Julia Ärzte Spezial Band 23

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ÜBERRASCHUNG EINER BALLNACHT von KATE HARDY

Verlegen steht Assistenzärztin Jane vor ihrem neuen Kollegen. Er wird ihr als Oberarzt Edward Somers vorgestellt. Doch sie kennt ihn als "James Bond" und er sie als "Cinderella" – aus ihrer heißen Nacht nach dem Klinikball, die nur eine Mitternachtsaffäre bleiben sollte …

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  • Erscheinungstag 31.08.2024
  • Bandnummer 23
  • ISBN / Artikelnummer 8203240023
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Kate Hardy, Meredith Webber, Alison Roberts

JULIA ÄRZTE SPEZIAL BAND 23

1. KAPITEL

„Los, Cinderella, keine Müdigkeit vorschützen, wir gehen auf den Ball!“, schmetterte es Jane fröhlich entgegen, kaum hatte sie ihrer Freundin Sorcha die Haustür geöffnet.

„Ich bin gerade erst von der Spätschicht zurück“, protestierte Jane völlig überrumpelt.

„Wenn das kein perfektes Timing ist.“ Sorcha warf einen raschen Blick auf die Uhr. „In einer halben Stunde ist das Taxi hier. Also, beeil dich.“

„Ich hab nichts anzuziehen“, versuchte Jane es noch einmal.

„Doch, hast du. Ein Vorgeburtstagsgeschenk von mir. Hab ich neulich in der Stadt entdeckt und wusste gleich, das muss mit. Die Farbe passt einfach perfekt zu deinem Teint.“ Sorcha schwenkte verheißungsvoll eine Einkaufstüte. „So, jetzt geh duschen und wasch dir die Haare. Ich föhne sie dir dann und mach dir auch das Make-up.“

„Aber …“ Jane gab es auf. Aus Erfahrung wusste sie, dass Sorcha nicht zu bremsen war, sobald sie erst mal zur Hochform auflief.

„Komm mir jetzt nicht von wegen, du hättest was Wichtigeres zu tun. Bügeln und das Badezimmer putzen zählen nicht. Und glaub ja nicht, ich hätte nicht gemerkt, dass du immer deine Schicht tauschst, um dich vor den Weihnachtsfeiern zu drücken. Höchste Zeit, dass du aufhörst, dir dein Leben von Shaun ruinieren zu lassen. Der Typ ist Geschichte, Schluss, aus.“

Jane sagte nichts darauf. Was hätte sie auch erwidern sollen? Sorcha hatte ja recht.

Die Freundin zog sie beschwichtigend in die Arme. „Ach, ich weiß doch, Jane, er hat dich furchtbar verletzt. Du kannst dich aber nicht für den Rest deines Lebens hinter deiner Arbeit verschanzen. Hey, ich erwarte ja gar nicht, dass du mit dem erstbesten tollen Typen in die Kiste springst, der dir vor die Füße läuft. Komm heute Abend einfach nur mit und amüsier dich. Hab ein bisschen Spaß, okay?“

Jane zog die Nase kraus. „Da gibt’s nur ein klitzekleines Problem. Ich hab keine Eintrittskarte für den Ball.“

„Doch, du hast eine“, trumpfte Sorcha auf. „Mit den besten Grüßen von Maddie und Theo. Wenn du die Karte nicht als Geschenk annehmen willst, dann darfst du dich gerne mal als Babysitter revanchieren, soll ich dir ausrichten. Du gehst auf den Ball, das steht fest.“

„Tja, meinem Boss kann ich wohl schlecht widersprechen“, meinte Jane resigniert.

„Braves Mädchen!“ Sorcha grinste zufrieden. „Du hast noch siebenundzwanzig Minuten. Also, worauf wartest du?“

Keine halbe Stunde später erkannte Jane sich selbst kaum wieder. Sorcha hatte ihr das Haar, das sie sonst zu einem sportlichen Pferdeschwanz zurückgebunden trug, zu einem glatten Bob geföhnt. Das dezente Make-up brachte ihre haselnussbraunen Augen zum Strahlen, das Kleid war todschick und saß wie angegossen.

„Perfekt!“ Sorcha nickte beifällig. „Los, ab ins Vergnügen.“

„Was soll das heißen, du schaffst es nicht?“, wollte Ed wissen.

„Dass ich hier in Suffolk festsitze“, erwiderte George resigniert.

Ed erschrak. „Ist mit Dad alles in Ordnung?“

„Soweit ich weiß, ja. Ich bin nicht im Herrenhaus.“

„Hm.“ Offenbar hatte sein großer Bruder etwas Besseres vor, als den Wohltätigkeitsball für das London-Victoria-Krankenhaus mit seiner Anwesenheit zu beehren. „Ein Date“, meinte Ed seufzend.

„Nicht wirklich. Mein Wagen hatte eine kleine Auseinandersetzung mit einem Baum.“

Was? Bist du okay?“

„Ja, niemand ist verletzt außer dem Wagen. Das bisschen Blech ist leicht zu verpflastern. Also, mach dir keine Sorgen, hörst du?“

„Hey, Bruderherz, ich bin Arzt. Natürlich mache ich mir Sorgen, wenn ich höre, dass du einen Unfall hattest. Was genau ist denn passiert?“

„Wie gesagt, nichts Schlimmes, mir geht’s gut“, erwiderte George munter. „Bin nur ein bisschen zu rasant in die Kurve gegangen. Und bevor du mir jetzt eine Moralpredigt hältst – ich gelobe Besserung, okay? Sorry, dass ich dich heute Abend hängen lasse. Erwarte mich gegen Ende der Woche wieder in London, ja?“

In diesem Moment konnte Ed mehr denn je nachvollziehen, weshalb seine Stiefmutter Frances ihn gebeten hatte, ein ernstes Wort mit seinem älteren Bruder zu reden: anscheinend in der Hoffnung, etwas von seiner, Eds, Besonnenheit und seinem gesunden Menschenverstand würde auf George abfärben, sodass der endlich einen Gang runterschaltete. „Okay, wir sehen uns dann, sobald du wieder zurück bist. Pass auf, dass du dir nicht das Genick brichst, ja?“

George tat die Ermahnung mit einem Lachen ab. „Dir viel Spaß heute Abend.“

Ed stellte das Telefon in die Ladestation zurück und rückte seine Krawatte zurecht. Es war kein großes Unglück, dass er heute Abend allein auf den Ball musste. Im Gegenteil, so konnte er sich auf Smalltalk mit seinen neuen Kollegen konzentrieren und sich nebenbei ein bisschen entspannen.

Doch, seine Entscheidung, von Glasgow nach London zurückzukehren, war ganz bestimmt richtig gewesen, nicht nur für seine Karriere. Als Familienmensch schätzte er es, in der Nähe seiner Brüder und Schwestern zu wohnen. Und irgendjemand musste George im Zaum halten, wie seine Stiefmutter ihm in jenem ziemlich verzweifelten Anruf erklärt hatte. Sonst würde er sich in seinem Leichtsinn noch bei irgendeiner seiner heiß geliebten Extremsportarten das Genick brechen.

Ed – ernst und einfühlsam und jüngster Spross von Lord Somers – fiel die Aufgabe zu, zu richten, was aus dem Ruder lief, Streithähne zu versöhnen und dergleichen. George dagegen stürzte sich von einem halsbrecherischen Abenteuer ins nächste – Liebesabenteuer mit inbegriffen. Zur großen Freude der Paparazzi.

Manchmal befürchtete Ed ernsthaft, sein Bruder könnte den Bogen überspannen. Doch heute Abend war daran sowieso nichts mehr zu ändern. Sobald George wieder in London war, würde Ed ihn sich vornehmen und versuchen, ihn wenigstens so weit zur Vernunft zu bringen, dass der Rest der Familie ausnahmsweise mal in Ruhe schlafen konnte.

„Da drüben ist Jake – definitiv ohne Begleitung“, zischelte Jane ihrer Freundin zu.

„Ja, und?“

„Sorcha, das ist die Chance, ihn mit der Nase draufzustoßen, wie umwerfend du bist.“

„Ein andermal vielleicht“, gab Sorcha achselzuckend zurück. „Ich lass dich doch jetzt nicht im Stich, wo du das erste Mal aus deinem Schneckenhaus gekrochen kommst, seit …“ Sie unterbrach sich.

