Romana Extra Band 152

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EIN ALGORITHMUS FÜR DIE LIEBE von CHLOE EDMONDSON

IT-Spezialistin Maeve reist nur aus einem Grund ins Silicon Valley: um den Spion im Tech-Konzern von Tian Xi Miller zu entlarven. Aber sie hat nicht damit gerechnet, wie unglaublich sexy Tian ist! Obwohl er als ihr Auftraggeber tabu ist, kann sie ihm nicht widerstehen …

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  • Erscheinungstag 26.10.2024
  • Bandnummer 152
  • ISBN / Artikelnummer 0801240152
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Chloe Edmondson

1. KAPITEL

„Schicke Stiefel schmücken schlanke Schönheitsköniginnen …“

Maeve Kavanagh atmete tief und bewusst. Sie legte sich eine Hand an den Kehlkopf und konzentrierte sich auf den nächsten Satz ihrer Sprechübungen. Bei diesem Online-Vortrag wollte sie unbedingt deutlich sprechen.

„Solide Superheldinnen rasen sicherer auf leisen Socken …“

Sie versicherte sich, dass die Kamera ausgeschaltet war, ehe sie ihre Gesichtsmuskeln massierte.

Auf dem Bildschirm prangte das Logo der Technik-Convention. Das Ringlicht war eingeschaltet, das Mikrofon perfekt positioniert. Eigentlich konnte alles nur gut gehen.

Trotzdem flatterten Maeves Nerven, als blickte sie einer Verurteilung entgegen. Von ihrem Cottage auf der winzigen nordirischen Insel Tawerra aus würde sie mit der ganzen Welt in Kontakt treten.

Maeve hasste es, vor Gruppen zu sprechen, und bei diesem Tech Talk sprach sie nicht nur vor unzähligen Fachleuten. Diese Aufzeichnung würde für immer auch im Internet abrufbar sein.

Nervös rief sie ihr Kamerabild auf, das noch nicht geteilt wurde, und kontrollierte ihr Aussehen. Das honigblonde, etwas mehr als kinnlange Haar fiel in sanften Wellen nach vorn, sodass die flachsblonden Spitzen um ihr Gesicht herum aufleuchteten. Ihre grauen Augen unter den dunklen, geraden Brauen blickten nervös und das leichte Make-up täuschte nicht über die Blässe hinweg. Vielleicht hätte sie mehr Rouge auftragen sollen.

Für den Vortrag hatte sie sich für eine Bluse aus dem Schrank ihrer Mutter entschieden. Die schlichte schwarze aus Seide, die ihr sowieso besser stand, weil sie ihre kleinen, festen Brüste locker umspielte. Die verwaschene Jeans und die bunten Wollsocken würde zum Glück niemand sehen.

Maeve war selbstständige Sicherheitsberaterin. Als ehemalige Hackerin hatte sie die Seiten gewechselt und unterstützte nun namhafte Firmen in Sachen Cyber-Security. Doch sie arbeitete stets nur im Homeoffice. So brauchte sie keine schicke Garderobe für Firmenkontakte. Von der Hüfte abwärts war sie im Videochat unsichtbar.

Sie ging nicht gern unter Menschen, und müsste sie diesen Kongress live in einem Raum voller Publikum durchstehen, hätte sie kapituliert.

„Ein Kuss-ss is-st kein Preis-s für ein Fass-ss voller Wassereis-s.“

Plötzlich tippte eine Hand an ihre Schulter und Maeve fuhr erschrocken herum.

Ihre Mutter stand vor ihr.

Maeve stöhnte. „Du sollst dich nicht immer so anschleichen!“, beschwerte sie sich in Gebärdensprache.

„Ich bin gehörlos. Was soll ich machen? Laut singen?“, gab ihre Mutter gut gelaunt zurück.

Trotz aller Einschränkungen war Fiona Kavanagh ein ausgesprochen fröhlicher Mensch. So bunt wie ihre selbst gestrickten Pullover war auch ihr Charakter. Manchmal wünschte Maeve, sie hätte diese Gelassenheit von ihrer Mutter geerbt. Seit sich deren Zerstreutheit zu einer leichten Demenz ausgewachsen hatte, schien sie noch bessere Laune zu haben. Wahrscheinlich, weil sie all die Rückschläge, die ihr das Leben bereitete, einfach vergaß. So wirr, wie ihr die grauen Locken nach einem Spaziergang an der Irischen See vom Kopf standen, so drifteten auch Fionas Gedanken umher.

Heute war jedoch ein guter Tag. Die silbergrauen Augen leuchteten fokussiert.

„Du könntest wie verabredet in die Hände klatschen“, erinnerte Maeve sie.

Ihre Mutter winkte bloß ab und deutete auf den Zettel mit Maeves Übungssätzen.

„Ist das dein Vortrag? Du weißt, dass der Text keinen Sinn ergibt, oder?“ Fiona legte grinsend den Kopf schief. „Die Leute werden denken, du bist genauso verrückt wie deine Mutter.“

Maeve verzog das Gesicht. Ihr war nicht nach Scherzen zumute. Nur noch wenige Minuten, ehe man sie zuschalten würde.

„Ich bin sowieso schon nervös, Mam. Mach dich bitte nicht über mich lustig“, gebärdete sie.

Da wurde Fionas Blick weich. „Du wirst das fabelhaft machen. Seit Tagen übst du den Vortrag. Wenn ich könnte, hätte ich sicher gehört, wie du ihn noch im Schlaf aufsagst.“

„Dann hättest du auch gehört, wie schlimm ich nuschele und falsch betone“, erwiderte Maeve.

„Was macht das schon?“

Maeve schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Muße für Ermunterungen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, für einen Vortrag beim wichtigsten Online-Kongress weltweit zuzusagen?

Aber natürlich wusste sie es. Man hatte ihr gesagt, dass auch Tian Xi Miller teilnehmen würde. Da war der Reiz groß gewesen.

Tian war der geniale CEO und Erfinder der Marke tiximi, dessen kometenhaften Aufstieg sie mitverfolgt hatte. Angefangen hatte er mit Videos in den sozialen Medien, als Maeve in einer schrecklichen Pubertätskrise gesteckt hatte. Damals war auch Tian gerade mal dreizehn Jahre alt gewesen. Seine lustigen Anekdoten über das Leben in Amerika hatten sie über manchen Tiefpunkt hinweggerettet. Nun waren sie beide Anfang dreißig, und tiximi war längst nicht mehr der Account eines Internet-Spaßmachers, sondern ein internationales Unternehmen für Kommunikationssoftware.

Für tiximi zu arbeiten, war Maeves heimlicher Traum, den sie jedoch nie in die Tat umsetzen würde. Denn nun verwandelte sie sich angesichts dieses Vortrags wieder in das unsichere Teenie-Mädchen von damals, das nicht vor der Klasse hatte sprechen wollen.

Sanft zog ihre Mutter ihr die Hände vom Gesicht. „Du ruinierst dein Make-up“, gebärdete sie. „Du bist eine kluge, erfolgreiche Frau. Versteck dich nicht vor der Welt.“

Leichter gesagt als getan. Die Welt ihrer Mutter war klein und geregelt. Ihre sozialen Kontakte beschränkten sich auf diejenigen, die sich auf Gebärdensprache oder komplizierte Gespräche mit Gesten und Lippenlesen einließen. Im Inseldorf kam sie bestens zurecht. Sie konnte allein spazieren gehen und wurde, wenn sie den Rückweg nicht fand, von Nachbarn nach Hause gebracht. Im kleinen Krämerladen wusste die Inhaberin ohne Worte, welches Gebäck Fiona mochte.

Maeves Vortrag hingegen wurde in alle Länder der Welt übertragen. Wildfremde Menschen würden jedes Wort auf die Goldwaage legen. Dank des Internets, das bekanntlich niemals vergaß, würde sie jahrelang eine missglückte Anekdote bereuen oder sich für eine falsche Betonung schämen.

Allein der Gedanke ließ ihre Nerven flattern.

Welche Ausrede galt in letzter Sekunde?

Vielleicht ein Trauerfall in der Familie?

Eine Sturmflut der Irischen See?

Ein …

Der aufflackernde Bildschirm setzte ihren Fluchtgedanken ein Ende. Zu spät!

