn er verfiel in Schweigen.

Sie wollte weitergehen, aber er hielt sie am Arm fest. „Wenn Sie meinen, nicht voll einsatzfähig zu sein …“

„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich funktioniere hervorragend!“, fauchte sie.

„Strecken Sie die Hände aus“, befahl er.

„Wie bitte?“

Er ließ ihren Arm wieder los. „Strecken Sie die Hände aus“, wiederholte er.

„Wenn Ihr Seelenheil davon abhängt …“ Den Rest der Bemerkung verkniff sie sich.

„Und nun?“, wollte sie wissen.

„Espenlaub im Wind ist nichts dagegen, oder?“, kommentierte er.

Megan schaute auf ihre Hände. Sie zitterten, als hätte sie Parkinson.

Hastig verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Mir geht es gut.“

Jonas musterte sie einen Moment, aber noch ehe er antworten konnte, öffneten sich die automatischen Türen. Megans Privatleben wurde schlagartig bedeutungslos, als der Patient von zwei Rettungssanitätern hereingerollt wurde.

Sam, einer von ihnen, informierte knapp und bündig: „Blutdruck 140 zu 80, Puls 102, Atemfrequenz sechzehn. Patient ist zweiundfünfzig und war bei vollem Bewusstsein, als wir eintrafen. Er beschwerte sich über Schmerzen in Nacken und Brust, ebenso in rechter Hand und rechtem Bein. Sein Name ist Eldon Lawver.“

Megan bemerkte die Schienen an den betroffenen Extremitäten.

„Trauma zwei“, gab sie Anweisung.

„Was ist geschehen?“, erkundigte sich Jonas, als sie den Patienten in den Traumaraum rollten, wo sie sofort von zwei Schwestern unterstützt wurden.

„Zeugenaussagen nach verlor ein Kollege des Patienten die Kontrolle über seinen Gabelstapler und fuhr einen Stapel Zweihundertlitertonnen um. Der Patient wurde von ihnen gegen eine Wand gequetscht.“

„Und der Fahrer?“

„Kommt mit dem nächsten Krankenwagen.“

Megan schloss den Mann an die notwendigen Überwachungsapparate an, während Jonas mit der Untersuchung begann.

„Ich möchte Aufnahmen des ganzen Körpers, beginnend mit den Halswirbeln“, befahl er. „Und dazu die üblichen Blut- und Urinuntersuchungen.“

Megan wusste, die Hauptsorge galt im Moment den Luftwegen. Jede Verletzung der Halswirbel konnte den Verlust der Zwerchfellatmung bedeuten. Aber es war ein gutes Zeichen, dass der Patient offenbar keine Atemprobleme aufwies.

Um Zeit zu sparen, nahm sie selbst Blut ab, ärgerte sich aber, dass ihre Hände immer noch leicht zitterten.

Und als sie aufblickte, sah sie, dass Jonas sie mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete. Na, großartig!

Gott sei Dank erschien gleich darauf das Röntgenteam, und sie musste aus dem Weg gehen. Zwei Minuten später wurde der Kollege des Patienten gebracht, und da Megan Triageschwester war, hatte sie einen Grund, Jonas’ aufmerksamen Augen zu entkommen. Zumindest für kurze Zeit.

„Ich komme gleich nach“, rief er ihr hinterher.

Sie nickte und eilte in Schockraum drei.

„Mir geht es gut, und ich will zurück an die Arbeit“, brüllte der junge Mann auf der Rollliege.

„Sie gehen zurück, wenn der Arzt es gestattet“, erklärte der Sanitäter ihm.

„Wie heißen Sie?“, fragte Megan den jungen Mann.

„Carl Walter.“

„Also, Carl“, sagte sie in sachlichem Ton, „wie ich sehe, haben Sie eine Beule am Kopf. Haben Sie sonst noch Schmerzen?“

Andy, der Sanitäter, grinste. „Er hat nirgendwo Schmerzen, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Mit mir ist alles okay, und ich will wieder gehen!“, beschwerte sich Carl mit schwerer Zunge.

Megan beugte sich über ihn, um den Puls zu fühlen. Alkoholdunst nahm ihr fast den Atem. Sie musste es in der Krankenakte vermerken, denn der Unfall würde wohl strafrechtliche Folgen haben.

„Tut Ihnen irgendetwas weh?“, fragte sie nochmals.

„Ich will nach Haus“, lamentierte er.

„Immerhin ist er fröhlich, wenn er betrunken ist“, gab Andy seinen Senf dazu.

„Hast du außer der Beule weitere Verletzungen gefunden?“, erkundigte sie sich.

Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Er muss einen Schutzengel gehabt haben. Sehr wahrscheinlich kommt er mit paar leichten Prellungen und einem fürchterlichen Kater davon.“

Megan hoffte, dass auch Mr. Lawver den Zwischenfall ohne schwerwiegende Folgen überstand.

„Danke, Jungs“, sagte sie und wandte sich an Gene. „Behalt ihn im Auge. Ich will mich bei Dr. Taylor erkundigen, was wir tun sollen.“ Sie lächelte ihn an. „Bin gleich zurück.“

Sie kehrte in Traumaraum zwei zurück und stellte als Erstes fest, dass man dem Patienten die Halsmanschette abgenommen hatte.

„Wie geht es ihm?“, fragte sie.

„Seine Halswirbelsäule ist okay, aber er hat sich das Schlüsselbein gebrochen, eine Schulter ausgerenkt, desgleichen ein Handgelenk und weitere Frakturen im Schienbein und Fußgelenk.“

„Gütiger Himmel!“

„Genau. Aber es hätte schlimmer ausgehen können.“

„Innere Blutungen?“

„Keine Anzeichen. Aber noch war er nicht zur Computertomografie. Ganz sicher wird er eine Weile hierbleiben müssen.“ Er deutete zum Nebenraum. „Was macht unser anderes Opfer?“

„Abgesehen von seiner hochprozentigen Atemluft ist er so weit in Ordnung.“

„Betrunken?“

„Ich würde sagen ja, aber wir müssen noch einen Blutalkoholtest machen.“

„Okay. Wenn Sie ihm Blut abnehmen, holen Sie sich genug für ein großes Blutbild und die chemische Blutuntersuchung. Ich bin gleich drüben.“

„In Ordnung.“

Sie verließ den Raum.