„Seit Shaun“, beendete Jane den Satz tonlos. Ihrem Exverlobten. Der sie mit ihrer Zwillingsschwester betrogen und all ihre Träume mit einem Schlag zerstört hatte. „Ich weiß. Aber ich kenne hier fast jeden. Keine Bange also, ich gehe schon nicht unter.“ Jane lächelte Sorcha aufmunternd zu. „Als Erstes muss ich sowieso Maddie und Theo suchen, um mich bei ihnen für die Eintrittskarte zu bedanken. Ab mit dir, schmeiß dich an Jake.“

„Bist du sicher?“

„Ganz sicher.“ Sorcha und Jake gäben wirklich ein tolles Paar ab. Er musste nur endlich aufwachen und das kapieren. „Na los, verschwinde schon. Wir sehen uns später. Viel Glück!“

Nachdem Sorcha in der Menge untergetaucht war, gesellte Jane sich zu ihrem Chef und dessen Frau. „Vielen Dank für die Eintrittskarte.“

„Sehr gern geschehen, Janey.“ Maddie Petrakis umarmte sie herzlich. „Wie schön, dass Sorcha dich überreden konnte mitzukommen.“

„Als Gegenleistung spiele ich für euch den Babysitter. Zwei Abende, versprochen.“

„Janey, du siehst umwerfend aus.“ Theo, Chefarzt der Entbindungsstation, schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. „Wäre ich Single, würde ich dich jetzt anbaggern.“

„Ja, klar doch.“ Jane winkte ab. Das Kompliment schmeichelte ihr, auch wenn sie wusste, dass Theo nur Augen für seine Frau hatte.

„Hast du was an deiner Frisur verändert?“ Maddie beäugte sie prüfend. „Sieht toll aus.“

„Sorcha hat mir die Haare geföhnt.“

„Das hat sie super hingekriegt. Du solltest dein Haar immer so tragen“, empfahl Maddie. „Auch wenn du dafür zwanzig Minuten früher aufstehen musst. Die Frisur steht dir.“

Das Kompliment gab Jane einen richtigen Stimmungskick. Es tat so gut, Maddie und Sorcha als Freundinnen zu haben! Die beiden waren unbezahlbar gewesen, als das Gerücht über die Umstände ihrer Trennung von Shaun sich im letzten Jahr wie ein Lauffeuer in der Klinik verbreitet hatte.

„Hast du schon ein Los für die Tombola gekauft?“, wollte Maddie wissen. „Die Preise dieses Jahr sind nicht zu verachten.“

„Falls eine Ballonfahrt dabei ist, Dr. Petrakis“, warf Theo schmunzelnd ein, „kaufen wir sämtliche Lose.“

Maddie wurde rot, und Jane musste lachen. „Hey, ich frage lieber nicht, wie das nun wieder gemeint ist. Und ja, ich habe vor, ein paar Lose zu kaufen. Wenn ihr wollt, betreibe ich noch einen kleinen Loshandel nebenbei, um den gewünschten Preis für euch zu ergattern.“

„Dein Angebot in Ehren“, sagte Maddie. „Aber das steht nun wirklich nicht in deiner Arbeitsplatzbeschreibung, Dr. Cooper. Du bist hier, um dir die Füße wund zu tanzen. Der heutige Abend ist dazu da, sich zu amüsieren.“

„Und um Geld zu sammeln.“

„Okay, ja. Also, kauf von mir aus einen ganzen Eimer Tombola-Lose – und dann ab auf die Tanzfläche. Anordnung vom Chef. Stimmt’s, Theo?“ Maddie klimperte mit den Wimpern.

„Ganz genau“, bestätigte Theo mit gespielter Strenge. „Wisst ihr, ich halte schon die ganze Zeit Ausschau nach unserem neuen Kollegen. Offiziell fängt er zwar erst nächste Woche an, aber Maddie hat ihn überredet, heute die Riege der attraktiven Single-Ärzte unserer Klinik zu unterstützen.“

„Bei seiner Vorstellungsrunde hatte ich dienstfrei“, warf Jane ein. „Wie ist er denn so?“

„Ein sympathischer Typ, der gut in unsere Abteilung passt“, erwiderte Theo. „Du wirst ihn bestimmt mögen. Das hoffe ich zumindest, denn du wirst ja eng mit ihm zusammenarbeiten.“

„Tja, wenn ich ihn heute Abend nicht mehr treffe, dann lerne ich ihn spätestens Dienstagmorgen kennen.“

„Genau. Und jetzt rein ins Vergnügen!“ Damit scheuchte Maddie die Freundin davon.

Jane kam nicht mal bis zum Tombolatisch, da verkündete das Zirpen ihres Handys den Eingang einer Nachricht. Oje, hoffentlich kein Notfall, sonst musste sie ins Krankenhaus zurück. Doch die Nachricht stammte nicht von Iris, der Chef-Hebamme, sondern von Janes Zwillingsschwester. Von der wollte Jane heute Abend allerdings noch weniger gestört werden. Gerade jetzt, da sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit ausnahmsweise mal unbeschwert fühlte …

Es war, als wüsste Jenna genau, wie sie Jane am besten die Stimmung vermieste. Schon das erste Wort der Nachricht saß wie ein Stachel: „SMGM“. Schlaue Maus, graue Maus, der Spitzname, den Jenna ihr verpasst hatte, als Jane im Alter von zehn Jahren ein Stipendium für die örtliche Privatschule ergattert hatte. Jenna, mit den Genen ihrer Mutter gesegnet, war hochgewachsen und eine richtige Schönheit, schlank, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Neben ihr verblasste jede andere zur grauen Maus.

So auch die in ihren Teenagerjahren leicht pummelige Jane. Der verhasste Spitzname hatte bald die Runde gemacht, was dazu führte, dass Janes Selbstbewusstsein auf den Nullpunkt sank und sie sich nur noch mehr in ihren Büchern vergrub.

Jane wollte das Handy schon wieder wegstecken, ohne die SMS zu öffnen – sie hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass ihre Schwester sich nur bei ihr meldete, wenn sie etwas wollte. Versehentlich drückte sie dabei die falsche Taste, sodass die Nachricht auf dem Display erschien.

Sorry, dumm gelaufen. Hättest du das Interview lieber gemacht.

Interview? Welches Interview?

Dann fiel es Jane wieder ein. Es ging um eine Story, die Jennas Herausgeberin in irgendeinem Klatschmagazin hatte unterbringen wollen: eine Geschichte über die Verschiedenheit von Zwillingen. Nach dem Motto: Jenna, die strahlende Schönheit, und Jane, die unscheinbare Streberin. Zu der Zeit steckte Jane mitten in ihren Abschlussprüfungen und hatte das Interview aus Zeitmangel abgesagt.

Damit hatte sie die Angelegenheit als erledigt betrachtet. Ein fataler Fehler, wie sich jetzt herausstellte.

Wider besseres Wissen klickte Jane den Anhang an. Und wünschte im selben Moment, sie hätte es nicht getan. Für dieses Foto hatte sie ganz sicher nicht freiwillig posiert – sie sah aus, als käme sie gerade von einem megaanstrengenden Bereitschaftsdienst und hätte zwei Nächte nicht geschlafen: bleich, mit geröteten Augen und spröden Lippen. In einer ausgeleierten Jogginghose, einem ausgeblichenen T-Shirt und einem schäbigen Parka darüber, die Haare achtlos unter eine Wollmütze gestopft, offenbar auf dem Weg zu ihrer täglichen Joggingrunde, um anschließend wie eine Tote ins Bett zu fallen. Wie sie sich ihren Lebensunterhalt verdiente, das wurde in dem Artikel, der sich ausschließlich um Jenna drehte, nicht erwähnt.

Mit Schrecken fiel Jane ein, dass die Zeitschrift auch am Krankenhauskiosk erhältlich war. Am besten, sie warnte Theo vor. Aber nicht heute. Sie wollte ihm und Maddie nicht den Spaß verderben.

Während sie ihr Handy zurück in die Handtasche gleiten ließ, ging ihr eine Frage nicht aus dem Kopf: Warum hasste Jenna sie nur so sehr? Dabei bemühte Jane sich ehrlich, ihre Schwester in jeder Hinsicht zu unterstützen. Das Leben eines Supermodels war hart, das war ihr bewusst. Schon ihre Mutter war fast daran zerbrochen. Jenna litt häufig unter Kopfschmerzen und – wie sie es nannte – Nervenkrisen, während Jane über eine äußerst stabile Konstitution verfügte und sich kaum mal eine Erkältung einfing.

Klaglos hatte sie sich um ihre fragile Mutter und ihre nicht weniger fragile Schwester gekümmert, hatte es als ihre Aufgabe betrachtet, für die beiden da zu sein, ohne ihnen je das Gefühl zu geben, sie seien ihr eine Last.

Doch sosehr sie sich auch bemühte, Jenna konnte sie es nie recht machen. Ihre Ablehnung war fast mit Händen greifbar. Woher diese rührte, war Jane völlig unbegreiflich.

Fest entschlossen, sich den Abend nicht von ihrer Schwester verderben zu lassen, schob sie sich durchs Gedränge – allerdings nicht Richtung Tombolatisch, sondern direkt an die Bar, wo sie ein Glas Champagner in einem Zug leerte. Der Alkohol tat seine Wirkung sofort, er konnte sie das scheußliche Foto zwar nicht vergessen lassen, nahm der Demütigung jedoch die Spitze.

Als Jane sich mit einem zweiten Glas Champagner in der Hand wieder unter die Leute mischte, wurde sie im Gedränge angerempelt, und der Inhalt ihres Glases ergoss sich über den Arm eines Mannes in Smokinghose und weißem Hemd.