Die Moderatorin öffnete den virtuellen Konferenzraum, und nach und nach erschienen Videobilder der verschiedenen Sprecherinnen und Sprecher. Eine norwegische Forscherin war dabei, ein argentinischer Politiker, eine neuseeländische Unternehmerin und viele andere hochrangige Persönlichkeiten. Der Zähler für das nicht per Video zugeschaltete Publikum raste zwischen zwei Wimpernschlägen auf eine vierstellige Zahl hoch, und als auch noch Tian im Bild erschien, schlug Maeves Herz mindestens genauso schnell.

Er sah fantastisch aus in seinem schlichten, aber sicher maßgeschneiderten Jackett und dem unverzichtbaren Shirt mit dezentem tiximi-Logo. Die kurzen seidig-schwarzen Haare trug er ultramodern zu einer Seite gestrichen. Ein leichter Bartschatten lag auf seinem Gesicht.

Noch hatte sie ihr Kamerabild nicht freigegeben, doch es gab kein Zurück mehr. Mit einer unwirschen Handbewegung schickte sie ihre Mutter aus dem Zimmer. „Ich muss mich konzentrieren!“, gebärdete sie.

„Viel Glück!“, gab Fiona lächelnd zurück und bedachte sie mit einem Luftkuss.

Als die Tür ins Schloss fiel, atmete Maeve ein letztes Mal durch.

Ihr Blick hing an Tians außergewöhnlichen Augen, während sie die Toneinstellungen vornahm. Diese Augen waren so tiefbraun, dass sie beinahe schwarz wirkten, standen weit auseinander und bildeten zum flachen Nasenrücken hin je einen faszinierenden Bogen. Es waren Augen, die aussahen, als könnten sie Rätsel ergründen und Menschen bis tief in die Seele blicken. Augen, in denen die Klugheit und Entschlossenheit lagen, denen Tian seine Erfolgsgeschichte verdankte.

Die Moderatorin begann bereits mit der Begrüßung.

Maeve schluckte. Nun musste sie sich stellen.

Nur online. Von ihrem sicheren Rückzugsort in einem Cottage auf einer winzigen, abgelegenen Insel aus. Alle anderen waren weit weg. Sie war sicher.

Ganz langsam alle Luft ausstoßend und die Schultern noch einmal lockernd, schaltete Maeve ihre Kamera ein.

Tian saß am Klavier, als Charlotte in sein Büro geplatzt kam.

Sie verdrehte die Augen.

Zugegeben, Musik war seine exzentrische Marotte, doch ihm kamen nun mal die besten Ideen, wenn seine Finger über die Tasten tanzten.

Darum hatte er sich im obersten Stock des tiximi-Towers im kalifornischen Palo Alto nicht nur ein geräumiges Büro einrichten lassen, sondern eben auch diesen Steinway-Flügel hineingestellt. Das Klavier stand in einem verglasten Erker seines Büros, der auf die San Francisco Bay blickte.

„In fünf Minuten sprichst du bei diesem Online-Kongress und du klimperst Beethovens Neunte?“

Tian grinste. „Das ist die Titelmelodie von Interstellar.“

„Wie auch immer.“ Seine Geschäftspartnerin trat an seinen gläsernen Schreibtisch und klappte seinen Laptop auf. „Ich muss dir etwas zeigen.“

Seufzend schloss Tian den Klavierdeckel. Er hatte sich vor der Konferenz fokussieren wollen. Zwar war er das Reden vor großem Publikum längst gewohnt, aber ein solch hochkarätiges Podium war nicht alltäglich, und er hatte immer noch das Gefühl, sich in der Geschäftswelt behaupten zu müssen.

„Hat das nicht Zeit bis nach dem Termin?“

Charlotte hatte sich längst auf seinem Chefsessel niedergelassen. Er musste stehen. Typisch.

Tian kannte Charlotte Fournier seit seiner Uni-Zeit. Nach den praktischen Erfahrungen in sozialen Netzwerken hatte er sich in Stanford das nötige Hintergrundwissen angeeignet. Im Rahmen eines internationalen Austauschprogramms hatte er die blitzgescheite Französin kennengelernt. Damals war sie Studentin an der Sorbonne in Paris gewesen und hatte seine Vision von einer barrierearmen Internet-Kommunikation uneingeschränkt geteilt. Noch vor dem Abschluss hatten sie das erste Softwarepaket auf den Weg gebracht, und nachdem Charlotte zu ihm in die USA gekommen und seine leitende Entwicklungsingenieurin geworden war, hatte tiximi Fahrt aufgenommen.

Mittlerweile hatte das vor kaum zehn Jahren gegründete Unternehmen mehrere Tausend Beschäftigte und verfügte über Büros in allen Teilen der Welt. Allein am Firmensitz in Palo Alto arbeiteten achthundert Menschen. Wenn er darüber nachdachte, machte ihn diese rasante Entwicklung immer noch schwindelig.

Kein Zweifel, er verdankte Charlotte viel, doch manchmal war sie recht fordernd. So wie jetzt, wenn sie sein Bedürfnis nach Rückzug ignorierte.

Charlotte war hübsch, mit langen kastanienbraunen Haaren, die sie am Hinterkopf aufgesteckt trug, einer hochgewachsenen, schlanken Figur und einem schmalen Gesicht. Tian wusste jedoch, sie passten nicht zusammen, und zum Glück war dieser Punkt längst geklärt.

„Charlotte, im Ernst. Ich habe jetzt keine Zeit.“

„Auch nicht für einen weiteren Leak?“ Mit blitzenden Augen sah sie zu ihm auf.

„Nein!“ Ein eisiger Schauer lief über seine Haut. Seit Wochen kamen sie diesem Spion, der ganze Code-Pakete an die Konkurrenz verkaufte, nicht auf die Spur. Sie verloren wichtige Marktanteile durch diese Leaks. Vor allem aber lebte die Firma von seinem Ansehen in der Online-Community. Er galt als innovativer Kopf, der anderen einen Schritt voraus war. Nun aber wurde alles, was tiximi entwickelte, zeitgleich bei der Konkurrenz zum Verkaufsrekord.

Sogar sein ehemaliger Mitschüler und ewiger Rivale auf der Highschool Simon Gideon, der seinen Lebensunterhalt mit dem Social-Media-Kanal simon.frisco verdiente, war darauf aufmerksam geworden. In seinem letzten Video hatte Simon festgestellt, es sei auffällig, dass tiximis Produkte neuerdings doppelt auf den Markt kämen, in einem teuren Original und deutlich günstiger bei der Konkurrenz. Tian hatte gekocht vor Wut, denn Simon hatte es absichtlich so dargestellt, als sei tiximis Version überteuert.

Sie kannten einander schon lange. Tian hatte es Simon zu verdanken, dass er während seiner gesamten Highschool-Zeit ein Außenseiter geblieben war. Wenn Simon vom neuesten Leak erfuhr, würde es wieder ein gehässiges Video geben, das tiximis Ansehen schadete.

Charlotte deutete auf den Code auf seinem Bildschirm. „Da. Siehst du? Ein komplettes Modul der neuen Kommunikationstechnologie, sämtliche Bearbeitungsfunktionen für Social-Media-Posts … bei unserem Konkurrenten! Sogar die animierten Einblendungen, für die die Community dich so gefeiert hat.“

Tian schob eine Hand durch sein kurzes Haar und strich es nach rechts. Eine beruhigende Angewohnheit von ihm, doch auch sie funktionierte nicht.

„Wie kann das sein? Wir haben seit Wochen ein verschärftes Sicherheitsprotokoll! Keine ungeprüften Dateneingänge oder – ausgänge. Und selbst das bringt nichts! Hat dein Team einen Anhaltspunkt, wer dahintersteckt?“

Charlotte schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf. „Es ist wie mit einem Geist, der keine digitalen Spuren hinterlässt.“

Ein seltsames Glitzern lag in ihren Augen. Vielleicht faszinierte die Finesse sie, doch für tiximi wurde die Industriespionage langsam zum Problem. Die Negativkommentare in sozialen Netzwerken nahmen massiv zu.

