Romana Weekend Band 13

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STÜRMISCH VERLIEBT AUF MALLORCA von JANE WATERS

Unter falschem Namen checkt Lilian auf einem Kreuzfahrtschiff nach Mallorca ein. Nur zwei Wochen einen Traum leben! Überraschend verliebt sich der attraktive Hotelmanager Ramiro Cantellano in sie – doch nach einer berauschenden Liebesnacht droht Lilians Lüge alles zu zerstören …

SEHNSUCHT ERWACHT AUF MALLORCA von CAROLE MORTIMER

Ist es der Zauber der Mittelmeerinsel? Oder bringt die heißblütige Brynne das Herz des kühlen Millionärs Alejandro Santiago zum Schmelzen? Zumindest ging ihm lange keine Frau mehr so nahe wie sie. Doch die Vergangenheit überschattet sein junges Glück …

LIEBESURLAUB AUF MALLORCA von KIM LAWRENCE

Sonnenschein, Meeresrauschen … Verwirrt erwacht Kate in der Flitterwochen-Suite eines Luxushotels auf Mallorca. Wie ist sie nur hierhergekommen? Und wer ist der gut aussehende Mann in ihrem Bett? Träumt sie vielleicht noch? Aber dann streichelt der Fremde sie zärtlich …


  • Erscheinungstag 20.04.2024
  • Bandnummer 13
  • ISBN / Artikelnummer 8038240013
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Jane Waters, Carole Mortimer, Kim Lawrence

ROMANA WEEKEND BAND 13

1. KAPITEL

Das Blütenmeer war ein Traum in Weiß und Rosarot und reichte fast bis zum Horizont. Darüber spannte sich erhaben der azurblaue Himmel, und die Sonne sandte ein so mildes und klares Licht über die Landschaft, als wollte sie damit unterstreichen, dass das Leben auf diesem Flecken Erde schöner war als anderswo.

Nun, besseres Wetter herrschte hier in jedem Fall. Es hätte nicht gegensätzlicher zu London sein können, wo die neblige Kälte die Menschen seit Wochen mit verschlossenen Gesichtern durch die Straßen trieb.

Dass Lilian sich plötzlich in dieser zauberhaften Frühlingslandschaft befand, nachdem das Flugzeug vor nur wenigen Stunden im Morgengrauen abgehoben hatte, vermochte sie immer noch nicht ganz zu glauben. Schließlich hatte sie Großbritannien niemals zuvor verlassen.

Und jetzt war sie auf Mallorca! Lilian hatte schon viel von dem überaus beliebten Urlaubsziel gehört und sich immer gewünscht, einmal selbst den Fuß auf die Insel zu setzen. Nun war es so weit. Je weiter sie sich von der Hauptstadt Palma de Mallorca entfernten und in den Südwesten fuhren, desto öfter breiteten sich die großen, zart blühenden Mandelhaine zu beiden Seiten der Straße vor ihren Augen aus. Auch die Dichte der Bebauung nahm ab, sodass die Schönheit des blühenden Eilands immer mehr zum Vorschein kam.

Lilian sah wie gebannt durch die Fensterscheibe des Busses, der ihre Reisegruppe vom Flughafen zur Ferienanlage bringen sollte. Draußen flitzte ein weißes Cabriolet vorbei, und sie blickte dem Wagen wehmütig hinterher. Sie seufzte leise. Wie es wohl war, hier, auf der Sonnenseite des Lebens, zu wohnen?

Aber in den nächsten Tagen würde sie auch einmal in den Genuss kommen. Schade nur, dass die anderen Teilnehmer überwiegend Rentner waren. Typisch Sophie! Niemand außer ihrer besten Freundin konnte auf die Idee kommen, an einem Preisausschreiben in einer Seniorenzeitschrift teilzunehmen, um dann auch noch diesen zehntägigen Aufenthalt zu gewinnen. Damit war es allerdings nicht genug: In letzter Sekunde war Sophie krank geworden und hatte Lilian überredet, an ihrer Stelle zu reisen.

„Lily, du fährst!“, hatte sie in ihrer bestimmenden Art gesagt. „Du hast dringend eine Abwechslung nötig und wolltest doch schon immer mal nach Spanien. Wer weiß, vielleicht befindet sich unter den anderen Gewinnern ja wider Erwarten ein interessanter Mann.“

Lilian musste unwillkürlich lächeln. Kaum jemand in diesem Bus schien unter sechzig Jahre alt zu sein. Da würde sie wohl besser die Insel auf eigene Faust erforschen und so ihre Sprachkenntnisse vertiefen. Sie konnte schon recht gut Spanisch und Italienisch und hatte fleißig entsprechende Kurse besucht. Neben ihrer anstrengenden Arbeit als Verkäuferin war das in den vergangenen Jahren ihr einziger Luxus gewesen, in den sie viel Zeit investiert hatte.

Doch für ihren Traum, dem eintönigen und leider oft auch entbehrungsreichen Alltag zu entkommen und irgendwann einmal im Süden zu leben, wollte sie alles tun. Immerhin hatte sie jetzt den Sprung nach London geschafft und ihre Heimat, ein Städtchen im nicht gerade mit Wohlstand gesegneten Landstrich Lincolnshire verlassen. Diesem Schritt war allerdings eine so schlimme Geschichte vorausgegangen, dass ihre Heimat für sie vorerst gestorben war.

„Sind Sie das erste Mal auf Mallorca?“, riss die neben ihr sitzende Dame sie plötzlich aus ihren Grübeleien.

Lilian strich die rotblonden Locken zurück und wandte sich ihr zu. „Ja. Und Sie?“, fragte sie interessiert.

Die ältere Frau lächelte. „Ich komme öfter zur Mandelblüte, denn die ist einfach zu schön. Diesmal sollen wir ja mit dem Wetter ganz besonderes Glück haben. Die Sonne scheint so warm, als wäre es schon April! Bestimmt wird es eine wundervolle Zeit werden“, meinte die Dame auskunftsfreudig und streckte ihr die Hand hin: „Ich bin übrigens Mrs. Porter.“

„Und ich heiße Lilian … Lilian Connelly. Sie können auch Lily zu mir sagen“, stellte Lily sich vor und erwiderte das Lächeln.

„Sie scheinen die jüngste Mitreisende zu sein“, bemerkte Mrs. Porter freundlich. „Hoffentlich langweilen Sie sich nicht.“

„Das glaube ich kaum“, erwiderte Lilian. „Denn ich bin auch hier, um die Sprache noch besser zu erlernen.“ Und während sie mit Mrs. Porter weiter plauderte, breitete sich in ihr das angenehme Gefühl aus, dass hier und heute tatsächlich ein neuer, glücklicherer Lebensabschnitt begonnen hatte. War die unverhoffte Reise nach Mallorca nicht ideal für sie, um die dunkle und schmerzliche Zeit endlich hinter sich zu lassen?

Unwillkürlich tastete sie nach dem schmalen, silbernen Ring, dem einzigen Schmuckstück, das sie trug und das sie an ihre Herkunft erinnerte.

„Er soll dein Glücksbringer sein und dich auf einen guten Weg bringen“, hatte ihre Mutter gesagt und sich eine Träne weggewischt. Dabei hatte sie jedoch mit keinem Wort versucht, ihre einzige Tochter Lilian davon abzuhalten, Hals über Kopf die Heimatstadt zu verlassen. Erst in diesem Moment hatte Lilian begriffen, dass nicht einmal ihre Mum daran glaubte, dass sie wirklich unschuldig war.

Ramiro trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. Schon seit einer Ewigkeit fuhr er im Schneckentempo hinter dem blauen Reisebus her, aber die Streckenführung hatte bisher keine Möglichkeit zum Überholen geboten. Da endlich tat sich eine Lücke auf, und er trat aufs Gas.

Nach den ruhigen Wintermonaten hatte der Tourismus und der damit verbundene Verkehr jetzt wieder erheblich zugenommen. Aber schließlich lebte er ja von den Besuchern, die Mallorca jedes Jahr zur Mandelblüte in Scharen heimsuchten.

Wenig später bog er mit seinem im Sonnenlicht glänzenden Cabriolet auf die Zufahrtsstraße zu seiner Ferienanlage ein. „El Paraíso Verde“, das grüne Paradies, lag im Südwesten der Insel, keine Stunde von der Hauptstadt Palma entfernt. Das Meer war hier tiefblau, und kleine Pinien- und Kiefernwäldchen säumten die Küste mit ihren feinsandigen Stränden.

Da sich die Anlage deutlich von den anderen touristischen Hochburgen mit ihren Betonklötzen abhob, galt der Aufenthalt im „Paraíso Verde“ längst nicht mehr nur als Geheimtipp. Mit viel Erfolg und Enthusiasmus betrieb Ramiro auch sein zweites Resort, „El Cielo Verde“, den grünen Himmel, im Südosten der Insel, wo dem allgemeinen Bauboom durch strenge Auflagen zum Glück von Beginn an Einhalt geboten worden war.