„Oh, nein! Das tut mir leid“, rief Jane entsetzt aus. „Bitte entschuldigen Sie.“

„Kein Problem, so was kann vorkommen.“ Gelassen zog der Mann ein blütenreines Taschentuch aus der Tasche und begann, den Fleck abzutupfen.

Mit ein bisschen Herumgetupfe war es nicht getan, das wusste Jane. Also sagte sie: „Schicken Sie mir bitte die Reinigungsrechnung, ja?“ Sie wollte gerade Stift und Notizblock zücken, als ihr bewusst wurde, dass sie beides nicht dabeihatte. In ihrer lächerlich kleinen Abendhandtasche fanden gerade mal ihr Haustürschlüssel, ihr Portemonnaie und mit Mühe und Not ihr Handy Platz.

Der Mann lächelte. Ein sehr nettes Lächeln. „Schon gut, nicht nötig. Wenn Sie unbedingt Wiedergutmachung leisten wollen, dann tanzen Sie mit mir.“

Janes Herz hüpfte aufgeregt. Wie bitte? Er wollte mit ihr tanzen? Selbst James Bond wäre neben diesem Typen vor Neid erblasst. Er hatte volles dunkles Haar, durchdringende blaue Augen und ein Lächeln, das ihr durch und durch ging. Kurz gesagt: ein zum Niederknien schöner Mann.

„Tanzen? Mit Ihnen?“, fragte sie und kam sich vor wie eine dumme Gans.

„Tja, das tun die Leute doch für gewöhnlich auf einem Ball, oder?“, gab er achselzuckend zurück.

„Ich …“ Jane, reiß dich zusammen! „Wenn Sie meinen. Ich heiße J…“

„Keinen Namen, bitte“, unterbrach er sie. Um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, fügte er hinzu: „Mir gefällt die Vorstellung, mit einer hinreißenden Fremden zu tanzen. Cinderella …“

Hinreißend? Selbst Sorchas Make-up-Künste konnten keine Wunder bewirkt und Jane auch nur in die Nähe jenes Schönheitsolymps gerückt haben, auf dem unangefochten Jenna und ihre Mutter residierten. „Wenn ich Cinderella bin, dann sind Sie wohl Prince Charming“, konterte sie lächelnd.

„Sind Sie denn auf der Suche nach Prince Charming?“

„Nein, gerettet werden muss ich nicht.“ Was nicht ganz stimmte. Gerade konnte sie sehr wohl einen Retter gebrauchen, der sie die Schmach des erniedrigenden Artikels vergessen lassen würde. Mit einem koketten Lächeln fügte sie hinzu: „Hoffentlich bereuen Ihre Zehen Ihr Angebot nicht. Ich habe nämlich zwei linke Füße.“

„Ich zum Glück nicht. Also, versuchen wir’s mal.“ In seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Lachfältchen.

„Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“

Jetzt lachte er laut heraus. „Meine Zehen werden es schon überleben.“

Sekunden später schwebte Jane förmlich in seinen Armen. Wow, Prince Charming konnte wirklich tanzen. Er führte sie so souverän, dass sie gar keinen falschen Schritt machen konnte. Dieser Tanz war wie eine Offenbarung. Nie zuvor hatte sie sich weniger tollpatschig gefühlt.

Selbst als die Band zu einer langsameren Nummer ansetzte, tanzte er unbeirrt weiter. Es schien ganz natürlich, sich an ihn zu schmiegen und Wange an Wange mit ihm über das Parkett zu gleiten.

Seine Haut fühlte sich wunderbar weich an – offensichtlich hatte er sich frisch rasiert. Der würzige Duft seines Aftershaves gefiel ihr, und sie sog ihn genüsslich ein. Jane schloss die Augen, bereit, sich ganz dem Zauber des Augenblicks hinzugeben: Cinderella in den Armen von Prince Charming.

Sie spürte, wie er leicht den Kopf bewegte, seine Lippen strichen sanft über ihren Mundwinkel. Wenn sie sich jetzt bewegte, würde er aufhören, das wusste sie. Denn dieser hinreißende Fremde war ein Gentleman, daran zweifelte sie keine Sekunde.

Was, wenn sie ein kleines Stückchen näher rückte? Würde er sie dann küssen?

Allein die Vorstellung ließ ihr Herz schneller schlagen, und ihr Atem beschleunigte sich.

Jane beschloss, es einfach mal auszuprobieren.

Er reagierte sofort, schlang die Arme ein bisschen fester um sie, fuhr mit den Lippen über ihren Mund. So süß und verheißungsvoll, dass sie erschauerte. Liebe, Zärtlichkeiten, Leidenschaft – all das war so schrecklich lange her. Instinktiv legte sie den Kopf ein wenig in den Nacken.

Eine Einladung, auf die er sofort reagierte. Während er die Lippen zärtlich auf ihre senkte, hielt sie die Augen weiter geschlossen und konzentrierte sich ganz aufs Fühlen. Die leisen Schauer wurden zu einem lustvollen Prickeln, die Verlockung so überwältigend, dass sie ganz selbstverständlich seine Küsse erwiderte. Zarte Küsse, fast wie ein Spiel …

Aufseufzend öffnete sie die Lippen, erlaubte dem Fremden, den Kuss zu vertiefen. Entweder war ihr das Glas Champagner zu Kopf gestiegen, oder Prince-Charming-und-James-Bond-in-Personalunion küsste genauso meisterlich, wie er zu tanzen verstand. Es war, als schwebten sie ganz allein durchs Universum, alles um sie herum versank in einem rosigen Nebel.

Wie lange der rauschhafte Kuss dauerte, wusste Jane nicht zu sagen. Sie hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Erst als er sich behutsam von ihren Lippen löste, kehrte sie langsam in die Realität zurück. Die Band spielte inzwischen eine schnellere Melodie, doch sie tanzten noch immer eng aneinandergeschmiegt wie bei der langsamen Ballade.

Der Fremde blinzelte, als sei er ebenso überwältigt wie sie.

„Wow. Ist ziemlich lange her, dass mich ein Kuss so umgehauen hat.“ Seine Stimme klang rau.

„Wem sagen Sie das …“ Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so intensiv auf einen Mann reagiert zu haben. Nicht mal auf Shaun, und den hatte sie immerhin heiraten wollen.

Er neigte den Kopf, hauchte ihr einen raschen Kuss auf die Lippen. „Komm, verschwinden wir von hier.“

Sie musste völlig verrückt sein, wenn sie sich jetzt mit einem fremden Mann mit unbekanntem Ziel davonstahl – weg aus der sicheren Umgebung ihrer Freunde und Kollegen.

Verrückt oder sehr wütend und verletzt. So verletzt, dass es ihr nur fair schien, sich in ein Abenteuer mit dem bestaussehenden Mann zu stürzen, der ihr je begegnet war.

„Und dann?“, fragte sie also atemlos.

„Ich habe hier ein Zimmer. Mein Vorschlag: Champagner. Zimmerservice. Frisch gepresster Orangensaft und Käsetoast zum Frühstück.“

Hätte er ihr Kaviar oder Hummer angeboten, sie hätte Nein gesagt. Doch einem schlichten Käsetoast konnte sie nicht widerstehen. „Okay. Unter einer Bedingung.“

„Die wäre?“

„Keine Namen. Keine Fragen.“

Er sah sie aus seinen unglaublich blauen Augen durchdringend an. „Nur eine einzige Nacht? Ist es das, was du willst?“

„Ganz genau.“ Morgen früh würde sie sich wieder in die graue Schlaumaus zurückverwandeln. Nun, nicht ganz vielleicht, denn sie hatte frei und würde sich in ihrer graumäusigen Alltagskluft endlich daranmachen müssen, ihre Wohnung mal wieder gründlich zu putzen.

Doch das war morgen … Heute gab dieser Fremde ihr das Gefühl, schön und begehrenswert zu sein. Und sie war fest entschlossen, dieses Gefühl auszukosten. „Ja, nur eine Nacht.“

„Beantworte mir nur eine Frage: Bist du mit jemandem zusammen?“

„Nein.“ Aber wie sah es bei ihm aus? „Und du?“

„Nein.“ Zärtlich zog er ihre Unterlippe zwischen die Zähne. „Dann los, gehen wir.“

Während er an der Hotelrezeption seinen Schlüssel holte, schrieb Jane schnell eine SMS an Sorcha.

Habe Kopfschmerzen und lege mich zeitig schlafen. Amüsier dich noch schön! Fühl dich umarmt, Jane

Na ja, ganz gelogen war es ja nicht, oder? Sie ging schließlich früh zu Bett – nur nicht zu Hause. Und indem sie Kopfschmerzen vorschützte, stellte sie sicher, dass Sorcha nicht unverhofft bei ihr vorbeischaute und sich Sorgen machte, wenn sie die Freundin nicht antraf.

„Alles in Ordnung?“, wollte Prince Charming wissen, als er mit dem Schlüssel in der Hand zu ihr zurückkehrte.