„Wie geht es ihm?“, fragte sie Gene, als sie die Blutröhrchen zur Hand nahm.

„Inzwischen ruhiger“, meinte Gene und nannte ihr den letzten Blutdruckwert.

„Wollen wir hoffen, dass es so bleibt.“ Sie beugte sich über Carl, versuchte dabei aber möglichst die Luft anzuhalten. „Carl, ich muss Ihnen jetzt Blut abnehmen.“

„Mir ist schlecht“, stöhnte er.

„Durchhalten“, forderte Gene und wandte sich zum Schrank, um eine Nierenschale zu holen.

Bevor Megan dem Patienten den Ärmel höher schob und die Manschette umlegte, zog sie sich OP-Handschuhe an und reinigte die Einstichstelle mit Alkohol. Als sie die Nadel in die Haut einführte, zitterte ihre Hand nicht mehr. Schade, dass Jonas nicht in der Nähe war, um es zu sehen.

Völlig unerwartet schoss Carl in diesem Moment hoch, heulte auf und fuchtelte wild mit dem Arm. „Was soll das?“, brüllte er.

Die Nadel rutschte heraus. „Nicht bewegen!“, befahl sie, versuchte ihn festzuhalten. Blut rann von seinem Arm, und er wehrte sich gegen ihren Versuch, die Manschette abzunehmen, um die Stauung zu lösen.

„Nein!“, schrie er. „Ich will nicht!“

Gene rannte ans Bett, aber noch bevor er eingreifen konnte, riss sich Carl los.

Sie fühlte einen Stich und blickte alarmiert auf die Nadel, die wenige Zentimeter über dem Gelenk in ihrem Handballen steckte.

Jonas tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf, erfasste die Situation und stieß einen Fluch aus.

„Meine Güte, Megan, was haben Sie da gemacht?“

2. KAPITEL

„Ich wusste es! Ich hätte Sie ablösen lassen sollen!“

„Ich habe mir die Nadel doch nicht absichtlich in die Hand gerammt!“, giftete sie ihn an, noch während sie die Nadel in eine Schale fallen ließ. Glaubte er wirklich, dass Dwights Entscheidung sie gleich arbeitsunfähig machte! „Und nur zu Ihrer Information, ich war nicht unachtsam! Fragen Sie Gene.“

„War sie wirklich nicht“, bestätigte Gene. „Ich hätte mich nicht am anderen Ende des Raums aufhalten sollen.“

„Darüber können wir später noch reden. Jetzt werden wir hier gebraucht.“ Megan streifte den Handschuh ab. Die Stichwunde blutete noch. Sie wandte sich zum Waschbecken. Mit etwas Glück würden die Erreger in Carls Blut mit ihrem zusammen ausgeschwemmt werden.

„Waschen Sie sich die Hände mit Seife. Nehmen Sie das Desinfektionsmittel“, wies Jonas sie an.

„Worauf Sie sich verlassen können.“ Sie starrte auf den blutenden Handballen, fing wieder an zu zittern. Solche Nadelstichverletzungen durften nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Die geplatzte Verlobung war nichts im Vergleich zu dem, was in den kommenden Wochen und Monaten auf sie zukommen konnte …

Jonas wich ihr nicht von der Seite. Megan wäre lieber allein gewesen.

„Brauchen Sie noch etwas? Oder interessieren Sie sich für meine Technik?“

Er lächelte gewinnend.

„Wollen Sie wirklich meine Antwort hören?“, fragte er augenzwinkernd.

Megan fixierte ihn düster. „Vergessen Sie, was ich sagte. Haben Sie nicht einen Patienten, den Sie untersuchen müssen?“

„Er wird schon nicht verschwinden. Ich wollte Ihnen nur sagen, Sie brauchen nicht in Panik zu geraten.“

Trotzig hob sie das Kinn. „Wer sagt denn, dass ich in Panik geraten bin?“

Er beugte sich vor. Schwach stieg ihr der würzige Duft von Männerseife in die Nase. „Mir können Sie nichts vormachen, Megan. Ich bin doch nicht blind. Sie sind blass und zittern, und ich weiß, welche Horrorszenarien Ihnen jetzt durch den Kopf gehen.“

Sie war erstaunt, wie leicht er sie durchschaute, und sie konnte es nicht abstreiten, auch wenn sie wollte.

„Sagen Sie sich einfach, nicht jeder Stich bedeutet eine Infektion“, fügte er freundlich hinzu. „Denken Sie positiv.“

Megan atmete einmal tief durch und nickte. Er hatte recht. Es brachte nichts, sich schon vorher Sorgen zu machen. Allerdings war es leichter gesagt als getan. „Ich werde es versuchen.“

„Braves Mädchen.“ Er klopfte ihr auf die Schulter, bevor er sich wieder Carl zuwandte. „Wir kümmern uns um Sie, wenn Sie fertig sind.“

Ihr wurden unwillkürlich die Augen feucht. Es war schon so lange her, dass jemand sich um sie Sorgen machte. Sie war die Starke in der Familie gewesen. Sie hatte ihre Mutter aufgerichtet, als ihr Vater vor fünf Jahren an Parkinson erkrankt war. Sie hatte nach dem Tod ihres Bruders und seiner Frau deren Kinder zu sich genommen. Und sich darauf gefreut, ihnen in Dwight einen Vater geben zu können.

Eins nach dem anderen, ermahnte sie sich, als sie sich die Hände abtrocknete. Im Augenblick hast du dringendere Probleme, als dir Gedanken wegen einer aufgelösten Verlobung zu machen.

