Sarah Morgan Edition Band 4

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HÖHENFLUG DER LIEBE von SARAH MORGAN

Den Mount Everest bezwingen: Dieses Ziel hat sich Dr. Juliet Adams, Expertin auf dem Gebiet der Höhenmedizin, gesetzt. Sie will das vollenden, was ihr Bruder nicht geschafft hat, weil er beim Aufstieg starb. Doch bei der Expedition zum Gipfel kommt ihr nicht nur Dr. Finn McEwan, sondern auch die Liebe in die Quere …


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  • Erscheinungstag 03.02.2024
  • ISBN / Artikelnummer 8205240004
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Sarah Morgan

SARAH MORGAN EDITION BAND 4

1. KAPITEL

Kathmandu, Nepal, 1300 Meter über dem Meeresspiegel

Sie würde sterben.

Der Flug von Kathmandu zu dem winzigen Dorf Lukla dauerte nur vierzig Minuten, aber es waren die längsten und schrecklichsten Minuten ihres Lebens. Wenn es doch nur eine andere Möglichkeit gegeben hätte, diese abgelegene Region von Nepal zu erreichen …

Juliet schloss die Augen. Krampfhaft versuchte sie, an etwas anderes zu denken, an irgendetwas … nur nicht an die Wolken und an die Berge, die darin verborgen lagen. Gelegentlich erhaschte sie einen Blick auf die schroffen Felsen tief unter sich. Jedes Mal fühlte sie Panik.

„He, Doc …“ Der bärtige Mann, der neben ihr saß, lehnte sich zu ihr hinüber. „Du siehst ja mächtig blass aus. Ist mit dir alles in Ordnung?“

„Ja, sobald wir wieder gelandet sind.“

„So schlimm ist es?“ Er lachte überrascht auf. „Man sagt von dir, du hättest Schneid und starke Nerven.“

Juliet hielt die Augen krampfhaft geschlossen. „Meinen Schneid habe ich wohl in Kathmandu gelassen. Wenn du hinfliegen und ihn holen willst, okay. Ich jedenfalls habe dieses Flugzeug heute zum ersten und zum letzten Mal benutzt.“

Die zweimotorige Cessna hatte sechzehn Sitzplätze. Im Moment wünschte sich Juliet nichts sehnlicher, als dass sie keinen Platz mehr in der Maschine bekommen hätte.

Auf dem Flughafen von Kathmandu hatten sich eine Menge Leute danach gedrängelt, noch mitzukommen, aber eine Handvoll Rupien hatte dafür gesorgt, dass schließlich alle Mitglieder ihres Kletter- und Trekkerteams an Bord gehen konnten. Juliet eingeschlossen.

Wäre ich doch nur einen Monat früher aufgebrochen – zu Fuß!

Neil lachte leise. „Wir landen gleich.“

„Willst du mich damit etwa beruhigen?“ Juliet öffnete ein Auge und warf ihm einen finsteren Blick zu. „Wir wissen doch beide, in welchem Zustand die Landebahn in Lukla ist.“

Juliet mochte Neil Kennedy. Sie waren gemeinsam in den Alpen geklettert und auch schon im Himalaya. Er hatte sich als sympathischer und zuverlässiger Teamkollege erwiesen. Stets blieb er ruhig und konzentriert und hatte dank dieser Eigenschaften auch kritische Situationen problemlos gemeistert.

„Gibt es dort tatsächlich eine Landebahn?“ Neil tat überrascht.

„Sehr witzig!“

„Aber du hast Recht – das ist eine ziemlich großzügige Bezeichnung für die staubige, holperige Piste, die am Ende in einen steilen Felsabhang übergeht.“

„Großartig, dass du mich ausgerechnet jetzt daran erinnerst.“

„Du warst letztes Jahr doch schon hier. Dann kennst du ja die Verhältnisse.“

„Deshalb halte ich ja meine Augen geschlossen.“ Sie lehnte sich zurück. „Wie geht es den anderen Leuten aus dem Team? Musste sich jemand übergeben?“

Vier Trekker, zwei junge Männer und zwei Frauen, hatten sich ihnen angeschlossen und würden sie bis zum Basiscamp am Fuße des Mount Everest begleiten. Juliet kannte keinen von ihnen und wusste nicht, ob sie Erfahrung mit den Bedingungen in der dünnen Höhenluft hatten.

Neil drehte sich kurz um. „Die beiden Jungs versuchen, cool zu wirken, aber eine der jungen Damen sieht ziemlich blass aus, und die andere starrt wie gebannt aus dem Fenster. Sie weiß nichts von dem Zustand der Landepiste. Ich wette, in zehn Minuten ist sie genauso grün um die Nase wie du. Aber alle scheinen ihr Frühstück bei sich behalten zu haben.“

„Gut.“ Juliet war froh, dass sie sich nicht auch noch um die anderen kümmern musste. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. „Ich hatte bisher keine Gelegenheit, sie besser kennenzulernen. Hast du den Eindruck, dass sie durchhalten werden?“

„Bis zum Basiscamp?“ Neil setzte sich bequemer hin und zuckte die Schultern. „Wer weiß – die Höhe stellt eine enorme körperliche Herausforderung dar, wie du mir immer wieder erklärt hast. Jedenfalls sind sie bestens ausgerüstet und freuen sich auf das, was vor ihnen liegt. Und sie haben eine Menge Geld für die Ehre bezahlt, mit Dr. Juliet Adams auf eine Trekkingtour gehen zu dürfen.“

Er machte eine Pause. „Du giltst als die größte Expertin für Höhenmedizin, und deshalb glauben sie wahrscheinlich, du könntest übers Wasser wandeln. Wenn was schiefgehen sollte, nehmen sie an, dass du das mit deinen magischen Kräften umgehend in Ordnung bringst.“

Trotz des ironischen Untertons in Neils Stimme öffnete Juliet nicht die Augen. Im Moment fühlte sie sich nicht als Expertin für was auch immer – ihr Interesse galt nur ihrem Magen, den sie mühsam unter Kontrolle hielt. „Okay, hoffen wir, dass sie vom ersten Teil der Reise beeindruckt sind.“

„Klar – aber wahrscheinlich wundern sie sich, wie eine Frau, die so offensichtlich unter Flugangst leidet, im letzten Jahr auf den Mount Everest klettern konnte.“

„Leider nicht bis zum Gipfel“, meinte Juliet bedauernd. „Ich musste umkehren nach Camp III. Das Wetter war einfach zu schlecht. Und einer der anderen Kletterer hatte ein ernsthaftes Problem mit der Lunge. Ich musste ihn zum Basislager zurückbegleiten.“

Juliet war schwer enttäuscht gewesen. Hätte sie es bis zum Gipfel geschafft? Diese Frage nagte seitdem an ihr. „Es geht mir immer gut, solange ich festen Boden unter den Füßen habe. Fliegen dagegen finde ich einfach widernatürlich.“

„Für die meisten Menschen ist es unbegreiflich, wieso jemand auf den Everest klettern will“, bemerkte Neil trocken und schaute aus dem Fenster. „Ich frage mich immer wieder, was ein nettes Mädchen wie dich dazu bringt, dich auf solche Abenteuer einzulassen. Du solltest zu Hause sein, für einen Mann sorgen und Kinder großziehen.“

„Soll das ein Antrag sein?“

Neil nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Dann grinste er. „Wenn ich meinte, ich hätte auch nur die Andeutung einer Chance, hätte ich dir schon vor Jahren einen Antrag gemacht, mein Schatz. Aber meine Tochter, die nur unwesentlich jünger ist als du, würde wohl aus dem Staunen über ihren Vater nicht herauskommen. Und meine Frau wäre wahrscheinlich auch nicht begeistert.“

Juliet lehnte sich hinüber und küsste ihn auf die Wange. „Wie könnte ich einen Mann heiraten, der ständig herumreist, mindestens ein halbes Jahr von zu Hause weg ist und in den unwegsamsten Bergen dieser Erde herumkraxelt? Aber es gibt niemand, den ich lieber als Partner in meinem Team hätte. Und dieses Jahr werden wir unser großes Ziel erreichen – den Gipfel.“

Der Mount Everest.

Der höchste Berg der Welt.

Ihr Ziel.

„Warum?“ Neil ließ ihre Hand los und sah sie neugierig an. „Warum will eine junge, attraktive Frau wie du unbedingt da oben rauf?“

Juliet spürte tief in ihrem Inneren ein beunruhigendes Gefühl. Ja, sie hatte ganz spezielle Gründe, auf den Everest zu steigen. Ganz persönliche Gründe.

„Du redest wie einer dieser Reporter.“ Sie gab sich Mühe, ihre Stimme locker und fröhlich klingen zu lassen.

„Und was erzählst du den Journalisten, wenn sie dich so etwas fragen?“, wollte Neil wissen.

