Sarah Morgan Edition Band 9

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DER VERSUCHUNG SO NAH

Der Liebe geht Ally aus dem Weg. Auch Sean, ihren attraktiven Kollegen, hält sie auf Abstand. Doch er folgt ihr ungefragt auf eine Bergtour. Während des Ausflugs zieht ein Unwetter auf und Ally muss sich mit Sean ein Zelt teilen – heftige Gefühle brechen sich Bahn!

WIE EIN STERN IM DUNKEL DER NACHT

Nichts kann den berühmten Architekten Lucas Jackson ablenken von dem Schmerz in seinem Inneren. Und so zieht er sich mitten im Winter auf seinen Landsitz zurück, um allein zu sein. Da taucht überraschend seine Assistentin Emma auf. Kann ihre Wärme die Erstarrung in ihm lösen?

DIE UNSCHULD DER ROSE

Nur Milliardär Rafael Cordeiro kann Grace Thackers Unternehmen jetzt noch retten! Als sie ihn auf seinem Anwesen in Brasilien besucht, macht er ihr ein Angebot, das ebenso unverschämt wie gefährlich prickelnd ist: Rafael will sie unterstützen – allerdings nur, wenn sie seine Geliebte wird ...


  • Erscheinungstag 21.12.2024
  • Bandnummer 9
  • ISBN / Artikelnummer 8205240009
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Sarah Morgan

1. KAPITEL

Ally fror.

Gestern Abend, als sie es sich mit heißem Kakao vor dem flackernden Kaminfeuer gemütlich gemacht hatte, war ihr eine Bergwanderung noch verlockend erschienen. Die Einsamkeit. Die Belebung. Balsam für die Seele, Balsam, den sie sich selten verschaffen konnte. Außerdem hatte der Wetterdienst einen klaren, schönen Tag verheißen …

Ally zog sich die Mütze tiefer über die Ohren, um sie vor dem pfeifenden Wind zu schützen, und verwünschte die Nebelschwaden. Warum ließ man den Wetterfröschen ihre Irrtümer immer wieder durchgehen? Eine derartig falsche Prognose – und sie wäre stellungslos gewesen!

Sie steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus. Ein Pelzknäuel kam aus dem Nebel auf sie zugeschossen und hielt schwanzwedelnd vor ihr an.

„Das war keine gute Idee, Hero“, meinte Ally und hauchte in ihre Hände, um sie zu wärmen. „Warum siehst du eigentlich so vergnügt aus? Ich befinde mich bereits im Stadium gefährlicher Unterkühlung. Lass uns umkehren.“

Sie strich dem Hund über den Kopf, machte auf dem Absatz kehrt und blieb wie angewurzelt stehen. Hero begann zu knurren.

„Hast du auch etwas gehört?“ Ally lauschte angestrengt, aber der Laut wiederholte sich nicht. Nur der Wind heulte mit jeder Minute lauter.

Ein unschlüssiger Ausdruck erschien auf Allys reizendem Gesicht. Der Laut war aus der Schlucht gekommen, die links vom Bergpfad lag und weit über hundert Meter tief war.

War es der Wind gewesen? Oder ein Hilferuf?

Ally kraulte Hero hinter den Ohren. „Wahrscheinlich irre ich mich, aber wir sollten besser nachsehen. Komm, weiter oben ist der Weg sicherer.“

Sie setzte den unterbrochenen Aufstieg bis zur nächsten Wegbiegung fort, ließ sich dort vorsichtig auf die Knie nieder und versuchte, in die Schlucht hinunterzusehen.

„Sind Sie verrückt geworden?“ Eine harte Hand riss Ally zurück, sodass sie mit dem Rücken auf dem steinigen Weg landete. Sie schloss einen Moment die Augen, öffnete sie wieder und sah einen Mann vor sich stehen, an dem außer den langen, kräftigen Beinen vor allem die breiten Schultern, das tiefschwarze Haar und die Augen auffielen. Er hatte dunkle, überaus zornig blickende Augen.

Wem zürnte der Mann? Etwa ihr?

Ally rappelte sich auf, ohne die Hand zu beachten, die ihr hilfreich entgegengestreckt wurde. Eine Berührung dieser Hand reichte ihr fürs Erste. Der Mann wusste offenbar nicht, welche Kraft er besaß!

„Was hatten Sie eben vor?“, herrschte er sie an.