„Verdammt, Charlotte, das kann doch nicht sein! Er umgeht gezielt unsere Sicherheitsprotokolle.“

„Oder sie.“

„Was?“

„Vielleicht ist es auch eine Sie. Das wissen wir nicht.“ Charlotte wirkte gekränkt. „Du weißt, dass ich alles Mögliche unternommen habe. Offenbar ist der oder die Kriminelle zu schlau für uns.“

Tian stemmte eine Hand auf die Schreibtischplatte und deutete auf den Bildschirm. „Je länger ich mir das anschaue, desto sicherer bin ich, dass es jemand aus dem Unternehmen sein muss. Wir brauchen einen externen Blick. Ich habe dir doch erzählt, dass Maeve Kavanagh bei der Konferenz spricht …“

„Nein.“

Nur dieses eine Wort, kalt und hart. Allerdings war er der Firmengründer und CEO.

„Charlotte. Unzählige Firmen im Valley arbeiten mit ihr zusammen …“

„Sie ist eine Hackerin, Tian.“

„Eine ehemalige Hackerin“, wandte er ein. „Noch dazu eine der Besten. Allein ihr Coup, als sie aufgedeckt hat, welche Daten diese europäische Regierung von ihren Bürgern erhoben und kaum geschützt hat. Welches Land war das noch gleich …?“

„Und du willst denselben Skandal bei uns im Haus? Nein, Tian, kommt nicht infrage! Sie wird unsere Leaks in alle Medien tragen.“

Tian strich sich nachdenklich über die Bartstoppeln. „Sie bricht keine Verschwiegenheitsvereinbarungen. Alle in der Branche schwärmen von ihrer Kompetenz und Diskretion. Und überhaupt … Ich kenne nur ihren Namen. Gesehen habe ich Maeves Gesicht in den Medien nie. Du etwa?“

„Nein, aber …“

„So medienversessen kann sie also nicht sein.“ Er zog an der Rückenlehne und rollte den Stuhl samt Charlotte nach hinten. „Ich muss mich jetzt auf den Kongress vorbereiten.“

Unwillig machte Charlotte seinen Chefsessel frei. „Aber du engagierst keine Hackerin, ohne mit mir zu sprechen!“ Sie drohte ihm mit dem Finger.

Für das Einstellen oder Kündigen von Mitarbeitenden war immer noch er zuständig. Ein Fakt, den Charlotte gern ignorierte. „Ich schaue sie mir mal an. Ihr Vortrag ‚Cyber-Security in sensiblen Firmenbereichen‘ trifft genau unser Problem.“

Widerwillig verließ Charlotte sein Büro, um sich an ihrem eigenen Arbeitsbereich einzuwählen. Tian klickte den Code weg und öffnete die Homepage des Symposiums.

Routiniert kontrollierte er den Sitz seiner Frisur und richtete den Kragen seines Jacketts, bevor er sein Kamerabild freigab.

Der Moderator hatte ihn kaum begrüßt, als auf Tians Smartwatch auch schon die Nachrichten aufblinkten. Er hatte die wichtigsten Social-Media-Kanäle abonniert, sodass ihm neue Posts direkt angezeigt wurden, und die Online-Community reagierte bei jedem öffentlichen Auftritt sofort. Manchmal musste er aufpassen, dass ihm die Aufmerksamkeit nicht zu viel wurde. Seit fast zwanzig Jahren führte er eine Art gläsernes Leben, indem er seine Fans an allem teilhaben ließ. Dennoch kannte kaum jemand sein wirkliches Ich.

Diese Gedanken verblassten jedoch, als Maeve Kavanagh mit ihrem Vortrag begann.

Sie war beeindruckend. Wunderschön mit honigblonden Haaren und einem ebenmäßigen herzförmigen Gesicht, das sich gegen den unscharfen Hintergrund in hellen Blautönen abhob. Die grauen Augen blickten in eine Welt, die ihm fremd wirkte. Klar, sie war weit weg in Großbritannien, genauer gesagt in Nordirland, wie sie gleich zu Anfang betonte, und er saß in Palo Alto, Silicon Valley, USA.

Das war es allerdings nicht, wurde ihm bewusst. Da war unbekannte Tiefe in diesem Grau, das – vielleicht durch das ringförmige Scheinwerferlicht – zu ihren Pupillen hin einen hellen, intensiveren Kranz bildete. So etwas hatte er noch nie gesehen. Es schien, als wüsste sie Dinge, von denen er nicht einmal ahnte.

Sie sprach von Einfallstoren im System, von Schwierigkeiten im Wissensmanagement bei sicherheitsrelevanten Mitarbeitenden, von vermeintlich hermetisch verriegelter Software-Architektur und Bedrohungen durch immer modernere Spionage. Ihr Ton war leicht verzerrt und ließ die Konsonanten verwaschen klingen, doch der Inhalt war klug und gestochen scharf.

Ich will sie, tippte Tian in das Dialogfenster für interne Kommunikation nur mit Charlotte.

NEIN, kam es in Großbuchstaben zurück, doch Tian sah nur das schöne, kluge Gesicht auf dem Bildschirm an.

Ein Kribbeln durchlief seinen Körper, als Maeve einen Scherz machte und selbstironisch lächelte. Wie konnte man zu dieser Frau Nein sagen?

Ich finde, ihr Vortrag zeugt von Kompetenz, schrieb er. Sie ist absolut professionell.

Im nächsten Moment machte Maeve allerdings eine ungeschickte Bewegung. Etwas schien ihr herunterzufallen, ihr Kopf verschwand aus dem Bild. Plötzlich war der Hintergrund nicht mehr verwischt. Tian erblickte ein holzvertäfeltes Zimmer mit einem Regal an der rückwärtigen Wand, das so unaufgeräumt und chaotisch wirkte, dass es seine Aussage von Professionalität Lügen strafte.

Ist das ein Vibrator auf dem obersten Regalbrett? fragte Charlotte im Privatchat.

Er musste lachen. Was spräche dagegen?

Maeves Gesicht war gerötet, als sie zurück ins Bild kam. Einen kurzen Augenblick stutzte sie. Dann klickte sie den Hintergrundeffekt wieder an, sodass alles zu Blautönen verschwamm.

„Sorry. Mir ist die Maus heruntergefallen … Wo bin ich stehen geblieben?“

Und genauso schnell, wie sie aus ihrer Rolle als Rednerin herausgefallen war, fand sie auch wieder hinein.

Ich will sie, schrieb Tian noch einmal an Charlotte – und fragte sich insgeheim, ob dieser Satz nicht nur auf professioneller Ebene zutraf.

Das war ungewöhnlich für ihn. Er war nicht der Typ, der Berufliches mit Privatem vermischte. Damit hatte er schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht. Charlottes Hinweis auf den Vibrator hatte eine seltsame Hitze in ihm entfacht, und der Anblick von Maeves reizenden roten Wangen tat sein Übriges.

Hast du nicht zugehört? Sie arbeitet ausschließlich remote. Ich will nicht, dass sie sich in unser Netzwerk einhackt! Wir kennen sie nicht.

Tian strich sich die Haare nach rechts. Vielleicht sollte er sich ans Klavier setzen, um darüber nachzudenken. Doch da war etwas an dieser Frau, und die Bedrohung für sein Unternehmen kam sicher von intern. Er brauchte Maeve, um dieses Problem zu lösen. Außerdem war es verlockend, diesen klugen grauen Augen näher auf den Grund zu gehen.

Nun, schrieb er trocken zurück, dann lerne ich sie eben kennen.

2. KAPITEL

Direkt am nächsten Tag beschloss Tian, nach Nordirland zu fliegen. Dieser impulsive Schritt kam für alle in seinem Team überraschend. Normalerweise hätte er die ehemalige Hackerin zu einem Online-Interview eingeladen, doch Charlotte forderte den persönlichen Kontakt und Maeve würde nicht nach San Francisco kommen. Dass sie auf ihrer Insel blieb, war Bedingung für jede Zusammenarbeit mit ihr.

Das hatte sie klargestellt, als Tian sie im Anschluss an ihren Vortrag um einen privaten Videochat gebeten hatte. Das Gespräch mit der schönen Britin hatte ihn seltsam nervös gemacht. Vermutlich, weil er sie unbedingt für sein Team wollte. Bereits nach wenigen Sätzen hätte er ihr einen Vertrag gemailt, wenn Charlotte, die mit im Call war, ihn nicht ausgebremst hätte. Sie würden sich beraten und sich bei ihr melden, hatte sie nüchtern erklärt. Nun wusste die Britin nur, dass tiximi eine Sicherheitslücke hatte.

Dieses Problem konnte allerdings nicht warten. Nach dem Symposium hatte er sich die geleakten Codes genauer angesehen. Der Schaden war beträchtlich.