Juliet zuckte die Schultern. „Kommt darauf an, wie meine Stimmung gerade ist. Bin ich schlecht drauf, sage ich so etwas wie ‚Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten‘. Manchmal erkläre ich ihnen auch, dass solche Expeditionen wichtig für mich sind, um praktische Erfahrungen in der Höhenmedizin zu sammeln.“ Sie drehte sich um und lächelte Neil an. „Ich liebe es, meine Grenzen auszutesten.“

„Leider! Weißt du eigentlich, wie viele Menschen schon bei dem Versuch, den Everest zu besteigen, umgekommen sind?“

Sie spürte, wie sich in ihrem Inneren etwas verkrampfte.

Und ob, das wusste sie.

„Neun Prozent von denen, die es versuchen, kommen nicht zurück“, erwiderte sie leise. „Aber warum hältst du ausgerechnet mir diesen Vortrag? Du willst doch selbst hinaufsteigen. Und ich habe nicht mal eine Familie, die Angst um mich hätte.“

Das sollte auch so bleiben.

„Hattest du deshalb nie eine Beziehung? Über dein Privatleben redest du ja grundsätzlich nicht.“ Er sah sie neugierig an. „Bist du ledig geblieben, weil du einen so risikoreichen Beruf hast?“

„Jetzt klingst du tatsächlich wie ein besonders neugieriger Journalist.“ Juliet kramte in ihrer Handtasche nach einem Bonbon, um die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen. „Ich warne dich. In solchen Fällen sage ich demjenigen, er soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.“

„Jedenfalls bin ich froh, dass du für die medizinische Versorgung des Teams zuständig bist.“ Neil zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Irgendwie beruhigend zu wissen, dass du mir den Schweiß von der Stirn wischst, wenn ich vor Erschöpfung nicht weiter kann. Mund-zu-Mund-Beatmung wäre übrigens auch nicht übel.“

„Vielleicht werde ich ja diejenige sein, die vor Erschöpfung zusammenbricht. Höhenärzte sind keineswegs gegen die Höhenkrankheit immun, wie du weißt.“ Juliet warf einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster und wurde wieder blass. „Wir landen gleich. Hoffen wir, dass wir zu Fuß auf den Berg steigen – und nicht mit dem Flugzeug in ihn hineinkrachen.“

An die Klippe am Ende der Landepiste wollte sie überhaupt nicht denken.

„In diesem Jahr wollen ein paar starke Kletterteams versuchen, den Everest von der Südostflanke aus zu besteigen. Da gibt es ein kleines erfahrenes Team aus Spanien. Und ein außergewöhnlich stark eingeschätztes Team aus Neuseeland. Das dritte – es sind US-Amerikaner – hat gleich eine Filmcrew mitgebracht. Der Aufstieg wird in allen Einzelheiten gefilmt.“

„Wenn du mir Angst machen willst, kann ich dir sagen, dass du damit keinen Erfolg haben wirst“, entgegnete Juliet. Sie schloss wieder die Augen und dachte an den Traum, der immer stärker von ihr Besitz ergriffen hatte.

Everest.

Das große Abenteuer begann. Zuerst mussten die fünfunddreißig Meilen bis zum Basiscamp in einem mühsamen Fußmarsch zurückgelegt werden. Das Camp würde für die nächsten Wochen ihr Zuhause sein.

***

Lukla, am Fuß des Himalaya, 2850 Meter über dem Meeresspiegel

Das Dorf war winzig, kaum mehr als eine Ansammlung von ein paar armseligen Hütten entlang eines kleinen Flüsschens in dem Tal unterhalb der Schotterpiste. Als das Flugzeug schlingernd und holpernd zum Stillstand kam, eilten von allen Seiten Dutzende Nepalesen herbei, um die Maschine zu entladen.

Juliet zog die Baseballkappe tief in die Stirn und vergrub die Hände in den Taschen ihrer Militärhose. Aufmerksam verfolgte sie, wie Kisten und Ballen aus dem Laderaum gehoben wurden. Sie überzeugte sich kurz, ob ihre medizinische Ausrüstung die Reise unbeschadet überstanden hatte. Ihren scharfen, aufmerksamen grünen Augen entging nichts.

Neben den technischen Ausrüstungsgegenständen gehörten auch große Körbe mit Gemüse, lebende Hühner, gerollte Teppiche und eine Menge anderer Dinge zur Ladung. Sie achtete genau darauf, dass alles sorgfältig, je nach seinem Verwendungszweck, in getrennten, übersichtlichen Haufen zusammengelegt wurde.

Monate hatte sie damit verbracht, die Ausrüstung für eine Expedition auf den höchsten Berg der Welt zusammenzustellen, und wollte sicher sein, dass nicht schon vor Beginn des Abenteuers etwas verloren gegangen war.

Die Sonne brannte jetzt gegen Mitte April mit großer Kraft vom Himmel. Aber Juliet wusste, dass die Temperatur schlagartig abstürzen würde, sobald die Sonne unterging. Nachts wurde es bitterkalt.

Erst als sie sicher war, dass nichts fehlte und die ganze Ausrüstung die Reise ohne Schaden überstanden hatte, entspannte sich Juliet. Sie fühlte sich unbehaglich und verschwitzt und sehnte sich nach einer Dusche.

Und dann sah sie ihn.

Er stand ein wenig abseits von den Trekkern und den anderen Bergsteigern, die mit der Maschine gekommen waren. Den zerknitterten Hut hatte er tief über die Augen gezogen. Unter dem Hutrand hervor musterte er Juliet.

Juliet erwiderte seinen Blick.

Welche Frau wäre da nicht neugierig geworden?

Er hatte ungewöhnliche breite Schultern. Seine athletische Figur strahlte Kraft und Selbstsicherheit aus. Gleichzeitig wirkte er vertrauenerweckend und arrogant. Der geborene Führer, dem andere bereitwillig folgten. Ein harter und kompromissloser Mann, der sich in dieser rauen Umgebung zu Hause zu fühlen schien.

Aber Juliet spürte auch die Gefahr, die von ihm ausging, eine Gefahr, der sie unbedingt aus dem Wege gehen wollte.

Einen Moment lang stockte ihr der Atem. Aber, so beruhigte sie sich gleich, das lag wohl weniger an dem intensiven Blick seiner dunklen Augen als an der Höhe, an die sie sich noch gewöhnen musste.

Neil folgte ihrer Blickrichtung. „Das ist Finn McEwan, eine Art Legende. Er hat so gut wie alle hohen Gipfel der Erde bestiegen, aber der Everest scheint für ihn etwas Besonderes zu sein. Hier hat er ein paar bemerkenswerte Stunts vollbracht.“

Er nickte anerkennend. „Vor zwei Jahren hat er seinen Hals riskiert, um einen Verletzten über die Südflanke aus dem Berg zu holen. Im Jahr davor rettete er eine Gruppe von Kletterern, die von einer Lawine verschüttet worden waren. Ein imponierender Mann. Merkwürdig, dass du ihn nicht kennst.“

Juliet antwortete nicht. Sie schaute wie gebannt auf den Mann auf der anderen Seite der Piste. „Ich habe alles über ihn gelesen“, entgegnete sie mit heiserer Stimme. „Und im Fernsehen habe ich Interviews mit ihm gesehen. Ich …“

Neil fasste nach ihrem Arm. „Das ist nicht dasselbe wie eine persönliche Begegnung. Es wird Zeit, dass ihr beide euch kennenlernt. Komm mit.“ Er zog Juliet hinter sich her. „Ich stelle ihn dir vor. Er ist das männliche Gegenstück zu dir – ebenfalls Arzt, Bergsteiger, ehrgeizig und erfahren wie du. Und ihr seid beide ledig.“ Neil lachte leise. „Was für ein Zufall.“

Juliet fühlte plötzlich Panik in sich aufsteigen, aber bevor sie sich wehren konnte, hatte Neil sie auf die andere Seite der Landepiste gezogen. Im nächsten Moment stand sie dem Mann gegenüber.

„Finn.“ Neil begrüßte den Mann mit einem Schlag auf die Schulter, der eine gewisse Vertrautheit signalisieren sollte. Dann drehte er sich zu Juliet um.

„Diese atemberaubende Frau ist Dr. Juliet Adams, Finn. Lass dich nicht dadurch täuschen, dass sie so blutjung aussieht. Sie ist eine der Besten in unserem Geschäft. Komisch, dass ihr einander noch nicht begegnet seid. Ihr klettert auf dieselben Berge, habt dieselben Klienten, und außerdem weiß ich, dass du eine hübsche Frau nicht so einfach übersiehst, Finn.“

Juliet war rot geworden bei dieser unerwarteten Einführung durch Neil. Finn McEwans Gesicht zeigte keine Regung, aber er warf einen nachdenklichen Blick auf ihre geröteten Wangen.

„Dr. Adams.“ Er streckte die Hand aus. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sie zu ergreifen. Starke Finger schlossen sich um ihre Hand. Der Kontakt ließ ihren Pulsschlag in die Höhe schnellen.

