Julia Ärzte Spezial Band 26

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FÜR IMMER KÜSS ICH DEINE TRÄNEN FORT von SARAH MORGAN

Die Trennung von Dr. Tom Hunter schmerzt die junge Hebamme Sally so sehr, dass sie ihren Job auf seiner Station kündigt und aus der Stadt fortzieht. Erst sieben Jahre später sehen sie sich wieder. Doch sofort erkennt Sally: Ich liebe Tom immer noch ...

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  • Erscheinungstag 23.11.2024
  • Bandnummer 26
  • ISBN / Artikelnummer 8203240026
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Sarah Morgan

PROLOG

Scharf blies der Wind ihr ins Gesicht, während sie den Blick über die Berge schweifen ließ und den Geruch von Heimat einatmete.

So viel Zeit war vergangen.

Viel zu viel.

Als sie die Berührung an ihrem Arm spürte, drehte sie sich mit einem schuldbewussten Lächeln zu ihrer Freundin um. „Entschuldige.“

„Was denn?“

„Ich habe ganz vergessen, dass du auch noch da bist.“ Sally breitete die Arme aus und schloss die Augen. Die kalte Luft rötete ihre Wangen, und die Böen wirbelten ihr blondes Haar durcheinander. „Ein seltsames Gefühl, wieder zu Hause zu sein.“

Sie war weit herumgekommen in der Welt, doch der Lake District war immer ihre Heimat geblieben.

Die Gegend hatte für sie stets etwas Tröstliches gehabt. Wie oft hatte sie sich aus der Ferne nach dem tröstenden Anblick der Berge zurückgesehnt.

„Warum bist du so lange fort gewesen?“

Sally ließ die Arme sinken. „Das weißt du doch.“

„Ja.“ Bridget betrachtete sie voller Sympathie. „Er hat Schluss gemacht.“

„Nein, das stimmt nicht. Es war meine Entscheidung“, antwortete Sally mit fester Stimme, während sie mit ihren schlanken Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob. „Aber jetzt bin ich wieder hier.“

Und sie würde nie mehr weggehen.

„Weshalb bist du zurückgekommen? Nach all den Jahren?“

Sally lächelte wehmütig. „Eigentlich hatte ich es schon lange vor. Und dann erhielt ich deinen Brief mit der Nachricht, dass du Jack endlich geheiratet hast und Oliver jemanden kennengelernt hat.“ Sie hielt inne, als sie sich an die Gefühle erinnerte, die der Brief mit den Nachrichten von zu Hause in ihr geweckt hatte. „Plötzlich wurde mir klar, wie sehr ich meine alten Freunde vermisste. Ihr seid ja praktisch meine Ersatzfamilie. Irgendetwas sagte mir, dass es Zeit ist, zurückzukommen.“

„Er weiß es noch nicht, Sal“, bemerkte Bridget.

Sally nickte abwesend. Genauso hatte sie es geplant. Ihr erstes Wiedersehen sollte eine Überraschung für ihn sein. Unter anderen Umständen hätte sie ihm nicht selbstbewusst gegenübertreten können.

„Danke, dass du ihm nichts gesagt hast.“

„Hast du etwa geglaubt, ich würde das tun?“

Sally zuckte mit den Schultern. Sie warf ihrer Freundin aus Kindergartentagen einen abwägenden Blick zu. „Er ist immerhin dein Bruder.“

„Und du bist meine beste Freundin.“ Bridget lächelte flüchtig. „Oder wenigstens warst du das, bis Tom dir das Herz gebrochen hat und du ans andere Ende der Welt verschwunden bist.“

„Entfernungen können wahren Freundschaften nichts anhaben.“

Bridget biss sich auf die Lippe. „Ich habe gedacht …“ Ratlos hob sie die Schultern. „Schließlich bin ich seine Schwester.“

Sally machte eine vage Geste. „Und wir beide waren die besten Freundinnen, ehe er und ich ein Liebespaar wurden.“

„Wie willst du …“ Bridget unterbrach sich. „Du wirst mit ihm zusammenarbeiten, Sally. Hast du damit keine Probleme?“

„Nein.“ Energisch reckte Sally das Kinn vor. Wenn sie etwas in den vergangenen sieben Jahren gelernt hatte, dann Selbstvertrauen. „So schwer wird das schon nicht sein.“

Tom Hunter war ein Teil ihrer Vergangenheit. Mittlerweile konnte sie sehr gut ohne ihn leben. Seine Zurückweisung hatte sie so sehr verletzt, dass sie eine Zeit lang glaubte, diesen Schmerz niemals überwinden zu können. Aber das war vorbei – ein für alle Mal. Sie hatte sich ein neues Leben aufgebaut und war fest entschlossen, nie mehr über die Vergangenheit nachzugrübeln. Hatte sie nicht Dinge erlebt, von denen andere Menschen nur träumen konnten? Diese Erfahrungen hatten sie stark genug gemacht, um nach Hause zurückzukehren.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du dich auf eine Stelle in seiner Abteilung beworben hast.“

Sally hob die Schultern. „Ich bin Hebamme, Bridget, und die Stellenbeschreibung hat mir gefallen.“

Ihr Entschluss war ein Teil der Prüfung, die sie sich selbst auferlegt hatte. Sie musste wissen, wie weit sie in den vergangenen sieben Jahren gekommen war.

„Du hättest in eine andere Stadt gehen können.“

„Nein. Hier ist mein Zuhause“, erwiderte Sally leise, während sie sehnsüchtig die Berge betrachtete. „Ich bin lange genug fort gewesen.“

Und sie hatte sich lange genug danach gesehnt.

Schließlich hatte sie sich dazu durchgerungen, an das Leben anzuknüpfen, das sie vor sieben Jahren aufgegeben hatte.

Sie war fest entschlossen, neuen Herausforderungen gegenüberzutreten.

Und Tom Hunter.

1. KAPITEL

„Sally Jenner! Schön, dass ich Sie endlich kennenlerne.“ Mit einem herzlichen Lächeln hieß Emma sie willkommen. „Ich habe schon so viel Gutes über Sie gehört. Eine zusätzliche Hebamme können wir wirklich gut gebrauchen. Sie werden hier schon bald die beliebteste Mitarbeiterin sein.“

„Vielen Dank. Ich freue mich auch auf die Arbeit.“ Leicht verunsichert erwiderte Sally das Lächeln der Stationsschwester der Geburtsabteilung, denn sie spürte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Aber das plagte sie schon, seitdem sie den Entschluss gefasst hatte, Australien zu verlassen und nach Hause zurückzukehren.

Denn es bedeutete, dass sie Tom Hunter wiedersehen würde.

Sieben lange Jahre hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet.

Doch nun befürchtete sie, die Nerven zu verlieren. Immerhin rührte sie an Dinge, die vielleicht besser im Dunkeln geblieben wären.

Zum Beispiel an Gefühle, die sie gar nicht spüren wollte.

Wie mochte Tom wohl jetzt aussehen? Spielte die Erinnerung ihr einen Streich, oder war er wirklich so attraktiv gewesen? Konnte ein Mann tatsächlich so vollkommen sein, wie sie immer geglaubt hatte?

Emma hatte keine Ahnung von Sallys Gefühlsaufruhr. „Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich ruhig an mich“, plapperte sie fröhlich weiter. „Ich weiß, dass Sie in diesem Krankenhaus gelernt haben. Aber Sie waren ziemlich lange fort, und ein paar Dinge dürften sich geändert haben. Ich erzähle Ihnen kurz, wie wir ausgestattet sind. Wir haben zwei OPs, sechs Kreißsäle und vier Kuschelzimmer. So nennen wir die Räume, in denen sich die Leute wie in ihrem eigenen Schlafzimmer fühlen sollen.“

Sally lachte. „Sie scheinen nicht besonders überzeugt davon zu sein.“

„Nun ja, in meinem Schlafzimmer stapeln sich Wäscheberge und Bücher, die ich irgendwann mal lesen will, was ich aber bis jetzt nicht geschafft habe“, gestand Emma munter. „Also, wie bei mir zu Hause sieht es da bestimmt nicht aus. Aber ich habe viel Fantasie.“

Sie öffnete eine Tür, und Sally folgte ihr.