Sogar nach dem Gespräch hatte Charlotte noch Bedenken, mit einer Fremden zusammenzuarbeiten. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in Nordirland selbst ein Bild von Maeve Kavanagh zu machen.

Also ließ er seinen Assistenten alle Termine für den nächsten Tag absagen – ein Planungstreffen für das neue Software-Bundle, eine Strategiesitzung der Führungsetage, ein Shooting für tiximis Social-Media-Kanäle.

Das Problem mit der Sicherheitslücke löste sich schließlich nicht von allein, und er hatte sich in den Kopf gesetzt, dass es nur eine gab, die helfen konnte: Maeve Kavanagh.

Er charterte für den Abend in San Francisco ein Privatflugzeug, das ihn in einem zehnstündigen Nachtflug nach Dublin brachte, von wo aus er am späten Vormittag Ortszeit per Helikopter nach Tawerra weiterfliegen würde.

Nachdem er im Flugzeug gefrühstückt und die Zeit mit der Beantwortung von Mails und Telefonaten verbracht hatte, stieg er auf einer saftigen Wiese aus dem Hubschrauber und fühlte sich, als hätte er eine andere Welt betreten.

Rauer Wind rauschte ihm in den Ohren, hinter ihm brandete die Irische See. Die blaue Farbe des Himmels, das intensive Grün der Wiese und die geduckten weißen Häuschen, alles wirkte fast unwirklich friedlich.

Er gab der Pilotin Anweisung, im örtlichen Pub auf ihn zu warten. Dann ließ er sich von einem etwa zehnjährigen Jungen, der mit offenem Mund herbeigelaufen war, das Haus von Maeve Kavanagh zeigen.

Die Fenster und Türen des weißen Cottages waren dunkel umrandet. Das Haus lehnte an einem schroffen Felsen, der die Widrigkeit des wildromantischen Ortes betonte. In einer niedrigen Natursteinmauer hing das hölzerne Gartentor schief in den Angeln. Es quietschte, als Tian es öffnete, und der Junge lief schon wieder davon, um seiner Familie den Helikopter zu zeigen.

Eine Klingel suchte er neben der dunklen Haustür vergeblich. Der alte Türklopfer war verrostet, also klopfte er mit den Fingerknöcheln, wartete, klopfte lauter und wartete wieder. Ratlos blickte er sich um.

Er war doch nicht den ganzen Weg gekommen, um unverrichteter Dinge wieder gehen zu müssen?

Gut, er hätte sich ankündigen können. Ein vernünftiger Mann hätte das sicher getan. Doch bei einem Überraschungsbesuch konnte Maeve ihr Chaos vorher nicht wegsortieren, und er wollte sich ein authentisches Bild von ihr machen.

Aus irgendeinem Grund erschien ihm das außerordentlich wichtig. Nur hatte er eben nicht damit gerechnet, dass sie nicht vor Ort sein würde.

Was nun? Tian fühlte sich außerhalb seines Elements. Das vorhandene Handynetz war, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Normalerweise leuchtete seine Smartwatch ständig von eingehenden Nachrichten. Hier blieb das Display schwarz. Es war, als wäre er in der Zeit zurückgereist.

Wenn niemand öffnete, wusste er nicht weiter, und er mochte dieses Gefühl nicht. Erinnerungen an sein jüngeres Ich wurden wach. Wie damals war er in eine fremde Welt versetzt, deren Regeln er nicht kannte. Ratlos, entwurzelt, allein …

Da bemerkte er das Blechschild neben der Tür.

Fáilte stand dort in großen geschwungenen Lettern, und Tian erkannte das irische Wort von Schildern am Dubliner Flughafen. Fáilte hieß willkommen. Darunter las er den englischen Satz: Wird dein Klopfen nicht erhört, Freund, so tritt dennoch ein.

War das ernst gemeint? Tian dachte an die paranoiden Sicherheitsvorkehrungen im Haus seines Vaters. Wie anders wirkte doch die Welt auf dieser Insel.

Vorsichtig testete er den Türknauf … Die Tür schwang auf.

„Hallo?“

Nach den stürmischen Böen draußen herrschte drinnen gespenstische Stille. Winzige Staubkörnchen hingen in der Luft, irgendwo tickte eine altmodische Uhr.

Das konnte unmöglich das Haus einer Computerexpertin sein.

Dennoch trat er ein und rief noch einmal: „Hallo!“

Tiefer im Haus hörte er ein leises Geräusch. Mit etwas Fantasie war es vielleicht das Klacken einer Tastatur.

Es fühlte sich merkwürdig an, einfach hineinzugehen, aber andererseits war die Tür nicht abgeschlossen gewesen, und das Willkommensschild hatte ihn dazu aufgefordert. Auf Tawerra vertrauten die Menschen einander wohl noch.

Zögerlich tat er einige Schritte in den Flur. „Ist jemand zu Hause?“, fragte er in den Raum zu seiner Rechten.

Ein Wohnzimmer, und dort stand auch die Uhr. Eine Patchworkdecke lag über der Lehne des fadenscheinigen Sofas. Das Haus war altmodisch und dennoch auf anrührende Weise gemütlich. Ganz anders als die Villa seines Vaters, in der alles groß, modern, teuer und beinahe steril war.

Wieder dieses Klackern, jetzt war er sicher, dass er die Treppe hinaufmusste. Mit dem unguten Gefühl, eine Grenze zu übertreten, nahm er laut rufend die ersten Stufen.

„Hallo? Ich suche Maeve Kavanagh.“

Im ersten Stock gingen von einem kleinen Flur mehrere Zimmer ab. Die alten Holztüren waren weiß lackiert. Auf eine Tür hatte jemand mit grauer Farbe den Namen Maeve geschrieben. Von dort kam das Geräusch.

Tians Herz schlug schnell, als er den Türknauf umfasste.

Und dann kam die größte Überraschung der ganzen Insel. Mitten in einer Umgebung, als hätte man ihn in die Fünfzigerjahre zurückversetzt, öffnete sich die Zimmertür zu einem hochmodernen Computerlabor mit mehreren Bildschirmen auf einem Schreibtisch, der sich eine komplette Wand entlangzog. Dort lagen die unterschiedlichsten Werkzeuge, ein altes CD-Laufwerk, Notizblöcke, Tablets, ein Laptop, ein aufgeschraubter PC und ein Lötkolben. Manches war so speziell, dass selbst er es nicht erkannte. Zum Beispiel die beiden weißen Spulen direkt neben dem Keyboard.

Mittendrin saß Maeve Kavanagh mit dem Rücken zu ihm auf einem hochlehnigen Schreibtischstuhl.

„Ms. Kavanagh? Maeve?“ Sie ignorierte ihn.

Als er sich umsah, erkannte er das Regal wieder, das er beim Online-Kongress gesehen hatte. Unwillkürlich glitt sein Blick zum obersten Regalbrett hinauf. Doch das, was Charlotte für einen Vibrator gehalten hatte, war verschwunden.

Hatte sie letzte Nacht dafür Verwendung gehabt? Und warum stellte er sich überhaupt diese Frage? Er war nicht hier, um persönlich zu werden.

Außerdem war es verwirrend, dass sie ihn ignorierte. Konnte es sein, dass sie ihn wirklich nicht wahrnahm?

Ratlos verharrte er an der Tür. Dann entschied er, sich anders bemerkbar zu machen.

In wenigen Schritten durchmaß er den Raum und sah den weiblichen Avatar auf dem mittleren Bildschirm, ehe er Maeve behutsam an der Schulter antippte.

Mit schreckgeweiteten Augen wirbelte sie zu ihm herum und schnappte nach Luft.

Im selben Moment geriet Tians Herz aus dem Takt und begann zu rasen. Sein Atem stockte und die Finger, die ihre Schultern berührt hatten, fühlten sich warm und wie aufgeladen an.

Es war, als hätte ein Blitz ihn bei der kurzen Berührung erfasst, und als er zu ergründen versuchte, was gerade geschah, wurde ihm als Erstes klar, dass Maeve Kavanagh in der Realität noch viel schöner war als online.

Die faszinierenden silbergrauen Augen hatten einen hellen, eisgrauen Ring um die Pupille. Auf ihrer Wange tanzten winzige Sommersprossen, die nur aus der Nähe zu erkennen waren, und das honigfarbene Haar mit den flachsblonden Spitzen wirkte so weich, dass er seine Finger hineinschieben wollte. Ihr schlanker Körper steckte in einem figurbetonenden Strickpullover, und die hautenge Jeans betonte lange, wohlgeformte Beine.