Finn schien völlig entspannt. Seine Stimme war tief und ruhig. „Ich habe Ihre letzte Abhandlung über die Auswirkung von Höhenklima auf Asthma gelesen. Ihre Schlussfolgerungen sind sehr interessant. Sind Sie aktuell mit einem neuen Forschungsvorhaben beschäftigt? Was führt Sie in diesem Jahr zum Everest?“

Juliet zögerte eine Sekunde. „Ich will auf den Gipfel.“

Sie sah ein Flackern in seinen Augen, die weiter fest auf sie gerichtet waren, die sie aber jetzt wachsam musterten.

„Sie sollten bei Ihren Forschungen bleiben.“ Seine Stimme klang leise und beherrscht. „Oder als Ärztin im Basiscamp. Jedenfalls sollten Sie nicht in die Felsen hinaufsteigen.“

Selbstbewusst hob sie das Kinn, um zu zeigen, dass sie seinen Rat nicht brauchte. „Und warum meinen Sie das, Dr. McEwan?“

Er sah sie an und schwieg eine ganze Weile. „Sie wissen, warum.“

Plötzlich lag eine fühlbare Spannung in der Luft. Ihre Blicke bohrten sich ineinander.

Sie merkte, wie ihr Magen revoltierte und ihr Puls losraste. Innerlich fluchte sie, weil sie gegen die Gefühle, die sie zu überwältigen drohten, machtlos war.

„Ich wünschte, ich hätte Zeit genug, um mit Ihnen über die Frage ausführlich zu diskutieren, ob Frauen auf den Everest gehören oder nicht, Dr. McEwan. Aber ich habe noch viel zu tun, da wir gleich los müssen.“ Ihr Tonfall war kühl, formell und drückte nichts anderes aus als distanzierte Höflichkeit. „Wir wollen vor Einbruch der Dunkelheit unser Quartier im Dorf erreichen.“

Sie drehte sich zu Neil um. „Heute Nacht werden wir unten im Tal bleiben. Da fällt das Atmen leichter.“

„Ja, schon klar.“ Neil runzelte die Stirn. „Aber ich dachte …“

„Wir müssen jetzt wirklich los“, unterbrach Juliet ihn. Pass auf, du fängst an, dich zu wiederholen! Sie warf den Rucksack über die Schulter und nickte Finn McEwan zu. „Wir sehen uns dann im Basiscamp, nehme ich an.“

„Ich gehe davon aus, dass wir uns schon vorher wiedersehen.“ Seine tiefe Stimme war immer noch ganz ruhig, doch Juliet entging nicht der Unterton, über den sie lieber nicht nachdenken wollte. „Unsere Gruppe wird denselben Weg nehmen wie Sie mit Ihren Leuten, Dr. Adams. Es sieht also ganz danach aus, als ob wir noch Gelegenheit hätten, abends am Lagerfeuer zusammen ein Yak-Steak zu essen.“

Ihr Blick blieb ganz kühl. „Ich glaube kaum. Es war nett, sie zu treffen, Dr. McEwan.“ Sie drehte sich um und ging zu den vier Trekkern ihrer Gruppe hinüber. Dabei vermied sie es, sich noch einmal umzuschauen, denn sie wusste, dass Finns wachsame Augen weiter auf sie gerichtet waren.

„Also, was hatte das eben zu bedeuten?“ Neil schien ziemlich fassungslos.

Juliet sah ihn an. „Dein Dr. McEwan hat offenbar Probleme damit, dass Frauen den Everest besteigen.“

Neil zog die Brauen zusammen. „Das glaube ich nicht. Ich weiß, dass er eine ganze Reihe von Expeditionen geführt hat, bei denen auch Frauen dabei waren. Finn McEwan schätzt das weibliche Geschlecht …“

Juliet blieb stehen. „Dann hat er vielleicht nur etwas gegen Blondinen?“

Neil schüttelte den Kopf. „Jetzt begreife ich gar nichts mehr. Du bist einer der offensten und kommunikativsten Menschen, die ich kenne. Wenn du sonst mit einem anderen Arzt zusammentriffst, kannst du gar nicht aufhören, mit ihm zu diskutieren. Finn ist Arzt. Und er ist einer der besten Experten auf eurem gemeinsamen Fachgebiet. Du dagegen tust so, als hätte er eine ansteckende Krankheit.“

Juliet antwortete nicht. Sie nahm die Wasserflasche aus der Seitentasche ihres Rucksacks und trank einen großen Schluck. In der sauerstoffarmen, trockenen Höhenluft war es besonders wichtig, ausreichend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Außerdem gewann Juliet dadurch ein paar Sekunden Zeit zum Überlegen.

„Vielleicht war ich nur nicht in der Stimmung, lang und breit darüber zu diskutieren, ob Frauen auf einen Achttausender klettern sollten.“ Ihr entging nicht, dass Neil sie fassungslos anstarrte.

„Neil, es wird Zeit, dass wir uns um unsere Leute kümmern.“

Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Du triffst den ungekrönten König der Berge und denkst an nichts anderes als unseren Fußmarsch?“ Er kratzte sich hilflos am Kopf. „Du bist die erste Frau, die von Finn nicht hingerissen ist. Normalerweise liegen ihm alle gleich zu Füßen. Er ist Mr. Super-cool, ein echter Held.“

Juliet stopfte die Wasserflasche zurück in ihren Rucksack. „Ich habe keinen Bedarf an Helden. Sagen wir einfach, Dr. Finn McEwan ist nicht mein Typ.“

„Aber du kennst ihn doch gar nicht.“

Sie dachte an diese faszinierenden Augen und den intensiven Blick, mit denen er eine Frau im Handumdrehen in seinen Bann schlagen konnte. Und sie dachte an sein unerschütterliches Selbstvertrauen und seine Männlichkeit. „Ich weiß alles von ihm, was ich wissen muss.“

Sally, eine der beiden jungen Frauen aus ihrer Trekkergruppe, kam auf Juliet zu. „Puh, das war ein Flug! Und erst die Landung! Ich hatte eine Heidenangst.“ Sie wollte sich offensichtlich unterhalten. „Stimmt es, dass man es in nur drei Tagen zum Basiscamp schaffen kann?“

Neil gab Juliet mit den Augen ein Zeichen, Sally abzuwimmeln. Aber die Trekker hatten für eine Tour mit der bekannten Höhenärztin eine ganze Menge Geld bezahlt. Das gab ihnen das Recht, Fragen zu stellen. Außerdem würde die Unterhaltung mit Sally sie davon abhalten, an Finn zu denken.

„Das sollten Sie nur in Erwägung ziehen, Sally, wenn Sie riskieren wollen, dass die Unternehmung schon nach ein paar Tagen für Sie zu Ende ist. Von heute an werden Sie jeden Tag schmerzhafter die Folgen der Höhe, der dünnen Luft, zu spüren bekommen. Wenn Ihr Körper nicht langsam an den Sauerstoffmangel gewöhnt wird, werden Sie leiden und bald nicht mehr weiter können.“

Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: „Hier oben genügt ein einziger Tag, an dem man zu schnell marschiert oder zu rasch aufsteigt – und es ist alles vorbei. Heute beim Abendessen werde ich Ihnen und Ihren Freunden erklären, was Sie in den nächsten Tagen beachten müssen, um nicht höhenkrank zu werden.“

Aus der Gruppe der einheimischen Helfer hatte sich ein Mann gelöst und kam auf sie zu. Er strahlte Juliet an, die ihm erfreut die Hand schüttelte. „Pemba Sherpa! Ich freue mich, dich zu sehen.“ Sie drehte sich zu Sally um. „Er wird uns zum Basiscamp führen.“

Sie kannte den Sherpa von früheren Expeditionen. Er würde von nun an für die Zelte und die Ausrüstung von Juliets Gruppe verantwortlich sein. Sie begann, mit ihm auf Englisch über den Transport ihrer Ausrüstung, vor allem ihrer medizinischen Geräte, zu sprechen. Alles würde auf den Rücken von Yak-Ochsen geladen werden, die gerade in einer langen Reihe, mit Stricken hintereinander gebunden, auf die Landepiste geführt wurden.

Juliet sah zu, wie die einheimischen Helfer den kleinen, stämmigen Tieren mit dem langen, zotteligen Fell Decken überwarfen und dann Holzgestelle auf den Rücken befestigten. Auf die Gestelle wurden die Kisten und Ballen gepackt und festgezurrt. Juliet fragte sich, ob die Last für die Tiere nicht zu schwer sei, aber die Yaks nahmen es gleichgültig hin und schienen kein Problem damit zu haben.

Juliet sah den Männern schweigend zu. Ihr langes blondes Haar fiel ihr über den Rücken. „Wir werden heute Nacht in dem Gasthaus in dem Dorf bleiben, das ein Stück tiefer unten im Tal liegt“, erklärte sie Sally. „Dort ist die Luft nicht ganz so dünn.“ Den Weg und die einzelnen Stationen zum Basiscamp hatte sie sorgfältig mit ihrem Expeditionsleiter Billy geplant, der sie dort erwarten würde.