Ally hob trotzig das Kinn. „Was wohl?“

„Wollten Sie sich umbringen?“

„Reden Sie doch keinen Unsinn!“ Ally klopfte Sand und kleine Steinchen von ihrer Hose. „Mir war so, als hätte ich etwas gehört.“

Der Mann zog die dunklen Augenbrauen hoch. „Und da wollten Sie sich über die Kante beugen, um …?“

„Ich war noch gar nicht an der Kante!“

Der Mann packte Allys Handgelenk und zog sie weiter vom Abgrund weg. „Sehen Sie nicht, was hier los ist? Der Weg ist steinig. Nur wenige Augenblicke, und Sie hätten sich bei den anderen in der Schlucht wieder gefunden.“

Ally versuchte, sich zu befreien. „Der Weg ist gut und vom National Trust …“ Sie unterbrach sich. „Sie sagten ‚die anderen‘? Also haben Sie auch etwas gehört?“

Der Mann nickte und ließ sie los. „Zwei Jungen sind in Not geraten“, sagte er und nahm einen großen Rucksack von den Schultern. „Sie wollten in die Schlucht hinunterklettern.“

„Hinunterklettern?“, wiederholte Ally ungläubig. „Seit Montag sind hier fast dreißig Zentimeter Regen gefallen. Die Schlucht ist schon bei trockenem Wetter gefährlich, aber nach solchen Güssen … Waren sie wenigstens angeseilt?“

Der Mann öffnete den Rucksack, ohne seine Handschuhe auszuziehen. „Die beiden sind noch Kinder. Ich fürchte, sie haben nicht mal Regenzeug bei sich.“

„Oh nein!“ Ally sah besorgt zur Schlucht hinüber. „Wir müssen ihnen schnell helfen.“

„Allerdings.“ Der Mann hob den Kopf und betrachtete Ally. Dabei lag etwas in seinem Blick, das sie beinahe verlegen machte, als wäre sie noch eine achtzehnjährige Studentin und keine achtundzwanzigjährige Ärztin mit vollen beruflichen Verpflichtungen.

„Wir müssen die Bergwacht benachrichtigen. Leider habe ich mein Handy nicht bei mir.“

„Ich habe es schon über Sprechfunk versucht, aber keinen Anschluss bekommen. Sie müssen ins Tal hinunter und von dort anrufen.“

„Und was machen Sie?“

Der Mann konzentrierte sich wieder auf den Inhalt des Rucksacks. „Ich steige in die Schlucht hinab und kümmere mich um die beiden, bis Hilfe kommt.“

Ally sah ihn unsicher an. „Ganz allein? Wäre es nicht vernünftiger, auf die Bergwacht zu warten?“

„Das dauert zu lange.“ Der Mann zog ein zusammengerolltes Seil aus dem Rucksack. „Die Jungen würden an Unterkühlung sterben, ehe Sie auch nur angerufen haben.“

„Sie gehen ein großes Risiko ein.“

Der Mann setzte einen Schutzhelm auf und versuchte, das Wetter abzuschätzen, das sich ständig verschlechterte. „Wenn der Wind nicht wesentlich zunimmt, sehe ich keine Probleme.“

Ally zögerte. „Ich warte, bis Sie unten sind und mir sagen können, wie es den beiden geht. Dann benachrichtige ich die Bergwacht.“

„Einverstanden. Wo sind Ihre Gefährten?“

Ally wurde unbehaglich zumute. „Ich bin allein.“

„Allein?“ Ein unheilvolles Schweigen folgte. „Sie wandern allein … bei diesem Wetter?“

„Ja, aber …“

„Sie dummes, verantwortungsloses Geschöpf!“ Der Mann fasste Ally am Kinn und zwang sie, ihm in die dunklen Augen zu sehen. Es waren wunderbare Augen, in denen man sich verlieren konnte. „Sie wandern mitten im Winter allein durch die Berge? Sie müssen verrückt sein!“

Ally befreite sich mit einem Ruck. „Geben Sie doch nicht so an! Sind Sie etwa nicht allein? Mehr noch … Sie wollen sogar allein in die Schlucht hinuntersteigen. Reden Sie mir also nicht von Verantwortungslosigkeit!“

„Das ist nicht dasselbe.“

„Ach! Etwa, weil Sie ein Mann sind und ich eine Frau bin?“

Zorn blitzte in den dunklen Augen auf, aber schon im nächsten Moment lächelte der Mann, jungenhaft und beinahe verlegen. „So ungefähr.“

Ally musste sich ernsthaft zusammennehmen. Zorn stand dem Fremden gut, aber sein Lächeln machte ihn einfach unwiderstehlich. Die Wandlung von männlicher Überheblichkeit zu selbstkritischem Humor war ebenso überraschend wie anziehend, doch das musste er nicht unbedingt wissen.