Ein Blick auf die Krankenkarte zeigte Jonas, dass Carl Walker wirklich mit ein paar Schrammen und Beulen davongekommen war. Ob sein Arbeitgeber ihn weiterhin beschäftigen würde, stand jedoch in den Sternen.

Aber das war nicht Jonas’ Sorge. Ihn interessierte in erster Linie, ob er mit Hepatitis oder HIV infiziert war.

Carl kniff die Augen zusammen und sah ihn an. „Sie sind Arzt?“

„Ja.“

„Bin ich schlimm verletzt? Ich habe nur Kopfschmerzen.“

Sehr wahrscheinlich war es ein Kater. „Sie sind gesund“, erwiderte Jonas, „aber wir müssen Ihnen Blut abnehmen.“

„Schon wieder? Ich hasse Spritzen.“

Das hörte sich gut an. Sehr wahrscheinlich nahm er keine Drogen. Und damit war auch die Chance auf Hepatitis oder HIV äußerst gering.

„Sie haben beim letzten Mal leider nicht kooperiert“, fuhr Jonas fort, „deswegen werden Sie diesmal still liegen. Unsere Schwester hat sich Ihretwegen an der Nadel gestochen. Das bedeutet, wir müssen Extratests auf Hepatitis und HIV machen.“ Er sah den Mann an. „Verstehen Sie, was ich gesagt habe?“

„Ja. Extratests.“

„Und auch eine Urinprobe brauchen wir.“ Drogentests waren bei Betriebsunfällen die Regel, und Jonas wollte zusätzlich auf einen Nierenschaden hin untersuchen.

„Okay, dann gehe ich aufs Klo.“

Jonas empfand im Augenblick wenig Zuneigung für Carl Walker. Sollte er doch ruhig noch ein paar Minuten leiden. „Zuerst die Blutentnahme.“

Diesmal lag der Patient still.

„Ich bin gesund wie ein Pferd“, prahlte er.

„Das freut mich“, meinte Jonas, der wusste, Megan hörte zu.

„Aber meine Freundin nicht“, beklagte sich Carl. „Gestern hat sie das Resultat bekommen. Schlechte Nachrichten.“

„Oh, wirklich?“ Jonas stellte das letzte Röhrchen in den Halter.

„Es war positiv. Sie sagen, es gibt kein Gegenmittel.“ Carl stierte Jonas mit blutunterlaufenen Augen an. „Als Arzt wissen Sie doch Bescheid … stimmt das?“

„Das kommt darauf an. Worum geht es?“

„Aids. Noch hat man doch keine Mittel dagegen, oder?“

Jonas blickte zu Megan hinüber. Sie war kreidebleich geworden.

„Nein, das gibt es nicht.“

„Das hat sie auch gesagt. Das ist mir so auf den Magen geschlagen, dass ich erst ein paar Drinks hinter die Binde gießen musste.“

Es waren wohl mehr als nur ein paar gewesen. Und wenn Carls Freundin HIV-positiv war, konnte er es auch sein. Was bedeutete … Er wollte nicht darüber nachdenken.

„Sind Sie schon zur Untersuchung gewesen?“

„Morgen wollte ich hingehen.“

„Also, angesichts der Umstände werden wir sie heute Nachmittag vornehmen, Carl. Sie müssen nur ein paar Papiere unterschreiben.“

„Das ist gut. Kann ich jetzt nach Haus gehen?“

„Noch nicht.“ Er drückte Gene die Blutproben in die Hand. „Kümmern Sie sich bitte darum.“

„Wird gemacht.“

„Dr. Taylor?“ Die Stationssekretärin steckte den Kopf zur Tür herein. „Da sind ein paar Herren von Mulligans Manufacturing, die Sie sprechen möchten.“

„Sie werden warten müssen.“ Jonas packte Megan am Arm und schob sie an der Sekretärin vorbei in eine der freien Kabinen. Ihr Gesicht glich einer Maske. Schock, vermutete er.

„Ich weiß, was Sie denken“, sagte er. „Aber das sollten Sie nicht. Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab, und dann wird es im Labor auf Hepatitis B und C sowie auf HIV untersucht. Die Ergebnisse sind Ihre Basiswerte. Carls Blutproben werden uns unterdessen verraten, ob er Krankheitserreger in sich trägt. Wenn sich herausstellt, dass er negativ ist, sind wir aus dem Schneider.“

„Und wenn nicht?“

„Sollten wir Viren bei ihm nachweisen, untersuchen wir Sie noch einmal in sechs Wochen, um festzustellen, ob Sie positiv geworden sind. Aber bevor wir so weit im Voraus denken, wollen wir erst einmal die ersten Ergebnisse abwarten. Keine voreiligen Schlüsse ziehen, ja?“

„Da seine Freundin HIV-infiziert ist, besteht doch die Chance, dass er es ebenfalls ist, oder?“

„Nicht zwangsläufig. Die Statistik zeigt, dass das Risiko, sich durch eine solche Verletzung zu infizieren, bei nicht einmal einem halben Prozent liegt. Sollte er positiv sein, beginnen wir bei Ihnen eine Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten. Wir müssen nur eine Stunde Geduld haben, und dann können Sie aufhören, sich Sorgen zu machen.“

„Oder damit anfangen.“

Ihr Blick ging ihm zu Herzen. Fast hätte er sie in die Arme gezogen.

„Hören Sie, ich habe den Mann gründlich untersucht, und er zeigt keine akuten Symptome einer aktiven Infektion. Sehr wahrscheinlich ist er gesund. Sind Sie gegen Hepatitis B geimpft?“

„Ja. Und mein Antikörperwert war bei der letzten Untersuchung in Ordnung.“

„Gut, dann brauchen wir uns wegen der B keine Sorgen zu machen. Was Hepatitis C betrifft, müssen wir allerdings abwarten.“

„Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Ihr Rat hat ungefähr den gleichen Wert wie: Nehmen Sie zwei Aspirin, und rufen Sie mich morgen früh wieder an!“

Jonas lächelte, als er die Manschette um Megans Arm legte. Der zarte Duft nach Zitronen stieg ihm ihn die Nase.