„Klar doch.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, das ihre Unsicherheit überspielen sollte. „Ich hab meiner besten Freundin nur eine SMS geschickt, damit sie sich nicht wundert, wo ich abgeblieben bin.“

„Perfekt. Dann gehörst du jetzt ganz mir.“

2. KAPITEL

Ed führte seine Cinderella zu den Aufzügen. Ihr ausdrucksvolles Gesicht spiegelte deutlich wider, wie es in ihr arbeitete. Als die Lifttüren sich hinter ihnen schlossen, las er an ihrer Miene ab, dass sie allmählich doch kalte Füße bekam.

Kein Wunder eigentlich, schließlich war sie ohne Zweifel der verantwortungsbewusste, ernsthafte Typ. Sonst hätte sie sich nicht die Mühe gemacht, ihre Freundin zu benachrichtigen, damit sich die keine Sorgen machte. Und ganz offensichtlich fragte sie sich jetzt gerade, ob sie nicht einen schweren Fehler beging.

Er nahm ihre Hand und drückte einen sanften Kuss in die Handfläche. „Hör auf, dir Sorgen zu machen“, sagte er leise. „Wir gehen nur so weit, wie du es willst. Komm einfach erst mal nur auf einen Drink mit zu mir.“

„Normalerweise tue ich so was nicht“, bekannte sie und errötete.

„Ich auch nicht. Ein schockierendes Pärchen, wir beide, was?“, meinte er augenzwinkernd.

Erleichtert stellte er fest, dass sie auf seinen lockeren Ton einging und sein Lächeln erwiderte.

„Das kannst du laut sagen.“

Er schloss die Tür zu seinem Zimmer auf und bat Jane herein. „Setz dich, mach es dir bequem.“ Es erstaunte ihn nicht weiter, dass sie den Sessel wählte und nicht das Sofa – wo er sich ja neben sie setzen könnte. Sie brauchte also noch ein bisschen Zeit, um aufzutauen. „Soll ich uns Champagner bestellen?“

„Hm, ich glaube, ich hatte genug“, gab sie verlegen zurück. „Also, lieber nicht, es sei denn, du möchtest die ganze Flasche allein trinken.“

„Du hast doch das meiste auf mein Hemd geschüttet“, konterte er schmunzelnd.

Sie zuckte sichtlich zusammen. „Stimmt. Ist mir auch schrecklich peinlich.“

„So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass du gar nicht in den Genuss des edlen Tropfens gekommen bist.“

„Doch, bin ich“, gestand sie. „Ich hatte vorher schon ein Glas, und zwar auf ex.“

„Wieso? Musstest du dir die Party schöntrinken?“

„Nein, der Krankenhausball ist immer sehr lustig.“ Sie stieß hörbar die Luft aus. „Keine Fragen, schon vergessen?“

„Na gut“, meinte er achselzuckend. Trotzdem, eine so attraktive Frau mit so wunderschönen Augen hatte es wohl kaum nötig, sich Mut anzutrinken, oder?

„Warum wohnst du hier im Hotel?“ Ein Funken Neugier blitzte in ihren Augen auf.

„Darf ich dich erinnern? Keine Fragen“, parierte er augenzwinkernd.

„Sorry.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Ich fürchte, ich bin nicht besonders erfahren in solchen Dingen. Für gewöhnlich gehe ich nämlich nicht mit fremden Männern mit aufs Zimmer. Ich weiß ja nicht mal, wie du heißt.“

Die Situation war für ihn ähnlich verwirrend. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so heftig zu einer Frau hingezogen gefühlt zu haben. Nicht mal zu seiner Ex in guten Zeiten. Und nach dem Scheitern seiner Ehe sowieso zu niemandem mehr.

Die Art und Weise, wie diese Cinderella auf seine Küsse reagiert hatte, ließ ihn vermuten, dass sie beide das hier brauchten. Wenn ihre einzige Sorge war, dass sie seinen Namen nicht kannte, dann konnte er Abhilfe schaffen. „Also, wenn du unbedingt wissen willst, wie ich heiße …“

„Nein“, unterbrach sie ihn hastig. „Wir sind uns auf einem Wohltätigkeitsball begegnet. Nicht gerade der bevorzugte Aufenthaltsort von wilden Schurken. Außerdem hätte mich bestimmt jemand vor dir gewarnt, wärst du ein fünffacher Frauenmörder.“

„Du arbeitest also im Krankenhaus …“, vermutete er nachdenklich.

„Keine Fragen“, ermahnte Jane ihn.

Er lächelte selbstzufrieden. „Das war keine Frage, sondern eine logische Schlussfolgerung. Wir haben uns auf einem Krankenhausball getroffen, offenbar warst du da schon häufiger, kennst eine Menge Leute und die Gerüchteküche. Du arbeitest also im Krankenhaus. Quod erat demonstrandum.“

„Und du verfügst über eine Hochschulbildung. Auch eine logische Schlussfolgerung.“

„Ebenso wie du, was sich aus der Tatsache ergibt, dass dir lateinische Redewendungen geläufig sind“, konterte er schlagfertig.

„Nicht unbedingt, vielleicht löse ich einfach nur gerne Kreuzworträtsel.“

„Es macht Spaß, mit dir zu diskutieren. Genauso sehr, wie mit dir zu tanzen.“ Er hielt ihren Blick fest. „Und fast so sehr, wie dich zu küssen.“

Selbstzufrieden stellte er fest, dass ihre Lippen leicht geöffnet waren und ihre Pupillen ganz groß. Gut. Ihr hatte der Kuss also auch gefallen.

Ed nahm ihre Hand und drückte die Lippen sanft auf die Stelle, wo Janes Puls pochte. Je länger er seine Lippen dort ruhen ließ, desto schneller pulsierte das Blut. Ihre Haut fühlte sich wunderbar zart an. Und sie roch so gut … leicht blumig mit einer Note, die er nicht näher definieren konnte. Einfach unwiderstehlich.

„Du machst mich echt heiß, Cinderella“, bekannte er leise. „Aber natürlich werde ich dich zu nichts drängen.“ Er nestelte an seiner Fliege. „Hast du etwas dagegen, wenn …“

„… du in etwas Bequemeres schlüpfst?“, unterbrach sie ihn spöttisch.

Er musste lachen. „Aber nein. Ich würde mich nur gerne etwas … ungezwungener fühlen.“

„Tu dir keinen Zwang an.“

Er stand auf, hängte sein Smokingjackett über eine Stuhllehne, öffnete die Fliege und ließ beide Enden lose herunterhängen. Zum Schluss knöpfte er noch den obersten Hemdkragen auf.

Sie schnappte hörbar nach Luft.

„Vergiss Prince Charming, James Bond trifft es eher“, krächzte sie, als versage ihr die Stimme.

Er hob fragend die Brauen. „Ist das gut?“

„Oh, ja.“ Jetzt klang ihre Stimme aufregend heiser. „Ich habe den letzten Film dreimal im Kino gesehen.“

„Hm, nur eins, ich kann Martini nicht leiden.“

„Ich auch nicht.“

„Hey, du gefällst mir, Cinderella.“ Seine Stimme klang tief und sanft. „Komm her.“

Nach kurzem Zögern stand sie auf und ging zu ihm hinüber. Zärtlich umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen. „Perfekte Herzform. Jetzt möchte ich dich wirklich sehr gerne küssen. Darf ich?“

„Nur zu.“

Ganz zart berührte er ihre Lippen mit seinen – genau wie auf der Tanzfläche war es eher ein zärtliches, spielerisches Knabbern als ein Kuss. Und genau wie auf der Tanzfläche beantwortete sie seinen Kuss voller Leidenschaft. Leise seufzend schob sie die Hand in sein Haar und öffnete leicht die Lippen, um den Kuss zu vertiefen. Prickelndes Verlangen durchflutete ihn.

Nach ein paar heißen Küssen, die beide atemlos machten, stellte Ed sich hinter sie und öffnete langsam den Reißverschluss ihres Kleides. Dabei streichelte er jeden Zentimeter Haut, den er freilegte. Sie erschauerte lustvoll.

Sie nur zu berühren, reichte plötzlich nicht mehr. Er wollte mehr. Alles …

Behutsam streifte er ihr das Kleid über die Schultern, sodass es raschelnd zu Boden fiel. Er legte die Hände auf ihren Bauch und zog sie leise stöhnend an sich. Mit den Daumen liebkoste er durch den Spitzenstoff ihres BHs hindurch die weichen Rundungen ihrer Brüste.

„Ich will dich“, sagte er leise. „Ich will dich spüren, Haut an Haut.“

„Ich will dich auch.“ Der Klang ihrer Stimme, rau und sinnlich, erregte ihn so sehr, dass es ihm schwerfiel, sich zurückzuhalten.