„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ein Chauvi sind?“

„Mehr als einer.“ Er lachte angenehm leise. „Trotzdem halte ich es nicht für richtig, dass sich eine Frau allein hier oben aufhält. Das Wetter ist trügerisch, und es gibt überall böse Männer.“

„Vor dem Wetter schützt mich meine Kleidung und vor bösen Männern mein Hund.“ Ally stampfte mit den Füßen auf, um sich warmzuhalten. „Wenn Ihre Vorurteile damit ausgeräumt sind, können wir jetzt wohl einen Rettungsplan entwerfen.“

„Das habe ich bereits getan.“ Der Unbekannte wog das Seil in beiden Händen. „Allerdings war ich nicht darauf gefasst, einer einsamen Wanderin zu begegnen.“

„Warum beeinträchtigt das Ihren Plan?“

„Weil ich auf Unterstützung hoffte, und eine einzelne Frau ist keine Unterstützung.“

Ally straffte die Schultern. „Was bin ich dann für Sie?“

Der Mann lächelte wieder. „Offen gesagt, eine zusätzliche Belastung.“

„Eine Belastung?“ Ally sah ihn herausfordernd an, aber er zuckte nur die Schultern, ohne ein Wort der Entschuldigung zu finden.

„Ich brauche keine alberne Blondine, die mich von der Arbeit abhält. Deshalb gehören Frauen auch nicht ins Militär. Sie wecken den Beschützerinstinkt der Männer und lenken sie von der Arbeit ab.“

Alberne Blondine? Ally wollte etwas erwidern, aber sie schien die Sprache verloren zu haben, aber beim zweiten Versuch schaffte sie es. „Unterdrücken Sie Ihren Beschützerinstinkt. Ich brauche ihn nicht.“

„Er ist schon geweckt, und daher werden Sie nicht allein absteigen.“

Diesmal traute Ally ihren Ohren nicht. „Ich streife seit meiner Kindheit in diesen Bergen umher und bin noch nie zu Schaden gekommen“, protestierte sie.

Ein scharfer Blick traf sie. „Dann haben Sie Glück gehabt. Treten Sie dem Wanderverein bei, wenn Sie gern wandern.“

„Dem Wander …“ Es verschlug Ally buchstäblich die Sprache. „Wie können Sie über mich urteilen, ohne irgendetwas von mir zu wissen? Dass ich blond bin, ist auch nur eine Vermutung!“

Der Mann deutete kurz auf die Wollmütze, unter der Allys volles blondes Haar verborgen war. „Die Mütze kann mich nicht täuschen. Ich habe Erfahrung mit blonden Frauen. Nur echte Blondinen haben veilchenblaue Augen.“

Erfahrung mit blonden Frauen?

„Und weil ich blond bin, nennen Sie mich albern?“ Ally begann vor Wut zu zittern, aber da war noch etwas, dem sie lieber nicht weiter nachforschte. „Sie sind der ekligste, überheblichste und selbstgefälligste Mann, der mir jemals …“

„Danke, Sie sind mir auch sympathisch.“ Er lächelte besänftigend und wandte seine Aufmerksamkeit der Schlucht zu. Allys Anwesenheit schien er völlig vergessen zu haben.

„Hören Sie.“ Ally atmete tief ein und bemühte sich um einen freundlicheren Ton. „Ich mag eine Frau sein, aber ich kenne diese Berge und kann Ihnen behilflich sein. Glauben Sie mir.“

Nach dem Blick zu urteilen, den er ihr zuwarf, glaubte er ihr nicht. „Sie sind gut einen Meter fünfzig groß und wiegen etwa fünfzig Kilo. Wo wollen Sie da die nötige Muskelkraft hernehmen, um den beiden Jungen zu helfen?“

Ally ballte wütend die Hände zu Fäusten. „Hilfe hat nicht immer mit Muskelkraft zu tun.“

„Nein?“ Der Mann sah sie mit zur Seite geneigtem Kopf an. „Haben Sie nicht gerade selbst den hohen Wasserstand erwähnt? Vielleicht ist einer der Jungen abgerutscht und muss hochgezogen werden. Sind Sie Gewichtheberin?“

Ally schloss die Augen, zählte insgeheim bis zehn und öffnete sie wieder. „Sie haben gesagt, dass jemand Hilfe holen muss. Sobald ich weiß, wie es um die beiden steht, benachrichtige ich die Bergwacht.“

Der Mann lachte verächtlich auf. „Sie bleiben hier. Der Wind hat sich zum Sturm entwickelt, und der Weg ist bei dem dichten Nebel kaum zu erkennen. Wenn Sie allein absteigen wollen … bitte, aber nur über meine Leiche.“

Ein wirklich verlockender Gedanke! „Ich bin auch allein heraufgekommen.“

„Zwei Fehler heben sich nicht auf. Haben Sie den Spruch schon mal gehört?“

Ally ignorierte die Bemerkung und betrachtete die Dinge, die der Mann auf dem Boden zurechtgelegt hatte. „Wenn Sie sich wirklich abseilen wollen, gibt es eine bessere Stelle.“

„Sie wollen mir Unterricht im Abseilen geben?“, fuhr er auf.