Dort zeigte sich die Umwelt noch ursprünglich, und die Fischerdörfer hatten ihren alten Charme bewahrt. Mit dem Konzept des grünen und umweltfreundlichen Tourismus rannte er offene Türen ein. Er lag damit voll im Trend. Doch nicht zuletzt ermöglichten ihm die Ferienanlagen auch ein ziemlich komfortables Leben.

Nun fuhr er langsamer und ließ den Blick durch die blühende Natur schweifen. Da tauchten auch schon die ersten weiß getünchten Gebäude seines Ferienparadieses auf. Harmonisch fügten sie sich in die Landschaft ein, und in dem großen Garten, der fast bis hinunter an die goldgelbe Küste reichte, wuchsen neben einer Vielzahl von Palmen die außergewöhnlichsten Pflanzen der Insel. Wie gern er hierherkam!

Doch was war das? Wer verteilte denn vor den Toren schon wieder diese verflixten Werbezettel, die dann später überall in der Gegend herumflogen? Waren es die Betreiber eines neuen Restaurants oder die einer Diskothek, die auf diese Weise Gäste anzulocken gedachten?

Ramiro hielt den Wagen an und ließ die Scheibe hinunter. Ein junger Kerl grinste ihn an und hielt ihm unverblümt einen Flyer entgegen – mit Werbung von der Konkurrenz!

„… jetzt auch mit einem Café, das durch selbst erzeugten Solarstrom klimatisiert wird und einer Auswahl an biologisch angebauten Produkten …“, las Ramiro das Gedruckte auf dem Hochglanzpapier. Genauso lautete auch der Text in der Broschüre, mit der er seine eigenen Ferienanlagen bewarb. So eine Frechheit, nicht nur sein Konzept, sondern sogar den Wortlaut zu kopieren!

Natürlich war es wünschenswert, dass ökologisches Bewusstsein endlich auch bei anderen Anbietern der Tourismusbranche Einzug hielt. Doch hier steckte hundertprozentig der Díaz-Clan dahinter, und die offensive Art, wie dieser ihm die Gäste abspenstig machen wollte, missfiel ihm. Die Familie Díaz – finanzstark und einflussreich – empfand er schon lange als Gefahr für die Natur der Insel, aber auch für sein Geschäft.

Die Stirn gerunzelt, stellte er fest, dass die auf dem Handzettel aufgelisteten Zimmerpreise deutlich unter seinen lagen. Das war auch kein Kunststück, wenn man die Bettenburgen betrachtete, die die Küste rund um den Flughafen nicht gerade verschönerten. Und nun schmückten seine Konkurrenten sich plötzlich mit Umweltbewusstsein?

Ramiro ließ den Motor wieder an. So leicht würde er sich nicht in die Enge treiben lassen! Er lenkte seinen Wagen bis vor das Eingangsportal. Normalerweise parkte er hier nicht, doch er musste sofort mit Sancho sprechen.

Als er die Lobby betrat, kam ihm dieser schon entgegen. Der Mexikaner war so etwas wie seine rechte Hand und leistete ihm stets wertvolle Hilfe.

Buenos días, Ramiro!“, begrüßte Sancho ihn herzlich. „Ist etwas passiert? Warum hast du es denn so eilig?“

„Guten Morgen“, erwiderte Ramiro gefasst. „Hast du nicht die Typen da vorn am Eingang gesehen?“

„Nein …“ Sancho blickte ihn fragend an, und Ramiro nahm zum ersten Mal wahr, dass der dichte Schnauzbart seines Angestellten langsam grau wurde. Wie lange arbeitete Sancho eigentlich schon für seine Familie? Jedenfalls war er längst unentbehrlich geworden.

„Hör zu“, sagte er, „ich möchte, dass du die Konkurrenz vom Platz verweist. Sie versuchen, direkt vor der Tür unsere Gäste abzuwerben und das mit einem fragwürdigen Angebot. Könntest du da bitte sofort etwas unternehmen?“

„Natürlich, Ramiro, kein Problem.“

„Gut … liegt heute sonst noch etwas Wichtiges an?“

„Du musst gleich die neue Reisegruppe begrüßen“, erwiderte Sancho, „hast du das schon vergessen?“

Ramiro stöhnte insgeheim. Natürlich! Es kam ja wieder ein ganzer Schwung von Gästen, diesmal aus England. Heute würden es überwiegend Rentner sein. Er hatte vor Kurzem eine neue Aktion gestartet, um andere Zielgruppen für sein grünes Konzept zu begeistern. Klappern gehörte eben genauso zum Handwerk wie der leidige Kampf in der Branche, sich zu behaupten.

All dies bereitete ihm aber neuerdings weniger Sorgen als die Tatsache, dass im Sommer sein viel beschworener 35. Geburtstag vor der Tür stand – und immer noch war er Single. Stets war er davon ausgegangen, dass ihm die richtige Frau einfach über den Weg laufen würde, doch so war es bisher nicht gewesen. Keine der Bekanntschaften aus den letzten Jahren hatte ihn wirklich gefesselt. Gut, bisher hatte auch immer sein Beruf an erster Stelle gestanden, und er hatte kaum Zeit in amouröse Beziehungen investiert. Wenn er allerdings noch lange so weitermachte, würde auch dieses Jahr ungenutzt verstreichen. Und das durfte auf keinen Fall passieren.

„Da kommen sie schon!“, rief Sancho und zeigte zur Einfahrt.

Ramiro drehte sich um. Es war der blaue Reisebus, hinter dem er vorhin eine halbe Ewigkeit hergeschlichen war. Plötzlich durchpulste ihn eine Welle von Energie, und in seiner Brust wurde es warm. Eine Sekunde lang schien seine Umgebung in helleres Licht getaucht, dann war der ganze Spuk vorbei.

Ramiro stutzte. Wie lange schon hatte er so etwas nicht mehr erlebt! Er kannte solche Empfindungen, sie traten auf, wenn sich Geschehnisse anbahnten, die großen Einfluss auf sein Leben haben sollten. Er hatte merkwürdigerweise eine ungewöhnliche Intuition geerbt, die sich oft in einer gesteigerten Wahrnehmung äußerte.

Doch von dieser Gabe, die in seiner Familie nichts Ungewöhnliches und auf die er früher so stolz gewesen war, wollte er eigentlich nicht mehr viel wissen. Sie hatte ihn nicht nur im wichtigsten Moment seines bisherigen Lebens im Stich gelassen, sondern ihm auch eine fast untilgbare Schuld aufgebürdet.

Die Erinnerung daran war so schmerzlich, dass er jetzt unwillkürlich in sich zusammensank. Dann jedoch straffte er sich. Was war denn heute mit ihm los? Und wieso hatte er das Gefühl, dass die Ankunft eines Reisebusses voller Rentner irgendein großartiges Ereignis darstellte? Irgendwie war er wohl nicht so gut in Form.

Ich sollte wohl besser noch schnell in der Lobby einen Kaffee trinken und dann zur Tagesordnung übergehen, dachte er.

Doch während er rasch nach draußen lief, um den Wagen zu seinem Privatparkplatz zu fahren, wuchs sein Unbehagen, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass diese Saison mehr als nur eine große Herausforderung werden würde. Das aber hatte anscheinend nicht nur mit seinem Beruf zu tun.

Sie hatten den mit Palmen gesäumten Zufahrtsweg erreicht, und der Bus fuhr durch eine weitläufige Gartenanlage. Lilian konnte es nicht glauben. Hier also durfte sie nun zehn unbeschwerte Tage verbringen? Sie hatte erwartet, in einem der großen Paläste untergebracht zu werden, deren Abbildungen so oft die gängigen Prospekte zierten, und selbst das wäre ihr wie ein unerhörter Luxus vorgekommen. Schließlich hatte sie noch nie im Süden – ganz zu schweigen in einem Vier-Sterne-Hotel – Urlaub gemacht.

Doch das hier übertraf all ihre Erwartungen. In einen Park eingebettet, der sehr ursprünglich wirkte, lagen strahlend weiße und hübsch mit Ornamenten verzierte Häuserkomplexe. In einem schönen Springbrunnen auf einer Wiese plätscherte Wasser, und hinter einem Hain mit blühenden Mandelbäumen schimmerte das intensive Blau eines Swimmingpools. Alles erweckte den Eindruck, als hätte es nie einen Winter gegeben.

Instinktiv umfasste Lilian den feinen, silbernen Ring, den sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Wenn du das sehen könntest! dachte sie. Schließlich war auch ihre Mum noch nie in den Genuss einer solchen Reise gekommen. Lilian war in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, und ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Ihre Mum hatte sie stets bleich und abgearbeitet in Erinnerung, als eine Frau ohne Träume und Ziele.

Doch Lilian war anders. Schon immer hatte sie ihrem engen Leben entkommen wollen, und mit viel Fleiß und Einsatz hätte sie es auch fast geschafft: Es war nur wenige Monate her, dass sie von einer einfachen Verkäuferin zur Verkaufsstellenleiterin in einem Shopping-Center befördert worden war, und es hatte so ausgesehen, als würde es noch besser kommen. Die Sterne waren zum Greifen nah gewesen, als sie George kennengelernt hatte …

Stopp! sagte sie sich entschlossen. Es hat doch keinen Sinn, die demütigende alte Geschichte immer wieder hervorzuholen. War es nicht besser, nach vorn zu schauen und die Zukunft einfach neu zu erfinden?