„Sagen Sie nichts gegen Aspirin“, protestierte er. „Seit die Firma Bayer es 1899 auf den Markt brachte, hat es unzähligen Menschen geholfen.“

„So lange gibt es das Mittel schon?“

„Ja. Wussten Sie, dass sich der Name aus A von Acetyl herleitet, und spirin sich auf Spirea bezieht, den Gattungsnamen eines Strauchs, aus dem die Salizylsäure gewonnen wurde?“

„Ich bin beeindruckt.“

Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Hier drinnen habe ich alle möglichen Informationen gespeichert.“ Dann, um sie weiter abzulenken, fragte er: „Was kann ein Mann hier in Stanton eigentlich in seiner Freizeit anfangen?“

„Wenn Sie damit das Nachtleben meinen, fragen Sie den Falschen.“

„Sie kennen doch sicher eine Bar oder ein Restaurant, die Sie empfehlen können, oder?“

„Fragen Sie Ihre Freundin. Sie wird ihre Vorlieben haben, denke ich.“

„He, einige Mahlzeiten esse ich auch allein!“, tat er empört.

„Kochen Sie nicht zu Haus?“

„Manchmal schon“, gab er zu. „Aber für eine Person zu kochen, lohnt kaum den Aufwand.“

„Wohl nicht“, meinte sie. „Na schön, wenn Sie gern Steaks oder Gegrilltes essen, ist Ricks Ribs die richtige Wahl. Das Pagoda bietet hervorragende asiatische Küche, Connies Creations großartige Sandwichs und Gebackenes. Und ihre Desserts sind einfach göttlich.“

Er hatte die Röhrchen gefüllt und klebte nun die Etiketten auf. „Dann macht sie auch Pies?“

Megan lächelte, und er freute sich, dass sie nicht mehr so blass war. „Mit einer Kruste, die Ihnen auf der Zunge zergeht.“

Jonas vermutete, dass sie sich bei süßen Sachen zurückhielt. Ihre schlanke Figur deutete darauf hin. Wenn es stimmte, dass der Zugang zum Herzen eines Mannes über seinen Magen ging, interessierte es ihn, ob das Gleiche auch für Frauen galt. „Wo ist das Restaurant?“

„Am südlichen Ende von Lakewood. Man kann es nicht übersehen.“

„Und was machen die Leute hier normalerweise so am Wochenende?“

„Rasen mähen. Hausputz. Wäsche waschen.“

„Ich meine Sachen, die Spaß bringen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wir haben zwei Golfplätze, ein paar Tennisplätze, eine Bowlingbahn und ein Schwimmbad.“

„Spielen Sie Golf?“

„Früher ja.“

„Und warum jetzt nicht mehr?“

„Ein achtzehn Monate altes Kleinkind und eine Vierjährige sind auf einem Golfplatz nicht gern gesehen“, meinte sie trocken.

„Suchen Sie sich einen Babysitter.“

„Die beiden sind im Moment sehr anhänglich, und ich lasse sie ungern allein. Nur wenn es absolut notwendig ist. Wenn sie älter sind, werde ich wieder spielen.“

Jonas versah die Einstichstelle mit einem Pflaster und richtete sich auf. „So, fertig.“

„Ich bin beeindruckt. Den Einstich habe ich praktisch nicht gefühlt. Sie haben sehr sanfte Finger.“

Wenn du wüsstest, wie sanft, dachte er. Ich würde es dir nur zu gern beweisen … In seinen Augen war Dwight ein Dummkopf. Aber so gern er dort weitermachen würde, wo Dwight aufgehört hatte, es ging nicht. Er würde Megan unweigerlich verletzen, und das wollte er auf keinen Fall.

„Ist alles im Preis mit drin“, scherzte er. „Warum machen Sie jetzt nicht halblang und trinken eine Tasse Kaffee, bis wir vom Labor gehört haben.“

„Ich möchte lieber beschäftigt sein.“

„Das hatte ich vermutet. Doch wir kommen hier auch ohne Sie zurecht“, betonte er.

„Sie müssen Mr. Lawver noch einweisen, und dann sind da auch die Leute von Mulligan.“

„Okay.“ Er hob beide Hände. „Wenn Sie keine Pause wollen, kann ich Sie nicht dazu zwingen. Aber seien Sie vorsichtig, ja?“

„Versprochen.“

„Machen Sie einen Bogen um spitze und scharfe Gegenstände.“

Megan öffnete den Mund um zu protestieren, nickte dann nur. Sie ging zur Tür, blieb noch einmal stehen. „Danke für alles.“

„Gern geschehen.“

Sie kehrte ins Stationszimmer zurück und beschäftigte sich mit notwendigen Schreibarbeiten. Alle zehn Minuten sah sie im Computer nach, ob Carls Laborwerte schon eingetroffen waren.

Schließlich surrte der Drucker und druckte Seite um Seite aus. Carls Blutalkoholspiegel zeigte einen Wert, der die zulässige gesetzliche Grenze weit überschritt. Der toxikologische Bericht war negativ, also keine Drogen.

Carls Freundin traf ein. Rae machte einen netten Eindruck und war eindeutig besorgt um ihren Freund.

Dennoch schlich die Zeit nur so dahin. Als sich das Labor nach eineinhalb Stunden noch immer nicht wegen ihrer Untersuchungsergebnisse gemeldet hatte, sprach Megan Jonas an, als er aus der Radiologie zurückkam.

„Könnten Sie nicht vielleicht im Labor anrufen und sich erkundigen?“, bat sie ihn.

„Das habe ich schon. Sie haben extrem viel zu tun und mussten einige Untersuchungen wiederholen. Man hat mir aber versprochen, sich in fünf Minuten über den Pager zu melden.“

Megan holte bebend Luft. „Okay. Fünf Minuten.“

Aus fünf Minuten wurden fünfzehn. Als Jonas schließlich im Büro verschwand, um auf den Pager zu antworten, zwang sie sich, geduldig am Tresen zu warten.