Im Mittelpunkt des Raums standen ein großes Doppelbett und ein Sofa mit vielen bunten Kissen darauf. Es gab eine Stereoanlage und zahlreiche Zeitschriften.

Sally nickte anerkennend. „Nett. Gemütlich.“

Emma zuckte mit den Schultern. „Es ist ein Kompromiss zwischen Hausgeburt und Krankenhausentbindung. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Geburtswanne.“

Sie öffnete die Tür zu einem anderen Raum und schaltete das Licht ein. „Davon haben wir zwei. Eine ist gerade belegt.“

Sally betrat das Zimmer und betrachtete die Wanne interessiert. „Haben Sie viele Wassergeburten?“ Es gab genug Ärzte, die nichts von dieser Entbindungsmethode hielten. „Können sich die Kollegen damit arrangieren?“

Emma verzog den Mund. „Nicht alle. Die drei älteren verfrachten ihre Patientinnen am liebsten in den Kreißsaal und holen das Baby mit der Zange, sollten die Wehen länger dauern, als in den Lehrbüchern beschrieben. Aber die jungen Kollegen bringen frischen Wind ins Haus.“ Sie warf einen Blick über ihre Schulter und senkte vertraulich die Stimme. „Ich gebe Ihnen einen Tipp. Falls Sie jemals hier entbinden wollen, empfehle ich Ihnen Tom Hunter. Er ist zwar nicht lange im Job, aber fantastisch. Ein äußerst kompetenter Mann und immer die Ruhe selbst. Im Gegensatz zu anderen, deren Namen ich jetzt nicht nennen will, hält er nicht viel vom Kaiserschnitt.“ Ihre Stimme klang auf einmal ganz warmherzig. „Er ist der Ansicht, dass eine Frau möglichst auf natürlichem Weg gebären soll, und er tut alles, damit sie es auch schafft.“ Sally fuhr mit der Hand über den Rand der Wanne und bemühte sich, ihre Gefühle zu verbergen.

Die Vorstellung, dass Tom in der Abteilung als eine Art Held angesehen wurde, passte ganz und gar nicht zu ihrer eigenen schlechten Meinung über ihn.

Sie wollte ihn nicht bewundern. Das würde es nur noch schwerer machen, ihm distanziert gegenüberzutreten.

„Er hält also große Stücke auf Wasserentbindungen?“

„Für die Wehenphase, aber nicht für die Entbindung selbst“, stellte Emma richtig, während sie den Raum verließen. „Er setzt auch Aromatherapie sowie Entspannungs- und Atemtechniken ein.“

Emma schien eine Reaktion zu erwarten. Also lächelte Sally leicht gezwungen. „Erstaunlich.“

„Er kann sehr gut mit Frauen umgehen. Besitzt viel Einfühlungsvermögen.“

Sally presste die Lippen zusammen. Toms Einfühlungsvermögen, was Frauen betraf, kannte sie nur zu gut. Rasch wechselte sie das Thema. „Ich werde also auf der Entbindungsstation arbeiten?“

„Da brauchen wir Sie vorläufig. Wir wollen so flexibel wie möglich sein und versuchen, den Frauen jene Hebammen zur Verfügung zu stellen, die sie kennen. Aber Sie haben eine Menge Erfahrung auf Entbindungsstationen gesammelt, und das ist die Hauptsache.“ Emma stieß die Tür zum Aufenthaltsraum auf. „Das hier ist das wichtigste Zimmer auf der Station. Schauen Sie sich nur gründlich um. Oft werden Sie es nämlich nicht zu sehen bekommen.“

Sally trat ans Fenster und blickte zu den Bergen hinüber. Am liebsten würde sie jetzt da draußen sein, um zu wandern und zu klettern. Manchmal wusste sie nicht, was ihr wichtiger war – ihr Beruf oder die Liebe zur Natur.

Als sie energische Schritte hinter sich hörte, erstarrte sie.

Ohne sich umzudrehen wusste sie, dass er es war.

Sie spürte ihn.

Eine geheimnisvolle Kraft verband sie – immer noch. Bis er alles kaputt gemacht hatte.

„Hallo, Tom. Sie sind gerade rechtzeitig gekommen, um einen Kaffee zu trinken und unsere neue Hebamme kennenzulernen.“ Munter plauderte Emma weiter, ohne die angespannte Atmosphäre im Raum wahrzunehmen.

Sally riss sich zusammen. Hatte sie sich nicht seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet? Entschlossen drehte sie sich um. Es fiel ihr ziemlich schwer, kühl und gleichgültig zu wirken. Schwerer als gedacht.

Selbstbewusst hatte Tom sich an der Tür aufgebaut. Er starrte sie ungläubig aus seinen blauen Augen an.

Unvermittelt tauchten Bilder aus der Vergangenheit vor Sallys geistigem Auge auf und drohten sie zu überwältigen. Energisch schob sie die Erinnerungen beiseite. Das alles war vorbei. Jetzt zählte nur noch die Zukunft.

Und in dieser Zukunft gab es keinen Platz für Tom, auch wenn er ein Traum von einem Mann war.

Er hat schon immer unverschämt gut ausgesehen, überlegte sie ein wenig irritiert. Aber jetzt, ein paar Jahre älter und um einige Erfahrungen reicher, wirkte er noch maskuliner. Selbst Frauen, die Männern grundsätzlich misstrauisch begegneten, mussten bei seinem Anblick schwach werden.

Mit seinem pechschwarzen Haar und den stahlblauen Augen sah er aber auch umwerfend gut aus.

Sie riss sich zusammen. Der Preis für die Liebe zu diesem Mann war einfach zu hoch gewesen.

Viel zu hoch.

Zufrieden registrierte Sally seine Bestürzung, während sie seinem Blick standhielt. Mit ihrer Rückkehr hatte er wohl nicht gerechnet. Und jetzt musste er damit irgendwie fertig werden.

Egal, ob es ihm passte oder nicht.

„Guten Tag, Tom.“ Sallys Stimme klang sachlich und distanziert. Keine Spur von Unsicherheit, nicht das geringste Zittern. Sally war richtig stolz auf sich. „Lange nicht gesehen.“

Tom straffte die Schultern und war bemüht, sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen.

Er hatte immer gewusst, dass Sally Jenner eines Tages in sein Leben zurückkehren und die Vergangenheit ihn einholen würde.

Dass er sich zu seinem Fehler bekennen musste.

Obwohl ihr letztes Treffen schon sieben Jahre zurücklag, wurde ihm jedes Mal ganz heiß, wenn er daran dachte.

Er biss die Zähne zusammen und sagte sich zum wiederholten Mal, dass er damals die richtige Entscheidung getroffen hatte, auch wenn Sally es zu jenem Zeitpunkt nicht nachvollziehen konnte.

Auf den ersten Blick schien sie sich kaum verändert zu haben. Ihre Augen blitzten immer noch temperamentvoll, sie hatte noch dieselben schlanken Beine, dieselbe schmale Taille und denselben zierlichen Körper. Und sie wirkte immer noch, als könnte ein starker Wind sie umwehen, aber er wusste es besser. Sally war fit und stark und vermutlich die sportlichste Person, die er kannte. Sie war eine kompetente Bergsteigerin und beeindruckende Langstreckenläuferin, und mit ihrer Wildheit und ihrem Mut hatte sie sein Herz erobert. In all den Jahren ihrer Freundschaft hatte er sie nur ein einziges Mal weinen gesehen.

An dem Tag, als er mit ihr Schluss gemacht hatte.

Während er ihre vollen Lippen betrachtete, konnte er sich plötzlich gar nicht mehr daran erinnern, warum er das eigentlich getan hatte. Er unterdrückte einen Fluch und wünschte, er hätte sich auf diese Begegnung vorbereiten können.

Warum zum Teufel hatte ihn niemand vor ihrer Rückkehr gewarnt?

„Weiß Bridget, dass du hier bist?“

Sie war die beste Freundin seiner Schwester. All die Jahre waren sie in Verbindung geblieben, das wusste er.

Kaum merklich zog sie die Augenbrauen hoch. „Natürlich“, erwiderte sie herausfordernd.

Er zog die Stirn kraus. „Sie hat es mir nicht gesagt.“

„Vermutlich nahm sie an, es interessiert dich nicht.“

Ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass er derjenige gewesen war, der die Beziehung beendet hatte. Irritiert legte Tom die Hand in den Nacken. Zum ersten Mal in seinem vierunddreißigjährigen Leben fehlten ihm die Worte.