Sie sprang auf und stand ihm so dicht gegenüber, dass er ihren weiblichen Duft nach Beeren und eiskalter Irischer See wahrnahm. Atemberaubend!

Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit seiner eigenen Reaktion. Sein Körper schien plötzlich in Flammen zu stehen. Er fühlte sich wie ein unbeholfener Junge, sprachlos vor einem hübschen Mädchen.

Das war sehr untypisch für ihn. Online galt er als locker, hatte immer einen guten Spruch auf den Lippen. In der Realität war er zielgerichtet und fokussiert. Dass er sich von Anziehung oder Gefühlen leiten ließ, konnte man nicht behaupten.

„En… Entschuldigung“, stammelte er. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Die Tür war offen, und da hing dieses Schild …“

Maeve Kavanagh starrte ihn nur weiter an.

Sie war so schön, dass sein Herzschlag erneut stolperte, dabei hatte er schon viele gut aussehende Frauen getroffen und einige auch gedatet. Maeve schien sich ihrer Schönheit gar nicht bewusst zu sein, und vielleicht war es diese Natürlichkeit, die sie so anziehend machte.

Er sah den Puls unter der zarten Haut an ihrem Hals und wollte mit dem Daumen darüberfahren.

Dann jedoch blinzelte sie und wandte sich ab.

Tian Xi Miller! In meinem Labor!

Einen Moment lang vergaß Maeve zu atmen und starrte ihn fassungslos an. Träumte sie?

Er sah unglaublich gut aus. Sicher einen Meter neunzig groß, blickte er mit leicht schräg stehenden, faszinierenden Augen zu ihr hinab. Die seidig-glatten schwarzen Haare trug er zu einer Seite gestrichen, und auf der sandbraunen Haut an seinem Kinn lag ein leichter Bartschatten. Er trug teure Boots zu modisch schwarzer Jeans und ein tiximi-Shirt unter dem eleganten dunklen Jackett.

Und ein Duft ging von ihm aus! Wie von frisch geschlagenem Kirschholz kombiniert mit einer männlichen Note, die sie noch nie an jemand anderem wahrgenommen hatte.

Dieser Mann war der Inbegriff von urbanem Sex-Appeal. Schick, aber auch lässig, die chinesische Mutter deutlich in seinem Gesicht zu erkennen, der reiche amerikanische Vater in seiner Haltung. Maeve kannte die Geschichte des dreizehnjährigen Jungen, der sich direkt nach dem Eintreffen in San Francisco in den sozialen Netzwerken einen Namen gemacht hatte. Ein Wunderkind mit einem reichen Promi-Anwalt als Vater, hatte er sich in seinen Videos über die Eigenheiten der amerikanischen Gesellschaft lustig gemacht.

Und dieser Mann stand nun vor ihr! Das war so surreal, als hätte sich ein Hollywoodstar nach Tawerra verirrt. Hatte der Videochat vorgestern sie so stark beeindruckt, dass nun ihre Fantasie mit ihr durchging? Als tiximis leitende Entwicklungsingenieurin gesagt hatte, sie würden sich bei ihr melden, hatte sie heimlich gehofft, Tian noch einmal online zu treffen. Aber im realen Leben? Das hätte sie nicht im Traum erwartet!

Sie halluzinierte eindeutig. Maeve blinzelte, aber er blieb, wo er war.

Tian Xi Miller! OMG!

Sie war so damit beschäftigt, ihr Teenager-Ich unter Kontrolle zu bringen, dass ihr zu spät klar wurde, er sprach mit ihr.

Abrupt kam sie in die Realität zurück.

Natürlich hatte sie nicht auf seine Lippen geachtet. Sie hatte ihn angestarrt und nichts mitbekommen. Auch nicht, wie er auf ihren Bildschirm sah, der eigentlich schwarz sein sollte, sobald Besuch das Arbeitszimmer betrat.

Wie hätte sie auch damit rechnen können, dass sich ein berühmter CEO hier materialisierte?

Blinzelnd riss sie sich zusammen und versetzte den Rechner mit einer knappen Handbewegung in den Ruhezustand. Eine kurze Wischbewegung bei geschlossener Faust, und ihre KI erkannte das Gebärdenwort „Pause“.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Tian die Augen aufriss, und für den Bruchteil einer Sekunde wollte sie ihm ihr Herzensprojekt vorstellen. Schließlich war er die Person hinter tiximi! Doch als Sicherheitscoach wusste sie, wie wichtig es war, klare Grenzen zu ziehen. Die Dinge, an denen sie forschte, blieben unter Verschluss, bis sie so weit ausgereift waren, dass sie veröffentlicht werden konnten. Zu ihren Bedingungen.

Also wandte sie Tian den Rücken zu, um sich zu sammeln, und griff nach den Hörprothesen, die sie zum konzentrierten Arbeiten neben das Keyboard gelegt hatte.

Erst als die Audioprozessoren hinter ihren Ohren befestigt waren, die Sendespulen magnetisch über den Cochlea-Implantaten saßen, drehte sie sich um und sah ihm ins Gesicht. Er war mitten in einem Satz.

„… haben versucht, Gebärdensprache in eines unserer Tools zu integrieren, aber die Erkennung war schwierig …“

„Moment.“ Sie hob eine Hand. Nach der absoluten Stille war es ein kleiner Schock, mitten in ein Gespräch einzusteigen. Mit ihrer Mutter, deren genetischen Hörverlust sie geerbt hatte, redete sie nur in Gebärdensprache. In diesem Moment wurde ihr wieder bewusst, wie wenig sie das Sprechen gewohnt war.

Ihre Mutter hatte nicht unrecht, wenn sie sagte, dass sie sehr zurückgezogen lebten.

„Entschuldigung.“ Sie deutete auf die weißen Spulen an beiden Seiten ihres Kopfes. „Ich habe den Anfang nicht mitbekommen. Ohne meine Prothesen bin ich gehörlos.“

Wieder wirkte er überrascht, und sie machte sich auf die typische Reaktion gefasst. Zu lautes Sprechen, übertriebenes Gestikulieren, im schlimmsten Fall dieser mitleidige Blick.

Sie hasste es, wenn andere sie deshalb nicht ernst nahmen, doch er hob entschuldigend die Hände, und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das einen emotionalen Feuerball in ihr aufsteigen ließ.

„Sorry. Ich habe einfach drauflosgeredet, weil ich so überrascht war. Haben Sie Ihren Computer auf Gebärdenerkennung trainiert? Das ist der Wahnsinn! Wir bei tiximi sind an der Dreidimensionalität von Gebärden gescheitert.“

Er legte den Kopf schief, als versuchte er, sie einzuschätzen. Und nicht, weil er die Behinderung sah, sondern weil sie ihn beeindruckt hatte.

Das Kribbeln in ihrem Magen verstärkte sich. Trotzdem mahnte sie sich zur Vorsicht. Große Unternehmen verleibten sich gewinnversprechende Projekte gern ein. Damit hatte sie schon Erfahrung gemacht, und diese Übersetzungs-KI war ihr Herzensanliegen. Außerdem brachte es sie durcheinander, wie stark seine Anwesenheit auf sie wirkte.

Tian Xi Miller gefällt, was ich tue!

„Das ist nur etwas, woran ich forsche. Die britische Gebärdensprache ist meine Muttersprache“, antwortete sie und zwang sich zur Ruhe.

„Klar, und das macht Sie als Forscherin unersetzlich. Welche Bereicherung Sie für mein Team wären! Am liebsten würde ich Sie direkt ins Silicon Valley mitnehmen.“

Er nickte ihr lächelnd zu, und sie sah ein Funkeln in seinen Augen, das ihr den Atem nahm.

Für einen kurzen Moment starrte sie ihn sprachlos an. Dieses Angebot aus dem Mund ihres Jugendhelden!

Dann jedoch runzelte sie die Stirn. „Entschuldigung, aber was machen Sie eigentlich hier? Ich meine, Sie sind wohl kaum zufällig in der Gegend.“

Er lachte, und dieses sonore, tief aus seiner Brust kommende Lachen war absolut sexy. Vielleicht lag es daran, dass sie zu selten unter Menschen kam, aber dieser Mann hatte einen umwerfenden Effekt auf sie.