Nun endlich hielt der Bus in der Nähe eines größeren Gebäudes, dessen Dach vollständig mit Sonnenkollektoren bedeckt war. Lilian sah sich interessiert um. Offensichtlich machte man sich hier mehr Gedanken um die Umwelt als anderswo. Das beeindruckte sie ebenso wie die zauberhafte Atmosphäre.

Schließlich entdeckte sie noch etwas, das sie augenblicklich in den Bann zog. Aus dem Gebäude trat ein großer, dunkelhaariger Mann, dessen aufrechter Gang Stolz und Gelassenheit ausdrückte. Er war schlank und athletisch gebaut, was in dem legeren, hellen Anzug eindrucksvoll zur Geltung kam. Sein dunkler Teint verlieh seinen ebenmäßigen Gesichtszügen etwas Verwegenes und verriet gleichzeitig, dass er Südländer war.

Im nächsten Augenblick ertappte Lilian sich bei dem Wunsch, dass er zu ihr herüberschauen sollte, doch offensichtlich hatte es der Unbekannte ziemlich eilig, denn schon war er in das bereitstehende Cabriolet eingestiegen, setzte es zurück und fuhr los. Lilian war verblüfft. Hatte sie diesen weißen Wagen nicht vor Kurzem schon einmal gesehen?

In diesem Moment öffneten sich die Türen des Busses, und die ersten Mitreisenden verließen ihre Plätze.

Lilian jedoch brauchte noch einige Sekunden, um sich zu sammeln, denn der Anblick des attraktiven und bestimmt auch wohlhabenden Mannes hatte sie verwirrt. Fast war sie enttäuscht, dass er einfach so verschwunden war. Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt, doch im gleichen Atemzug ärgerte sie sich. Sollte nun jeder gut aussehende Mann, der ein schickes Auto fuhr, sie an ihre schlimmen Erlebnisse erinnern?

George war Vergangenheit, und er hatte es nicht verdient, dass sie noch so oft an ihn dachte. Ja, um Männer seines Schlages werde ich künftig einen großen Bogen machen! überlegte sie. Ich sollte besser aufhören, davon zu träumen, dass ein reicher Prinz erscheint und mich in eine aufregende Welt entführt. Wahrscheinlich hatten ihre Mutter und Sophie sogar recht, wenn sie sie stets von Neuem ermahnten: „Greif nicht nach den Sternen!“ oder: „Das Leben ist eben kein Märchen!“

Nachdenklich verließ sie den Bus, streckte sich und atmete tief ein. Die Luft war mild und durchdrungen von feinem Blütenduft. Wie herrlich! Dann betrat sie das Gebäude, wo sich ihre Mitreisenden bereits vor der Rezeption versammelt hatten.

Lilian jedoch ging zunächst zu der kleinen Bar, die sie in einer Ecke entdeckt hatte, um sich schnell mit einem Kaffee zu stärken. Denn auch wenn sie es nicht wollte, der Unbekannte in dem Cabriolet hatte dafür gesorgt, dass sie sich plötzlich ziemlich schwach fühlte.

Ramiro betrat die Lobby, lächelte in die Runde und gab Sancho ein Zeichen, dass er noch kurz an die Bar gehen wolle. Der Mexikaner folgte ihm.

„Also, was wirst du ihnen Schönes erzählen?“, fragte der Angestellte, der genau wusste, dass Ramiro die Begrüßung der Gäste schnell hinter sich bringen wollte.

„Warum übernimmst du das heute nicht mal?“, entgegnete Ramiro.

„Oh nein, nein“, wehrte Sancho ab. „Du weißt, es ist Teil des Konzepts, dass der Chef persönlich die Reisegruppen willkommen heißt. Das sind dir deine Gäste doch wert, oder nicht?“

Ramiro trank einen Schluck des bereitstehenden Kaffees und antwortete nicht. Sancho hatte ja recht. Er hatte das Management der beiden Resorts von seinem Vater übernommen, und er sollte dessen Tradition konsequent fortführen. Es war wohl besser, das Thema mit einem Schuss Selbstironie zu beenden.

„Trotzdem wäre es mir manchmal lieber, eine Reisegruppe schöner junger Frauen begrüßen zu dürfen als eine Ansammlung grauhaariger Senioren.“

Lilian hielt den Atem an. Eben noch hatte sie andächtig die luftige Lobby bewundert, ein architektonisches Kunstwerk aus Glas und Stein, in der die exotischsten Pflanzen ihren Platz hatten und sogar Vogelgezwitscher zu hören war, doch nun lauschte sie gefangen der tiefen, angenehmen Stimme dicht neben ihr.

Sie stand im Schutz einer buschigen Zwergpalme an der Bar und verfolgte interessiert das Gespräch zweier Männer, das einige Meter entfernt von ihr stattfand. Den Worten der beiden konnte sie entnehmen, dass sie über die Ankunft der Reisegruppe aus London nicht gerade erfreut waren.

Neugierig beugte sie sich ein Stück vor und hätte sich am liebsten sofort wieder zurückgezogen, wenn der überraschte Blick des einen Mannes sie nicht auf der Stelle festgenagelt hätte. Er war es! Und er hatte sie bemerkt. Der attraktive Typ von vorhin! Einen Moment stand sie wie erstarrt. Was hatte er in der Ferienanlage zu suchen? Und warum sah er sie so durchdringend an?

Ramiro war einen Augenblick irritiert. Da hatte er also, ohne es zu ahnen, eine Zuhörerin gehabt. Wie unachtsam von ihm, in aller Öffentlichkeit über interne Dinge zu sprechen! Aber vielleicht hatte sie das Ganze ja gar nicht mitbekommen.

Nun, da sie ihn mit ihren ungewöhnlich großen Augen so offen ansah, konnte er sie nicht länger ignorieren. Bestimmt war sie ein Gast, der gerade erst angekommen war, denn sonst wäre sie ihm sicher schon aufgefallen. Was für volle, sinnliche Lippen sie hatte! Jetzt deutete sie ein Lächeln an, und es wäre wohl mehr als unhöflich gewesen, sich einfach abzuwenden. Schließlich gehörte die Konversation mit Gästen zu seinem Job, und außerdem war sie ausgesprochen hübsch. Mit den rotblonden Locken und der hellen Haut konnte sie gut eine Engländerin sein.

Lilian erschauerte leicht, als der Fremde plötzlich so dicht neben ihr auftauchte. Sie wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah, als er sie – als wäre es das Normalste der Welt – fragte: „Sind Sie ein Gast unseres Hauses? Darf ich fragen, woher Sie kommen?“

Schnell fasste sie sich. „Aus London“, antwortete sie auf Spanisch. Nun, da er so nah vor ihr stand, beeindruckte er sie noch mehr. Das Faszinierendste an ihm waren seine Augen. Obwohl sie schwarz wirkten wie die Nacht, schienen sie von innen heraus zu leuchten. Ob er hier auf der Insel lebte?

„Sie sprechen aber vorzüglich Spanisch“, stellte er freundlich fest. „Ich bin übrigens Ramiro Cantellano, der Manager des Hauses.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen, die sich warm und kräftig anfühlte.

„Oh!“ Mehr wusste Lilian zunächst nicht zu erwidern. Dieser Ramiro war also kein Gast, sondern möglicherweise der Chef des Ganzen! Und er hatte, wie sie eben gehört hatte, keine große Lust, ihre Reisegruppe zu begrüßen.

„Lilith … Lilith … Carpenter“, erwiderte sie zu ihrer Überraschung. Erst jetzt entzog sie ihm ihre Hand, denn er sah sie so forschend an, als spürte er, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Warum hatte sie das überhaupt getan? War sie verrückt geworden?

Lilith Carpenter war doch das kleine Mädchen, in das sie sich früher in ihrer kindlichen Fantasie verwandelt hatte! Es war ein Mädchen, dem es besser erging als der kleinen, einsamen Lilian Connelly, ein Mädchen, das fürsorgliche Eltern hatte, eins, das in einem hübschen Haus mit Garten wohnte und im Sommer in die Ferien fuhr und mit dem sie nächtelang Zwiegespräche geführt hatte.

„Sind Sie etwa eben mit dem Bus gekommen?“, fragte Ramiro weiter.

„Nein“, erwiderte Lilian da einfach, „nein. Ich bin heute allein angereist … sozusagen zu Studienzwecken.“

Ramiro betrachte sie nun leicht amüsiert. „Was wollen Sie denn hier erforschen? Die Menschen auf der Insel?“

Lilian überlief es heiß. War das ein Verhör? Doch sollte es eins sein, so war es keineswegs unangenehm. Nur sehr verwirrend, denn sie sagte Dinge, die überhaupt nicht stimmten! Nun aber hatte sie damit angefangen und musste es zu Ende bringen.