Dann sah sie Jonas, wie er Carl und seine Freundin zum Ausgang begleitete. Das Lächeln auf seinem Gesicht nahm ihr ein wenig den Magendruck. Bis sie sah, dass seine Augen ernst blickten.

Sie erhob sich, als er näher kam. „Nun?“

„Kommen Sie mit“, sagte er, ergriff ihren Arm und zog sie mit in sein Büro. Er schloss die Tür hinter ihnen.

„Hepatitis B ist negativ. C bekommen wir erst morgen Nachmittag“, sagte er.

Megan atmete durch. So weit, so gut. „Okay. Und was ist mit HIV?“

Er zögerte. „Das ist etwas komplizierter.“

„Wieso?“

„Beim ersten Test waren Carls Werte schwach positiv.“

Megan keuchte auf und ließ sich in den Sessel sinken. HIV-positiv. Bilder von Aidskranken stiegen vor ihrem geistigen Auge auf, und sie ballte die Hände. Würde sie ebenso enden? Eine entsetzliche Vorstellung. Sie hatte Eltern, die sie brauchten, zwei Kinder, um die sie sich kümmern musste.

Jonas hockte sich neben sie und nahm ihre Hände. Sie waren eiskalt.

„Das Labor hat den Test noch einmal durchgeführt, und das Resultat war nicht eindeutig. Sie schicken jetzt die Proben zu einem Speziallabor. Wie ich auch Carl und Rae erklärte, dies war nur ein Vortest, bei denen falsche positive Ergebnisse nicht ungewöhnlich sind.“

Er redete weiter.

„Die gute Nachricht ist, dass Carls Freundin asymptomatisch ist. Anscheinend ist ein früherer Freund von ihr positiv getestet worden, deshalb hatte sie sich an die Gesundheitsbehörde gewandt. Hinzu kommt, dass Carls Resultate nur sehr geringe Mengen an Viren, beziehungsweise Retroviren zeigen.“

„Ist das nicht so, als würde man sagen, eine Frau sei ein wenig schwanger?“

„Möglich, aber um sicherzugehen, schlage ich Ihnen vor, mit der postexpositionellen Prophylaxe sofort zu beginnen.“

„Frischen Sie bitte meine Erinnerung auf. Was beinhaltet das?“

„Wir benutzen eine Mischung aus zwei Medikamenten, die das HIV-Virus deaktivieren oder für eine gewisse Zeit blockieren. Wenn der Spezialtest negativ sein sollte, können wir sofort wieder abbrechen. Falls nicht, werden wir weitere Untersuchungen bei Carl vornehmen.“

„Ich verstehe … Und wenn ich mich entscheide, keine Medikamente zu nehmen?“

„Dann verschlechtern Sie Ihre eigenen Chancen, und ich glaube nicht, dass Sie das wollen.“

„Nein.“ Obwohl sie wusste, die Therapie hatte eine Reihe von Nebenwirkungen wie Übelkeit und Durchfall, konnte sie es sich nicht leisten, darauf zu verzichten.

Als wüsste er, wie sie sich entscheiden würde, fuhr er fort.

„Sobald wir alle Resultate haben, können wir Ihre Behandlung neu einstellen. Die Medikamente sind keine leichte Kost, es wird also notwendig sein, nach zwei Wochen Ihr Blutbild und Nieren- und Leberfunktionen zu überprüfen, falls Sie die Präparate einen Monat lang einnehmen müssen. Zusätzlich werden Sie sich in sechs, in zwölf Wochen und dann in sechs Monaten noch einmal auf HIV testen lassen müssen.“

„Ich konnte die Maßnahmen im Schlaf aufsagen, aber nun, da ich persönlich betroffen bin, kann ich nicht einmal klar denken.“ Sie lachte verlegen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Wie dumm von mir.“

„Nein, nicht dumm. Es ist eine völlig normale Reaktion. Und ich glaube ernsthaft, angesichts der Umstände besteht wirklich nur eine ganz geringe Chance, dass Sie sich infiziert haben.“

Megan schaute ihn eindringlich an. „Aber eine Garantie können Sie mir nicht geben, oder?“

Jonas hielt ihrem Blick stand, doch sie sah das Bedauern in seinen dunklen Augen. „Nein, das kann ich nicht.“

3. KAPITEL

Jonas drückte Megans Hand. „Ich wünschte, ich könnte es.“

Sie schwieg.

„Wann fange ich an?“, fragte sie schließlich.

„Ich bestelle in der Apotheke gleich die Medikamente, weil ich möchte, dass Sie sie ab sofort nehmen. Verstanden?“

Sie nickte.

„Sollten Nebenwirkungen auftreten, verschreibe ich Ihnen etwas dagegen. Und Blut spenden dürfen Sie die nächsten sechs Monate auch nicht.“

„Das werde ich auch nicht.“ Schließlich wollte sie niemand in Gefahr bringen.

„Und nur geschützten Sex. Noch besser – Enthaltsamkeit.“

Ihr wurde plötzlich ganz heiß. So etwas mit einem Mann zu diskutieren, der die Gedanken in eine bestimmte Richtung lenkte, war irritierend.

„Mich überrascht, dass Sie sich die Mühe machen, es mir zu sagen“, erwiderte sie ein wenig schnippisch.

Verwundert sah er sie an. „Bitte? Ich würde meine Beratungspflicht vernachlässigen, wenn ich Sie nicht darüber informierte.“

Megan hielt die Hand mit dem nackten Ringfinger hoch. „Sie brauchen sich nicht zu sorgen, dass ich es weitergeben könnte. Ich bin nicht mehr verlobt, vergessen?“

Er trat von einem Fuß auf den anderen. „Hören Sie, Megan … Was das betrifft … Es …“

Sie hob beide Hände wie ein Verkehrspolizist. „Tut mir leid“, beendete sie seinen angefangenen Satz. „Ja, ich weiß. Tatsache bleibt auf jeden Fall, ohne Sie würde ich jetzt nicht allein vor diesem Schlamassel stehen.“

„Ich bin sicher, Dwight würde …“

„Dwight hat das Privileg verloren, etwas über mein Privatleben zu erfahren. Wagen Sie es nicht, ihm auch nur ein Wort zu sagen – mir ist es egal, wie gut Sie mit ihm befreundet sind.“

„Das werde ich nicht, und wir kennen uns außerdem kaum.“

„Tatsächlich? Wie man sich irren kann …“

„Lassen Sie mich erklären“, begann er.