Jetzt drehte sie sich um, zupfte ihm das Hemd aus der Hose und knöpfte es auf. Mit der flachen Hand strich sie über seine breite Brust mit den ausgeprägten Muskeln. „Ganz schön beeindruckend.“

„Danke für das Kompliment.“ Er sah ihr tief in die Augen. „Ich mag es, wie du mich berührst.“

Statt zu antworten, streifte sie ihm das Hemd herunter. Mit den Fingerspitzen zeichnete sie ganz langsam die Linie seines Schlüsselbeins nach, eine zärtliche Geste, die Ed lustvoll erschauern ließ.

Schön, aber längst nicht genug. Ed neigte den Kopf und suchte ihre Lippen in einem hungrigen Kuss. In fiebriger Hast öffnete er schließlich den Verschluss ihres BHs und ließ das hauchzarte Dessous achtlos zu Boden fallen. Mit beiden Händen umfasste er ihre nackten Brüste. „Du bist schön, Cinderella.“

Nein, bin ich nicht. Obwohl sie die Worte nicht laut aussprach, las er sie in ihren Augen, diesen faszinierenden Augen, die jede innere Regung widerspiegelten.

Irgendjemand – wahrscheinlich ihr Ex – hatte sie kleingemacht. Ähnlich wie Camilla ihm jegliches Vertrauen geraubt hatte.

„Wer immer er war“, sagte Ed leise, „er ist ein Idiot.“

Sie tat seine Bemerkung mit einem gleichmütigen Achselzucken ab. „Ich finde, du hast viel zu viel an.“

Keine Fragen, rief Ed sich in Erinnerung. Das hier war nur ein One-Night-Stand, heißer Gelegenheitssex – für sie beide.

Eine einzige Nacht, wie im Märchen.

Die Klinik war groß, ebenso die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Pfade sich nie mehr kreuzten. Er hatte es sich verdient, sich einmal wieder so richtig gut zu fühlen. Und sie bestimmt auch.

Ed nahm ihre Hand, legte sie auf seine Gürtelschnalle. „Wenn du meinst, dass ich zu viel anhabe, warum unternimmst du dann nichts?“, flüsterte er einladend.

Ihre Hände zitterten leicht, als sie den Gürtel öffnete, dann den Knopf seiner Smokinghose, endlich den Reißverschluss.

„Du bist schön“, wiederholte Ed sanft. „Deine Augen – ich bin mir nicht sicher, ob sie grün oder grau oder braun sind. Irgendwie scheint die Farbe sich entsprechend deiner Stimmung zu verändern. Es reizt mich, herauszufinden, welche Farbe sie annehmen, wenn du kurz vor dem Orgasmus stehst.“

Mit der Fingerspitze zeichnete er zärtlich den Schwung ihrer Lippen nach. „Und dein Mund … ist wunderschön. Ich möchte dich küssen, bis wir beide den Verstand verlieren. Und hier möchte ich dich auch küssen …“ Er beugte sich vor, umfasste eine ihrer festen Brustspitzen mit dem Mund und saugte sanft daran.

Cinderella stöhnte verlangend auf und legte den Kopf in den Nacken.

Tief in ihrem Inneren wusste Jane, das hier war eine wirklich schlechte Idee. Der Mann war ein Fremder. Und sie war absolut nicht der Typ für einen One-Night-Stand.

Andererseits hatte die Sache durchaus ihren Reiz. Vor allem, was das Gefühlsleben betraf. Mühsames Vertrauenfassen, eine mögliche Enttäuschung wie mit Shaun – all das fiel weg. Eine heiße Liebesnacht ohne gebrochenes Herz und monatelangen Liebeskummer war eigentlich genau das, was sie brauchte.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie beide nackt waren – ohne sich wirklich daran erinnern zu können, wer nun wem als Erstes die Kleider vom Leib gerissen hatte. Alles geschah wie in einem Traum, ihr Wille und jegliche Vernunft schienen ausgeschaltet.

Jetzt hob Prince Charming sie hoch und trug sie zum Bett. Doch er legte sich nicht neben sie. Ungeduldig öffnete Jane die Augen.

„Kondom“, sagte er, als er die stumme Frage in ihren Augen las.

Wenigstens einer von ihnen beiden konnte noch klar denken. Gut so, denn das Thema Verhütung war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Wie selten dumm war das denn!

Inzwischen hatte Prince Charming gefunden, wonach er gesucht hatte, und platzierte das in Folie eingeschweißte Päckchen auf dem Nachttisch.

„Du wirkst irgendwie besorgt.“ Er streichelte ihr über die Wange. „Falls du es dir anders überlegt hast, kein Problem.“

„Es ist nur …“ Seit der Sache mit Shaun hatte sie keine einzige Verabredung gehabt, geschweige denn mit einem Mann geschlafen. „Ich habe keine Erfahrung mit … so was“, gestand sie.

„Dann lass uns doch gemeinsam die Erfahrung machen.“ Wieder beugte er sich über sie, um sie zu küssen, sanft und zärtlich zuerst, dann, als er ihre Hingabe spürte, immer heißer und hungriger. Bis Jane schließlich jede Zurückhaltung aufgab und ihm voller Verlangen entgegenkam, seine Liebkosungen genoss und mit ungezügelter Leidenschaft erwiderte.

Als er die Hand zwischen ihre Schenkel schob, seufzte sie sehnsüchtig auf. Obwohl sie einander völlig fremd waren, schien er intuitiv zu wissen, was ihr gefiel und wie sie am liebsten gestreichelt wurde.

Irgendwann, inzwischen war ihr ganz schwindelig vor Lust, nahm sie wahr, wie er sich das Kondom überstreifte. Dann drang er behutsam in sie ein. Es war ein unbeschreiblich schöner, intensiver Augenblick.

Wieder schien er genau zu spüren, wie weit er gehen konnte, denn immer dann, wenn sie kurz vor dem Höhepunkt stand, hielt er inne. Er machte sie fast wahnsinnig damit, erregte sie, bis ihr Atem schließlich in heftigen Stößen kam und sie laut stöhnte. Endlich führte er sie auf den Gipfel der Lust. Und als eine heiße Welle der Leidenschaft nach der anderen ihren Körper erschauern ließ, folgte er ihr mit einem heiseren Keuchen.

Während die Lust in ihnen noch nachhallte, hielt er sie eine kleine Ewigkeit einfach nur fest, bis er sich vorsichtig aus ihr zurückzog. „Entschuldige mich bitte kurz, ich bin gleich wieder da.“

Jane blieb allein im Bett zurück. Plötzlich peinlich berührt, zog sie das Laken bis zum Kinn hoch. Oh, Mann! Wie verhielt man sich bloß in so einer Situation? Sollte sie jetzt aufstehen und verschwinden oder die ganze Nacht bleiben? Sie hatte keinen Schimmer.

Jetzt kam er aus dem Bad zurück – göttlich nackt und völlig unbefangen. Anscheinend kannte er die Regeln, während sie sich wie ein naiver Trampel verhielt.

Er kletterte wieder ins Bett und zog sie an sich. „Stimmt was nicht?“

Sie seufzte ergeben. „Falls du es wirklich wissen willst, ich bin nicht in den Ablauf eines One-Night-Stands eingeweiht. Das heißt, ich habe gerade keine Ahnung, was du von mir erwartest.“

„Nach dem Sex, meinst du?“ Er schmunzelte. Zärtlich spielte er mit einer Haarsträhne, die ihr widerspenstig ins Gesicht fiel. „Ach, weißt du, ich bezweifle, dass es da Regeln gibt. Du entscheidest selbst, was du als Nächstes tun möchtest. Wenn’s nach mir ginge, bleibst du noch ein bisschen, und wir bestellen uns was zu essen.“

„Käsetoast?“

„Das oder worauf du eben Lust hast.“

Lust hatte sie auf Käsetoast – irgendwie hatte dieses einfache Essen etwas Heimeliges an sich. „Käsetoast und Orangensaft, das wäre super.“ Mit einem koketten Lächeln fügte sie hinzu: „Hältst du mich für maßlos, wenn ich gerne auch noch einen Kaffee hätte?“

„Kaffee klingt gut.“

„Ich bezahle mein Essen natürlich selbst“, versicherte sie schnell.

„Rede keinen Unsinn. Mein Zimmer, mein Vorschlag, meine Rechnung. Keine Widerrede.“

„Dann bedanke ich mich sehr bei dir.“

„Weißt du, als ich abends zu dem Ball losgegangen bin, hätte ich mir nie träumen lassen, dass es so endet: eine heiße Liebesnacht mit einer fremden Frau, Käsetoast und Kaffee im Bett. Aber ich bin wirklich froh, dass ich dich getroffen habe.“

„Mir geht’s genauso.“

Die Käsetoasts waren knusprig und köstlich, der Orangensaft frisch gepresst, der Kaffee stark und heiß. Nachdem sie sich mit Appetit über den Mitternachtsimbiss hergemacht hatten, fand Jane es an der Zeit, die Gastfreundschaft von Prince Charming nicht länger zu strapazieren.