„Ich studiere Sprachen“, erklärte sie, was schließlich nicht ganz an den Haaren herbeigezogen war. „Vor allem Spanisch, aber auch Italienisch.“

Ramiro konnte nicht anders, als immer wieder auf den sinnlichen Mund der Engländerin zu schauen. Sie hatte feine Gesichtszüge, zart wie eine Blüte.

„Deswegen sprechen Sie unsere Sprache so gut!“, stellte er anerkennend fest.

Sie lachte auf, und es klang silberhell und unbeschwert. „Obwohl wir erst ein paar Sätze gewechselt haben, haben Sie mich schon zweimal gelobt.“

„Dann haben Sie das wohl verdient.“

Der Small Talk mit der rotblonden Schönheit bereitete ihm ein unerklärliches Vergnügen. Doch ein tiefes Räuspern neben ihm machte Ramiro klar, dass jetzt dafür nicht der richtige Zeitpunkt war. Sancho war neben ihn getreten und sah ihn mahnend an.

„Ramiro, ich glaube, es wird Zeit für die Begrüßung“, sagte er und deutete auf die in der Lobby versammelte Gruppe.

„Natürlich“, sagte Ramiro, der über den kleinen Flirt fast seine Pflichten vergessen hatte. „Lilith …“, begann er noch einmal, doch Sancho nahm ihn schnell beim Arm.

„Lily“, verbesserte Lilian ihn hastig, als sie merkte, dass Ramiro gehen wollte. „Sagen Sie doch Lily zu mir.“ Denn sie hatte das Gefühl, ihre kleine Lüge bezüglich ihrer Person wieder korrigieren zu müssen. Sie wollte nicht mit Lilith angesprochen werden, so ein Unsinn. Schließlich war sie eine erwachsene Frau, und Lilith war ein Produkt ihrer kindlichen Fantasie gewesen.

„Gut, dann also Lily“, lenkte Ramiro ein, nahm nochmals ihre Hand, woraufhin Lilian erschauerte. „Ich hoffe, Sie fühlen sich in unserem grünen Paradies wie zu Hause. Und jetzt ruft leider die Pflicht …“ Er wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber nochmals zu ihr um. „Wie lange bleiben Sie hier, Lily?“

„Zwei Wochen“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen und erwiderte seinen Blick, der sie wie magisch anzog. Schon wieder eine kleine Unwahrheit! Doch ob sie nun zehn oder vierzehn Tage auf Mallorca war, was spielte das letztlich für eine Rolle?

Ihr Herz pochte heftig, während sie beobachtete, wie er aufrecht davonging, vor den Neuankömmlingen in der Lobby Aufstellung nahm und zu reden begann. Leider konnte sie von ihrer Position aus nicht verstehen, was er sagte. Da sie in seinen Augen ja nicht zu der Reisegruppe gehörte, blieb sie an der Bar sitzen.

Was habe ich mir nur dabei gedacht, ihm all diese kleinen Lügen aufzutischen? schoss es ihr durch den Kopf. Andererseits, was ist schon dabei? Schließlich bin ich ja so etwas wie eine Sprachstudentin, und die kleine Unwahrheit bezüglich meines Namens, die mir da einfach herausgerutscht ist, habe ich ja gerade noch so korrigieren können. Trotzdem – dieser Ramiro hat mich völlig durcheinandergebracht, denn sonst hätte ich wohl nicht so seltsam reagiert, überlegte sie weiter. Ob er andere Touristinnen auch so ansieht, wie er es bei mir getan hat? Und wird er nochmals auf mich zukommen?

Lilian seufzte und wandte sich ab. Was dachte sie sich denn nur? Hatte sie sich nicht eben erst geschworen, um derartige Männerbekanntschaften einen großen Bogen zu machen? War sie nicht hier, um mit sich wieder ins Reine zu kommen? Die Erinnerung an George und das Unrecht, das man ihr angetan hatte, tat noch viel zu weh. Sie war tief verletzt worden, und bis sich diese Wunde geschlossen hatte, würde es noch eine halbe Ewigkeit dauern.

2. KAPITEL

Das Wetter war außergewöhnlich schön. Zwar waren die Abende kalt und die Nächte frostig, doch alle, sowohl die Gäste als auch die Angestellten, teilten die Ansicht, dass es auf Mallorca im Februar selten so viele warme und sonnige Tage gegeben hatte. Wie für Lilian bestellt! Der Aufenthalt im „Paraíso Verde“ übertraf all ihre Erwartungen, und die Anlage hatte sich ihren Namen wirklich verdient.

Lilian war jedenfalls von der entspannten Atmosphäre und dem umweltfreundlichen Konzept begeistert.

Seit ihrer Ankunft vor drei Tagen schien es sogar noch wärmer geworden zu sein. Schon morgens hatte Lilian es sich in Gesellschaft einiger anderer Sonnenanbeter auf einer Liege in einer windgeschützten Ecke am Pool bequem gemacht.

Wenn sie zum strahlend blauen Himmel emporsah, wiegte sich in ihrem Blickfeld ein großer Palmwedel im Wind, blickte sie zur Seite, stand dort ein Fruchtcocktail griffbereit, und vor ihr verlockte das überhaupt nicht kalte Wasser des kunstvoll mit bunten Mosaiksteinen eingefassten Pools zum Schwimmen.

Einige Mutige stürzten sich sogar ins kühle Meer, das nur einen Steinwurf entfernt war und über dem sie abends von ihrem Balkon aus die schönsten Sonnenuntergänge betrachten konnte. Es war einfach traumhaft!

Lilian drehte sich auf den Bauch, um auch ihren Rücken von der Sonne wärmen zu lassen. Wie sehr wünschte sie sich, sie könnte die Zeit anhalten. In einer Woche schon würde sie wieder nach London zurückfliegen … Warum nur konnte der Urlaub nicht vierzehn Tage dauern, so wie sie es Ramiro gegenüber behauptet hatte?

Ramiro … schon wieder beschäftigte sie sich mit ihm! Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, spukte er ihr im Kopf herum. Sie war ihm bisher nicht wieder begegnet, was wahrscheinlich besser so war. Wenn sie nur an ihn dachte, wurde sie schon nervös.

Es war geradezu unheimlich, wie ihr Körper verrücktgespielt hatte, als sie sich kurz miteinander unterhalten hatten! Was, wenn da noch mehr zwischen ihnen passieren würde? Es war nicht auszumalen. Außerdem war es sowieso Unsinn, sich so etwas vorzustellen. Und wie würde ich reagieren, wenn ich ihm nochmals begegnete? Und …

Verflixt! Lilian rollte sich herum und setzte sich auf, um ihr Gedankenkarussell zu stoppen. Sie wollte doch überhaupt nicht an Ramiro denken! Schnell griff sie nach den Postkarten, die sie mit an den Pool genommen hatte, um Sophie und ihrer Mutter einen Gruß zu schicken, als plötzlich ein Schatten auf sie fiel und sie aufblicken ließ.

Ramiro hatte am Fenster seines Büros gestanden und hinunter auf den Swimmingpool gesehen, der in der Sonne glitzerte. So ein ungewöhnlich warmer Monat! Die Gäste waren rundum zufrieden, und manche gingen sogar schwimmen. Dennoch zeichnete sich ein leichter Rückgang in der Nachfrage für diese Saison ab. Wie konnte das sein? Zeigte die massive Werbung der anderen, die sich nun auch mit dem ökologischen Etikett schmückten, etwa schon seine Wirkung?

Den ganzen Vormittag hatte er darüber nachgegrübelt, bis ihm Lily unter den vereinzelten Sonnenanbetern am Pool aufgefallen war. Fasziniert hatte er beobachtet, wie sie ihren schönen, schlanken Körper auf der Liege ausstreckte. Zierlich und weiblich zugleich war die junge Engländerin wahrhaftig zum Anbeißen.

Also hatte er gerade zum Telefonhörer gegriffen und Sancho angerufen. Nicht dass er jede Frau, die ihm gefiel, unbedingt auch verführen wollte. Doch die Plauderei mit dieser Sprachstudentin ließ ihn nicht mehr los, und er hatte dringend etwas Ablenkung nötig, damit ihn seine Sorgen nicht erdrückten.

Nicht nur das Geschäftliche lastete auf ihm. Es gab da noch eine andere Angelegenheit, über die er kaum mit jemandem reden konnte, denn wer glaubte schon an eine Prophezeiung? Dazu war die Welt viel zu nüchtern und er eigentlich auch viel zu sehr ein Verstandesmensch.

Trotzdem. Er musste endlich die richtige Frau für sich finden, schließlich hatte er das nicht nur sich selbst versprochen, und ein einmal gegebenes Wort galt es zu halten.

In diesem Moment betrat Sancho das Arbeitszimmer, wie immer zu jeder Hilfe bereit. „Ja, natürlich kann ich dich heute im Büro vertreten“, beantwortete er lächelnd Ramiros diesbezügliche Frage.