„Dwight hat sich Ihren Rat zu Herzen genommen, und nun sollten Sie froh sein, wieder einen Geschlechtsgenossen vor der Knechtschaft in der Ehe gerettet zu haben. Bestimmt haben Sie ihm in leuchtenden Farben die Freiheiten des Singles beschrieben, und es hat ihm gefallen. Was ist da noch zu erklären?“

„So ist es nicht gewesen. Er hatte mich um meine Meinung gebeten.“

„Die Sie ihm nur zu gern nannten – ohne dabei auch nur einen Gedanken an die Auswirkungen auf das Leben dreier Menschen zu verschwenden.“

„Das stimmt nicht. Ich habe an Sie gedacht.“

„Tut mir leid, das überzeugt mich nicht. Aber wie es auch sei, ich will nicht darüber diskutieren.“

Er fuhr sich mit der Hand übers kurze Haar. „Na schön … Um zum ursprünglichen Thema zurückzukommen, neben Dwight gibt es noch andere, die Ihnen Beistand geben können.“

„Meine Eltern haben bereits einen Sohn verloren. Deswegen kann ich ihnen nichts erzählen. Und ich will es auch gar nicht.“

„Das verstehe ich, aber ich meinte mich selbst.“

„Wie bitte?“ Megan blickte ihn ungläubig an.

„Wieso nicht? Ich habe breite Schultern.“

Ungewollt wanderte ihr Blick über seinen Körper. Er hatte recht. Nicht nur breite Schultern hatte er, sondern er wirkte solide wie ein Felsen. Sich an ihn zu lehnen, war eine verlockende Vorstellung, aber es durfte nicht sein. Wie gut gemeint sein Angebot auch war, Jonas’ Unterstützung würde immer nur zeitlich begrenzt sein, und sie brauchte etwas, das über den Moment hinausging.

Sie erhob sich mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte. „Danke, aber ich schaffe es schon allein. Und wenn Sie zum Thema nichts mehr zu sagen haben, würde ich gern zurück an die Arbeit gehen.“

Er zögerte kurz. „Okay“, sagte er dann.

Megan stürzte sich in den Stationsalltag und sagte sich immer wieder, sobald ihre Gedanken abschweiften, es hätte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen. Sie musste sich damit beruhigen, dass sie alles medizinisch Mögliche getan hatte, um einen schlechten Ausgang der Sache zu verhindern.

Ihr größeres Problem war im Augenblick, wie sie ihren Eltern beibringen sollte, dass die Verlobung geplatzt war.

Mit den Kindern wird es leichter sein, dachte sie, als sie sich nach Dienstschluss Jeans und einen langärmeligen gelben Rollkragenpulli anzog. Sie würden sie nicht mit Mitleid überhäufen oder bohrende Fragen stellen. Zudem hatten sie nie eine enge Bindung an Dwight entwickelt, und angesichts der Umstände war das nur gut so. Es würde sie nicht berühren, wenn er wieder aus ihrem Leben verschwand.

Megan schloss ihren Schrank ab und vermerkte schnell noch in ihrem Terminkalender die Daten, die Jonas ihr genannt hatte. In zwei und dann wieder in vier Wochen würde ein Bluttest zeigen, wie ihr Körper die toxischen Medikamente verkraftete. Sie rechnete sechs Wochen weiter und machte ein großes X in den Kalender. HIV mochte sie nicht schreiben. Das Gleiche für einen Termin in zwölf Wochen und sechs Monaten. Das würde im Oktober sein.

Sie nahm ihre Handtasche und verließ den Umkleideraum. Am Stationszimmer winkte ihr die Stationssekretärin zu. „Da ist gerade ein Anruf für Sie gekommen. Ihre Mutter.“

Megan legte das Notizbuch auf dem Tresen ab und nahm den Hörer.

„Hi, Honey“, begrüßte ihre Mutter sie fröhlich. „Wie schön, dass ich dich noch erwischt habe. Dad und ich wollen heute Abend zu einem Konzert im Park, es ist ein so schöner Tag. Wollt ihr vier nicht mitkommen? Hinterher können wir alle irgendwo ein Eis essen.“

Megan massierte sich die Nasenwurzel. „Also … heute Abend passt es schlecht“, flüchtete sie sich in eine Ausrede. „Ich habe noch so viel im Haus zu erledigen …“ Zum Beispiel all die Sachen von Dwight einzupacken, die sich im Lauf der Zeit bei ihr angesammelt hatten. Am liebsten würde sie alles in den Müll werfen, aber damit zeigte ihm nur, wie sehr er sie verletzt hatte.

Sie hatte ihren Stolz.

„Schade … Falls du es dir anders überlegst, ruf mich vor sieben an.“

„Bestimmt, Mom. Danke für die Einladung.“

Sie legte den Hörer auf und kämpfte gegen ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit an. Es wird schon alles wieder werden, sagte sie sich. Die Zukunft mochte nun ganz anders sein, als sie es sich vorgestellt oder erträumt hatte, aber ihr Leben würde sich bestimmt wieder zum Besseren wenden.

Sobald es aufhörte, schlimmer zu werden.