„Das war superlecker, danke. Und jetzt ist es wohl allmählich angebracht, dass ich mich verabschiede.“

Er sah sie aus seinen unglaublich blauen Augen eindringlich an. „Nicht unbedingt. Von mir aus bleib doch noch bis morgen.“ Sein Blick wurde dunkel vor Verlangen.

Der Funken sprang sofort über. Jane fühlte sich wie elektrisiert. Wie konnte sie dieser Einladung widerstehen? „Ja, ich bleibe gerne.“

Bereits früh am nächsten Morgen schreckte Jane aus einem tiefen Schlaf hoch. Und fand sich in einem fremden Bett wieder, in einem fremden Zimmer, mit einem fremden Mann, der eng an sie gekuschelt schlief.

War das etwa einer jener seltsam lebendigen Träume? Oder eine vage Erinnerung daran, wie es war, morgens in den Armen eines geliebten Partners aufzuwachen? Doch dann rührte der Mann neben ihr sich leicht und zog sie noch ein bisschen enger an sich.

Also sie lag definitiv mit jemandem im Bett. Da sie seit acht Monaten nicht mehr mit Shaun zusammen war, konnte das nur eins bedeuten … sie lag mit dem umwerfend gut aussehenden Fremden im Bett, dessen Ärmel gestern Bekanntschaft mit ihrem Champagner gemacht hatte.

Jane unterdrückte mit Mühe ein Stöhnen. Von einem Schlamassel in den nächsten … Wie hatte sie nur so naiv sein können, eine Nacht bei einem Fremden zu verbringen, ohne jemandem Bescheid zu sagen, wo sie war? Auch wenn er noch so nette Manieren hatte. Gar nicht auszudenken, was alles hätte passieren können!

Ach, Mist. Dr. Jane Cooper war doch für ihre ausgeprägte Vernunft bekannt. So etwas Dummes machte sie einfach nicht.

Und doch hatte sie es getan.

Wenigstens kannte er nicht ihren Namen. Wahrscheinlich würde sie ihm sowieso nie wieder begegnen, selbst wenn sie beide im London Victoria arbeiteten. Dafür war die Klinik einfach zu groß. Bis jetzt war er ihr ja auch noch nie über den Weg gelaufen, an diese wunderschönen Augen hätte sie sich erinnert.

Was für eine Nacht! Zum Schlafen waren sie kaum gekommen, wie denn auch, mit diesem Mann? Und am Schluss waren ihnen doch tatsächlich die Kondome ausgegangen! Was dazu führte, dass Jane sich ganz ungewohnt verrucht vorkam.

Gar kein schlechtes Gefühl eigentlich. Bereute sie, was passiert war? Sicher nicht, wie könnte sie all die wundervollen Dinge bereuen, die Prince Charming mit ihr angestellt hatte? Besonders die unter der Dusche … Trotzdem hatte sie keine Ahnung, wie sie sich jetzt ihm gegenüber verhalten sollte. Was sollte sie sagen?

Am besten wäre es zu verschwinden, bevor er aufwachte. Also löste sie sich vorsichtig aus seiner Umklammerung. Als er sie wieder an sich ziehen wollte, drückte sie ihm kurzerhand ihr Kopfkissen in die Arme, an das er sich sofort behaglich schmiegte.

Süß.

Jane lächelte bedauernd. Vielleicht, wenn sie einander unter anderen Umständen begegnet wären … Sinnlos, darüber zu spekulieren. Auf sie wartete eine Patientin, um die sie sich dringend kümmern musste.

Rasch zog sie sich an und lief auf Zehenspitzen zur Tür. Schon halb draußen, drehte sie sich noch einmal zu dem schlafenden Mann im Bett um. „Ich danke dir … mit dir habe ich mich schön und begehrenswert gefühlt“, sagte sie leise und hauchte ihm zum Abschied eine Kusshand zu.

3. KAPITEL

„Hey, du hast doch frei.“ Iris, die Chefhebamme, sah Jane fragend an.

Jane rang sich ein Lächeln ab. „Ich weiß. Aber du kennst mich ja: immer im Dienst für meine Patientinnen.“ Außerdem musste sie dringend Theo sprechen und ihm von dem grauenvollen Zeitschriftenartikel erzählen. Oberstes Gebot war jetzt Schadensbegrenzung. „Apropos, ich schaue mal rasch nach Mrs Baxter.“

Ellen Baxter blickte erfreut von ihrer Zeitschrift auf, als Jane das Zimmer betrat. „Ah, Dr. Cooper!“

„Guten Morgen, Mrs. Baxter. Wie geht es Ihnen heute?“

„Okay. Glaube ich jedenfalls.“ Die Frau lächelte schief. „Ich versuche, mich zu entspannen.“

„Was Ihnen hier in der Klinik nicht leichtfällt, wenn Sie so viel lieber zu Hause wären.“ Jane tätschelte ihrer Patientin mitfühlend die Hand. „Na, wollen wir mal sehen, was Ihre Werte machen.“ Rasch überflog sie die Liste mit den Laborwerten. „Prima. Darf ich jetzt Blutdruck und Temperatur messen?“

„Traktieren Sie mich mit so vielen Nadeln, wie Sie wollen, wenn ich nur nach Hause kann“, meinte Mrs Baxter ergeben.

Jane musste lachen. „Vor Nadeln sind Sie heute sicher.“ Nachdem sie den Blutdruck und die Temperatur geprüft hatte, notierte sie die Werte auf dem Klemmbrett. „Sehr gut. Stechende Schmerzen oder Schmierblutungen?“

„Nein. Und glauben Sie mir, ich würde es Ihnen sagen, wenn es anders wäre“, beteuerte die Patientin. „Ich will doch nicht, dass etwas schiefgeht. Ich will das Baby nicht verlieren.“

„Das weiß ich“, sagte Jane tröstend. „Und wir tun alles, um Ihnen zu helfen.“

„Alle hier sind so schrecklich nett, aber es ist einfach nicht wie zu Hause.“ Mrs Baxter wurde rot. „Das klingt sicher albern, aber ohne Rob an meiner Seite kann ich einfach nicht vernünftig schlafen.“

„Das ist überhaupt nicht albern, sondern vollkommen verständlich.“ Nach der Trennung von Shaun hatte Jane viele Wochen gebraucht, um sich wieder ans Alleineschlafen zu gewöhnen. Glücklicherweise war sie diejenige gewesen, die ausgezogen war, sodass sie wenigstens mit ihrer Wohnung keine sentimentalen Erinnerungen an Shaun verbanden. „Mrs Baxter, ich bin sehr zufrieden mit Ihren Werten. Wenn Ihr Mann Sie abholen kann, entlasse ich Sie heute Vormittag. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen“, fügte sie streng hinzu.

„Alles, was Sie wollen!“, rief ihre Patientin erleichtert aus. Ihre Augen schimmerten feucht.

„Erstens, Sie lassen es langsam angehen. Zweitens, bei den geringsten Beschwerden melden Sie sich bitte sofort. Drittens, irgendwelche Krämpfe oder Stiche, und ich will Sie auf der Stelle hier sehen. Haben wir uns verstanden?“

„Ja.“ Tränenerstickt fügte sie hinzu: „Sie sind einfach großartig. Wenn Sie nicht gewesen wären …“

Jane drückte ihr die Hand. „Dafür bin ich ja da.“ Sie schenkte ihrer Patientin ein aufmunterndes Lächeln. „So, rufen Sie jetzt Ihren Mann an, während ich mit Iris den Papierkram erledige.“

Sanft und warm … ah, das fühlte sich gut an. Es dauerte einen Moment, ehe Ed bewusst wurde, dass er keine Frau in den Armen hielt, sondern ein Kopfkissen.

Das hieß, sie war gegangen.

Oder war sie im Bad? Er lauschte, aber alles blieb still. Kein Wasserrauschen, nichts. Und das Laken auf ihrer Seite des Betts war kalt. Sie musste schon eine ganze Weile weg sein.

Tja, auch eine Methode, der Peinlichkeit des nächsten Morgens zu entgehen …

Auf dem Weg zum Bad entdeckte Ed eine Notiz auf der Frisierkommode:

Guten Morgen, Prince Charming. Danke für die traumhafte Nacht. Cinderella

Also hatte sie das Spiel bis zu Ende gespielt. Aber so war es doch ausgemacht gewesen, oder? Warum ärgerte es ihn dann, dass sie nicht mit ihrem richtigen Namen unterschrieben oder ihre Telefonnummer notiert hatte?

Und was, verdammt noch mal, hatte sie sich dabei gedacht, ihm einen Geldschein hinzulegen?

Nachdem der dringendste Papierkram erledigt war, klopfte Jane an die Tür zu Theos Büro. Er blickte verwundert von seinem Schreibtisch auf. „Hey, Janey, was tust du denn hier? Du hast doch frei.“ Er hob eine Hand. „Oh, sag es nicht. Ellen Baxter.“

„Ja. Ich entlasse sie heute. Wir haben vereinbart, dass sie sich bei den kleinsten Anzeichen eines drohenden Aborts sofort meldet.“

„Bist du gekommen, um mir das zu erzählen, oder um mir eine Tasse Kaffee zu bringen?“, meinte er hoffnungsvoll.