Das Einzige, womit sie nicht gerechnet hatte, war eine Begegnung mit Finn McEwan. Seine Anwesenheit hatte Erinnerungen in ihr wachgerufen, die sie sofort verdrängte.

Im Basiscamp würde er sie nicht weiter stören. Sie würden alle vollauf mit den Vorbereitungen ihrer Klettertouren beschäftigt sein. In der Saison, die jetzt begann, tummelten sich in dem Camp auf dem Eis bis zu sechshundert Besucher aus aller Welt.

Sally trat zu Juliet. „Ich kann noch gar nicht glauben, dass ich hier bin. Der Himalaya. Davon habe ich jahrelang geträumt.“

Wie Juliet erwartet hatte, fiel die Temperatur rasch unter null, als die Sonne hinter den Bergen verschwand. Sie zog einen dicken Pullover aus ihrem Rucksack. „Die Luft hier oben ist so trocken, dass sie keine Wärme speichern kann. Sowie die Sonne weg ist, beginnt es sofort zu frieren.“

Sally zog ebenfalls einen Pullover über. Juliet bemerkte, dass die junge Frau ein wenig nach Luft rang. War sie nicht fit genug? Oder lag es an der Aufregung? War es eine erste Auswirkung der Höhenlage? Juliet beschloss, Sally sorgfältig im Auge zu behalten.

Die Gruppe folgte einem Pfad entlang eines kleinen Flusses hinab ins Tal, überquerte eine Hängebrücke aus Stahlseilen und Holzbohlen und kam schließlich bei dem winzigen Gasthaus an, in dem sie die Nacht verbringen würden.

Ein paar Leute saßen noch vor der Hütte, hatten die Füße auf den Tisch gelegt und tranken Cola aus Dosen. Juliet kannte einige von ihnen und begrüßte sie. Dann trat sie mit Sally in die Gaststube, in der lange Holzbänke aufgestellt waren. Juliet gab Sally ein Zeichen, ihr die Treppe zum ersten Stock hinauf zu folgen.

„Wir werden uns einen Platz suchen, auf dem wir unsere Schlafsäcke ausbreiten können. Die Sherpas werden bald mit den Yaks hier eintreffen. Achten Sie morgen früh darauf, dass Sie nur das Notwendigste in Ihren Rucksack packen. Alles andere tragen die Yaks. Halten Sie Ihr Marschgepäck so leicht wie möglich.“

Sally schaute sich interessiert um. „Wie baut man solch ein Haus hier mitten im Gebirge, wo kein Baum und kein Strauch mehr wächst?“

„Jedes Stück Baumaterial wird von Sherpas auf dem Rücken von Yaks heraufgeschafft. In den nächsten Tagen werden Sie sehen, dass überall entlang des Weges zum Basiscamp solche Gasthäuser entstanden sind, um der wachsenden Zahl der Trekker und Kletterer Unterkunft und Verpflegung zu bieten. Leider sind die hygienischen Verhältnisse oft miserabel. Wenn wir noch höher hinaufkommen, gibt es keine festen Häuser mehr. Dann kampieren wir in Zelten.“

Sie winkte Sally zu. „Kommen Sie, wir gehen zu den anderen und sehen zu, dass wir etwas zu essen bekommen.“

2. KAPITEL

Zum Abendessen gab es Sardinen aus der Büchse und Pommes frites. Danach bat Neil die Mitglieder ihrer Trekkergruppe in eine Ecke der Gaststube. In der anderen, nahe einem brennenden Kamin, saß Finn McEwan mit zwei Begleitern.

In dem Moment, als Juliet ihn bemerkte, sah er hoch. Ihre Blicke trafen sich. Juliet musste sich einen Ruck geben, um ihren von ihm loszureißen. Sie wandte sich ihrer Gruppe zu. Es ließ sich nicht ändern, dass Finn dort saß und zuhörte, wenn sie ihrer Gruppe erklärte, was sie in den nächsten Tagen erwartete. Also beschloss sie, einfach so zu tun, als ob er nicht da sei.

„Morgen liegt ein fünfstündiger Marsch vor uns, bis zum nächsten Dorf, Namche Bazaar.“ Juliet faltete die Karte auseinander, um den anderen die Lage des Dorfes und die Route dorthin zu zeigen.

„Das ist sozusagen der letzte Außenposten der Zivilisation. Es mag Ihnen nicht weit entfernt erscheinen, aber es ist wichtig, dass Sie sich den Marsch gut einteilen und vor allem langsam gehen. Auf dieser Höhe wird jeder, der noch nicht ausreichend angepasst ist, sehr schnell müde. Und wenn Sie erst einmal erschöpft sind, ist der Trekk für Sie zu Ende. Kennen Sie das Märchen vom Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel? Jedenfalls, hier oben gewinnt immer der Igel.“

Einer der Männer lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das brachte seinen beeindruckenden Bizeps besonders gut zur Geltung. „Okay, wir sind alle topfit und gut vorbereitet.“ Er lächelte ironisch. „Ich versichere Ihnen, Sie werden mit keinem von uns Probleme haben.“

Ziemlich anmaßend, dachte Juliet.

Sie sah ihn und seine Muskeln, auf die er so stolz war, eine Sekunde lang an und überlegte, ob sie ihn jetzt sofort zurechtstutzen oder lieber abwarten sollte, bis er in den nächsten Tagen auf einen Bruchteil seiner eingebildeten Größe zusammenschrumpfte. Sie entschied sich für Letzteres.

Der Name des jungen Mannes war Simon. Sie hatte schon einige Male mit solchen Typen zu tun gehabt. Machos. Versessen darauf, sich selbst und anderen zu beweisen, wie toll sie waren.

Sie war sicher, er würde schon bald nach Luft schnappend am Wegrand hocken. Natürlich würde er leugnen, in Schwierigkeiten zu sein. Sie musste auf ihn aufpassen, damit sein Zusammenbruch nicht zu rasch kam und das ganze Unternehmen in Gefahr brachte.

„Es gibt nur ein Mittel, das Ihnen hilft, sich an die Höhe zu gewöhnen – und das ist die Höhe selbst.“ Sie hatte Simon bei diesen Worten angeschaut, wandte sich dann aber wieder an die anderen.

„Wenn wir noch höher hinaufkommen, werden wir immer zu zweit in Zelten schlafen. Im Camp erwarten Sie dann die Sherpas mit heißem Tee. Trinken Sie so viel Tee, wie Sie können. In dieser Höhe brauchen Sie sehr viel Flüssigkeit, damit Ihr Körper nicht zu stark austrocknet.“ Juliet lächelte. „Der schwarze Tee, den man hier bekommt, ist vielleicht nicht ganz nach Ihrem Geschmack. Er ist scharf und ziemlich aggressiv für den Magen. Fast jeder bekommt zuerst Sodbrennen davon. Wenn es gar nicht anders geht, nehmen Sie Kräutertee.“

Juliet zeigte wieder auf die Karte. „Am ersten Teil des Vormittags folgen wir dem Pfad am Fluss entlang. Ein paar Mal müssen wir auf schmalen Hängebrücken den Fluss überqueren. Etwas später beginnt dann der Anstieg, und Sie werden zum ersten Mal die Auswirkung der Höhenlage zu spüren bekommen.“ Sie hob den Kopf und schaute Simon an. „Ich wiederhole es noch einmal – gehen Sie langsam und gleichmäßig.“

Simon lächelte sie vielsagend an. „Ich gehe gern langsam und gleichmäßig zu Werke, sofern die Gegebenheit es erfordert. Wenn ich Ihnen das beweisen soll, Doc, müssen Sie es nur sagen.“

„Du benimmst dich abscheulich, Si“, warf Sally ein. Sie beugte sich über die Karte. „Kann man hier denn schon höhenkrank werden? Ich dachte, dazu müsste man viel weiter hinauf.“

Juliet beschloss, Simons anzügliche Bemerkung nicht zu kommentieren. Aber ein Blick auf sein Gesicht sagte ihr, dass die vor ihnen liegenden Tage schwierig werden könnten.

„Jeder Mensch zeigt körperliche Reaktionen auf die Höhe, auch auf diese hier. Sie werden nachts öfter aufwachen als gewöhnlich. Ihr Atemrhythmus wird sich verändern. Während des Marsches werden sie anfangen, unter Atemnot zu leiden. Und sie müssen häufiger Wasser lassen als sonst.“

„Noch ein Grund mehr, auf Kräutertee zu verzichten“, warf Simon ein und sah sich beifallheischend um.

Juliet warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Sie konnte solche arroganten Schnösel nicht ausstehen. Und es ging ihr gegen den Strich, wie abschätzend er sie musterte.

Als sie zufällig zu Finn hinüberschaute, stellte sie verblüfft fest, dass er Simon mit einem kalten, gefährlichen Blick ansah. Sie biss sich auf die Lippen. Was hatte ihn so wütend gemacht?

„Und diese Auswirkungen sind normal?“, wollte Sally wissen.