Um halb sieben hatte Jonas die Station an den Nachtdienst übergeben und entdeckte einen dicken Terminplaner auf dem Tresen, der die Aufnahmezentrale vom Raum abtrennte. „Was ist das denn?“

Karen blickte auf. „Megan hat ihn vergessen. Anscheinend hat sie noch nicht gemerkt, dass sie ihn hier liegen ließ.“

„Wohl nicht.“ Kein Wunder, bei all dem Stress. „Ich könnte ihn ihr vorbeibringen.“

„Bestimmt wird sie Ihnen dankbar sein – ich wäre nämlich ohne mein Notizbuch aufgeschmissen.“

Jonas überlegte. Normalerweise kümmerte es ihn nicht, was die Leute von ihm dachten. Bei Megan war es anders. Ihr Gesichtsausdruck nach jenem Gespräch im Pausenraum ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, und er machte sich Vorwürfe. Sie würde es nie zugeben, aber sicher war sie im Umgang mit Carl Walker abgelenkt gewesen, sonst wäre ihr diese Nadelstichverletzung nicht passiert. Auf einmal erschien es ihm ungemein wichtig, ihr zu erklären, dass er nur das Beste für alle Beteiligten im Sinn gehabt hatte. Nach und nach würde sie wohl erkennen, dass sein Rat an Dwight richtig gewesen war. Doch so lange konnte er nicht warten. Sie arbeiteten zusammen, und da konnte er ein gespanntes Klima nicht gebrauchen.

Das Schicksal gab ihm nun die Gelegenheit, den Riss in ihrer beruflichen Beziehung wieder zu kitten.

„Wo wohnt sie?“, fragte er.

„Drüben an der MacArthur Street.“ Die Schwester zog das Telefonbuch heraus, schaute nach und nannte ihm die Hausnummer. „Es liegt nördlich der Grundschule, zwischen Patton Street und Marshall Street.“

„Wer die Straßennamen vergeben hat, muss ein Faible für Generäle gehabt haben. Ich schätze, Eisenhower Street liegt in derselben Gegend.“

Patty lachte auf. „Sie gehört zu den Präsidentenstraßen. Keine Sorge, bald kennen Sie sich so gut aus wie wir alle.“

Solange er allein zurück zu seiner Wohnung fand, war er fürs Erste zufrieden. Sie lag nur zwei Straßen vom Krankenhaus entfernt, in einer ruhigen, alten Wohngegend.

Eine Hündin schlich zwischen seinem Haus und dem Nachbarhaus herum, blieb stehen und starrte ihn mit traurigem Blick an. Ihr hellgelbes Fell brauchte dringend ein Bad, und ihre Rippen stachen Mitleid erregend hervor. Früher einmal musste das Tier ein schöner Golden Retriever gewesen sein.

Er hatte immer gern einen Hund gewollt, aber letztendlich waren stets die Umstände dagegen gewesen. Jason verbrachte in der Regel zwölf Stunden Dienstzeit täglich im Krankenhaus. Das arme Tier wäre fast die ganze Zeit allein.

Vielleicht hatte es sich auch nur verlaufen.

„He, Mädchen“, sprach er das Tier an, doch es blieb misstrauisch auf Abstand.

Jonas schloss die Haustür auf und warf noch einen letzten Blick zurück. Der Retriever stand unbeweglich da, als erwarte er, entweder gefüttert oder vertrieben zu werden.

Bestimmt würde er sich davonmachen, sobald er außer Sicht war. Jonas schloss die Tür und blickte durch die Scheibe hinaus. Aber zu seiner Überraschung ließ sich das Tier auf die Steinplatten sinken und legte den Kopf schwer zwischen die Pfoten.

Jonas hielt den erbarmungswürdigen Anblick nicht mehr aus. Er füllte eine Schale mit Wasser und brachte eine Schüssel mit Essenresten hinaus und stellte beides an einen schattigen Platz nahe der Verandatreppe.

„Na, komm her, Mädchen“, lockte er.

Der Retriever hob den Kopf und starrte ihn an, als vermute er einen Trick.

„Komm, na, komm schon. Es ist nichts Besonderes, aber es füllt den Magen.“

Das Tier rappelte sich auf und tappte zögernd näher.

„Komm, friss. Ich tue dir nichts.“

Wieder zögerte die Hündin. Doch nach einem letzten vorsichtigen Blick auf Jonas machte sie sich über das Essen her. Nachdem sie die Schüssel blitzblank geleckt hatte, wedelte sie mit dem Schwanz.

Soweit Jonas sehen konnte, besaß sie kein Halsband. Und somit wohl auch keinen Besitzer.

„Mehr habe ich nicht. Außer, du möchtest noch ein Eis, aber ich glaube, das bekommt dir nicht.“

Der Hund schien ihm wegen des fehlenden Nachtischs nicht böse zu sein. Anstatt sich nun zu trollen, ließ er sich an einem schattigen Platz dicht am Haus nieder.

„He, du wohnst hier nicht“, klärte Jonas ihn auf, aber das Tier blieb liegen. Und da das arme Ding so viel Durst gehabt hatte, füllte ihm Jonas die Schale wieder auf.

„So, nun sieh zu, dass du allein zurechtkommst“, sagte Jonas zum Abschied und ging hinein, um sich umzuziehen.

Aber als er das Haus wieder verließ, um hinter das Lenkrad seines blauen Cabrios zu schlüpfen, hatte die Hündin sich nicht vom Fleck bewegt.

In der Hoffnung, den Retriever bei seiner Rückkehr nicht mehr vorzufinden, fuhr er davon. Sein Magen erinnerte ihn mit einem Knurren daran, dass er Hunger hatte. Sehr wahrscheinlich saß Megan mit den Kindern gerade beim Essen.

Er schlug den Weg zu einem Fast Food-Restaurant ein.

„Hast du deinen Ring verloren, Mommy?“, fragte Angela.

„Nein“, erwiderte Megan und schob Trevor noch einen Löffel Nudeln in den Mund. Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, Mommy genannt zu werden. Zuerst war sie Tante Megan gewesen, dann hatte Angie sie Mommy Megan genannt. Vor zwei Wochen nun hatte sie den Vornamen weggelassen und rief sie seitdem schlicht Mommy. „Ich habe ihn Dwight zurückgegeben.“

„Warum?“

„Weil wir beschlossen haben, wir wollen nicht heiraten“, erklärte Megan in einem Tonfall, als hätten sie sich entschieden, nicht in den Park zu gehen.