Wie so oft fühlte sich Ramiro, ohne viele Worte verlieren zu müssen, von Sancho verstanden. Sie hatten beide mexikanische Wurzeln, denn auch Ramiros Vater stammte aus Mexiko, und er hatte Sancho mit nach Mallorca gebracht, als er vor vielen Jahren Ramiros Mutter, eine Spanierin, geheiratet hatte.

„Ist unsere kleine Gartenbar heute schon geöffnet?“, fragte Ramiro.

„Nein, wir sind noch am Vorbereiten. Ich könnte dort allerdings schnell etwas improvisieren …“

„Das wäre gut.“ Ramiro nickte zufrieden. Sancho würde der Engländerin also die Einladung überbringen, und er konnte vorher noch die dringendsten Telefonate erledigen.

Doch zunächst wollte er unbedingt mit eigenen Augen sehen, wie Lily reagierte. Er lächelte, als er wenig später von seinem Bürofenster aus beobachtete, wie Sancho vor ihr stehen blieb und eine überaus höfliche Verbeugung machte.

Lilian blinzelte irritiert, denn vor ihr stand der Mann mit dem imposanten Schnauzbart, den sie am Tag ihrer Ankunft mit Ramiro an der Bar gesehen hatte.

„Guten Tag“, erwiderte sie seinen Gruß etwas unsicher und fragte sich, was er wohl von ihr wollte.

„Mein Name ist Sancho Morales“, stellte ich sich vor, „und Ramiro schickt mich.“

Lilians Herzschlag schien für einen Augenblick auszusetzen. „Oh, ist er denn hier?“, versuchte sie, ihre Überraschung zu verbergen. „Ich habe ihn noch gar nicht gesehen.“

Sancho lächelte entschuldigend. „Er gibt sehr viel zu tun, wenn die Saison beginnt. Schließlich betreiben wir auch noch ein weiteres Feriendomizil auf dieser Insel.“

„Das wusste ich nicht“, erklärte Lilian und zog die Beine an ihren Körper. Schließlich war sie kaum bekleidet, was ihr auf einmal nicht mehr so angemessen zu sein schien.

„Ramiro möchte Sie zu einem Drink einladen“, fuhr Sancho fort. „Wie wär’s in einer halben Stunde?“

Lilians Kehle war plötzlich ganz trocken. „Gern!“, hörte sie sich betont locker erwidern. Dabei war ihr aber lange nicht so wohl bei der Sache, wie sie nach außen hin tat. Der Herr schickte also seine Angestellten, weil er selbst zu beschäftigt war?

Nun beruhige dich, sagte sie sich dann. Warum sollst du da nicht einfach mitspielen? Sie griff nach ihrem Kleid.

Sancho deutete wieder eine Verbeugung an, die Lilian amüsierte. „Ramiro erwartet Sie in der Gartenbar. Wenn Sie den Weg dort oben entlanglaufen …“

„Danke, ich weiß, wo ich hinmuss“, antwortete sie lächelnd. Sie hatte sich im grünen Paradies ja nun schon mehrfach umgesehen und dabei jeden Winkel genau erkundet. Allerdings war die Bar vor zwei Tagen noch geschlossen gewesen.

Nachdem Sancho gegangen war, seufzte sie unwillkürlich. Plötzlich war sie ganz kribbelig vor Glück und küsste den silbernen Ring an ihrem Finger. Zwar sagte ihr eine innere Stimme, dass sie besser daran tat, einen kühlen Kopf zu bewahren. Aber ein klitzekleines Abenteuer durfte sie sich doch wohl leisten!

Kurz darauf schlenderte Lilian entspannt zur Bar. Bestürzt hatte sie zuvor festgestellt, dass sie kaum etwas Geeignetes zum Anziehen besaß. Wie dumm von ihr, Georges Geschenke – darunter auch ein teures Kleid und goldene Ohrringe – in ihrem ohnmächtigen Schmerz aus ihrer Garderobe verbannt zu haben.

Tröstlich war nur, dass der neue Rock, den zu tragen sie sich entschlossen hatte, ihre schlanke Figur gut zur Geltung brachte. Ihr Haar, das sie im Nacken locker zusammengefasst hatte, zierte eine Blüte. Trotzdem war ihr bewusst, dass Ramiro bestimmt ganz andere Frauen kannte …

Na und, soll ich mich deswegen etwa verstecken? Außerdem war sie einfach neugierig! Schließlich begegnete sie nicht jeden Tag einem Mann, der eine solche Anziehungskraft auf sie ausübte. Als Hotelmanager hatte er sicherlich Interessantes über seine Arbeit auf der Insel zu erzählen. Und sie konnte dabei ihre Sprachkenntnisse vertiefen.

Da kam sie ja! Ramiro stand auf und ging Lily entgegen. Einen Moment war er verblüfft, denn entgegen seinen Erwartungen hatte sie sich überhaupt nicht aufgetakelt. Lediglich ihre vollen, verführerischen Lippen hatte sie tiefrot geschminkt, ansonsten wirkte sie ganz natürlich. Lily, die Lilie, wie sehr der Name zu ihr passte!

Außer einem schmalen Ring, den er spürte, als er ihre Hand nahm, trug sie keinen Schmuck. Ein zarter Duft ging von ihr aus, und ihr Blick war klar und offen. Was für schöne Augen sie hatte! Waren sie braun oder eher bernsteinfarben? Jedenfalls schien sie anders zu sein als jene Damen, die immer nur die Besten und Schönsten sein wollten, und sogar ein wenig jener Frau zu gleichen, der einst all seine Liebe gegolten hatte …

Er fasste sie sanft bei den Schultern und küsste sie auf beide Wangen, so, wie man in Spanien eben Freunde oder Bekannte begrüßte. „Schön, dass Sie so spontan Zeit hatten, Lily“, sagte er und ließ den Blick an ihr hinabgleiten. Sie hatte wirklich eine fantastische Figur.

Sie reagierte wieder mit dem ihr eigenen silberhellen Lachen. „Ich bin doch im Urlaub! Wenn ich hier keine Zeit habe, wann dann?“

Er betrachtete sie weiterhin. „Nun, manch eine allein reisende Urlauberin hat hier jeden Tag eine Verabredung …“

Sie sah ihn herausfordernd an. „Mit Ihnen vielleicht?“

Ramiro lachte auf. Das ging zwar an der Wahrheit vorbei, war aber erstaunlich schlagfertig. „Kommen Sie, lassen Sie uns etwas trinken!“, sagte er.

Lilian spürte einen Moment lang Ramiros warme Hand auf ihrer Schulter. Die Berührung fühlte sich angenehm an. Und wie schön es hier war! Die Bar war von einigen Pinien mit ausladenden grünen Kronen eingerahmt. Große Steine bildeten zudem eine natürliche Begrenzung, sodass die Anlage auch seitlich geschützt war. Die Bespannung der weißen, dekorativen Sonnenschirme knatterte leicht im Wind, und leise Klaviermusik untermalte die friedliche Szenerie. Ein Barkeeper oder weitere Gäste waren jedoch nicht zu sehen.

„Was möchten Sie trinken?“, fragte Ramiro. „Ein Gläschen Champagner vielleicht?“

Lilian nickte nur. Champagner … Es war noch nicht lange her, dass sie mit diesem köstlichen Getränk Bekanntschaft gemacht hatte.

Ramiro hantierte hinter der Bar und kam schließlich wieder zu ihr, zwei Sektflöten in der Hand. Dann stießen sie miteinander an.

Wie herrlich das in der Kehle prickelte! Lilian genoss jeden Schluck, und doch war ein Wermutstropfen mit dabei. Für Ramiro war das alles bestimmt ganz normal. Möglicherweise trank er schon zum Frühstück Champagner.

Sie hingegen erwartete in nur wenigen Tagen ein Leben, das mit dem Luxus hier nichts zu tun hatte. In London musste sie wieder ganz von vorn anfangen, als Verkäuferin mit einem bescheidenen Lohn, in einem winzigen Zimmer … Schnell verscheuchte sie die trüben Gedanken. Sollte sie den Nachmittag nicht gerade deswegen als ein ganz besonderes Geschenk ansehen?

Plötzlich bemerkte sie, dass Ramiro jede ihrer Bewegungen beobachtete. „Für dich ist Champagner etwas Besonderes, habe ich recht?“

Lilian fühlte sich kurz verunsichert, doch sie überspielte es mit einem Lachen. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass er sie durchschaute? Es war wohl sein rätselhafter Blick, der bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen schien.

Doch kaum hatte sie sich wieder im Griff, schlug Ramiro schon vor: „Ich finde, wir sollten nicht so förmlich miteinander umgehen und uns duzen. Was meinst du?“

Zu ihrer Überraschung nickte Lilian. „Das finde ich auch“, antwortete sie ein wenig überrumpelt, während er ihr immer noch in die Augen sah. Nun wurde ihr fast ein wenig schwindlig. War das schon die Wirkung des Champagners, oder hatte es mit seinem Blick zu tun, in dessen Tiefen sie zu versinken drohte?