„Die Atemnot, die jeden Tag stärker wird, ist der Effekt, den Sie zuerst spüren. Das ist ein wesentlicher Vorgang bei der Anpassung Ihres Körpers an die Höhe. Ihre Lungen müssen mehr arbeiten, um genügend Sauerstoff aufzunehmen. Und das geschieht durch schnelleres Aus- und Einatmen.“

„Weil die Luft weniger Sauerstoff enthält.“

„Richtig, Sally.“

Der andere junge Mann, Gary, trank eine Flasche des in dieser Gegend hergestellten Gebräus mit Namen Chang. Juliet warf ihm einen Blick zu. „Dieses Zeug kann ziemlich viel Alkohol enthalten. Hoffentlich bereuen Sie morgen nicht, dass Sie es getrunken haben. Es ist besser, Alkohol und Medikamente, die den Körper belasten, zu vermeiden.“

Simon starrte auf die Flasche Chang, die vor ihm stand. „Kein Alkohol und jede Menge Kräutertee. Warum zum Teufel habe ich mich auf diesen Trip eingelassen?“

Sally warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Halte doch um Gottes willen endlich den Mund, Simon.“

Juliet beantwortete noch eine Reihe von Fragen, die die Mädchen stellten. Dann wünschte sie allen eine gute Nacht.

Sie wollte endlich allein sein. Simon war ja nicht zu ertragen.

Also überließ sie die Gruppe sich selbst, zog ihre gefütterte Jacke an und ging ins Freie. Draußen band sie den Schal fest um den Hals, denn es herrschte eine empfindliche Kälte.

Einen Moment stand sie still da und fühlte die Kälte auf ihrer Haut wie ein Prickeln. Unten im Tal rauschte der Fluss.

Sie ging ein paar Schritte, setzte sich auf einen großen Steinbrocken und schlang die Arme um die Knie.

„Dieser Trekker in Ihrer Gruppe wird noch Ärger machen“, sagte plötzlich eine tiefe Stimme neben ihr. Sie erschrak und fragte sich, warum sie den großen Mann, der neben ihr stand, nicht hatte kommen hören.

Es war Finn McEwan.

Sie schaute in sein hageres, scharf geschnittenes, faszinierendes Gesicht und merkte, dass ihr Herz schneller schlug. Diese unerwartete Reaktion war ihr überhaupt nicht recht. „Danke für die Warnung. Aber ich weiß, wie man mit arroganten, anmaßenden Typen umgeht. Simon wird schon vernünftig werden, wenn er merkt, dass das Höhenklima ihm mehr abverlangt, als er glaubt.“

Finn McEwan schwieg ein paar Sekunden. „Ich meinte nicht seine körperliche Verfassung, obwohl wir beide ganz genau wissen, dass antrainierte Muskeln hier oben nicht viel wert sind.“

Finns Tonfall war ganz sachlich. „Ich meinte seine anzüglichen Bemerkungen und sein Verhalten Ihnen gegenüber. Wenn Sie das nicht bemerkt haben, hätte ich mich in Ihnen getäuscht. Eine Frau, die den Everest besteigen will, sollte ein Gespür für drohende Schwierigkeiten haben. Und dieser Mann wird ein Problem werden.“

Juliet fühlte sich unbehaglich. Aber das wollte sie auf gar keinen Fall zugeben. „Ich werde schon mit ihm fertig“, sagte sie, stand auf und steckte die Hände tief in die Taschen ihrer Jacke. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Dr. McEwan.“

Es störte sie, dass er so dicht neben ihr stand, und sie hätte es vorgezogen, wenn er in die Hütte zurückgehen würde.

„Denken Sie an meine Worte“, riet er. „Und sagen Sie Neil, er soll immer in Ihrer Nähe bleiben.“

Plötzlich fühlte sie sich verunsichert, doch sie kämpfte dagegen an. „Ich brauche keinen Leibwächter, um einen Mann auf Distanz zu halten.“

Finn McEwan sah sie lange an. „Beruhigen Sie sich. Ich will Ihnen doch keine Vorschriften machen. Es war ein gut gemeinter Rat unter Kollegen, sonst nichts.“

Juliet fand, das Gespräch nahm eine falsche Richtung. „Ich werde schon allein damit fertig, Dr. McEwan. Und wir sind keine Kollegen. Wir sind zwei Fremde, die sich zufällig hier getroffen haben, weil sie denselben Berg besteigen wollen.“

Sein Blick war unverwandt auf sie gerichtet. „Auf dem Berg, der unser Ziel ist, sind wir alle Kollegen, alle Mitglieder eines einzigen, großen Teams. Das Schicksal jedes Einzelnen von uns ist untrennbar mit dem der anderen verbunden“, entgegnete er leise. Er trat auf sie zu, bis er nur noch Zentimeter von ihr entfernt stand. „Das bringt mich zu meiner nächsten Frage, Dr. Adams. Was zum Teufel wollen Sie hier?“

Juliet wich einen Schritt zurück. „Wie bitte? Genau dasselbe wie Sie, Dr. McEwan. Ich verbinde mein Interesse an neuen Erkenntnissen in der Höhenmedizin mit meiner Begeisterung für das Klettern.“

Er stand regungslos vor ihr, ein großer, starker Mann. Neben ihm wirkte Simon wie ein unreifer Teenager.

„Den Everest zu besteigen ist keine alltägliche Klettertour.“

Juliet hob herausfordernd ihr Kinn. „Stört es Sie vielleicht, Dr. McEwan, dass eine Frau dasselbe Ziel hat wie Sie? Sollten Ihrer Meinung nach Frauen zu Hause bleiben, kochen und stricken und die Kinder hüten, während der Mann auf die Jagd geht?“

Finn schaute sie nachdenklich an. „Jeder Mensch sollte das tun, was er tun möchte“, antwortete er schließlich.

„Was stört Sie also daran, dass eine Frau den Everest besteigen will?“

„Es geht nicht um ‚eine Frau‘, sondern um Sie. Ich frage mich, ob das wirklich Ihr eigener Wunsch ist oder ob es einen anderen Grund dafür gibt. Also noch einmal meine Frage, Dr. Adams – warum sind Sie hier?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„So?“ Sein Blick bohrte sich in ihren. „Berge sind unbarmherzig und verzeihen nichts. Heute lassen sie einen Mann sich stark und unbesiegbar fühlen – morgen machen sie ihn zu einem wimmernden Schwächling. Berge zwingen die Menschen, große Risiken auf sich zu nehmen, und fordern einen hohen Preis, oft genug den höchsten Preis. Ist es das, was Sie wollen?“

„Ich gehe nie ein unkalkulierbares Risiko ein, Dr. McEwan.“

Er verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln. „Schon dass Sie hier sind, ist ein Risiko. Aber das wissen Sie so gut wie ich. Sie und wir alle laufen hier täglich Gefahr, verletzt oder sogar getötet zu werden.“

„Vielleicht haben wir unterschiedliche Definitionen für das, was wir als Risiko ansehen. Ich zum Beispiel nenne es Leben.“

Sie holte tief Atem und richtete ihre grünen, im Halbdunkeln funkelnden Augen auf ihn. „Und was die Gefahr angeht, verletzt zu werden – diese Gefahr besteht überall, egal, wo man sich aufhält. In der Stadt könnten Sie jederzeit von einem Auto überfahren werden, eine Treppe hinunterfallen oder von einem Einbrecher erschossen werden.“

Sie fröstelte und schlang die Arme um den Körper. „Mir ist kalt, Dr. McEwan. Ich gehe wieder hinein. Gute Nacht.“

Finn trat einen Schritt zur Seite. „Gute Nacht, Dr. Adams. Schlafen Sie gut.“

Sie wusste, dass sie wahrscheinlich kaum schlafen würde. Und er wusste es auch.

Finn McEwan stand noch eine Weile in der Dunkelheit und schaute ihr nach. Das Letzte, was er von ihr sah, bevor die Tür sich hinter ihr schloss, war das lange, blonde Haar, das ihr wie ein goldenes Vlies über den Rücken fiel.

Der Mann in ihm registrierte ihre sanften, weiblichen Formen, die zarte Haut und die grünen Augen, die so verführerisch aufblitzen konnten.

Der Arzt in ihm stellte fest, wie zierlich sie war. Er bezweifelte, dass sie über genügend Körpersubstanz verfügte, um einen Aufstieg auf den Everest durchstehen zu können. Jeder Mensch verlor in dieser Höhe in nur drei Monaten rund fünfzehn Prozent davon. Und er verstand mehr als genug von weiblicher Anatomie, um zu dem Schluss zu kommen, dass Dr. Adams sich einen Substanzverlust in dieser Größenordnung auf keinen Fall leisten konnte.

Würde sie es auf den Gipfel des Everest schaffen? Er bezweifelte es.

Zieh dich hoch, Jules, zieh dich hoch!

Juliet war acht Jahre alt. Zu Tode erschrocken, klammerte sie sich an dem Felsvorsprung fest, während ihr großer Bruder von oben mit einem aufmunternden Grinsen zusah.