„Oh … Wird er dann nicht unser Daddy?“

Megan beugte sich über den Tisch und strich Angela über die weichen rotgoldenen Haare. „Nein, Herzchen.“

Angela zog die Augenbrauen zusammen. „Warum nicht? Mag er uns nicht?“

Kindermund … „Es ist nicht so, dass er euch nicht mag“, versuchte sie zu erklären. „Er will einfach nur nicht heiraten. Manche Männer halten nichts davon.“

Sofort fiel ihr Jonas Taylor ein. Kein Wunder. Schließlich war er der Casanova der Notaufnahme. Der einzige Mann, den sie kannte, der die Ehe für eine Art Krankheit hielt. Etwas, vor dem man sich schützen musste.

Eins war jedoch nicht zu leugnen. Auch wenn er durchaus einen Teil der Schuld trug, sie hatte ihn nicht nett behandelt, sondern ihren Ärger an ihm ausgelassen, anstatt an demjenigen, der es verdiente.

„Du bleibst aber doch unsere Mommy, oder?“

„Natürlich. Wir sind eine Familie und gehören zusammen. Und daran ändert sich nichts.“

Trotz ihrer Zusicherung empfand sie wieder ein ungutes Gefühl. Wenn sie HIV-positiv sein sollte, würden all ihre Zusicherungen nichts mehr wert sein, und die beiden Kinder würden wieder jemand verlieren, dem sie nahe standen. So grausam konnte das Schicksal nicht sein. Allerdings, Garantien gab es da nicht.

Mit dem stummen Schwur, alles zu tun, damit es nicht dazu kam, lächelte sie den kleinen Jungen an. „Na, bist du jetzt satt, junger Mann?“

Trevor deutete auf den Garten hinter den Terrassentüren und versuchte vom Hochstuhl zu rutschen.

„Er will im Sandkasten spielen“, übersetzte Angela.

„Wirklich? Ich habe nichts gehört.“

Angela zuckte mit den Schultern. „Er will es.“

„Er wird nie sprechen lernen, wenn du immer für ihn sprichst.“

„Aber ich weiß, was er will.“

„Ja, und wenn du in die Vorschule kommst, wird er Schwierigkeiten haben, weil niemand ihn versteht.“

„Oh … Na gut, dann halte ich den Mund.“

„Warte, ich wische Trevor Mund und Finger ab, dann könnt ihr draußen spielen“, sagte sie. Der Garten war eingezäunt, und vom Fenster über der Spüle aus hatte sie die Kinder jederzeit im Blick.

Sie trug Trevor zur Sandkiste, und sofort begann er voller Eifer ein tiefes Loch zu buddeln, während Angela einen Wall aufschichtete.

„Wenn ich mit dem Abwasch fertig bin, sehe ich mir euer Werk an“, versprach sie. „Und nicht mit Sand werfen, klar?“

„Bestimmt nicht“, versprach Angela.

Megan eilte nach drinnen und ließ Wasser in die Spüle, als es an der Haustür klingelte. Sie erwartete niemanden. Rasch trocknete sie sich die Hände ab und ging neugierig zur Tür.

Zu ihrer Überraschung stand Jonas draußen auf der Veranda. Sofort musste sie an den Nadelstich denken, und als sie die Tür öffnete, rechnete sie mit dem Schlimmsten.

„Was ist los?“ Sie hörte die Panik in ihrer Stimme und zuckte innerlich zusammen.

Er lächelte und hielt ein Notizbuch hoch, das sie nur zu gut kannte. „Gar nichts ist los. Dies hier haben Sie im Krankenhaus vergessen, und ich dachte, ich bringe es Ihnen vorbei.“

Er trug eine eng anliegende Jeans, dazu ein rotes Poloshirt. Ihr Herz schlug unwillkürlich schneller. Sah der Mann gut aus!

„Sie hätten anrufen können. Ich muss sowieso heute Abend ein paar Sachen erledigen und wäre kurz im Krankenhaus vorbeigefahren.“

„Das können Sie sich nun sparen.“

Megan trat zur Seite, damit er hereinkommen konnte. „Danke. Ohne meinen Terminkalender wäre ich aufgeschmissen, ehrlich gesagt.“

„Mich wundert, dass Sie sich noch nicht eins dieser modernen elektronischen Notizbücher angeschafft haben.“

Sie zuckte mit den Schultern. „In der Hinsicht bin ich wohl altmodisch. Ich sehe meine Termine lieber auf Papier.“ Plötzlich wurde ihr bewusst, wie schrecklich sie mit ihrem saftbespritzten T-Shirt, dem ungekämmten Haar und einem feuchten Fleck vom Abwaschwasser auf der Jeans aussehen musste.

„Störe ich beim Essen?“, fragte er.

„Nein, wir sind gerade fertig geworden. Die Kinder spielen draußen im Garten, und ich möchte sie nicht zu lange unbeaufsichtigt lassen.“

„Dann fasse ich mich kurz. Ich wollte nur sagen, es tut mir wirklich leid, wie sich die Sache zwischen Ihnen und Dwight entwickelt hat.“

Ihr Blick wanderte unwillkürlich zu dem Karton mit Dwights Utensilien. Zwei Abenteuerrom...

Autor

Jessica Matthews

Jessica Matthews wuchs auf einer Farm im Westen von Kansas, USA auf. Sie verbrachte ihre Zeit am liebsten mit Lesen. Ihrem Lehrer in der 8. Klasse erzählte sie, dass sie eines Tages Schriftstellerin werden wolle. Wissenschaftliche Lehrbücher und Forschungsunterlagen ersetzten die Liebesromane, Mysteries und Abenteuergeschichten, als sie Medizinisch-Technische Assistentin wurde....

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