Hätte er von ihrer Rückkehr gewusst, hätte er dafür gesorgt, dass ihr erstes Treffen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden würde. Schließlich gab es so vieles, über das sie sich ungestört unterhalten mussten.

Wie aufs Stichwort räusperte Emma sich. „Sie kennen sich bereits?“ Unverhohlene Neugier lag in ihrer Stimme, und interessiert schaute sie von einem zum anderen.

Sally lächelte kurz. „Das ist schon lange her.“

Es klang, als spräche sie von einer flüchtigen Bekanntschaft.

Dabei war ihre Beziehung voller Leidenschaft gewesen, wie Tom sich mit einem schmerzlichen Stich erinnerte.

Ein Blick in Sallys kühle grüne Augen verriet ihm, dass auch sie es nicht vergessen hatte.

Und dass sie ihm nicht verziehen hatte.

Fast stockte ihm der Atem, als er merkte, wie sehr ihn die Härte ihrer Züge aus der Fassung brachte. Doch was erwartete er eigentlich?

Sally Jenner hatte allen Grund, ihn zu hassen.

„Ich hörte, du hast im Himalaja gearbeitet.“ Plötzlich wollte er alles über sie wissen. Wo sie gewesen war, was sie getan hatte. Wann sie aufgehört hatte, seinetwegen zu weinen.

„Ja, unter anderem“, erwiderte sie nur vage, und er verstand die Botschaft.

Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, war in ihren grünen Augen zu lesen. Was geht dich das überhaupt an?

„Und wo wohnst du jetzt?“

Tom musste es wissen. Er hatte einiges mit ihr zu besprechen, was nicht für die Ohren anderer Leute bestimmt war.

Sie überging seine Frage und wandte sich an Emma, die ihrer Unterhaltung interessiert folgte. „Tut mir leid. Es war nicht meine Absicht, Sie zu ignorieren. Wollten Sie mir nicht noch einiges zeigen?“

Emma zuckte mit den Schultern. „Nun, wenn Sie beide sich noch ein wenig unterhalten möchten, kann ich …“

„Überhaupt nicht“, unterbrach Sally sie, während sie ihren Platz am Fenster verließ und zur Tür ging. „Wir haben einander ja begrüßt. Es war nett, dich zu sehen, Tom.“

Damit ließ sie ihn stehen. Tom verspürte den unwiderstehlichen Drang, sie festzuhalten und an all die Dinge zu erinnern, die sie gemeinsam erlebt hatten.

Was natürlich vollkommen idiotisch gewesen wäre angesichts der Tatsache, dass er derjenige gewesen war, der Schluss gemacht hatte. Oder zweifelte er plötzlich an seiner Entscheidung?

Weil er in seinem ganzen Leben keine Frau getroffen hatte, die sein Blut so sehr in Wallung brachte wie Sally Jenner.

Erst nachdem sie gegangen war, begriff er, dass sie ihm nicht verraten hatte, wo sie wohnte.

Seine Augen wurden schmal. Er kannte jemanden, der das ganz bestimmt wusste.

Seine Schwester Bridget.

„Ich fasse es nicht, dass Sie Tom kennen“, meinte Emma, als sie über den Korridor zurückgingen. „Sie haben es mit keinem Wort erwähnt.“

„Das ist auch schon lange her“, wiegelte Sally ab. Am liebsten wäre sie jetzt eine Weile allein gewesen, um sich zu sammeln. Aber das war natürlich nicht möglich.

Kaum hatten sie das Schwesternzimmer verlassen, als ihnen eine der anderen Hebammen über den Weg lief. Sie wirkte ziemlich gestresst.

„In den letzten fünf Minuten hatten wir zwei Neuaufnahmen. Eine von ihnen ist Angela Morris. Es geht ihr nicht besonders.“

Seufzend wandte Emma sich an Sally. „Sind Sie bereit, ins kalte Wasser zu springen?“, fragte sie mit einem schuldbewussten Lächeln. „Angela ist kein leichter Fall. Sie ist erst vor Kurzem hierhergezogen und braucht sehr viel Aufmerksamkeit. Es ist ihr zweites Baby. Das erste kam per Kaiserschnitt, und in dem Krankenhaus, wo sie zuletzt entbunden hat, hat man ihr versprochen, das nächste genauso zu holen. Aber Tom hält nicht viel davon – es sei denn, es gibt keine Alternative. Er hat ihr klargemacht, dass sie es auf natürlichem Weg zur Welt bringen soll. Darüber ist sie nicht gerade erfreut.“

Sally erstarrte. „Heißt das …“ Sie räusperte sich. „Tom kümmert sich um sie?“

„Ja, und zwar sehr intensiv. Die Narbe macht ihm ein wenig Sorge.“

Sie würde also von Anfang an mit ihm zusammenarbeiten, ohne die Chance zu haben, sich erst an diesen Gedanken zu gewöhnen.

Sally schloss die Augen. Was war nur los mit ihr? Sie hatte sieben Jahre Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten. Wie viel länger brauchte sie denn noch? Sie hatte doch gewusst, dass eine Zusammenarbeit unvermeidlich war, wenn sie eine Stelle in seiner Abteilung annahm. Dieser Herausforderung musste sie sich stellen, und sei es nur, um sich selbst zu beweisen, dass sie über die Vergangenheit hinweg war. Sally beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.

Und sie würde es schaffen, beruhigte sie sich.

Er war nur ein Kollege, sonst nichts.

„Kein Problem, gehen wir an die Arbeit“, sagte sie mit fester Stimme zu Emma.

In einem der Untersuchungszimmer kauerte Angela mit rot geweinten Augen auf dem Bett. Zu ihren Füßen stand ein kleiner Koffer. Neben ihr saß ihr Mann. Nervös hielt er ihre Hand und versuchte, sie zu beruhigen.

Sally setzte sich neben sie und legte tröstend den Arm um ihre Schultern. „Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte sie die werdende Mutter. Dann stellte sie sich dem Paar vor. „Wir kriegen das schon in den Griff. Schließlich ist das doch ein wunderschönes Erlebnis.“

Zitternd holte Angela Luft. Selbst unter Sallys sanfter Berührung blieben ihre Schultern angespannt. „Ich möchte unbedingt einen Kaiserschnitt. Den hatte ich auch beim letzten Mal. Warum sagen die Ärzte in einem Krankenhaus dies und im anderen Krankenhaus etwas ganz anderes? Das verstehe ich nicht.“

Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, und Sally zog die Brauen zusammen. „Ich kann mir gut vorstellen, dass das für Sie verwirrend sein muss. Aber das Wichtigste ist, dass Sie sich erst mal entspannen. Dann können wir weiter darüber reden.“

Angela kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und putzte sich die Nase. „Ich will einen Kaiserschnitt“, sagte sie hartnäckig.

„Warum denn eigentlich?“

Die junge Frau schloss die Augen und legte die Hand auf ihren gewölbten Bauch. „Weil es sicherer ist. Oje, jetzt kommt wieder eine Wehe.“

Schmerzhaft verzog sie das Gesicht und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Während Sally beruhigend auf sie einredete, betastete sie behutsam Angelas Bauch, um die Stärke der Kontraktion zu kontrollieren.

„Das fühlt sich nach einer sehr heftigen Wehe an. Geht’s wieder?“ Sie spürte, wie die Anspannung nachließ, und Angela nickte.

„Gott sei Dank.“ Sie holte tief Luft und seufzte. „So schlimm war’s bei meinem Ersten nicht.“

Sally griff nach den Unterlagen und überflog sie rasch. „Ihr erstes Baby hatte eine Steißlage.“

„Ja. Deshalb wurde ja auch der Kaiserschnitt gemacht. Und hinterher hat mir der Arzt gesagt, das nächste würde man auch mit Kaiserschnitt holen.“

„Dass Sie beim letzten Mal einen Kaiserschnitt hatten, heißt nicht, dass es diesmal genauso sein muss“, erwiderte Sally vorsichtig. „Und es ist auch nicht unbedingt sicherer. Es kommt immer auf die Umstände an. Ein Kaiserschnitt bedeutet eine größere Unterleibsoperation. Manchmal ist das besser für Mutter und Kind, aber wenn eine normale Geburt möglich ist, sollte man sie auf jeden Fall vorziehen. Warum machen Sie es sich nicht erst einmal bequem?“

Angela atmete ein paar Mal tief durch. „Aber der Arzt in dem Krankenhaus, in dem ich zuletzt war, hat gesagt, ein Kaiserschnitt sei das Beste.“

Sally holte tief Luft. Das Beste für wen, fragte sie sich.