Daniel Adams. Ein Draufgänger, wild und waghalsig. Für sie war Daniel ein Vorbild. Ihr Bruder war sechs Jahre älter als sie. Er kannte keine Furcht, niemals. Sie selbst konnte in diesem Moment vor Angst kaum atmen. Verzweifelt krallte sie sich mit den Fingerspitzen in schmalen Rissen fest und merkte, wie ihre Finger anfingen, taub zu werden.

Gleich würde sie loslassen. Und abstürzen.

„Du wirst nicht fallen – und wenn, dann halte ich dich mit dem Seil.“ Die Stimme ihres Bruders klang ungeduldig. „Nicht nach unten schauen. Konzentriere dich. Schau zu mir nach oben. Gib dir Mühe, Jules. Du bist schließlich meine Schwester.“

Trotz ihrer Panik fühlte sie einen kurzen Moment lang ungeheuren Stolz.

Kein steiler Felsen, kein tiefer Abgrund stellten für sie einen größeren Ansporn dar als die Anerkennung oder ein Lob ihres Bruders. Sie durfte nicht abstürzen. Das hieße, sie hätte versagt. Und niemand in ihrer Familie hatte jemals versagt.

Jeder in ihrer Familie war furchtlos, waghalsig und lehnte sich leidenschaftlich gegen jede Form von Alltagsroutine und Konventionen auf.

Sie schloss die Augen und versuchte, nicht an den Abgrund unter sich zu denken.

Sie verdrängte, dass Klettern ihr immer Angst gemacht hatte und dass große Höhen ihr den Magen umdrehten.

Sie kletterte höher.

Sie konzentrierte sich auf die aufmunternden Gesten ihres Bruders. Er lächelte – er lächelte immer. Und er lächelte auch noch, als er eine Sekunde später ausglitt und an ihr vorbei kopfüber in die Tiefe stürzte.

3. KAPITEL

Juliet wachte schweißgebadet auf. Ihr Herz hämmerte in einem heftigen Stakkato. Der Albtraum hatte sie aufgeschreckt, sie zitterte und war verstört.

Aufrecht blieb sie im Dunkeln auf ihrem Schlafsack sitzen und schlang die Arme fest um ihre Knie. Das gab ihr ein Gefühl von Halt, das sie jetzt brauchte, um sich wieder zu beruhigen.

Sie atmete langsam und tief durch und überlegte, was der neue Tag bringen würde. Obwohl sie jetzt vollständig wach war, konnte sie die Dämonen der Vergangenheit nicht ganz aus ihrem Kopf verscheuchen.

Diesen Traum hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt. Warum jetzt?

Warum heute Nacht?

Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie griff nach der Wasserflasche in ihrem Rucksack und trank in großen Schlucken.

O doch, sie wusste, warum. Natürlich wusste sie es.

Sinnierend schraubte sie die Wasserflasche wieder zu und legte sich hin. Sie wusste, sie würde in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden.

Aber das war nur gut so. So konnte der Traum sie wenigstens nicht erneut in Panik versetzen.

Trotz ihrer Angst, der Albtraum könnte zurückkommen, nickte Juliet ein und wurde gegen sechs Uhr morgens wach. Sie fror und hatte starke Kopfschmerzen.

War das der Stress, oder waren es die ersten Anzeichen der Höhenkrankheit?

Sie legte die Wolldecken zusammen und steckte sie mit dem Schlafsack in eine feste Stofftasche. Die Sherpas würden alles auf die Yaks laden. Dann ging sie nach unten, wo die anderen bereits frühstückten. Sie hoffte, sie hätten eine angenehmere Nacht verbracht als sie selbst.

Das Frühstück bestand aus Omelett mit gebratenem Speck. Juliet entging nicht, dass Gary und Simon ziemlich angeschlagen aussahen. Die Mädchen dagegen machten einen recht munteren Eindruck.

Es war dringend notwendig herauszufinden, in welchem körperlichen Zustand die beiden Männer tatsächlich waren. Sonst war vielleicht die ganze Expedition gefährdet.

Juliet beschloss, sie sich einzeln vorzunehmen. Vielleicht verzichteten sie dann auf ihr Machogehabe und gaben ehrliche Antworten.

Nach dem Frühstück packten alle ihre Sachen zusammen und gaben sie den Sherpas, die sie auf den Rücken der Yaks luden. Jeder behielt nur einen kleinen Rucksack für Verpflegung, Wasser und die notwendigsten Kleidungsstücke.

Sie verabschiedeten sich von den Gastgebern und machten sich zum Abmarsch bereit. Neil würde vorangehen, Juliet sollte am Ende der Gruppe dafür sorgen, dass der Abstand etwaiger Nachzügler zu den anderen nicht zu groß wurde. Sie hoffte, dass sie in Ruhe nachdenken und ihre heftigen Kopfschmerzen in den Griff bekommen könnte.

Aber sie hatte sich geirrt.

„Guten Morgen, Dr. Adams“, erklang eine tiefe Stimme, die sie sofort erkannte. Finn McEwan. Er sah ausgeruht und munter aus. Und beunruhigend attraktiv. Auf seinem Gesicht waren Bartstoppeln zu sehen. Heute trug er nur ein T-Shirt, das seine breiten Schultern und kräftigen Muskeln sehen ließ. Er wirkte unglaublich fit und stark.

Juliet selbst fühlte sich müde und zerschlagen. Jeder Schritt würde eine Qual für sie sein.

Sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. „Ich nehme an, Sie sind schneller“, meinte sie.

Er sah sie aufmerksam an. „Sie sehen blass aus, Dr. Adams. Hatten Sie eine schlechte Nacht?“

Sie erinnerte sich lebhaft an ihren Albtraum. Und an den Tod ihres Bruders. „Ich habe gut geschlafen, danke“, log sie. „Und Sie selbst?“

„Großartig, wie ein Bär.“ Er schaute sie besorgt an. „Vielleicht sollten Sie noch einen Tag länger hier unten bleiben, wenn Sie Probleme mit der Höhe haben.“

„Die Höhe macht mir nichts aus“, erwiderte sie kurz angebunden. „Die bin ich gewöhnt.“

„Das heißt, etwas anderes ist der Grund. Wollen Sie darüber reden?“

„Worüber sollte ich mit Ihnen reden wollen?“

Er wartete einen Augenblick, dann seufzte er. „Offensichtlich über nichts.“

„Richtig.“ Sie lächelte ihn strahlend an, auch wenn es sie fast ihre letzte Energie kostete. „Es freut mich, dass Sie so gut in Form sind, Dr. McEwan. Sie werden lange vor uns im nächsten Dorf sein. Werden die Mitglieder Ihrer Gruppe noch zu Ihnen aufschließen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, wir treffen uns erst im Basiscamp. Insofern kann ich Ihnen anbieten, bei Ihrer Gruppe zu bleiben. Das bedeutet im Bedarfsfall zwei Hände mehr.“ Er streifte seine Jacke über.

O nein, dachte sie. Nur das nicht. „Wir kommen schon allein zurecht“, lehnte sie kühl ab. „Wir werden es heute ganz langsam angehen lassen. Also lassen Sie sich durch uns nicht aufhalten.“

Aber wenn sie erwartet hatte, er würde seinen Schritt beschleunigen und ihre Gruppe überholen, hatte sie sich getäuscht.

Er blieb neben ihr und passte sich ihrem Tempo an.

Plötzlich kam Sally auf sie zu. „Oh, Dr. McEwan.“ Ihre Wangen hatten sich vor Aufregung gerötet, als sie ihn sah. „Ich habe vor unserer Reise Ihr Buch über die Höhenkrankheit gelesen. Und auch Ihr Buch über das Klettern. Beide sogar zweimal.“

Juliet fand Sallys Heldenverehrung reichlich übertrieben, aber Finn McEwan lächelte amüsiert. „Danke für das Kompliment.“

„Wollen Sie dieses Mal den Gipfel besteigen, Dr. McEwan? Oder arbeiten Sie an einem neuen Forschungsvorhaben?“

„Beides, hoffe ich.“ Finn lächelte freundlich. „Berge haben die Eigenschaft, einem manchmal die Entscheidungen abzunehmen. Wir können sie nur besteigen, wenn sie es erlauben.“

Es war noch sehr früh. Und kalt. Unten im Tal glitzerte der Raureif, als sie vorsichtig den abschüssigen Weg in Angriff nahmen. Das türkisfarbene Wasser des Flusses schoss gurgelnd und schäumend über die Felsbrocken.

Als Finn ein paar Schritte vorausging, seufzte Juliet erleichtert auf.

„Das Wasser des Flusses tritt weiter oben aus dem Gletschertor aus“, erklärte sie Sally. „Es ist eiskalt.“

Ein paar Hundert Meter weiter überquerten sie den Fluss auf einer schmalen, schwankenden Hängebrücke.

Als die Sonne höher stieg, wurde es wärmer, und die Mitglieder der Gruppe entledigten sich der dicken Pullover.