„Ähh, ein doppelter Brandy wäre eher wohl angebrachter“, erwiderte sie unbehaglich.

„Was ist los, Janey?“

Sie atmete tief durch. „Ich muss dir etwas zeigen. Tut mir leid, ich hatte keine Ahnung davon, bis ich gestern Nacht diese SMS bekam.“ Sie öffnete die Nachricht und schob Theo das Handy hin.

Der las schweigend, den Mund zu einer grimmigen Linie zusammengepresst. „Eine solche Gehässigkeit ist mir ja noch nie untergekommen“, sagte er dann. „Bist du okay, Janey?“

Nein, sie war überhaupt nicht okay, sondern furchtbar wütend und schrecklich verletzt. Doch das wollte sie nicht zeigen. Keine Tränen mehr, nur noch lächeln. „Mir geht’s gut“, log sie tapfer. „Aber der Schaden für unsere Abteilung wird beträchtlich sein. Wenn du möchtest, dass ich kündige, könnte ich das verstehen.“

„Kündigen? Du machst wohl Witze. Janey, du bist eine fantastische Ärztin. Dieser … Dreck hat nicht das Geringste mit dir zu tun. Wann kommt die Zeitschrift raus?“

„Ich bin nicht sicher. Diese Woche, denke ich.“

„Gut. Ich rede mal ein Wörtchen mit dem Kioskbetreiber, um sicherzustellen, dass das Schmierenblatt diese Woche nicht in der Klinik zum Verkauf angeboten wird. Falls nötig, kaufe ich höchstpersönlich sämtliche Exemplare. Wenn allerdings jemand sich die Zeitschrift außerhalb des Krankenhauses besorgt und sie mit reinbringt, kann ich das leider nicht verhindern. Alle, die dich kennen, werden empört sein.“

Er gab ihr das Handy zurück. „Und die paar Dummköpfe, die meinen, irgendwelche dämlichen Bemerkungen dazu machen zu müssen – die ignorierst du einfach, hast du verstanden?“

„Danke.“ Sie fühlte sich unendlich erleichtert. Gleichzeitig war es ihr peinlich, dass ihr Boss sogar bereit war, sämtliche Exemplare der Zeitschrift aufzukaufen, um ihr eine Demütigung zu ersparen.

„Ich schließe daraus, dass deine …“, es folgte ein Wort auf Griechisch, das nicht besonders freundlich klang, „… Schwester dahintersteckt?“

„Es ist einige Monate her, da hat sie sich gebeten, der Zeitschrift ein Interview zu geben. Eine Reportage zum Thema: Die Schöne und das Superhirn. Ich steckte damals mitten in Examensvorbereitungen und hatte absolut keine Zeit, also sagte ich ab. Und dachte, die Sache sei damit erledigt.“

„Stattdessen hat sie die Gelegenheit genutzt, dir eins auszuwischen, weil sie dich im Grunde schrecklich beneidet.“

„Wieso sollte sie mich beneiden? Schließlich ist sie das Supermodel, und nicht ich.“

„Sie geht immerhin auch auf die dreißig zu, in ihrem Business ist das schon ziemlich alt. Wie lange wird sie wohl noch so erfolgreich sein? Gutes Aussehen vergeht, eine gute Ausbildung nicht. Du hast deine Karriere noch vor dir, sie hat den Zenit bereits überschritten. Und, was noch schwerer wiegt, du bist bei allen beliebt. Deshalb ist sie neidisch auf dich.“ Theo hatte sich richtig in Rage geredet. „Wissen deine Eltern eigentlich davon?“

„Vermutlich nicht. Von mir werden sie es auch nicht erfahren. Du weißt ja, wie labil meine Mom ist.“

„Ich weiß, dass depressive Phasen schwer zu überwinden sind“, erwiderte Theo mitfühlend. „Was aber nicht bedeutet, dass man darüber seine Elternschaft aufgibt.“

Über dieses Thema redete Jane nur ungern. „Schon okay.“

„Du hast wirklich eine Engelsgeduld, Hut ab.“

„Für Mom ist das alles nicht einfach. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere musste sie alles hinwerfen, weil sie mit Jenna und mir schwanger wurde.“ Laut Sophia hatte die Schwangerschaft ihre Haut und ihre Figur ruiniert. „Das und die postnatale Depression danach waren dafür verantwortlich, dass sie nicht mehr in ihren Beruf zurückgekehrt ist.“

„Weißt du, Maddie könnte dasselbe behaupten. Seit sie Mutter ist, stehen ihr nicht mehr alle Karriereoptionen offen. Und auch ich würde mir gut überlegen, welche Stelle ich annehme, um nicht zu riskieren, dass meine Familie zu kurz kommt. Doch weder sie noch ich würden es anders wollen. Die Mädchen haben unser Leben bereichert, wie es ein Job nie könnte.“

Jane musste erst mal schlucken. Wie es wohl wäre, Eltern zu haben, die einen bedingungslos liebten, anstatt einem das Gefühl zu geben, man wäre besser nicht geboren worden? Wie wäre es gewesen, wenn Jenna sie während der langen Jahre des Medizinstudiums unterstützt hätte, anstatt sie mit Spott und abfälligen Bemerkungen zu überschütten?

Überflüssig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Jane konnte ihre Familie nicht ändern, sondern nur versuchen, sie trotz allem nach Kräften zu lieben. Wenn auch aus sicherer Entfernung, wie sie sich schuldbewusst eingestand.

Theo griff über den Schreibtisch und drückte ihre Hand. „Sorry, ich habe nicht das Recht, deine Familie zu kritisieren. Obwohl ich wünschte, sie wüssten dich ein bisschen mehr zu schätzen.“ Nach kurzem Zögern fuhr er fort: „Ist der Artikel schuld daran, dass du gestern Abend schon so früh gegangen bist?“

„Nein.“ Nicht wirklich. Doch sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als Theo den wahren Grund zu verraten.

„Sicher?“

„Sicher.“

„Na gut, dann will ich dir einfach mal glauben.“ Ein Lächeln zog über sein Gesicht. „So, und jetzt verschwinde und genieß deine beiden freien Tage. Dienstag möchte ich dich gut gelaunt und erholt hier wiedersehen, okay?“

„Okay, Theo.“ Sie stieß erleichtert die Luft aus. „Und noch mal vielen Dank.“

Am Dienstagmorgen hatte Jane gerade ihre erste Patientin untersucht, als Theo in Begleitung eines Mannes hereinkam. „Janey, hast du einen Moment Zeit?“

Als sie den Mann im weißen Kittel neben ihm erkannte, wurden ihr die Knie weich.

Oh, mein Gott.

Das konnte doch unmöglich er sein … oder?

Mit dem nächsten Satz bestätigte Theo ihre schlimmsten Befürchtungen. „Ich möchte dich gerne mit unserem neuen Oberarzt bekannt machen.“

Wenn Theo ihn gleich noch als „James“ oder „Mr Bond“ vorstellte, würde sie mit einem hysterischen Lachkrampf zusammenbrechen.

„Edward Somers“, fuhr Theo fort. „Ed, das ist Jane Cooper, eine unserer Assistenzärztinnen. Aber nicht mehr lange, sie macht bald ihren Facharzt.“

Ihr Gesicht brannte, bestimmt lief sie gerade puterrot an. Oh, wie furchtbar peinlich! Jetzt lächelte ihr Prince Charming alias James Bond alias Dr. Edward Somers auch noch amüsiert zu. Oh, bitte, kein Wort über Samstagnacht …

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Jane“, begrüßte er sie höflich.

Erst in diesem Moment merkte sie, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte in Erwartung der platzenden Bombe … doch er würde nichts sagen, natürlich nicht, denn ihr One-Night-Stand wäre auch für ihn peinlich. Erleichtert erwiderte sie sein Lächeln. „Gleichfalls, Edward – oder soll ich Ed sagen?“

Sie hätte schwören können, dass er mit den Lippen stumm die Worte „James Bond“ formte. Laut sagte er: „Ed bitte. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie auf Ihrer Visite begleite?“

„Nein, natürlich nicht. Sie sind der Chef, so gesehen begleite ich Sie.“

„Vergessen Sie die Formalitäten. Das Wohlergehen der Patienten ist wichtiger. Sie kennen sich hier aus, also schließe ich mich heute Ihnen an.“

„Dann überlasse ich Sie jetzt Janes fähigen Händen.“ Theo wandte sich ab, um in sein Büro zurückzukehren.

„Äußerst fähig“, bemerkte Ed sanft.

Oh, Hilfe!

„Hör mal, mir ist klar, wir müssen reden. Können wir es trotzdem fürs Erste rein beruflich halten?“, schlug Jane mit wild klopfendem Herzen vor.