„Nun, Lily, erzähl mir doch ein bisschen von dir. Wie lebt so eine Sprachstudentin in London?“

Oh nein! Lilian hatte eigentlich keine große Lust, sich noch tiefer in ihr Lügengespinst zu verstricken. Nun allerdings zu sagen: Ach, in Wirklichkeit bin ich nur eine Verkäuferin, das schien ihr in diesem Augenblick mehr als unpassend, und so beschloss sie, die Rolle der Lilith weiterzuspielen.

„Ich studiere an einer privaten Schule“, erklärte sie forsch. Hoffentlich folgten jetzt keine bohrenden Fragen …

Ramiro kam ins Grübeln. Er spürte genau, dass Lily etwas vor ihm verbarg, denn warum sonst ging sie auf seine Frage nicht ein? Andererseits musste es ja auch nicht sein. Hauptsache, er konnte ihre zauberhafte Gesellschaft den ganzen Nachmittag genießen, denn so ein Vergnügen gönnte er sich viel zu selten. „Wie wär’s mit einer ganz privaten Führung durch das Paradies?“, lenkte er vom Thema ab.

„Oh ja!“, rief sie begeistert.

In der nächsten halben Stunde beantwortete Ramiro gleichermaßen amüsiert wie auch verblüfft Lilys zahlreiche Fragen. Wie interessiert sie sich an der Insel und an seinem ökologischen Ansatz zeigte! Sie wollte sogar die Zisterne sehen, wo das Regenwasser für die Bewässerung des Gartens gesammelt wurde, und er erklärte ihr geduldig das nachhaltige Energiekonzept, das auf Solarstrom gründete.

Schließlich führte er sie hinunter zum Meer und zeigte ihr eine besonders schöne Stelle, wo sie einfach nur dem Rauschen der Wellen lauschten. Lily strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Begeisterung war erfrischend.

Diese Frau hat wirklich etwas ganz Besonderes an sich, dachte er.

Lilian erkannte sich selbst nicht wieder. Wann war sie jemals so energiegeladen und fröhlich gewesen? Das war wirklich wie ein Tag im Paradies. Und in ihrem Übermut schlüpfte sie immer mehr in die Rolle der Lilith, der glücklichen Sprachstudentin.

„Meine Eltern leben in einem gutbürgerlichen Vorort von London und sind beide Lehrer“, beantwortete sie Ramiros Frage nach ihrer Herkunft.

„Ein überaus interessanter und sinnvoller Beruf …“

„Ja. Ich werde ihn auch ergreifen“, erklärte Lilian so überzeugend, dass sie es fast selbst glaubte. „Doch bis es so weit ist, möchte ich noch weiterhin die Welt bereisen“, spann sie die Geschichte weiter und machte sich einen Spaß daraus, die kleine Lilith aus ihrer Kindheit nun erwachsen sein zu lassen, mit einer wunderbaren Zukunft vor Augen.

Von Ramiro erfuhr sie, dass dieses Resort und eine weitere Ferienanlage, „El Cielo Verde“, seinen Eltern gehörten.

„Und seit sie sich zur Ruhe gesetzt haben, trage ich die Verantwortung für das Management“, erklärte er abschließend.

Lilian nickte anerkennend. Beneidenswert! Wahrscheinlich würde er alles einmal erben. Er musste sich um die Zukunft bestimmt keine Sorgen machen.

„Dann kannst du dich ja glücklich schätzen“, meinte sie.

Doch statt ihr zuzustimmen, sah Ramiro sie nur schweigend an, und plötzlich schweifte sein Blick in die Ferne. Er wandte sich unvermittelt ab. Bin ich nicht glücklich? fragte er sich. Ich lebe doch im Paradies! Und mit meinem Konzept des Öko-Tourismus liege ich voll im Trend.

Etwas ratlos folgte ihm Lilian, doch als sie den Garten erreichten, hatte sie bereits ihr Gleichgewicht wiedergefunden.

„Weißt du, was hier noch fehlt?“, fragte sie keck, denn plötzlich hatte sie eine Idee. Noch bevor sie eine Antwort bekam, sprach sie einfach weiter: „Da hinten“, sie deutete auf eine große Wiese, die an einem Ende von großen Palmen beschattet wurde, „könnte ich mir einen kleinen Teich, ja ein Biotop vorstellen. Es gibt bestimmt Pflanzen und Fische, die auch hier im warmen Klima gut gedeihen. Ein Dach könnte zusätzlichen Schutz geben, und an Ort und Stelle angebrachte Tafeln müssten über die Tiere und deren Schutz Auskunft geben. Es wäre für Kinder bestimmt eine kleine Attraktion …“

Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, während Ramiro sich schweigend mit der Hand über das markante Kinn strich und abwechselnd Lilian und dann wieder die Wiese aussah. Seine Augen funkelten im hellen Sonnenlicht. Sie hielt den Atem an. Ihm hier Vorschläge zu machen, wie alles noch schöner werden könnte, war vielleicht doch etwas gewagt. Möglicherweise nahm er sie gar nicht richtig ernst.

Eine frische Brise kam auf, und Lilian begann zu frösteln. Vielleicht sollte ich die Rolle der überglücklichen Lilith, die mit beiden Beinen fest im Leben steht, nicht zu sehr übertreiben, schoss es ihr durch den Kopf. Warum tue ich das überhaupt? Auf einmal fühlte sie sich seltsam verloren.

Ramiro überlegte sich seine Antwort sehr genau. „Du bist eine bemerkenswert intelligente Frau“, sagte er geradeheraus und betrachtete Lily eingehend. Sie würde sicherlich einmal eine hervorragende Lehrerin werden. Dass sie mit ihrer hellen, zarten Haut zauberhaft aussah und ihr graziler Körper und ihr roter Mund eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausübten, verkniff er sich jedoch, ihr zu gestehen. Lediglich den Blick ließ er etwas zu lang auf ihr ruhen, bis ihm auffiel, dass sie fröstelte. Es war wohl an der Zeit, den Rundgang zu beenden. Doch so einfach würde er sie nicht gehen lassen.

„Möchtest du später noch mit mir essen gehen, Lily?“, fragte er sie deshalb. Und als sie nicht gleich darauf einging, fügte er hinzu: „Hast du überhaupt schon die schönsten Orte der Insel gesehen?“

Wieder erhellte ein Strahlen ihr Gesicht. „Nein“, sagte sie, „noch nicht. Während der letzten Tage habe ich einfach nur ausgespannt.“

„Dann wird es aber Zeit“, meinte er, und im gleichen Atemzug wusste er, dass er damit auch sich selbst meinte. Es war dringend nötig, dass er sich wieder vermehrt anderen Dingen als nur seiner Arbeit widmete. Gut, Lily war nur wenige Tage hier, und sie würde bald wieder aus seinem Leben verschwunden sein. Aber selbst wenn sie nur diesen einen Abend miteinander verbrachten, so war es doch ein erster Schritt aus seiner selbst verordneten Einsamkeit.

Dunkelheit senkte sich über die Insel, während im Westen noch rot die Wolken glühten. Lilian saß neben Ramiro auf dem Beifahrersitz mit dem unglaublich weichen Lederbezug und genoss es, von ihm chauffiert zu werden.

Von ihrem wenigen Geld hatte sie sich in letzter Sekunde noch eine hübsche, eng anliegende Jacke gekauft, die sie sich unter normalen Umständen niemals geleistet hätte. Um für heute Abend gut auszusehen, war ihr jedoch alles andere egal – auch die innere Stimme, die sie davor warnte, diesen Flirt zu weit zu treiben.

Ramiro sah blendend aus. Er trug einen wohl sündhaft teuren perlgrauen Anzug, allerdings ohne Krawatte. Stattdessen hatte er sich einen dazu passenden, fein gewebten Schal umgeschlungen, und unter seinem oben geöffneten Hemd konnte sie sein dunkles Brusthaar erahnen.

Der Duft seines herben Aftershaves machte Lilian ganz nervös. Niemals hätte sie gedacht, dass sie sich nach der Flucht aus ihrer Heimatstadt schon so bald wieder für einen anderen Mann interessieren könnte – zumal sie attraktiven und reichen Männern, zu denen sowohl George als auch Ramiro zählten, mehr als skeptisch gegenüberstand.

Was nützt mir alles Geld der Welt, wenn der Mann, dem ich mein Herz schenken wollte, mich für eine niederträchtige Diebin hält und meine Unschuldsbeteuerungen kalt zurückweist? dachte sie. Dummerweise musste sie auch jetzt immer wieder an diese tiefe Verletzung und himmelschreiende Ungerechtigkeit denken.

Es war kurz nach ihrer Versetzung in die Abteilung für Schmuck und Accessoires gewesen, da kam George – sympathisch, steinreich und Spross jener Familie, der die Kaufhauskette gehörte – in die Stadt, um sich ein Bild des Betriebs vor Ort zu machen. Er stellte sich auch ihr vor und lud sie eines Abends völlig unerwartet zum Essen ein.