Das sollte sie ignorieren. Vielleicht war er hier, um ihr Ärger zu machen, so wenig es gerade auch danach aussah. Sie hatte nach dem kurzen Videochat am vergangenen Tag ihre Fühler ausgestreckt. Tians vage Andeutung, es gebe eine Sicherheitslücke bei tiximi, hatte sie neugierig gemacht. Maeve wusste, dass Firmen es meist nicht gern sahen, wenn Hackerinnen von sich aus aktiv wurden. Ihre Neugierde hatte jedoch gesiegt.

Sie war nicht tief ins System vorgedrungen, aber selbst harmlose Hacks konnten unangenehm werden.

Maeve verschränkte die Arme vor der Brust und ging in die Offensive. „Warum sind Sie hier? Weil ich mich vorletzte Nacht bei Ihnen umgeschaut habe?“

Manchmal war Ehrlichkeit die einzige Chance. Wenn seine Chefentwicklerin so gut war, wie sie behauptete, hatte die ihren halbherzigen Hack ohnehin längst bemerkt.

Wieder schaute er mit tiefbraunen Augen zu ihr hinab, und es war, als könnte er an ihren zerzausten Haaren und den Hörprothesen vorbei bis in ihr Innerstes blicken.

Ein aufregendes Gefühl! Automatisch legte sie sich eine Hand an den Hals.

„Sie haben sich bei uns umgeschaut?“ Er grinste selbstzufrieden. „Dann sind Sie nicht so abgeneigt, wie Sie bei unserem Gespräch behauptet haben.“

Himmel! Wieso durchschaute er sie?

Wenn sie für einen Mann arbeiten wollte, dann für Tian Xi Miller. Allein der Gedanke, sie könnte einfach so in sein Büro spazieren …

Es war allerdings keine gute Idee, sich zu eng an eine Firma zu binden. Sicherheitslücken fand sie am besten von außen. Sie musste frei und unabhängig sein.

Außerdem konnte sie ihre Mutter nicht allein lassen. Fiona litt an derselben erblichen Krankheit wie sie, die schwerhörig geboren worden und durch die fortschreitende Erkrankung des Mittelohrs im Laufe der Jahre ertaubt war. Doch Maeve hatte mit Anfang zwanzig Cochlea-Implantate bekommen, die das Mittelohr überbrückten und direkt auf den Hörnerv einwirkten. So war ihr Hörvermögen fast vollständig wiederhergestellt. Ihre Mutter hingegen hörte kaum etwas und litt zudem seit einiger Zeit unter einer schleichenden Demenz.

Nein, ein Job in Kalifornien war keine Option. Wer sollte dafür sorgen, dass ihre Mutter das Essen nicht vergaß und von ihren Spaziergängen heimkam?

„Wie ich schon sagte, ich arbeite ausschließlich remote, und Sie suchen jemanden für Kalifornien …“

„Was haben Sie gefunden?“, fiel er ihr ins Wort.

„Wie bitte?“

„Als Sie sich bei uns umgeschaut haben, haben Sie etwas gefunden. Ich sehe es Ihnen an.“

Wieder fühlte sie sich durchschaut, und das war irritierend und aufregend zugleich. Niemand machte sich sonst die Mühe. Im Dorf kannten sie alle seit frühester Jugend. Nur fürs Studium war sie nach London gegangen und nach dem Abschluss wegen Fionas Gesundheit zurückgekehrt. Niemand hier fragte sich, was in ihr vorging, und mit ihren Studienfreundinnen kommunizierte sie nur per Computer.

„Ein paar kleinere Sicherheitslücken, die keine größeren Datenabflüsse rechtfertigen“, gab sie locker zurück, doch das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Sein Gesicht hellte sich auf. „Sie sind gut! Eine Nacht und Sie finden Lücken, nach denen wir seit Monaten suchen.“

„Wie gesagt, nichts Gravierendes.“ Sie winkte ab. „Für mehr bräuchte ich Zeit und Zugang zu Ihrem System.“

„Ich weiß …“

Sie sah ihn tief einatmen.

Noch immer standen sie sich gegenüber, als hätte sie ihre Manieren vergessen. Sie hatte ihm noch nicht mal einen Platz angeboten, geschweige denn einen Tee.

„Hören Sie, Maeve, ich brauche Ihre Hilfe. Wie ich schon sagte, haben wir ein Datenleck in unserer Firma. Ein großes, in dem ganze Softwarepakete verschwinden und bei der Konkurrenz wieder auftauchen. Ich brauche die Beste für diesen Job.“

Sein intensiver Blick war mindestens ebenso betörend wie dieser Duft. Wie konnte ein Mann nur so anziehend sein?

Dass Tian so viel von ihr hielt, war unglaublich. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, sein Vertrauen nicht zu enttäuschen.

Er schien etwas sagen zu wollen, doch sie kam ihm zuvor: „Es ehrt mich, dass Sie mich fragen. Sie ahnen nicht, wie viel mir das bedeutet! Aber ich kann meine Mutter nicht allein lassen. Sie ist gehörlos wie ich, aber ohne die hier.“ Sie tippte sich an die Prothesen. „Außerdem ist sie leicht dement. Sie braucht rund um die Uhr Unterstützung.“

Wieder nickte er. „Sie müssten nicht in Palo Alto arbeiten. Ich brauche Sie dort nur für ein oder zwei Tage. Wäre das möglich?“

Es schien ihm sehr wichtig zu sein. Allein das war atemberaubend.

Dennoch schüttelte Maeve den Kopf.

Draußen hörte sie das Gartentor klappen. Ihre Mutter kam von ihrem Spaziergang zurück.

„Sie lässt das Bügeleisen auf dem Stoff stehen, vergisst die Herdplatte, löscht keine Kerzen … Es ist zu gefährlich.“

Ein Poltern auf der Treppe verriet, dass Fiona die unterste Stufe übersehen hatte.

Tian nickte. Sie sah den Unglauben in seinem Gesicht. Sicher war er es gewohnt, seinen Willen zu bekommen.

Für einen Moment schwiegen sie beide, und sie spürte, wie gern sie ihm geholfen hätte. Dann klatschte Fiona im Flur, und im nächsten Augenblick flog die Tür auf.

Herein trat ihre Mutter im selbst gestrickten knallbunten Pullover zu ausgeblichener Jeans, die grauen Haare vom Wind zerzaust, ein rotes Glimmen auf ihren Wangen. Der Kontrast zu Tians urbanem Äußeren hätte nicht größer sein können.

„Die Nachbarn haben mir zurück geholfen“, gebärdete sie, hielt inne und sah Tian an. „Wer ist das?“

Verlegen versicherte Maeve sich mit einem Blick, dass er sie nicht verstanden hatte.

Tian grüßte freundlich mit einer Hand, dann überraschte er sie, indem er seinen Namen mit dem Fingeralphabet der Gehörlosen buchstabierte.

„Sagen Sie ihr bitte, dass ich mich freue, sie kennenzulernen.“

„Sag ihm, ich kann Lippen lesen“, gab ihre Mutter grinsend zurück. „Ich finde, er hat einen sehr schönen Mund …“

„Mam!“ Maeve runzelte missbilligend die Stirn, dann wandte sie sich wieder Tian zu. „Sie kennen das Fingeralphabet?“ Es war keine Gebärdensprache, aber sie freute sich über diese Verständigungsmöglichkeit, die nur wenige beherrschten.

„Ich habe es mir beibringen lassen, als wir an dem Gebärdentool forschten. Meine Haushälterin ist in London bei gehörlosen Eltern aufgewachsen. Ansonsten kann ich leider nur diesen einen Satz …“ Er gebärdete: „Wollen wir Fußball gucken und Freunde sein?“

Fiona gluckste. „Von Frauen hat er keine Ahnung. Aber das ist egal, so gut, wie er aussieht.“

Ihre Mutter zwinkerte ihr zu, und Maeve war froh, dass Tians Haushälterin ihm nicht mehr beigebracht hatte.

Als sich Tians Gesicht aufhellte, schien auch in ihrem Inneren etwas zu leuchten.

„Ich habe eine Idee“, sagte er. „Darf ich Ihr Telefon benutzen? Mein Mobilfunkanbieter hat hier kein Netz.“

Maeve reichte ihm ihr Handy, und als sich ihre Finger berührten, wurde sie ganz benommen von diesem Glimmen in ihrem Herzen.