Sicher waren einige Geburtshelfer mit dem Kaiserschnitt schneller bei der Hand als andere, aber die Gründe dafür waren nicht immer offensichtlich.

„Gut“, meinte sie entschlossen. „Dann machen wir das eben. Es muss wirklich verwirrend für Sie sein, sich mit zwei widersprüchlichen Meinungen konfrontiert zu sehen.“

Angela sah sie kläglich an. „Außerdem kenne ich hier niemanden“, murmelte sie. „Wir mussten wegen Peters Arbeit hierherziehen. In dem Krankenhaus in London habe ich alle Hebammen gekannt.“

Ihr Mann sah sie schuldbewusst an. „Ich hätte die Stelle niemals annehmen dürfen.“

Angela seufzte und schob sich eine schweißfeuchte Haarsträhne aus der Stirn. „Es ist eine gute Arbeit, und du wolltest doch immer hier wohnen.“

„Sie haben einen vernünftigen Mann. Hier lässt es sich wirklich sehr gut leben“, meinte Sally leichthin und drückte Angelas Hand. „Ich verrate Ihnen mal ein Geheimnis. Ich kenne hier auch niemanden. Ich habe zwar jede Menge Erfahrung als Hebamme, aber das ist heute mein erster Tag auf dieser Station. Wir beide müssen also zusammenhalten.“

Angela lächelte unsicher. „Aber Ihre Schicht ist vorbei, ehe das Baby zur Welt kommt.“

Sally schüttelte den Kopf. „Nein. Zu Hause warten nur unausgepackte Kartons und schmutzige Wäsche auf mich. Glauben Sie mir, ich bin dankbar für jede Gelegenheit, um im Krankenhaus bleiben zu können.“

„Unausgepackte Kartons?“

„Ich war eine Weile fort“, erklärte Sally lächelnd. „Und ich muss mich erst wieder an meine alte Umgebung gewöhnen.“

Emma räusperte sich. „Ich lasse Sie beide dann mal allein.“ Mit einem Blick zu Sally fuhr sie fort: „Ich sage Mr. Hunter, dass Angela hier ist.“

Angela seufzte. „Er möchte, dass ich mein Baby auf natürlichem Weg bekomme.“

Jetzt schaltete sich ihr Mann ein. „Er hat einen ausgezeichneten Ruf, Angela. Du solltest vielleicht auf ihn hören.“

Sally studierte noch einmal die Krankenakte. „Ihr Mann hat recht. Reden Sie erst einmal mit Dr. Hunter und sagen Sie ihm, wie Sie sich fühlen.“

„Ärzte schüchtern mich immer ein“, murmelte Angela. „Ich habe Tausende von Fragen, und wenn sie dann ins Zimmer kommen, kriege ich kein Wort heraus.“

„Ich bin doch bei Ihnen“, beruhigte Sally sie. „Und ich werde dafür sorgen, dass er all Ihre Fragen beantwortet. Sie brauchen keine Hemmungen zu haben. Sagen Sie mir Bescheid, wenn eine neue Wehe kommt. Ich möchte die Herztöne des Babys abhören.“

Angela schnitt eine Grimasse und sog hörbar die Luft ein. „Jetzt kommt wieder eine.“

Sally schaltete das CTG ein. Die pulsierenden Herztöne des Babys hallten durch den Raum.

„Das hört sich gut an. Achten Sie auf Ihre Atmung. So ist es richtig …“ Beruhigend redete Sally auf die junge Frau ein, und als Angela sich wieder entspannte, stand sie auf. „Ich würde Sie jetzt gern untersuchen und sehen, wie weit Sie sind. Anschließend werde ich Sie an den Monitor anschließen, und dann holen wir Mr. Hunter.“

Wozu sie genau genommen überhaupt keine Lust hatte.

Tom machte sich gerade Notizen, als Sally in sein Büro gestürmt kam.

Augenblicklich verspannte er sich. Sein Blick hielt ihren fest, während er aufstand.

Einen Moment lang sahen sie einander nur stumm an. Ihr Herz raste ebenso wie seines, und für ein paar köstliche Sekunden war alles um sie herum wie ausgelöscht.

Dann schlug Sally die Augen nieder und holte tief Luft.

„Ich muss mit dir über Angela sprechen.“ Sie klang distanziert und professionell. „Der Muttermund ist bereits vier Zentimeter geöffnet, aber die Wehen scheinen schon recht lange zu kommen. Sie ist ziemlich verängstigt. Und total auf einen Kaiserschnitt fixiert.“

Sein Gehirn registrierte zwar, dass Sally über eine Patientin sprach, aber sein Körper reagierte auf einem ganz anderen Level. Tom betrachtete ihre verführerisch langen Wimpern und die vollen, sinnlichen Lippen.

Er war der erste Mann gewesen, der diesen Mund geküsst hatte.

Der erste Mann, der …

Er gab sich einen Ruck. „Ein Kaiserschnitt ist bei dieser Patientin völlig überflüssig. Vor zwei Wochen habe ich einen Ultraschall gemacht, um die Größe des Muttermunds zu kontrollieren. Sie ist die perfekte Kandidatin für eine ganz normale Geburt.“

„Dann solltest du mit ihr reden“, erwiderte Sally ruhig. „Im Moment achtet sie nur auf ihre Kontraktionen. Warum soll sie glauben, dass du mehr Ahnung hast als ihr voriger Gynäkologe?“

Tom runzelte die Stirn. „Ich habe mit ihr geredet, als ich sie untersucht habe. Es ging ihr gut.“

„Jetzt ist sie ziemlich nervös und verängstigt.“

„Davon hat sie nichts gesagt.“

„Vielleicht nicht mit Worten. Aber hast du nicht auf ihre Körpersprache geachtet?“ Sally hielt seinem Blick stand. „Ärzte schüchtern sie ein. Sie hatte Angst, dir Fragen zu stellen.“

Toms Miene wurde abweisend. Es passte ihm nicht, dass sie ihm mangelndes Einfühlungsvermögen unterstellte.

Aber warum sollte Sally ihn auch für einfühlsam halten?

Er biss die Zähne zusammen und trug ihre Kritik mit Fassung. „Ob du’s glaubst oder nicht, ich versuche mich in meine Patientinnen einzufühlen. Angela braucht sich wegen meiner Worte keine Sorgen zu machen.“

„Genau das tut sie aber“, entgegnete Sally tonlos. „Im Moment ist sie jedenfalls davon überzeugt, dass sie wieder einen Kaiserschnitt braucht.“

Tom atmete hörbar ein. „Während der vergangenen zwanzig Jahre sind Kaiserschnitte immer häufiger geworden“, versetzte er barsch. „Achtzig Prozent der Frauen können nach einem Kaiserschnitt normal gebären, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen.“

„Das weiß ich.“ Ihre Stimme klang voll und weich und verursachte ihm einen Stich ins Herz. „Ich sage ja nur, dass man ihr einen Kaiserschnitt versprochen hat, und jetzt willst du keinen machen. Sie versteht nicht, wieso zwei Ärzte vollkommen unterschiedlicher Ansicht sind. Sie hat eine Erklärung verdient. Sie braucht sie sogar, denn sonst wird sie sich vor lauter Angst nicht auf die Geburt konzentrieren können. Angela ist gestresst, und du weißt doch sicher, dass Stress sich negativ auf die Funktion der Gebärmutter auswirken kann.“

Fasziniert hörte er ihr zu.

Sie hatte sich verändert. Das war nicht die Sally von früher.

Seit wann ist sie so selbstsicher, fragte er sich, während er ihr energisch vorgerecktes Kinn und die gestrafften Schultern betrachtete. Er erinnerte sich noch gut an die Zeit, als seine Worte für sie der Weisheit letzter Schluss bedeuteten. Damals hatte sie über so wenig Selbstbewusstsein verfügt, dass sie kaum einen Entschluss allein fassen konnte.