Mehrere Male gingen sie gemeinsam aus, und nie gab er ihr zu verstehen, dass sie vielleicht nicht gut genug für ihn war. Sie tauschten Küsse, und zu mehr bedrängte er sie, ganz Gentleman, nicht. Sie begann sich in ihn zu verlieben und konnte ihr Glück nicht fassen, als er plötzlich sogar davon sprach, sie zur Assistentin der Geschäftsleitung zu befördern. Ein Traum schien Wirklichkeit zu werden!

Da war tatsächlich jemand, der ihr ein besseres Leben versprach! Jemand, der ihr vertraute! Jemand, der sie vielleicht liebte! Eine strahlende Zukunft schien vor ihr zu liegen. Sie schwebte auf Wolke sieben, bis George ihren Schrank in der Personalgarderobe kontrollierte und dort aus unerfindlichen Gründen Schmuck aus dem Sortiment des Kaufhauses im Wert von mehreren Hundert Pfund fand.

Vor Entsetzen hatte sie sich gegen eine Wand lehnen müssen. Es war ein einziger Albtraum gewesen. Wie vernichtend George sie angesehen hatte! Und mit was für einer Eiseskälte er sie sofort hatte fallen lassen! Nur zu gern hatte sie an all das gar nicht mehr denken wollen.

Doch trotz dieses furchtbaren Ausgangs hatte diese Geschichte wenigstens eine positive Seite: George hatte sie in so manches edle Restaurant geführt und sie mit seinem teuren Schlitten durch die Gegend kutschiert. Eine luxuriöse Umgebung war also nicht völlig neu für sie. Außerdem musste sie sich eingestehen, dass sie es aufregend fand, von einem Mann wie Ramiro hofiert zu werden. Einen Moment lang wünschte sie sich, sie könnte ewig Lilith, die künftige Lehrerin, sein, die weltgewandt war, aus gutem Hause kam und es gewohnt war, dass die interessantesten Männer sie umschwärmten. Die Verkäuferin und vermeintliche Diebin Lilian war hier fehl am Platze. Doch wie weit durfte sie dieses Spiel eigentlich treiben? Rasch verdrängte sie den Gedanken.

„Wo fahren wir hin?“, fragte sie, um mit Ramiro wieder ein Gespräch anzuknüpfen.

„Lass dich überraschen“, erwiderte er jedoch einsilbig.

Sie betrachtete sein ebenmäßiges Profil. Was mochte in ihm vorgehen? Ob er sich auf diesen Abend ebenso freute wie sie? Oder war ein solches Rendezvous einfach nur ein gewöhnlicher Zeitvertreib für ihn? Auf jeden Fall schien er keine Lust zu haben, sich mit ihr zu unterhalten.

Wenig später lenkte er den Wagen von der Hauptstraße in einen kleinen Seitenweg. In der etwas angespannten Stille schienen die Räder auf dem Kies besonders laut zu knirschen, und Lilian sah sich leicht irritiert um. Außer einer kleinen Laterne, die sie am Straßenrand sah und die mit ihrem Schein die Dunkelheit erhellte, wies nichts auf eine menschliche Behausung hin. Sie wusste nicht einmal andeutungsweise, wo sie war.

Ramiro schien ihre plötzliche Anspannung zu bemerken, denn er sagte sogleich besänftigend: „Keine Sorge. Ich führe dich nur zu einem Lokal, zu dem nicht jeder hinkommt. Es wird dir gefallen.“

Dass ihr Lächeln ziemlich verkrampft war, konnte er im Dunkeln zum Glück nicht sehen. Woher weiß er nun schon wieder, was in mir vorgeht? fragte sie sich. Es war fast so, als könnte er Gedanken lesen. Das war ebenso beunruhigend wie die Tatsache, dass Ramiro sie viel mehr beeindruckte, als gut für sie war.

3. KAPITEL

Lilian stieg aus dem Wagen und sah sich staunend um. Wie aus dem Nichts war plötzlich ein großes, verwittertes Steingebäude vor ihnen aufgetaucht. Es lag in einem Wäldchen, dessen Bäume mit Lichterketten geschmückt waren. Eine Laterne, wie Lilian sie auch an der Straße gesehen hatte, schwang leicht im Wind. Nur wenige, aber dafür umso teurere Limousinen standen auf dem Parkplatz. Gedämpfte Musik war zu hören.

Ramiro stieg ebenfalls aus und nahm, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, ihren Arm.

„Bevor wir ins Lokal gehen, sollten wir vielleicht noch eine Runde drehen“, sagte er leise und führte sie ein Stück vom Parkplatz weg.

Erst einige Meter weiter erkannte Lilian, dass sie sich auf einer Anhöhe befanden. Unter ihnen erstreckte sich das ländliche Mallorca, dessen zahlreiche Ortschaften in der rasch einsetzenden Dunkelheit wirkten wie Inseln mit leuchtenden Lichtpunkten. Über ihnen funkelte prachtvoll der weite Sternenhimmel.

Als plötzlich ein Windstoß über sie hinwegging, legte Ramiro schützend den Arm um ihre Schultern. Eine Woge von Zuneigung durchflutete Lilian, und am liebsten hätte sie sich einfach an ihn geschmiegt. Doch was passierte hier überhaupt? Immerhin kannten sie sich kaum! Wie konnten sie beieinanderstehen, als wären sie ein Liebespaar?

Als hätte Ramiro wieder einmal ihre Gedanken erraten, sagte er: „Lass uns hineingehen. Es ist kühl. Ich wollte dir nur noch schnell die wundervolle Aussicht zeigen.“

„Sie ist einfach traumhaft“, antwortete Lilian leise.

In dem Haus, das von außen recht schlicht wirkte, herrschte eine fantastische Atmosphäre. Vor ihnen tat sich ein großer Raum auf, in dem nur wenige rustikale Holztische standen. Der Boden war aus marmoriertem Naturstein, und alte Balken stützten die hohe Decke. Auf jedem Tisch befand sich ein silberner Leuchter mit einer brennenden Kerze, und um die Gedecke waren weiße und rote Rosen drapiert.

Die Wände waren mit wunderschönen Azulejos verziert, kunstvollen und dekorativen Keramikfliesen, die sich zu erstaunlichen Ornamenten zusammenfügten.

Lilian fragte sich im ersten Augenblick, ob sie in einem zünftigen Familienlokal oder einem Nobelrestaurant gelandet war.

Ramiro beobachtete, wie Lilys Augen aufleuchteten. Wie er es erwartet hatte, war sie von dem Ambiente überwältigt. Dieser Geheimtipp war für sie sicherlich ein besonderes Erlebnis, auch wenn sie – wie sie ihm ja am Nachmittag erzählt hatte – schon recht viel gereist war.

Noch immer wusste er nicht allzu viel über seine Begleiterin, aber das würde sich bald ändern. Zunächst jedoch würde sie in den Genuss bester mallorquinischer Küche und edelstem Wein kommen. Wer hier einmal gespeist hatte, vergaß diesen kulinarischen Höhepunkt nie wieder.

Er bestellte vom Teuersten, darunter eine Caldereta, einen speziellen Eintopf mit Langusten und Meeresfrüchten, der in diesem kleinen Lokal extrem verfeinert serviert wurde. Entspannt lehnte er sich zurück und betrachtete seine hübsche Begleiterin, deren feine Gesichtszüge im Kerzenlicht noch sanfter wirkten. Endlich gönnte er sich mal wieder einen erholsamen Abend.

Dabei könnte ich so etwas doch viel öfter tun, dachte er. Schließlich mangelte es ihm weder an Verehrerinnen noch an dem nötigen Kleingeld.

Seine Eltern hatten ihm bereits einen Teil des Erbes überlassen, und von seinem Gehalt konnte er problemlos eine Familie ernähren. Er besaß eine schicke Penthousewohnung in Palma und würde die beiden Ferienanlagen einmal übernehmen, unter der Voraussetzung allerdings, dass er endlich heiratete, das hatte ihm sein Vater unmissverständlich klargemacht.

Schließlich war er der einzige Sohn, und er konnte es seinen Eltern nicht verdenken, dass sie sich möglichst schnell Enkelkinder wünschten. Die Familie Cantellano musste weiterexistieren und durfte nicht einfach so von der Bildfläche verschwinden. Er wollte das ebenfalls nicht.

Doch genau das war sein Problem. Immer wieder war er mit schönen Frauen ausgegangen, und auch die eine oder andere Liebesnacht war darauf gefolgt. Doch bisher hatte er die Richtige nicht gefunden. Trotzdem war er überzeugt, dass er ihr eines Tages begegnen würde, zumal es ihm sein allseits geachteter mexikanischer Großvater prophezeit hatte. Obwohl Ramiro keineswegs abergläubisch war, hatte er das nie vergessen.

„Bis spätestens Mitte dreißig wirst du ihr begegnen. Oder du hast deine Chance verpasst“, meinte er immer wieder die Stimme des alten Mannes zu hören.

„Ich werde sie finden“, hatte Ramiro ihm fest versprochen.