„Den solltest du festhalten, Maeve“, gebärdete ihre Mutter. „Ich mag ihn.“

Tian wandte sich ab, um zu telefonieren, und als er wieder zu ihnen zurückkam, grinste er breit.

„Maeve, würden Sie Ihre Mutter bitte fragen, ob sie englische Scones mag?“

„Wie bitte?“, fragte Maeve entgeistert, während Fiona in unbeholfener Lautsprache antwortete: „Ich liebe Scones! Am besten mit Marmelade und Clotted Cream.“

Tian wandte sich ihr zu. „Was halten Sie davon, wenn meine Haushälterin Ihnen bei Scones Gesellschaft leistet, während ich Ihre Tochter in die USA entführe?“

„Macht sie auch guten Shepherd’s Pie?“, fragte Fiona frech, wobei sie das „sh“ in „shepherd“ wie ein „ch“ aussprach. Verwaschene S-Laute waren ihrer Mutter schon immer egal gewesen.

Tian lachte, und Maeve schnappte nach Luft. Was ging hier vor?

„Alisons Shepherd’s Pie ist legendär!“

Maeve übersetzte für ihre Mutter.

„Dann geht das in Ordnung. Sie können meine Tochter entführen“, stellte Fiona laut fest, und Maeve spürte, wie ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief.

„Danke, dass du mich für Essen verkaufst“, sagte und gebärdete sie gleichzeitig.

Tian lachte leise, und ihr wurde das größte Argument gegen eine Reise ins Silicon Valley bewusst: Sie würde diesem charismatischen Mann in eine Welt folgen, die ihr absolut fremd war. Das war beängstigend, selbst wenn es nur um ein oder zwei Tage ging.

Andererseits war der Blick seiner samtig-schwarzen Augen wie eine Berührung auf ihrem Gesicht.

„Dann steht unserer Reise nichts mehr im Wege?“

Seine Stimme war leiser und leicht rau, sodass sich die feinen Härchen auf ihren Unterarmen aufrichteten. Zwei Tage, in denen Tian sie durchgängig so ansehen würde? Es gab tausend Argumente dagegen. Ihr selbst gewähltes Leben in Abgeschiedenheit, ihre Arbeitsgrundsätze …

Sie blickte zu ihrer Mutter, die nickte und dann gebärdete: „Du kannst dich nicht vor dem Leben verstecken.“

Wie oft hatte Fiona ihr das schon gesagt?

Maeve schluckte und atmete durch. Dennoch war ihre Lunge wie zugeschnürt. „Wie könnte ich jetzt noch Nein sagen?“

Als Tian daraufhin zufrieden grinste und ihre Hand schüttelte, war ihr immer noch mulmig zumute. Ihr Herz schlug so heftig, dass er es eigentlich hören müsste. Ihre Hand zitterte und sie zog sie eilig zurück. Was hatte sie gerade getan? Von Tawerra aus lag das Silicon Valley am anderen Ende der Welt!

Aber hatte Fiona nicht recht? Einmal im Leben musste sie aus ihrer Komfortzone heraus und etwas erleben. Und wäre es nicht atemberaubend, für wenige Tage in Tians schillernde Milliardärswelt einzutauchen?

Sie war eine erwachsene Frau, jung und ungebunden. Ein bisschen Abenteuer konnte bestimmt nicht schaden.

Oder?

3. KAPITEL

Knapp eine Woche war seit seinem Flug nach Nordirland vergangen, und heute sollte Maeve Kavanagh im Silicon Valley eintreffen.

In seinem Büro in Palo Alto saß Tian am großen Schreibtisch aus Chrom und Glas und übte die Gebärden, die seine Haushälterin ihm vor ihrer Abreise beigebracht hatte. Es waren nicht viele, aber wenigstens brachte er eine Begrüßung zustande.

Guten Tag, wie geht es Ihnen? Hatten Sie einen guten Flug?

Hinter den bodentiefen Fenstern funkelte die San Francisco Bay in der kalifornischen Sonne. Auch sein Konzertflügel schimmerte in diesem Licht, und die bunten Polster der Sitzgruppe leuchteten auf. Die Sonne verlieh sogar dem nüchternen Besprechungstisch und dem elektronischen Whiteboard an der Wand einen warmen Glanz.

Kaum zu glauben, dass er noch vor wenigen Tagen an der rauen Irischen See gestanden hatte. Die etwas linkische Verabschiedung an seinem Helikopter schien Lichtjahre entfernt. Maeve hatte sich einige Tage Vorbereitung erbeten, und er hatte diese Tage mit mehr oder weniger verwirrenden Tagträumen von weichen honigbraunen Haaren mit flachsblonden Spitzen und einem zierlichen Körper unter dem flauschigen Wollpullover verbracht. Und dann diese silbergrauen Augen mit dem hellen Ring um die Pupille!

Es war beunruhigend, wie sich sein Herzschlag beschleunigt hatte, als er beim Aufwachen die Nachricht der Hubschrauberpilotin gelesen hatte, Maeve Kavanagh habe planmäßig um 12.15 Uhr Ortszeit das Flugzeug in Dublin bestiegen.

Jetzt wartete er und war außer für Charlotte für niemanden zu sprechen.

Mit Charlotte musste er reden. Sein Tag hatte bis auf die Tatsache, dass die Security-Expertin schon auf dem Weg war, keine erfreuliche Nachricht gebracht.

Vor allem hatte simon.friscos neuestes Video mit dem Thema „Warum tiximi nicht mehr das ist, was es mal war“ die PR-Abteilung in Panik versetzt.

„Bis vor einem Jahr konnte man sich auf tiximis stabile und innovative Kommunikationssoftware verlassen. Aber jetzt? Will Tian uns weismachen, es sei Zufall, dass alles zeitgleich günstiger bei der Konkurrenz erscheint? Da laufen doch Marktabsprachen …“

So spekulierte Simon von seinem üblichen Platz auf dem knallblauen Gaming-Stuhl aus, den Kopfhörer mit Mikrofon lässig aufgesetzt und ein breites Grinsen im blassen Gesicht. Die blonden Haare trug er wie immer zerzaust. Die Frisur war sein Markenzeichen.

Tian wusste, wie sehr es sein alter Rivale genoss, ihn zu kränken. Am Ende kam Simon sogar zu dem Schluss, dass es vielleicht an der Zeit sei, selbst aus simon.frisco eine Marke wie tiximi zu kreieren, die besser funktionierte und kundenfreundlicher war.

Die Kommentarspalten unter dem Video liefen heiß vor Begeisterung. Tiximis PR-Leiter hatte zwar nüchtern kommentiert, da bringe sich jemand in Stellung für eine Firmengründung, raufte sich in diesem Moment aber wahrscheinlich die Haare wegen des Imageschadens. Tian wurde wütend, sobald er nur an das Video dachte.

Marktabsprachen? Was hätte er davon, wenn sein Konkurrent ihn jedes Mal unterbot?

Simon stellte es dar, als basierte tiximi nur auf dem „hübschen Gesicht“ seines Erfinders. Dabei steckte unglaublich viel harte Arbeit darin.

Selbst als Teenager hatte Tian schon bessere Videos produziert als simon.frisco. Der Kerl lästerte über die Größen ebenjener Branche, in der er Fuß fassen wollte. Und Simons Lieblingsziel war und blieb er, den er schon in der Highschool bei seinen Mitschülern schlechtgemacht hatte.

„Ich verstehe nicht, warum wir das Problem nicht intern angehen“, fiel Charlotte wie üblich mit der Tür ins Haus, als sie in sein Büro platzte. „Wir haben genügend fähige Leute, und ich bin selbst an der Sache.“

„Erfolglos“, gab Tian trocken zurück und ließ die Arme sinken. Mit den Gebärden hatte er sich sowieso nur von seinem Ärger abgelenkt.

Er seufzte. „Charlotte, jemand leakt bei uns Softwarepakete, und das Leck ist besser von extern zu finden. Wenn das so weitergeht, haben wir einen riesigen Imageverlust. Schau dir nur Simons Video an.“ Er las den Einwand auf ihrem Gesicht. „Wir müssen handeln.“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Simon findet immer was. Er profitiert von unseren Problemen. Trotzdem, die Hackerin stellt ein Sicherheitsrisiko dar. So jemandem willst du vertrauen?“

Tian ließ sich gegen die Lehne seines Bürostuhls fallen.