Jetzt jedoch stand sie herausfordernd vor ihm und stellte seine Entscheidung infrage, ohne auch nur im Geringsten mit der Wimper zu zucken.

„Ich werde mit ihr reden“, gab er sich schließlich geschlagen, während er seinen Füllfederhalter in die Tasche steckte und den Notizblock zuklappte. „In deiner Anwesenheit. Dann kannst du mir hinterher sagen, ob ich unsensibel bin.“

Als er um den Schreibtisch herumkam, trat sie hastig einen Schritt zurück, als fürchtete sie, er könne sie berühren.

Und genau das hatte er tun wollen.

Einen Moment lang schauten sie einander tief in die Augen, und an einem anderen Ort wie diesem, wo jeden Augenblick jemand hereinplatzen konnte, hätte Tom diesen weichen Mund, an den er sich so gut erinnerte, auf der Stelle geküsst.

In diesen Mund war er ganz vernarrt gewesen. Er hatte ihn gern betrachtet, gern berührt, geschmeckt …

„Wir müssen uns unterhalten“, sagte er rau. „Allein.“

Natürlich wollte er noch viel mehr als nur reden.

In ihren grünen Augen blitzte es. „Nein.“ Ihre Stimme klang leise, aber entschlossen. „Dazu besteht kein Anlass.“

Tom holte tief Luft. Er wusste nicht so recht, wie er mit dieser neuen, sehr selbstbewussten Sally umgehen sollte.

Damals hätten sie miteinander geredet.

Damals konnte sie nicht genug von ihm bekommen.

Stundenlang hatten sie sich unterhalten – über Gott und die Welt.

„Na gut, dann rede ich, und du hörst zu. Es gibt einiges, das ich dir sagen muss.“

Sie konnten schließlich nicht so tun, als hätte es die Vergangenheit nie gegeben. Wenn sie vernünftig zusammenarbeiten wollten, mussten sie klare Verhältnisse schaffen.

Sie schaute ihn an. „Beim letzten Mal hast du alles gesagt, was gesagt werden musste.“ Ihre Stimme klang unerschütterlich, und sie hielt seinem Blick stand. „Und ich habe dich verstanden, Tom. Klar und deutlich.“

2. KAPITEL

Mit weichen Knien und pochendem Herzen eilte Sally über den Korridor zurück.

Beim Gedanken an ein Wiedersehen mit Tom hatte sie sich oft gefragt, ob sich ihre Gefühle ihm gegenüber verändert haben mochten. Würde es ihr ergehen wie vielen anderen Menschen, die sich rückblickend gar nicht mehr erinnern konnten, was sie eigentlich an ihrer ersten Liebe gefunden hatten?

Was sie betraf, lautete die Antwort Nein.

Sie wusste genau, warum sie sich in Tom verliebt hatte, und sie musste sich in Acht nehmen, damit ihr das nicht noch einmal passierte.

Mit seinen strahlend blauen Augen, seiner Klugheit und seinem unerschütterlichen Selbstvertrauen war er der attraktivste Mann, den sie sich vorstellen konnte. Besonders seine Selbstsicherheit hatte sie fasziniert, als sie selbst noch ein linkischer Teenager gewesen war.

Aber inzwischen war sie selbst stark genug und nicht mehr auf ihn angewiesen. Entschlossen legte sie die Hand auf die Türklinke von Angelas Zimmer. Doch ehe sie öffnen konnte, spürte sie zwei energische Hände auf ihren Schultern. Tom drehte Sally zu sich herum und schob sie gegen die Wand.

„Glaub ja nicht, dass du mir immer davonlaufen kannst“, sagte er leise. Mit einem Arm stützte er sich an der Wand ab, sodass sie sich ihm nicht entwinden konnte. „Es war schließlich deine Entscheidung, zurückzukommen.“

Er war nur wenige Zentimeter entfernt. So konnte sie unmöglich einen klaren Gedanken fassen.

Stattdessen spürte Sally Schmetterlinge im Bauch, als sie seinen betörenden Duft einatmete.

„Was willst du damit sagen?“ Ihre Augen funkelten angriffslustig. „Dass ich zu dir zurückgekehrt bin? Bild dir bloß nichts ein, Tom. Hier leben meine Freunde. Die habe ich vermisst. Und ich habe das gleiche Recht wie du, hier zu sein.“

Darüber, dass ihre Freunde auch seine Freunde – zum Teil sogar Familienmitglieder – waren, wollte sie im Moment lieber nicht nachdenken.

Eigentlich konnte sie überhaupt nicht denken, weil er so dicht vor ihr stand. Und es gab kein Entkommen.

„Deshalb müssen wir miteinander reden. Wir leben hier in einer sehr kleinen Stadt, Sally. Jeder weiß von unserer Beziehung. Glaubst du im Ernst, dass wir die Vergangenheit ignorieren können? Wir müssen uns damit auseinandersetzen.“

Sie war sich seiner Nähe geradezu schmerzhaft bewusst. Hätte sie sich nur einen Zentimeter vorwärts bewegt, wäre sie in seinen Armen gelandet.

Und das wäre das Allerletzte, was sie wollte.

Sally riss sich zusammen.

„Das haben wir schon vor sieben Jahren getan, Tom“, erwiderte sie mit einer Gelassenheit, die in vollkommenem Gegensatz zu ihren Gefühlen stand. „Außerdem werden sich die Leute bald an den Gedanken gewöhnen, dass unsere Beziehung nur noch rein beruflich ist. Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss zurück zu Angela.“

Seine Augen wurden schmal, aber er ließ die Hand sinken und trat zur Seite.

Sally war bemüht, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen, als sie Angelas Zimmer betrat. Die junge Frau hatte sich inzwischen auf dem Bett ausgestreckt.

„Wie geht’s?“, erkundigte Sally sich lächelnd. „Ich habe Mr. Hunter mitgebracht. Er möchte sich mit Ihnen unterhalten.“ Sie ignorierte ihren rasenden Puls und studierte sorgfältig den Papierausdruck des CTG. Dann warf sie Tom einen gleichmütigen Blick zu, als sei er ein x-beliebiger Kollege und nicht die Liebe ihres Lebens. „Soll sie am Gerät angeschlossen bleiben?“

Tom schüttelte den Kopf. „Erst mal nicht. Im Moment ist das nicht nötig.“ Er setzte sich auf die Bettkante. „Ich glaube, ich schulde Ihnen eine Erklärung“, beruhigte er die ängstliche Frau mit seiner sanften Stimme. „Als Sie vor einigen Wochen bei mir waren, habe ich Ihnen geraten, das Baby auf natürlichem Weg zu bekommen. Offenbar sind mir Ihre diesbezüglichen Ängste entgangen. Das tut mir leid.“

Unbehaglich fingerte Angela an der Bettdecke herum. „Das macht doch nichts …“

„Oh doch“, erwiderte Tom bestimmt. „Und von jetzt an müssen Sie mir versprechen, mich alles zu fragen, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Damit wir darüber reden können. Einverstanden?“

Mit einem verlegenen Lächeln schaute Angela ihn an. „Ja.“

„Gut.“ Tom nahm den CTG-Ausdruck von Sally entgegen und studierte die Daten. Dann gab er ihr das Blatt zurück und atmete tief durch. „Okay, sprechen wir über den Kaiserschnitt“, fuhr er ruhig fort. „Ich möchte Ihnen da einiges erklären. Es ist eine größere Operation, Angela, und nicht die beste Methode, ein Kind zu bekommen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Bei Ihrem ersten Kind haben sich die Ärzte für einen Kaiserschnitt entschieden, weil es der sicherste Weg war. Doch diesmal spricht nichts gegen eine natürliche Geburt.“

Angela fuhr sich mit der Zungenspitze über die ausgetrockneten Lippen. „Und wenn ich das nicht kann?“

„Ich bin sicher, dass Sie das können. Sonst würde ich es nicht vorschlagen“, erwiderte Tom. „Sally und ich werden die ganze Zeit bei Ihnen sein, und wenn während der Geburt etwas darauf hindeutet, dass ein Kaiserschnitt sicherer wäre, dann machen wir es.“

Nervös suchte Angela den Blick ihres Mannes. „Was Mr. Hunter sagt, klingt sehr vernünftig“, meinte er. „Du weißt doch, wie traurig du warst, als du das Baby beim ersten Mal nicht normal haben konntest. Jedenfalls hast du das damals gesagt.“

Angela nickte. „Ich weiß.“ Schützend legte sie eine Hand auf ihre Narbe. „Aber ich habe Angst, dass etwas schiefgeht.“

Tom ergriff ihre Hand. „Ich weiß, dass Sie besorgt sind, Angela. Bitte vertrauen Sie mir. Und Sally. Sie wird die ganze Zeit bei Ihnen sein, und ich werde auch in regelmäßigen Abständen nach Ihnen sehen. Wenn es nur den geringsten Anlass zur Sorge gibt, werden wir das Ganze noch einmal überdenken, aber wir sollten es zunächst einmal mit einer natürlichen Geburt versuchen.“

Er wirkte so optimistisch, dass Angela sich sichtbar entspannte.