„Ich habe wirklich eine Menge gelesen über Ihre Arbeit, Dr. Adams, und auch über Dr. McEwans Forschungen“, erzählte Sally. „Ich fand schon sein Foto auf der Rückseite seines Buches beeindruckend. Aber in Wirklichkeit sieht er noch viel besser aus, finden Sie nicht auch? Wissen Sie, dass er aus einer sehr reichen Familie stammt? Er kann seine ganzen Expeditionen selbst finanzieren – letztes Jahr in die Antarktis und dieses Jahr zum Mount Everest. Er ist reich, sieht blendend aus und hat eine Traumfigur. Und er ist noch ledig. Ist das zu glauben?“

Juliet antwortete nicht und tat so, als konzentriere sie sich auf den Weg.

Ja, sie verstand das. Sie war auch ledig – aus Überzeugung. Was sollte einen Mann wie ihn, der nie länger als ein paar Wochen am selben Ort war, daran reizen, eine feste Beziehung einzugehen oder gar zu heiraten? Aber es fiel ihr schwer, nicht an Finn McEwans männliche Ausstrahlung zu denken.

Sally schaute sie neugierig an. „Wenn Sie nicht auf hohe Berge klettern, arbeiten Sie dann irgendwo als Ärztin?“

„Ja. Mal hier, mal dort als Urlaubs- oder Krankheitsvertretung. Das ist mir lieber als ein fester Job. Es gibt mir mehr Freiheit. Einem Arbeitgeber beizubringen, dass man in jedem Frühjahr drei Monate Urlaub haben möchte, ist nicht ganz einfach.“

„Aber Sie wollen doch nicht immer so leben, oder? Eines Tages werden Sie doch bestimmt heiraten und sich irgendwo häuslich niederlassen.“

Juliet wich Sallys Blick aus. „Um ehrlich zu sein, kann ich dem Gedanken, lange oder für immer an ein und demselben Ort zu bleiben, nichts abgewinnen. Außerdem muss eine Frau nicht unbedingt verheiratet sein.“

Ein Gedanke fuhr ihr durch den Kopf, aber sie schob ihn beiseite. Sie brauchte das Gefühl, jeden Tag ihren Koffer packen zu können und gehen zu können, wann sie wollte und wohin sie wollte – ohne irgendjemandem gegenüber Rechenschaft darüber ablegen zu müssen.

Der Weg führte tiefer hinab ins Tal, vorbei an Rhododendronbüschen, an vom Wind zerzausten Fichten und Kiefern. Wenig später überquerten sie wieder den Fluss und betraten den Sagarmartha Nationalpark.

Bei einem Wachposten hielten sie an. Neil begann mit den uniformierten Wächtern über den Preis für die Passierscheine zu verhandeln. „Was soll der ganze Unfug?“, murrte Simon, als er sah, wie umständlich die Wächter alle Papiere prüften.

„Passierscheine zu verkaufen ist ihr Geschäft. Davon leben sie“, erklärte Neil. „Niemand darf den Nationalpark betreten, bevor er bezahlt hat. Sie überwachen den Weg durch den Park mit versteckten Kameras. Nicht weit von hier ist eine große Militärbasis.“

Schließlich waren die Uniformierten mit dem Ergebnis ihrer Verhandlungen zufrieden. Die Gruppe wurde zum Weitergehen aufgefordert.

Neil zeigte in die Richtung, die sie einschlagen würden. „Von jetzt an geht es stetig bergauf. Wir machen gleich eine Pause, um zu essen und zu trinken. Dann marschieren wir weiter. Ich kann Ihnen garantieren, dass Sie von dort oben eine fantastische Aussicht haben.“

Die Sonne war inzwischen hoch gestiegen, und es wurde so warm, dass Juliet alles bis auf ein T-Shirt auszog und die feste Militärhose gegen eine bequemere Shorts austauschte.

Die kleine Karawane zog über eine eiserne Brücke, die in einer Höhe von vierzig Metern über dem schäumenden Fluss die beiden Ufer verband. Danach ging es ständig bergauf, bis sie das Sherpa-Dörfchen Namche Bazaar erreichten.

Neil verlangsamte das Tempo an der Spitze. Juliet hielt sich zurück und beobachtete aufmerksam, ob einer der Trekker Mühe hatte mitzukommen.

Hinter einer Biegung bot sich plötzlich ein atemberaubender Blick auf den Mount Everest. Sally blieb fasziniert stehen und holte ihre Kamera heraus.

„Ich kann es noch gar nicht glauben, dass ich ihn endlich vor mir sehe“, staunte sie atemlos.

Juliet starrte schweigend zu dem gigantischen Berg hinüber. Sie fragte sich, was er für sie an Überraschungen bereithielt.

Welche Dramen würden sich in diesem Jahr auf seinen Flanken, seinen Gletschern abspielen? Würde er auch in diesem Jahr wieder Menschenleben fordern?

Sally verstaute die Kamera in ihrem Rucksack. „Auf dem Gipfel liegt ja gar kein Schnee.“

„Der Gipfel des Everest ragt in den Jetstream“, erklärte Juliet. „Dieser Luftstrom, der die ganze Erde umspannt, bläst ständig mit einer Geschwindigkeit von bis zu einhundertfünfzig Stundenkilometern. Dabei kann sich kein Schnee auf dem Gipfel halten. Und der Jetstream macht auch fast das ganze Jahr über eine Besteigung des Gipfels unmöglich.“

Juliet warf einen unruhigen Blick auf den Gipfel, das nackte, schwarze Stück Fels, das so vielen Bergsteigern bereits zum Verhängnis geworden war. Sie fühlte plötzlich eine unsichtbare, dunkle Bedrohung.

„Nur im Mai“, fuhr sie fort, „wenn die warmen Winde, die den Monsunregen bringen, auf diese Höhe steigen, öffnet sich ein kurzes Zeitfenster, in dem man den Aufstieg wagen kann. Deshalb drängen sich um diese Jahreszeit die Kletterteams aus aller Welt am Fuße des Everest. Sie wollen den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen.“

„Ich habe mal gelesen, dass es für jeden gut trainierten Mann ganz einfach sei, ihn zu besteigen“, mischte sich Simon ein, der unbemerkt herangekommen war.

Juliet sah ihn kalt an. „Die meisten Leute, die den Everest unterschätzt haben, bezahlten dafür mit ihrem Leben“, entgegnete sie leise. Sie hob ihren Rucksack hoch. „Also, dann weiter.“

Sie wäre lieber ohne Begleitung gegangen, um Zeit zum Nachdenken zu haben, aber Simon blieb an ihrer Seite.

„Dr. Adams“, fragte er mit einem anzüglichen Lächeln, „was hält Ihr Freund eigentlich von Ihrem ungewöhnlichen Beruf?“

Er wollte auf den Busch klopfen.

Juliet war es gewohnt, Fragen nach ihrem Privatleben, die oft von neugierigen Journalisten gestellt wurden, mit entwaffnendem Charme zu beantworten. „Mein Freund ist mit seinem Kampfsport- und Boxtraining selbst hinreichend beschäftigt“, erwiderte sie fröhlich. „Wir haben da keine Probleme.“

Simon runzelte ungläubig die Stirn. „Wenn Sie zu mir gehörten, würde ich Sie keine Sekunde aus den Augen lassen.“

„Dann ist es ja nur gut, dass Sie nichts zu sagen haben.“ Sie nickte Simon zu und wartete auf Sally, die etwas zurückgeblieben war. „Alles in Ordnung?“

Sally atmete tief durch. „Ja, alles in Ordnung.“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich bin nur nicht so schnell wie die anderen.“

„Denken Sie daran, was ich gesagt habe – Schnelligkeit ist hier oben kein Vorteil. Sie halten sich gut, glauben Sie mir.“

Juliet verlangsamte ihren Schritt und blieb an Sallys Seite. Sie versuchte, sie abzulenken und aufzuheitern, während sie gemächlich den Weg hinaufgingen.

Neil und die drei anderen Trekker waren schon längst in Namche Bazaar, als Juliet und Sally schließlich mit zwei Stunden Verspätung eintrafen.

„Das sieht ja aus wie ein Amphitheater“, stellte Sally fest und schaute staunend auf die Hütten, die sich in einer ovalen Nische vor einer hoch aufragenden Felswand zusammendrängten.

„Das Dörfchen hat einiges zu bieten, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht“, meinte Juliet. „Hier gibt es eine Bäckerei, Kunsthandwerk und jeden Samstag einen großen Markt.“

„Den würde ich gern besuchen. Geht das?“

„Morgen legen wir einen Ruhetag ein.“ Juliet lächelte. „Ich empfehle Ihnen und Ihren Freunden aber, am Morgen zusammen mit Neil ein paar Kilometer weiter nach oben zu steigen und dann wieder umzukehren. Das hilft dem Körper, sich an das Höhenklima zu gewöhnen. Hinterher werden Sie immer noch Gelegenheit haben, sich auf dem Markt umzuschauen.“

Sie führte Sally die schmalen Gassen zwischen den Steinhütten entlang, bis sie den Gasthof erreichten, in dem sie übernachten würden.