Warum tat Charlotte sich so schwer? Inzwischen hatte er zu ihrer Beruhigung sogar einen Background-Check von Maeve durchführen lassen, den es für ihn nicht gebraucht hätte. Es gab zahllose namhafte Firmen, die ihr vertrauten. Nur Charlotte war noch nicht überzeugt.

Er konnte es sich nur so erklären, dass sie selbst viel zu verlieren hatte. Wie der chinesische Teil seiner Familie stammte auch sie aus bescheidenen Verhältnissen. In einem Pariser Banlieue aufgewachsen, war sie mit einem Begabtenstipendium an die Sorbonne gegangen. Ihr eiserner Erfolgswille hatte tiximis Aufstieg beschleunigt.

„Charlotte, ich glaube wirklich, dass Maeve uns weiterhelfen kann. Offenbar übersehen wir etwas.“

Schließlich war er mit dieser Firma buchstäblich groß geworden. Angefangen hatte es kurz nach dem Tod seiner Mutter, als er mit dreizehn Jahren aus China in die USA gezogen war. Er hatte sich einsam und entwurzelt gefühlt, in einem fremden Land bei einem unbekannten Vater, zu dem er keinen Zugang fand. Auf seiner elitären Highschool hatten seine Mitschüler ihn abgelehnt. Es hatte geholfen, über seinen tiximi-Account mit Freunden in China Kontakt zu halten. Sie hatten witzig gefunden, was er in selbst produzierten Videos über die amerikanische Gesellschaft erzählte. Innerhalb kürzester Zeit waren immer mehr Follower hinzugekommen, eine Homepage, ein Blog …

Nachdem er Charlotte im Studium kennengelernt hatte, war aus tiximi eine Marke geworden. Sie hatten ein Kommunikationstool entwickelt, dann das nächste. Und schließlich war in rasanter Geschwindigkeit ein internationales Unternehmen daraus erwachsen.

Die Firma hatte seinem Leben eine Richtung verliehen, die bis in sein Privatleben reichte, und es hatte Zeiten gegeben, in denen sich Privates und Berufliches so stark vermischten, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte.

Aber diese Zeiten waren vorbei.

„Charlotte, komm schon. Lern sie erst mal kennen.“

Die Chefentwicklerin stöhnte. Vielleicht war es aussichtslos, sie zu überzeugen, doch im Zweifelsfall hielt immer noch er die Unternehmensmehrheit.

„Also gut. Aber wenn ich ein ungutes Gefühl bei ihr habe, will ich offen reden. Versprochen?“

Tian stieß mit der Luft all seine Anspannung aus. „Einverstanden. Aber ich denke, du wirst sie mögen. Sie ist eine starke Frau, genau wie du.“

Und vielleicht war das das Problem. Schon wieder prickelte Tians Haut, wenn er nur an Maeve dachte, und in seinem Inneren schwelte ein Gefühl, das ihm unbekannt war. Ein wenig beunruhigend und gleichzeitig aufregend.

So sollte er nicht für eine Frau empfinden, mit der er zusammenarbeitete.

Charlotte blickte ihn nachdenklich an, als könnte sie in seinem Gesicht lesen. Doch bevor er sich unwohl fühlen konnte, klingelte sein Handy, und sein Assistent informierte ihn, dass Maeve Kavanagh in San Francisco gelandet sei und von einem Fahrer nach Palo Alto in den tiximi-Tower gebracht werde.

Keine Zeit für Bedenken. Sie war da und würde sowieso von Großbritannien aus arbeiten. Also brauchte er sich mit diesen seltsamen Gefühlen nicht auseinanderzusetzen.

Während ihres kurzen Aufenthalts würde er keine Gelegenheit haben, seine eigenen Regeln zu brechen.

Ein Helikopter, der sie auf Tawerra abholte. Allein das war für Maeve schon sehr ungewohnt. Normalerweise hätte sie die Fähre zum Festland genommen und wäre mit dem Zug nach Dublin und von dort zum Flughafen gefahren.

So stand sie direkt auf dem Rollfeld, wurde zu ihrem Flugzeug begleitet und in der First Class luxuriös umsorgt.

Fast schämte sie sich für ihren schäbigen Rucksack. Sie reiste nicht oft und nicht gern. Allerdings war es auch nie so komfortabel gewesen.

Wie es ihrer Mutter wohl ging? Tians Haushälterin wirkte sehr nett, aber würde sie es schaffen, Fionas Tag so angenehm wie möglich zu gestalten? Davon hing alles ab. Wenn ihre Mutter sich aufregte, wurde ihre Zerstreutheit noch schlimmer.

Andererseits war es ein erfreulicher Zufall, dass Alison die britische Gebärdensprache beherrschte. So konnte sie Fionas Bedürfnisse einfach erfragen.

Wahrscheinlich musste sie darauf vertrauen, dass alles gut gehen würde.

Obwohl Maeve immer gedacht hatte, dass ihr Tawerra genügte, spürte sie nun kribbelnde Vorfreude. Auf diese Reise, auf all die Dinge, die sie sehen, die Freiheit, die sie erleben würde.

Und auf Tian Xi Miller, der sie zu sich eingeladen hatte.

Während des Flugs lenkte sie sich ab, indem sie durch tiximis einschüchternde Social-Media-Accounts scrollte. Einerseits wurde ihr bei Tians vielen Bildern und Videos bewusst, wie gut aussehend und anziehend er war. Andererseits spürte sie umso deutlicher, was für ein ultramodernes, atemberaubendes Leben er führte.

Tian beim Surfen. Tian beim Präsidenten, als Gastredner bei einer Sitzung des Parlaments. Tian zwischen Stars und wunderschönen Celebritys, die ihn als einen der ihren umarmten. Immer wirkte er frisch und gestylt, stets fand er die richtigen Worte, wohingegen sie es gerade mal geschafft hatte, saubere Hemdblusen aus ihrem Schrank zu ziehen und in den Rucksack zu packen. Die passende Jeans war zwar noch recht neu, doch so etwas wie High Heels und Abendgarderobe brauchte sie auf Tawerra nicht.

Worauf hatte sie sich nur eingelassen?

Dieselbe Frage stellte sie sich Stunden später, als sie in Palo Alto vor dem tiximi-Tower stand. Der glitzernde Turm aus Glas und Stahl beeindruckte schon von außen. Im Eingangsbereich wurde sie geradezu überwältigt von einer Vielzahl an Monitoren, auf denen die neuesten Trends vorbeiflimmerten. Das kühle Interieur aus weißem Marmor wurde durchbrochen durch Akzente in Primärfarben.

Eine Wand neben dem Empfangstresen war mit einem Whiteboard bedeckt, auf dem sich der Besucher eintragen durfte. Die Namensliste war lang und illuster. Einflussreiche aus Politik und Geschäftswelt hatten ebenso ihre Unterschrift hinterlassen wie Größen aus Funk und Fernsehen. Maeve klappte vor Staunen der Mund auf.

Doch dann nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, und als sie sich umwandte, trat Tian aus einem der gläsernen Aufzüge.

Er sah fabelhaft aus.

In den letzten Nächten hatte sie oft von ihm geträumt und war aufgewacht, mit klopfendem Herzen und der Frage im Kopf, was wohl passierte, würden Tians elektrisierende Hände nicht nur ihre Schultern, sondern ganz andere Körperteile berühren.

Diese ungewohnte Erregung lag sicher an ihrer Einsamkeit. Wie lange hatte sie schon kein Date mehr gehabt? Da konnte ein Mann wie Tian Xi Miller schnell zu viel Eindruck hinterlassen. Alles nur Einbildung. Sie hatte falschgelegen.

Als er lächelnd auf sie zukam und einige Gebärden machte, die eine unbeholfene, aber liebenswerte Begrüßung waren, schien der Luft um sie herum aller Sauerstoff entzogen zu werden, und ihr Herz begann haltlos zu rasen.

„Hallo“, sagte sie belegt. Dann fügte sie mit einem zaghaften Lächeln hinzu: „Sie haben geübt.“

Er lachte selbstironisch. „Nur ein paar einfache Sätze. War es richtig?“

Sie zog ein Gesicht und machte eine Handbewegung, die „na ja“ bedeuten konnte, lächelte dann jedoch wieder. „Ich freue mich auch, Sie wiederzusehen.“<...

Autor

Cara Colter
<p>Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel. Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...
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Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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