„Okay, fürs Erste.“

In diesem Moment wurden sie von Iris unterbrochen, die aufgeregt angelaufen kam. „Ein Anruf aus der Notaufnahme. Junge Mutter, in der elften Woche schwanger, anhaltendes Übergeben. Verdacht auf Hyperemesis.“

„Wir sind schon unterwegs.“ Jane setzte sich bereits in Bewegung.

In der Notaufnahme machte sie Ed rasch mit Marina Fenton bekannt, der Notfallärztin.

„Ich bin ziemlich sicher, dass es sich um Hyperemesis handelt“, erklärte Marina. „Armes Ding, als wäre Morgenübelkeit nicht schon schlimm genug. Ich habe bereits eine Blutprobe ins Labor geschickt, um Nierenwerte und Elektrolyte bestimmen zu lassen. Außerdem machen wir ein Blutbild.“

„Danke, Marina.“

„Mrs Taylor ist gleich hier drüben.“ Marina führte sie zu der mit Vorhängen abgeteilten Kabine, in der eine erschöpfte junge Frau lag, die sich gerade krampfartig in eine Nierenschale erbrach.

„Mrs Taylor, ich bin Dr. Jane Cooper, und das ist mein Kollege Dr. Somers. Wir sind hier, um Sie zu untersuchen. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?“

Die junge Frau schüttelte unglücklich den Kopf. „Nein, vielen Dank, ich kann nichts bei mir behalten.“

„Vielleicht hilft es Ihnen, in ganz kleinen Schlucken zu trinken“, empfahl Jane, bevor sie den Kopf aus der Kabine steckte, um eine Schwester um ein Glas Wasser zu bitten.

„Wie lange geht das schon so?“, wollte Ed wissen.

„Ungefähr zwei Wochen. Man hört ja immer von morgendlichem Erbrechen, aber dass es den ganzen Tag anhält, hatte ich nicht erwartet.“ Wieder musste sie sich übergeben. „Entschuldigen Sie bitte“, keuchte sie erschöpft.

„Kein Problem, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.“ Jane drückte mitfühlend die Hand ihrer Patientin.

In diesem Moment brachte eine Schwester das Glas Wasser. Die Patientin nippte vorsichtig daran und nahm ein paar winzige Schlucke. „Danke, das mindert wenigstens den schlechten Geschmack im Mund ein bisschen.“

„Gut. Haben Sie Ihrem Hausarzt oder Ihrer Hebamme von der ständigen Übelkeit berichtet?“, fragte Ed.

„Die wollte ich nicht mit so einer Lappalie belästigen. Meine Schwester hatte es auch so schlimm. Sie hat während ihrer Schwangerschaft eine Menge Gewicht verloren.“

Jane und Ed wechselten einen Blick. Hyperemesis kam in manchen Familien gehäuft vor. Mehrlingsschwangerschaften konnten ebenfalls eine Ursache sein. In ganz seltenen Fällen hatte es auch eine ernste medizinische Ursache. Um diese auszuschließen, würden sie ein paar Untersuchungen machen.

„Mein Chef hat den Notarzt gerufen. Ich musste mich nämlich in Gegenwart einer Kundin übergeben. Es war ihr Parfüm, wissen Sie – der Geruch war so stark. Ich hoffe, er ist nicht allzu sauer auf mich.“

„Bestimmt nicht, er macht sich nur Sorgen um Sie“, beruhigte Ed sie. „Sie sind also in der elften Woche. Hatten Sie schon eine Ultraschalluntersuchung?“

„Nein, die ist erst für nächste Woche geplant. Mein Mann hat sich extra freigenommen, um mich zu begleiten.“ Ihr Gesicht umwölkte sich sorgenvoll. „Stimmt was nicht mit dem Baby? Ist mir deshalb immer so übel?“

„Wir glauben, dass Sie unter einer sogenannten Hyperemesis leiden, einer ausgeprägten Form von Schwangerschaftsübelkeit. Die genauen Ursachen dafür sind noch nicht erforscht, doch mit dem Baby ist ganz sicher alles in Ordnung. Gut, dass Sie jetzt hier sind, wir werden Ihnen helfen, damit besser zurechtzukommen.“

„Wirklich?“, meinte sie hoffnungsvoll. „Und es wird dem Baby nicht schaden? Ich fühle mich zwar hundsmiserabel, aber ich würde nie etwas einnehmen, was mein Baby gefährdet. Da stehe ich es lieber durch.“

„Keine Sorge, wir haben einige Mittel zur Verfügung, die nicht fruchtschädigend sind. Im Moment warten wir auf die Laborbefunde, dann können wir mit der entsprechenden Therapie beginnen. Inzwischen machen wir einen Ultraschall, um zu sehen, wie es dem Baby geht“, erklärte Ed der Patientin in seiner ruhigen, geduldigen Art. 

„Hat schon jemand ihren Mann verständigt?“, wollte Jane wissen.

„Ja, er ist unterwegs“, erwiderte Mrs Taylor.

„Gut. Dann verlegen wir Sie jetzt auf die Entbindungsstation.“

„Ich denke, es ist besser, Sie ein Weilchen hierzubehalten, bis es Ihnen wieder besser geht“, ergänzte Ed. „Da Sie durch das viele Erbrechen vermutlich ziemlich dehydriert sind, geben wir Ihnen ein paar Infusionen. Und dann versuchen wir es mit einem Antiemetikum, einem Medikament gegen Übelkeit. Es gibt da ein paar völlig harmlose Mittel, die Ihrem Baby nicht schaden. Sie werden sehen, schon bald fühlen Sie sich wieder besser.“

Später, nachdem auch Mrs Taylors Mann eingetroffen war, führte Ed eine Ultraschalluntersuchung durch, wobei er der Patientin genau alles erklärte, was er sah. Ihr Mann hielt ihr fürsorglich die Nierenschale hin und stützte sie, als sie sich während der Untersuchung wieder übergeben musste.

„Eins weiß ich jetzt schon.“ Sie stöhnte erschöpft. „Noch einmal mache ich so was nicht durch. Dies wird unser einziges Kind bleiben.“

Jane sah Ed fragend an, ohne sich ihre Unruhe anmerken zu lassen. Hoffentlich war es keine Molenschwangerschaft, die ebenfalls Ursache für exzessive Übelkeit sein konnte. In dem Fall müsste rasch eine Ausschabung durchgeführt werden …

Ed, der ihre Gedanken zu lesen schien, deutete ein Kopfschütteln an und lächelte leicht. Alles in Ordnung, Gott sei Dank!

„Das kleine Würmchen entwickelt sich prächtig“, wandte er sich an die Patientin. „Ich dachte zuerst, es könnten vielleicht Zwillinge sein, weil das die Übelkeit verstärkt, aber es ist nur eins. Alles dran, wie’s sein soll. Schauen Sie, da schlägt das kleine Herzchen.“ Er deutete auf den Monitor. Dann machte er ein paar Messungen. „Und es stimmt, Sie sind in der elften Woche.“

„Können wir bitte ein Bild haben?“, bat Mr Taylor, der sichtlich bewegt schien.

„Dies ist leider ein tragbares Ultraschallgerät, da kann ich keine Bilder ausdrucken. Aber bei Ihrem regulären Ultraschalltermin nächste Woche wird man Ihnen ein Bild mitgeben“, erklärte Jane.

Sie unterbreiteten den Taylors den bei Hyperemesis üblichen Therapievorschlag, wobei sie sich so perfekt ergänzten, als würden sie schon seit Jahren zusammenarbeiten. Ed passte super ins Team. Er war freundlich und geduldig mit den Patientinnen, was Jane gut gefiel.

Das sagte sie auch, nachdem sie das Krankenzimmer verlassen hatten. „Ich finde es toll, wie du mit den Frauen umgehst.“

„Ach ja?“ Er schoss ihr einen amüsierten Blick zu.

„So meine ich es doch nicht.“ Jane spürte, wie ihre Wangen brannten. „In dem Krankenhaus, wo ich vorher gearbeitet habe, hat sich der Oberarzt aufgeführt wie ein Zampano. Gleichermaßen grob und arrogant zu Patientinnen und Personal. Ich habe mir geschworen, so etwas nicht noch einmal mitzumachen.“ Versöhnlich fügte sie hinzu: „Obwohl mir natürlich von Anfang an klar war, dass du anders bist, sonst hätte Theo dich nicht eingestellt.“

Sein Lächeln wurde breiter. „Hey, ich hab dich doch nur aufgezogen, Jane.“

Ups, wie peinlich … „Oh … alle behaupten immer, ich sei viel zu ernst. Ich fürchte, in diesem Fall hast du den Schwarzen Peter gezogen und bist dazu verdammt, mit der humorlosen Streberin zusammenzuarbeiten.“

„Streberin klingt gut. Ich mag intelligente Leute in meinem Team. Komm, machen wir weiter. Wir haben noch jede Menge zu tun.“

Später, nach Abschluss der Visite, sah Ed Jane ernst an. „Wir müssen reden. Irgendwo, wo wir ungestört sind. Hast du einen Vorschlag?“

Autor

Kate Hardy
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