In diesem Moment erschien der Kellner an ihrem Tisch, um Wein nachzuschenken. Lilian hatte sich ihre Vorspeise schmecken lassen und beobachtete, wie die Gläser mit der goldgelben Flüssigkeit im Kerzenlicht funkelten. Einen so hervorragenden Tropfen hatte sie noch nie getrunken. Die Preise dafür waren in der Karte gar nicht erst angegeben. Inzwischen hatte sie beschlossen, diesen einmaligen Abend unbeschwert zu genießen.

Doch warum war ihr Begleiter plötzlich so schweigsam? Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Der Ausdruck in seinen fast schwarzen Augen kam ihr in dem schummrigen Licht mysteriöser denn je vor.

„Warst du auch schon einmal in Mexiko?“, fragte er sie unvermittelt.

„Nein“, erwiderte Lilian, froh, dass er das Schweigen brach.

„Mein Vater kommt von dort“, sagte Ramiro. „Und Sancho, den du ja inzwischen auch kennst, ebenfalls.“

Lilian trank einen großen Schluck Wein. „Erzähl mir mehr von deiner Familie“, bat sie.

Augenblicklich schien sich Ramiros Gesicht zu verschließen. Er blickte in die tanzende Kerzenflamme, die sich hell in seinen Augen widerspiegelte.

„Meine Eltern und ich leben bereits lange hier“, begann er. „Wir sind nur eine kleine Familie, und die meisten unserer Verwandten in Mexiko sind schon tot. Mein Großvater war ein großer Seher. Seine diesbezüglichen Fähigkeiten waren weit über sein Dorf hinaus bekannt.“

„Ein Seher?“ Damit konnte Lilian nichts anfangen.

„Ja. In unserem Herkunftsland gibt es Menschen, die die Fähigkeit des Sehens besitzen“, erklärte Ramiro.

„Was soll ich mir darunter vorstellen?“, fragte sie interessiert.

Ramiro wiegte leicht den Kopf hin und her. „Na ja, es handelt sich dabei wohl um so etwas wie übersinnliche Fähigkeiten. Mein Großvater besaß zum Beispiel die Gabe, Schicksalsschläge vorherzusagen oder zu sehen, wo manche Menschen sich befanden. Er konnte auch feststellen, ob jemand die Wahrheit sagte oder log.“

Lilian beugte sich ein Stück vor und vermochte den Blick nicht von Ramiro zu lösen. Er übte in diesem Moment eine fast magische Anziehungskraft auf sie aus. Außerdem überlief ein kleiner Schauer ihren Rücken, denn es wurde ihr bei seiner Schilderung ein wenig unheimlich zumute.

„Die seherische Fähigkeit hat meiner Meinung nach etwas mit Intuition zu tun“, fuhr Ramiro fort, während er sie noch eindringlicher betrachtete. „Und ob du es mir glaubst oder nicht, ich denke, dass ich sie geerbt habe, Lilith.“ Er trank einen Schluck Wein, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.

Lilian zuckte zurück, als hätte sie einen Schlag bekommen. Warum sprach er sie plötzlich mit Lilith und nicht wie auch sonst mit Lily an? War er dahintergekommen, dass sie nicht Lilith, sondern eine andere war? Besaß er wirklich die Gabe, sie zu durchschauen? Sie hielt den Atem an, während Ramiro sie weiterhin fixierte.

Ramiro ließ die Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Als Jugendlicher war auf seine Gabe sehr stolz gewesen! Vor allem ein Ereignis war ihm besonders in Erinnerung geblieben.

Damals war ein Junge aus der Nachbarschaft plötzlich verschwunden, und Ramiro sah in derselben Nacht im Traum die Grube, in der oft Kinder spielten. Als er am Morgen seinen Vater dorthin führte, fanden sie tatsächlich den verzweifelten Jungen, der in ein Loch gestürzt war und die ganze Nacht erfolglos um Hilfe gerufen hatte.

Ramiro wurde daraufhin in seinem Dorf wochenlang als Held gefeiert, was er in seinem jugendlichen Stolz sehr genossen hatte. Doch wie wenig heldenhaft war sein späteres Verhalten gewesen!

Nun fiel ihm auf, dass Lily ihn plötzlich fast erschrocken anschaute, und eine innere Stimme sagte ihm, dass irgendetwas mit der jungen Frau nicht stimmte … nur was? Allein ihre Reaktion zeigte ihm, dass sie sich nicht ganz wohl in ihrer Haut fühlte.

„Was ist los?“, fragte er leise und beugte sich ein Stückchen vor.

„Du verfügst also auch über diese Fähigkeit?“, fragte sie heiser.

„Manchmal“, erwiderte er. „Oft ist das gar nicht so schwer. Jetzt zum Beispiel sehe ich sehr deutlich, dass du etwas durcheinander bist. Warum?“

In diesem Moment tauchte der Kellner wieder an ihrem Tisch auf und brachte neues Besteck und in einer großen, silbernen Schüssel die Caldereta. Es roch wirklich köstlich, und Ramiros hübsche Begleiterin war froh über die Unterbrechung, denn nun musste sie ihm nicht antworten.

Ramiro fragte sich jedoch, warum er gerade jetzt über Mexiko sprach. Kam es daher, weil er nur noch wenige Monate bis zu seinem viel beschworenen Geburtstag Zeit hatte und ihn die Prophezeiung seines Großvaters langsam verrückt machte? Dieser hatte noch hinzugefügt, dass es sehr schwierig sein würde, die richtige Frau auch zu erkennen. Außerdem hatte der alte Mann damals auch vorausgesagt, dass auf seinen Enkel ein großes Unglück zukomme, vor dem er sich und eine andere Person schützen müsse.

Doch wo und in welcher Gestalt ihn das Unglück ereilen sollte, hatte Ramiro nicht mehr erfahren, denn sein Großvater war kurz darauf verstorben, und wenige Monate später passierte die furchtbare Katastrophe.

Warum nur hat mich gerade an diesem verdammten Tag meine Hellsichtigkeit im Stich gelassen? fragte er sich jetzt. Er stöhnte unwillkürlich auf, während der Kellner den Hauptgang servierte und ihnen guten Appetit wünschte.

„Was ist denn los?“ Lilian, der Ramiros Veränderung aufgefallen war, sah ihn besorgt an.

Doch vor Ramiros Augen verschwamm plötzlich die helle Flamme der Kerze, und die Erinnerungen, denen er seit Jahren zu entkommen versuchte, überrollten ihn wie mächtige Wellen.

Feuer, da war Feuer …!

„Ramiro!“

Fest ballte er die Hände zu Fäusten. Einen Augenblick lang vergaß er, wo er war, zu sehr nahmen ihn die Bilder vor seinem geistigen Auge gefangen. Doch dann kehrte er in die Wirklichkeit zurück und rang sich ein Lächeln ab.

„Es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen“, sagte er beschwichtigend und griff nach seinem Löffel. Er musste endlich aufhören, sich schuldig zu fühlen!

Lilian war ernsthaft beunruhigt. Was war nur mit Ramiro los? Er hatte wie hypnotisiert in die Flamme der Kerze gestarrt und war überhaupt nicht mehr ansprechbar gewesen. Oder vernebelte ihr etwa der Wein die Wahrnehmung? Einen Moment lang schien die romantische Stimmung zu kippen.

Doch dann begannen sie zu essen, und Lilian konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor etwas derart Köstliches genossen zu haben. Bald breitete sich ein warmes und wohliges Gefühl in ihr aus, und sie wünschte sich, dass der Abend mit Ramiro niemals enden möge. Zumal ihr seine Blicke immer wieder kleine, heiße Schauer über den Rücken sandten.

Ramiro fing an, ihr etwas über die lange, traditionsreiche Geschichte Mallorcas zu erzählen. Doch Lilian hatte Mühe, ihm zu folgen, denn sie ertappte sich bei lebhaften Vorstellungen davon, wie seine markanten Lippen sich auf ihren anfühlten, wenn er sie küssen würde.

Instinktiv griff sie dabei nach ihrem schmalen, silbernen Ring, um sich an ihre wirkliche Herkunft zu erinnern und daran, dass die Begegnung mit Ramiro nur ein kurzes Urlaubsmärchen sein würde. Es war besser, es nicht zu weit zu spinnen.

Als sie wenig später das Lokal verließen und in die frische Nachtluft hinaustraten, fühlte Ramiro sich wie berauscht. Da er nur wenig getrunken hatte – schließlich musste er ja noch fahren –, konnte es nicht am Wein liegen. Nein, es lag an Lily, seiner so interessierten und begeisterungsfähigen Gesprächspartnerin.

Mit anderen Frauen hatte er oft genug erlebt, dass sie bei einem solchen Rendezvous sofort mit ihm zu flirten begannen, mit dem einen Ziel, mit ihm im Bett zu landen. Nicht, dass er etwas dagegen hatte, denn hin und wieder war so etwas durchaus schmeichelhaft. Weitaus spannender fand er es allerdings, wenn er die Frau erobern musste und sie ihn ein wenig hinhielt. So wie Lily es tat.

Und noch etwas forderte ihn an ihr heraus: ...

Autor

Jane Waters
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