Schade, dass er auf mich nicht die gleiche Wirkung hat, dachte Sally frustriert. Je näher Tom ihr kam, umso verkrampfter wurde sie.

Scharf sog Angela die Luft ein, als eine weitere Wehe sie zu zerreißen drohte. Sally hätte sich gern neben die werdende Mutter gesetzt, aber Tom rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen legte er eine Hand auf den gewölbten Bauch, um die Kontraktion zu kontrollieren. Dabei redete er beruhigend auf Angela ein und wies sie an, gleichmäßig zu atmen und auf ihren Körper zu hören.

Schmerzhaft verzog Angela das Gesicht, während sie Toms Arm ergriff und ihre Finger in sein Fleisch presste. Doch er zuckte nicht einmal mit der Wimper.

Insgeheim hoffte Sally, dass er die Geduld verlieren würde, denn dann fiele es ihr leichter, ihn zu hassen. Er konnte abweisend und gefühllos sein, das hatte sie am eigenen Leib erfahren. Es widerstrebte ihr, ihn so mitfühlend zu erleben. Das machte ihn nur noch attraktiver.

„Gut gemacht. Das war eine ziemlich starke Kontraktion. Sie schlagen sich wirklich tapfer“, meinte Tom lächelnd.

Angela errötete und seufzte laut. „Werden Sie eingreifen, wenn es noch lange dauert?“

Kopfschüttelnd stand Tom auf. „In diesem Krankenhaus pfuschen wir dem Lauf des Lebens so wenig wie möglich ins Handwerk. Wenn ich den Geburtsvorgang einleite, werden Ihre Kontraktionen noch schmerzhafter, und die Gebärmutter wird stärker belastet. Fürs Erste überlassen wir alles der Natur, aber wir sind natürlich auf der Hut. Möchten Sie ein Schmerzmittel?“

„Nein.“ Angela schüttelte den Kopf und warf ihrem Mann einen ängstlichen Blick zu. „Ich hatte ja fest mit einem Kaiserschnitt gerechnet. Was halten Sie von einer Epiduralanästhesie?“

„Das wäre eine Möglichkeit“, stimmte Tom zu. „Aber die hat auch ihre Nachteile. Warum versuchen Sie es nicht zuerst einmal mit unserer Wanne?“

Angela schaute ihn überrascht an. „Sie meinen, eine Wassergeburt?“

„Nein, im Wasser sollten Sie besser nicht entbinden“, sagte Tom. „Aber es ist eine ausgezeichnete Methode, sich zu entspannen. Wollen Sie es nicht mal versuchen? Viele Frauen können die Schmerzen im Wasser leichter ertragen.“

Nach einem Blick zu ihrem Mann nickte Angela. „Ja, vielleicht sollte ich das probieren. Der Gedanke hat mich eigentlich schon immer gereizt, aber da ich beim ersten Kind von Anfang an wusste, dass ich einen Kaiserschnitt haben würde, war das für mich gar keine Alternative.“

Tom lächelte aufmunternd. „Jetzt ist es eine. Ich werde eine Wanne vorbereiten lassen.“ Er wandte sich an Sally. „Ruf mich an, falls es Probleme gibt. Ich werde mit Emma reden.“ Damit verließ er den Raum.

„Er ist wirklich sehr nett“, sagte Angela, während sie versuchte, eine bequemere Lage zu finden. „Sehr vertrauenerweckend. Man hat das Gefühl, sich auf ihn verlassen zu können.“

Sally schob den Wehenschreiber zur Seite und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hatte sich in der Tat auf ihn verlassen. Doch dann hatte er ihre Beziehung von einem Tag auf den anderen beendet … und ihre Welt war zusammengebrochen.

„Haben Sie Kinder?“ Angelas Frage riss Sally aus ihren wehmütigen Gedanken.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin nicht verheiratet.“

Angela lachte. „Als ob das heute noch eine Rolle spielt. Möchten Sie denn welche?“

Vor langer Zeit war das einmal ihr Herzenswunsch gewesen.

„Eines Tages vielleicht.“ Glücklicherweise steckte Emma in diesem Moment den Kopf zur Tür herein.

„Die Wanne ist fertig. Ich habe einen Rollstuhl mitgebracht.“

„Vielen Dank, Emma.“ Sally legte die Hand auf Angelas Bauch. „Nach der nächsten Wehe machen wir uns auf den Weg.“

Vier Stunden später ging es Angela ausgesprochen gut.

„Das Wasser ist herrlich“, seufzte sie wohlig. Sie schloss die Augen und atmete vorsichtig, als eine neue Wehe sich ankündigte. „Die Wärme wirkt so entspannend. Und es ist toll, sich frei und leicht bewegen zu können.“

Sally kontrollierte die Herztöne des Babys mit dem Unterwasser-Ultraschall. Alles schien in Ordnung zu sein.

„Warum hören Sie weiter ab, wenn die Kontraktion vorbei ist?“ Angelas Mann war Sally nicht eine Minute lang von der Seite gewichen und löcherte sie die ganze Zeit mit Fragen.

Sally beantwortete jede mit Engelsgeduld. Sie konnte sich vorstellen, wie dem Paar nach den Erfahrungen mit der ersten Geburt zumute sein musste.

„Während einer Wehe kann das Blut nicht so leicht durch die Plazenta fließen. Bei manchen Babys spielt das keine Rolle, aber bei einigen kann das die Herzfrequenz beeinflussen. Das ist dann ein Zeichen, dass es gestresst ist. Erholt sich das Baby schnell, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Aber wenn die Herzfrequenz auch nach der Kontraktion noch erhöht ist, müssen wir das im Auge behalten.“

Er streichelte seiner Frau über den Kopf und reichte ihr etwas zu trinken. „Aber bei ihr ist alles in Ordnung?“

„Vollkommen.“ Sally nahm den Ultraschall aus dem Wasser und trocknete sich die Hände ab. „Wie fühlen Sie sich, Angela?“

„Gut. Ich liebe das Wasser. Ich habe nur ein bisschen Angst vor dem, was mir noch bevorsteht.“

Es klopfte, und Tom trat ein. Er trug einen OP-Kittel, der seine kräftigen und breiten Schultern betonte und den Blick auf die krausen, dunklen Härchen auf seiner Brust freigab.

Sally schluckte. Sie hatte diesen Körper angebetet. Er war der stattlichste Mann, der ihr je begegnet war, und jedes Mal, wenn sie ihn sah, spürte sie Schmetterlinge im Bauch.

Offenbar hatte sich nichts geändert.

Mit diesen Gefühlen hatte sie nicht gerechnet. Nach sieben Jahre ohne Tom Hunter sollte sie eigentlich von ihm geheilt sein.

Sally schloss die Augen und versuchte zu verdrängen, was da gerade mit ihr geschah. Andererseits, war es nicht besser, seine Anziehungskraft zu akzeptieren und zu versuchen, ihr standzuhalten, statt sie zu ignorieren und eines Tages von ihren Gefühlen überrumpelt zu werden?

Okay, sie fand ihn immer noch attraktiv. Was nicht bedeutete, dass sie so naiv war, noch einmal auf ihn hereinzufallen.

Diesen Fehler wollte sie kein zweites Mal begehen.

Tom merkte offenbar nicht, was in Sally vorging. Er war ganz auf seine Patientin konzentriert.