Neil und die anderen saßen schon in der Gaststube und tranken heißen Tee – außer Simon, der eine Flasche Bier in der Hand hielt.

Finn McEwan kam zu ihnen herüber. Sein kantiges Gesicht war schwarz von Bartstoppeln. Juliet fand, er sah männlicher und attraktiver aus, als es erlaubt sein sollte.

Er schaute sie an – und einen langen Augenblick hakten sich ihre Blicke ineinander.

Sally nahm mit einem tiefen Seufzer den Rucksack von den Schultern. „Wir haben es auch geschafft, Leute“, sagte sie, noch etwas außer Atem. „Besser spät als gar nicht.“

„Wir hatten schon gedacht, wir sehen euch nicht wieder“, meinte Simon mit einem abschätzigen Lächeln.

„Ich hoffe, Sie haben sich heute nicht zu sehr verausgabt“, meinte Juliet zu den drei Trekkern, die mit Neil gegangen waren. „Bitte sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie starke Kopfschmerzen bekommen.“

Simon hielt die Flasche Bier hoch und grinste die anderen an. „Ich würde mich nur wundern, wenn ich morgen früh keine Kopfschmerzen hätte, da ich ganz sicher noch ein paar Flaschen Bier trinke.“

Finn runzelte die Brauen. „Sie sollten mit dem Alkoholkonsum sehr vorsichtig sein.“ Simon schaute ihn missbilligend an und hob die Flasche, um einen kräftigen Zug zu nehmen.

„Und wenn ich nicht auf Ihren Rat höre?“

Finn antwortete ihm nicht. Neil verdrehte die Augen und verzog sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln. „Das sollten Sie besser, Simon. Sonst tut es Ihnen morgen vielleicht leid.“

Das Abendessen wurde von drei Mädchen in traditioneller Sherpa-Tracht serviert. Gleich nach dem Essen zogen sich Diane und Sally in den Schlafraum zurück. Gary und Simon blieben sitzen und bestellten mehr Bier.

In der Gaststube war Juliet es zu stickig und verqualmt. Sie stand auf und trat auf die kleine Veranda hinaus. Simon schien nur auf diese Gelegenheit gewartet zu haben. Er erhob sich ebenfalls und folgte ihr.

Zudringlich legte er den Arm um Juliets Schultern. „Es ist großartig hier. Und Sie sind eine tolle Frau, Dr. Adams.“

Seine Aussprache war schon etwas undeutlich vom Alkohol. Juliet versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, und machte einen Schritt zur Seite. Aber er griff noch fester zu und zog sie an sich.

„Wie wär’s mit einer netten kleinen Urlaubsromanze?“, murmelte er mit schwerer Zunge. Er nahm Juliets Gesicht in beide Hände und versuchte, sie zu küssen.

Juliet stieß ihn zurück. „Lassen Sie das!“

Er ließ sie los und stolperte zurück. „Wenn Sie meinen, so werden Sie mich los, haben Sie sich geirrt. Ich mag Frauen, die widerspenstig sind.“ Er wollte wieder nach ihr greifen, aber eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn zurück.

Finn McEwan. „Haben Sie nicht verstanden?“, fragte er in einem liebenswürdigen Tonfall, der im Widerspruch stand zu seinem grimmigen Gesichtsausdruck. „Dr. Adams hat Nein gesagt.“

Simon versuchte, Finns Hand abzuschütten. „Und was geht Sie das an? Sie haben wohl selbst ein Auge auf sie geworfen.“

Finn sah ihn voller Verachtung an. „Sie gehen jetzt am besten nach oben und legen sich schlafen.“ Mit eisiger Stimme fügte er hinzu: „Und vergessen Sie morgen früh nicht, sich zu entschuldigen.“

Simon schwankte leicht und warf einen unruhigen Blick auf Finn McEwans breite Schultern. Dann zuckte er die Schultern und kehrte wortlos zurück in die Hütte.

Es hatte angefangen zu schneien. Inzwischen war es bitterkalt geworden. Finn trat zu Juliet. „Jules, du solltest darauf achten, in was für einer Gesellschaft du dich aufhältst.“

Ihr Herz klopfte wie wild, und das nicht nur wegen des unerwarteten Vorfalls mit Simon. „Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen.“ Aber ihre Stimme zitterte leicht. Finn sah sie nachdenklich an und schaute dann zur Hütte hinüber. „Offensichtlich nicht so gut, wie du meinst.“

„Finn.“ Juliet schob eine Haarsträhne zurück. „Danke für deine Hilfe, aber ich komme wirklich allein zurecht. Du musst nicht auf mich aufpassen.“

Seine tiefblauen Augen hielten ihren Blick fest. „Solange du die Absicht hast, auf jenen Berg dort zu klettern, werde ich auf dich aufpassen.“ Er holte tief Luft. „Steig bitte nicht hinauf, Jules.“

Sie war überrascht, dass er plötzlich das Thema wechselte. „Wie bitte?“

„Tu es nicht.“ Seine Stimme war tief und vibrierte vor Spannung. „Bleib im Basiscamp und mache dort deinen Job als Ärztin. Versuche nicht, dort hinaufzusteigen.“

„Aber du willst auf den Gipfel, nicht wahr?“

„Das ist etwas anderes.“

„Weil du ein Mann bist – und ich nur eine Frau?“

Er schwieg einen Moment lang. „Nein. Deshalb nicht.“

„Warum dann?“

In seinen Augen war ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte. „Verrate mir bitte, wie lange du vorhast, diese Komödie, wir würden einander nicht kennen, noch durchzuhalten?“ Seine Stimme klang ausdruckslos, fast gleichgültig. „Wie lange sollen wir uns noch so benehmen, als seien wir uns fremd?“

Ihr Herz schlug bis zum Hals. Schnell schaute sie sich um. Sie waren allein. „So lange, wie die Expedition dauert. Was einmal war, ist vorbei. Seit zehn Jahren. Wir sind uns wirklich fremd geworden, Finn.“

Er sah die roten Flecken auf ihren Wangen. „Jules.“ Seine Stimme war ganz weich. „Ich kenne dich so gut, wie ein Mann eine Frau nur kennen kann. Jede deiner Gesten, jede Bewegung. Ich weiß, wie dein Körper reagiert, ich weiß, wie du denkst. Und ich weiß, was dich ängstigt und was dich antreibt.“

Sie spürte, wie sie zu zittern begann, und schlang die Arme um die Brust, als ob sie sich vor ihm schützen müsste.

Sie wollte nicht daran erinnert werden, was einmal gewesen war.

Es war zu schmerzlich.

Und sie wollte nicht daran denken, welche Gefühle Finn damals in ihr geweckt hatte.

„Das ist Vergangenheit, Finn. Und so wird es bleiben. Ich will nicht mehr darüber reden.“ Sie hatte die Erinnerung tief in ihrem Gedächtnis vergraben und wollte sie dort ruhen lassen.

„Und warum nicht?“ Finn streckte die Hand aus und hob mit dem Finger ihr Kinn an. „Hast du Angst vor mir? Fürchtest du, ich könnte mich rächen wollen?“

Sie wurde kreidebleich. „Das ist so lange her. Ich war erst achtzehn.“

Jung. Erschreckt. In Panik …

„Und das reicht dir als Erklärung aus?“

Plötzlich fühlte sie sich schuldig. „Es tut mir leid … ich wollte nicht …“ Sie brach ab.

Finn zog fragend eine Augenbraue hoch. „Du hast was nicht gewollt, Jules?“ Seine Stimme klang völlig ruhig. „Du wolltest mich nicht ohne ein Wort der Erklärung allein vor dem Altar stehen lassen? Und mich nicht fast wahnsinnig vor Angst werden lassen, weil ich fürchtete, dir sei etwas Schlimmes zugestoßen?“

Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Ihr wurde schmerzhaft klar, was damals geschehen war, was sie ihm zugemutet hatte. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie. „Was müssen unsere Freunde, unsere Gäste gedacht haben?“

„Glaubst du wirklich, ich hätte mich auch nur einen Deut darum geschert, was die anderen dachten?“ Er ließ den Arm sinken und trat einen Schritt zurück. „Ich wollte nur eines wissen – was mit dir passiert war. Sonst nichts.“

Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Ich konnte dich nicht heiraten. Es ging einfach nicht.“ Sie atmete schwer. „Ich wusste plötzlich, es war falsch, was wir taten. Völlig falsch.“

„Es war falsch, dass wir heiraten wollten?“ Er schaute sie entgeistert an. „Dieser Meinung bin ich ganz und gar nicht.“

„Doch, es wäre ein Fehler gewesen.“ Juliet wich vor ihm zurück. „Es hätte nie mit uns funktioniert.“

Autor

Sarah Morgan
<p>Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 21 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen.</p>
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