„Wie läuft’s denn?“ Er hockte sich neben die Wanne und betrachtete Angela mitfühlend. Obwohl er bis zum Hals in Arbeit steckte, hatte er immer wieder vorbeigeschaut und sich von Sally auf den neusten Stand bringen lassen.

Widerwillig musste Sally sich eingestehen, dass er gut war. In seiner Gegenwart wirkte Angela inzwischen vollkommen entspannt. Sie vertraute ihm wirklich voll und ganz.

„Recht gut, glaube ich …“ Angela holte Luft und lächelte schwach. „Aber an das, was mir noch bevorsteht, will ich lieber nicht denken. Ich hoffe nur, dass Sally mich nicht allein lässt und nach Hause geht, wenn es bei mir zu lange dauert.“

„Ich gehe nirgendwohin“, winkte Sally lachend ab.

Nach Hause – das war Bridgets Cottage. Etwas Eigenes hatte sie ja noch nicht.

Doch das würde sich ändern, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.

Fürs Wochenende standen bereits einige Wohnungsbesichtigungen auf dem Programm.

„Sie ist fantastisch.“ Angela schaute Tom an. „Die Ruhe in Person. Hey, sie ist besser als ein Schmerzmittel. Jede werdende Mutter sollte von Sally betreut werden.“

Tom warf Sally einen Blick zu, und in seinen blauen Augen flackerte es unergründlich. „Das stimmt. Sally ist wirklich etwas Besonderes.“

Aber so besonders dann wohl doch nicht. Sonst hätte er ja wohl kaum die Beziehung beendet.

Ehe die Erinnerungen zu schmerzhaft wurden, straffte Sally die Schultern und ging hinüber zu dem Tischchen, auf dem brennende Kerzen eine behagliche Atmosphäre verbreiteten.

Tom folgte ihr. „Alles in Ordnung mit ihr?“

Sally nickte und wich irritiert seinem eindringlichen Blick aus.

Beim Sex hatte sie ihm stets in seine blauen Augen gesehen. Es war ihre Art gewesen, sich zu versichern, dass ihre kühnsten Träume wahr geworden waren. Dass dieser fantastische Mann sie wirklich begehrte.

Und als er sie nicht mehr begehrte, wäre sie am liebsten gestorben.

Seufzend riss sie sich zusammen. Schließlich befanden sie sich in einem Geburtszimmer mit einer Frau, die in den Wehen lag. Plötzlich hätte Sally am liebsten sämtliche Kerzen ausgeblasen und die Neonbeleuchtung eingeschaltet.

„Die Herztöne des Babys sind regelmäßig, und die Wehen kommen in gleichmäßigen Abständen. Kein Hinweis auf Tachykardie oder sonstige Anzeichen, die auf eine Anomalität der Gebärmutter deuten.“

Tom nickte. „Gut.“

„Sally.“ Angelas Stimme klang auf einmal panisch. „Ich habe das Gefühl, pressen zu müssen. Ganz plötzlich …“

Sofort war Sally an ihrer Seite. „Keine Angst“, beruhigte sie die junge Frau und griff nach ein paar angewärmten Handtüchern. „Ich helfe Ihnen aus dem Wasser. Als ich Sie das letzte Mal untersucht habe, waren Sie noch keine acht Zentimeter weit. Und so schnell erweitert sich der Muttermund nicht.“

Angela stöhnte auf und klammerte sich mit geschlossenen Augen am Rand der Wanne fest. „Kann ich nicht im Wasser bleiben?“

Sally warf Tom einen fragenden Blick zu. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich denke, Sie sollten Ihr Baby besser auf dem Trockenen bekommen.“

Angela keuchte. „Ich glaube, ich kann mich nicht bewegen.“

„Warten Sie, bis die Wehe vorüber ist. Dann helfen wir Ihnen heraus.“

Ein paar Minuten später lag Angela, eingehüllt in einen warmen Bademantel, auf dem Bett.

Sally streifte sich Latexhandschuhe über. „Pressen Sie nicht, Angela. Ich will nur mal kontrollieren, wie es aussieht. Sie sollen erst pressen, wenn der Muttermund ganz weit geöffnet ist.“

„Ich möchte aber pressen.“ Angela atmete hechelnd, dann hielt sie die Luft an. Ihre Fingernägel krallten sich in Sallys Arm. „Oh …“

Sally untersuchte sie vorsichtig, dann richtete sie sich auf. „Das warme Wasser und die Entspannung haben offenbar geholfen. Der Muttermund ist weit offen, Angela, und das Baby liegt goldrichtig. Wenn Sie wollen, können Sie jetzt pressen.“

Erwartungsvoll blickte sie zu Tom. Wollte er das Baby selbst holen?

Er schüttelte den Kopf. „Das ist deine Geburt“, sagte er leise. „Der Arzt greift nur ein, falls nötig, und danach sieht es nicht aus. Aber ich bleibe hier und schaue zu.“

Falls doch etwas schiefgehen sollte.

Sally wandte sich wieder zu Angela. In diesem Moment steckte Emma den Kopf zur Tür herein.

„Ist es so weit?“

Angela keuchte. Ihr Mann eilte an ihre Seite und ergriff ihre Hand.

„Na los, beschimpf mich schon“, meinte er zerknirscht. „Das ist alles meine Schuld.“

Angela lachte gequält auf. „Das kannst du laut sagen. Du mit deinen verrückten Einfällen. ‚Wäre es nicht schön, noch ein zweites Kind zu haben?‘ Genau das waren deine Worte.“

„Das nächste Mal darfst du mich dafür ohrfeigen“, erwiderte ihr Mann reumütig, während er ihr das feuchte Haar aus der Stirn strich. „Wie kann ich dir helfen?“

„Sei einfach bei mir.“ Eine neue Wehe kündigte sich an. Angela verzog das Gesicht und presste. „Ich hätte niemals gedacht, dass es so wehtut.“

Emma trat ans Bett. „Brauchen Sie mich, oder bleiben Sie hier, Mr. Hunter?“

„Er soll bleiben“, sagte Angela rasch. Ihr Atem ging stoßweise. „Bitte, Mr. Hunter. Falls etwas schiefgeht, soll er bei mir sein.“

„Es wird nichts schiefgehen“, beruhigte Tom sie. Aber er verließ das Zimmer nicht. Stattdessen sah er Sally und Emma mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Also, wenn ich schon Hebamme spielen soll, dann möchte ich Anweisungen von euch.“

„Du kannst das Baby in Empfang nehmen“, antwortete Sally steif, und mied seinen Blick. Sie wandte sich an Angela. „Gut gemacht“, lobte sie. „Jetzt dauert es nicht mehr lange.“

Angela atmete hörbar ein. „Muss ich mich hinlegen? Ich möchte es Ihnen nicht zu schwer machen.“

„Machen Sie es sich einfach bequem, egal, in welcher Position“, wies Sally sie an, während sie sich vor sie hinsetzte.

„Jetzt kommt eine neue Wehe …“

„Danach ist es vorbei“, meinte Sally beruhigend. „Sie machen das wirklich gut, Angela. Versuchen Sie jetzt nicht zu pressen. Hecheln Sie nur. Tun Sie so, als würden Sie eine Kerze ausblasen … genau so. Fantastisch.“

Kurz darauf hielt Sally das Köpfchen des Babys in der Hand. Sie vergewisserte sich, dass sich die Nabelschnur nicht um den Hals des Kindes geschlungen hatte. „Jetzt warten wir auf die nächste Kontraktion, und dann ist das Baby da.“

Doch sie irrte sich.

Die Wehe kam, Angela presste erneut, aber nichts geschah.

Leicht besorgt forderte Sally Angela auf, ihre Position zu ändern, doch es geschah immer noch nichts. Tom streifte rasch Gummihandschuhe über.

„Richten Sie sich bitte ein Stück auf, Angela.“ Seine Stimme klang beruhigend. „So ist es gut. In dieser Haltung wird der Beckenausgang erweitert. Ich will mal sehen, ob ich Ihrem Baby helfen kann.“

Vorsichtig schob er seine Finger hinein. Sally konnte nicht genau sehen, was er tat. Doch plötzlich rutschte das Baby in seine Hand und stieß einen empörten Schrei aus.

„Sie haben einen Sohn, Angela.“ Tom klang ruhig und entspannt. „Herzlichen Glückwunsch.“

„Oh.“ Angela ließ sich in die Kissen zurückfallen. Sie wirkte ebenso benommen wie entzückt. „Was ist passiert? Was haben Sie gemacht?“

„Gar nichts“, erwiderte Tom leichthin, während er ihr behutsam das Baby in den Arm legte. „Sie haben alles allein gemacht. Sie waren toll. Fühlen Sie sich jetzt gut?“

Angela schaute auf das winzige Bündel in ihrem Arm, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ja“, flüsterte sie. „Es ist ein großartiges Gefühl.“

Sally musste blinzeln und verfluchte im Stillen ihre Sentimentalität, als sie Toms forschenden Blick auf sich ruhen spürte.

Geburten waren für sie stets ein aufwühlendes Erlebnis. Doch Tom sollte auf keinen Fall merken, wie es um sie stand.

Eine Stunde später hatte Sally das Baby in die Obhut einer Kinderschwester gegeben und holte ihre Sachen aus dem Belegschaftsraum.

Sie war total erschöpft.

Es war ein langer Tag gewesen, doch es war nicht die Arbeit, die sie ausgelaugt hatte, sondern das Wiedersehen mit Tom.

Und gleich am ersten Tag Hand in Hand mit ihm arbeiten zu müssen, hatte ihr besonders zugesetzt. Am liebsten wäre sie jetzt klettern gegangen. Beim Bergsteigen konnte sie am besten entspannen. Es erforderte die ganze Konzentration. Ein falscher Schritt konnte das Ende bedeuten.

Sie starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. Für eine Kletterpartie war es leider schon zu spät.

Also musste sie nach einem anderen Ausgleich suchen, um sich Tom aus dem Kopf zu schlagen.

Sie schlüpfte in ihren Mantel und wandte sich zum Gehen, blieb aber erschrocken stehen, als sie Tom in der Tür stehen sah.

Entschlossen straffte sie die Schultern. „Entschuldige mich bitte.“

„Nein.“ Er trat ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich und blockierte so den einzigen Fluchtweg. „Ich will nicht, dass du dauernd vor mir wegläufst.“

„Ich laufe bestimmt nicht weg“, entgegnete sie kühl. „Immerhin habe ich fast den ganzen Tag mit dir zusammengearbeitet.“

„Und das war eine Qual, nicht wahr?“ Seine Stimme klang zynisch. „Wir müssen uns über die Vergangenheit unterhalten. Über das, was zwischen uns passiert ist. Und wie es mit uns weitergehen soll.“

„Ich weiß, wie es weitergeht.“ Sie hielt die Tasche wie einen Schutzschild vor sich. „Es gibt nichts zu bereden. Ehrlich gesagt, kann ich mich kaum noch an früher erinnern.“ Sie verlieh ihrer Stimme einen betont gleichmütigen Klang.

„Wirklich?“ Er musterte sie aus halb geschlossenen Augen. Was hätte er darum gegeben, diesen Schutzschild niederreißen zu können. Aber der war zu mächtig. Genauso mächtig wie der Schmerz, den sein Verrat ihr zugefügt hatte.

„Die Vergangenheit ist nur noch eine blasse Erinnerung“, log sie souverän. „Und mit der Zeit vergisst man auch die.“

„Nun, vielleicht hast du ja nichts dazu zu sagen. Ich dagegen schon.“

„Das ist dein Problem, nicht meins. Ich gehe jetzt nach Hause. Der Tag war ziemlich anstrengend.“ Ihre Augen funkelten zornig, als sie auf ihn zutrat. „Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst …“

Einen Moment lang glaubte sie, dass er sie zurückhalten würde. Doch plötzlich wurde die Tür geöffnet, und er musste beiseite treten.

Emma stand hinter ihm. „Gut, dass Sie noch hier sind. Bridget ist am Telefon. Sie wartet auf dem Parkplatz auf Sie, falls Sie mitfahren möchten.“

„Danke.“ Ohne Tom eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ Sally das Zimmer und bedachte Emma mit einem freundlichen Lächeln. „Bis morgen.“

3. KAPITEL

Die Tür fiel hinter den beiden Frauen ins Schloss, und nur mit Mühe widerstand Tom dem Drang, mit der Faust gegen die Wand zu hämmern.

Er war wütend – auf sich selbst und vor allem auf Sally, weil sie einem Gespräch mit ihm aus dem Weg ging. Aber konnte er ihr daraus wirklich einen Vorwurf machen?

Fluchend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Ihre Gegenwart hatte ihn mehr aus der Fassung gebracht, als er zugeben wollte.

Er ging zum Fenster und starrte mit düsterer Miene auf den Parkplatz. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, als er Sally in den Wagen seiner Schwester einsteigen sah.

Wenigstens hatte der Gedanke, dass Sally Jenner nicht für immer verschwunden war, etwas Tröstliches. Sie hatte sich entschlossen, nach Hause zurückzukehren und zu bleiben. Irgendwann würde sich zwangsläufig die Gelegenheit zu einer Aussprache ergeben.

Mit fest zusammengepressten Lippen sah er Bridget einfach davonfahren.

Als Erstes musste er unbedingt ein Wörtchen mit seiner Schwester reden.

Sally machte es sich auf ihrem Sitz bequem und lächelte zufrieden. „Danke fürs Mitnehmen. Du tust mir damit einen großen Gefallen. Es ist nämlich nicht leicht, einen wirkungsvollen Abgang auf einem Mountainbike zu vollziehen.“

Bridget lachte. „Nach deiner Miene zu urteilen, würde ich sagen, dass diese Runde an dich gegangen ist.“

„Jedenfalls habe ich mir keine Blöße gegeben. Du wärst stolz auf mich gewesen. Ich bin ganz cool geblieben.“

Obwohl sie sich gar nicht so cool gefühlt hatte. Das Wiedersehen mit Tom hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte.

Bridget wartete, bis Sally sich angeschnallt hatte. Dann gab sie Gas. „Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, als er dich entdeckte.“

„Er war schockiert.“ Sally erinnerte sich an seinen verstörten Blick. „Und er wusste nicht, wie er reagieren soll.“

„Da wäre ich gern dabei gewesen“, meinte Bridget und schaltete einen Gang tiefer, als sie sich der Krankenhausausfahrt näherte. „So habe ich meinen Bruder nämlich noch nie erlebt.“

„Gott sei Dank war Emma im Zimmer. In dem Moment wäre ich ungern allein mit ihm gewesen.“

„Was hat er denn gesagt?“

Sally fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. „Er möchte mit mir reden.“

An der Einmündung zur Straße bremste Bridget. „Worüber?“

„Über die Vergangenheit, nehme ich an.“ Sally schaute ihre Freundin an.

Bridget schnitt eine Grimasse. „Das war zu erwarten.“

„Ich möchte aber nicht darüber sprechen. Es war schlimm genug, als es passierte. Was bringt es, das Ganze jetzt wieder aufzuwärmen?“, meinte Sally mit belegter Stimme und zog den Mantel enger um sich. „Machst du bitte die Heizung an? Es ist eiskalt.“

„Gleich wird es warm“, erwiderte Bridget, während sie sich auf den Verkehr konzentrierte. „Aber du weißt genauso gut wie ich, dass mein Bruder kriegt, was er sich in den Kopf gesetzt hat.“

Sally blickte hinaus in die Dunkelheit. „Ich kann genauso dickköpfig sein.“

In den vergangenen Jahren hatte sie Fähigkeiten in sich entdeckt, die sie zuvor nie für möglich gehalten hätte. Sie war nicht mehr die junge Frau, die verzweifelt geflohen war, nachdem Tom mit ihr Schluss gemacht hatte.

Bridget s...

Autor

Jessica Matthews

Jessica Matthews wuchs auf einer Farm im Westen von Kansas, USA auf. Sie verbrachte ihre Zeit am liebsten mit Lesen. Ihrem Lehrer in der 8. Klasse erzählte sie, dass sie eines Tages Schriftstellerin werden wolle. Wissenschaftliche Lehrbücher und Forschungsunterlagen ersetzten die Liebesromane, Mysteries und Abenteuergeschichten, als sie Medizinisch-Technische Assistentin wurde....

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Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert? Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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