„Ja.“ Ally zwang sich, seinem Blick standzuhalten und seinen Ton zu überhören. Offenbar traute er ihr nicht das Geringste zu, aber sie kannte das Gelände besser, und es wäre ein unnötiges Risiko gewesen, sich an der falschen Stelle abzuseilen. „Versuchen Sie es etwas weiter oben. An dieser Stelle befinden sich zwei Wasserfälle, an denen man jetzt nicht vorbeikommt.“

Der Mann musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Wollen Sie mir weismachen, dass Sie sich schon in diese Schlucht abgeseilt haben?“

„Kaum zu glauben, nicht wahr?“ Ally lächelte unschuldig. „Sogar mein blondes Haar und meine blauen Augen haben mich nicht daran gehindert.“

„Sie haben wirklich Übung im Abseilen?“

Ally klimperte mit den Wimpern wie die Karikatur einer dummen Hollywoodblondine. „Wenn ich mir große Mühe gebe, kann ich sogar lesen und schreiben.“

Der Mann verzog das Gesicht. „Also gut. Vielleicht habe ich voreilige Schlüsse gezogen …“

„Aber nein, Sie doch nicht.“ Ally hob das Seil auf und hielt es ihm hin. „Ich kenne diese Berge in- und auswendig und weiß, wie gefährlich die Schlucht bei diesem Wetter ist. Wir müssen höher hinauf. Rechts von den Fällen gibt es einige flache Felsen, wo es sicherer ist und das Seil nicht so beansprucht wird. Und zu Ihrer Information … ich bin einen Meter sechzig groß und nicht einen Meter fünfzig. Ich komme Ihnen kleiner vor, weil Sie so groß sind. Ich wiege sechsundfünfzig Kilo und bin trotz fehlender Muskeln in der Lage, sicher ins Tal abzusteigen und die Bergwacht zu alarmieren.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, hob Ally den Rucksack auf und stieg weiter bergan. Der Mann folgte ihr, und Hero bildete den Schluss.

„Versuchen Sie es hier.“ Sie ließ den Rucksack an einer günstigen Stelle fallen. „Da oben lässt sich das Seil gut befestigen.“

Der Fremde folgte ihrem Blick bis zu einem gezackten Felsen. „Sind Sie ein Einzelkind?“

„Wie bitte?“ Die Frage brachte Ally völlig durcheinander.

„Es muss so sein“, murmelte er kopfschüttelnd und zog einen Gurt aus dem Rucksack.

„Warum?“ Wovon sprach der Mann überhaupt?

„Weil Sie jede Mutter davon abgehalten hätten, sich noch einmal eine solche Last aufzuladen. Ihre Heldentaten müssen Ihrer Mutter Herzbeschwerden verursacht haben. Daher sind Sie entweder ein Einzelkind oder die Jüngste.“

Ally lachte unwillkürlich. „Die Jüngste, um ehrlich zu sein. Soll ich hinter Ihnen absteigen?“

„Haben Sie einen Schutzhelm?“

„Nein.“

„Dann bleiben Sie oben. Allerdings …“ Der Mann zögerte. „Wenn Sie Ihr Leben lang leichtsinnig waren, ist dies kaum der richtige Moment, um sich zu bessern. Einer von uns beiden muss Hilfe holen, wie Sie selbst gesagt haben. Versuchen Sie es, wenn Sie sicher sind, sich nicht zu verirren.“

„Warum sollte ich mich verirren?“ Ally konnte sich gerade noch beherrschen. „Ihre Meinung von Frauen ist erschreckend. Mit wem sind Sie bloß zusammen gewesen?“

„Möchten Sie eine Liste haben?“

Das freche Lachen brachte Ally in Verlegenheit. Was für eine unmögliche Bemerkung von ihr! Wahrscheinlich kämpften die Frauen um ihn, seit er laufen konnte.

Rasch wechselte sie das Thema. „Sie wissen, dass man einen Verletzten nur bewegen darf, wenn es unbedingt notwendig ist?“

„Wollen Sie mir auch noch Unterricht in Erster Hilfe geben?“

Ally errötete. „Das sollte keine Belehrung sein. Ich bin zufällig Ärztin und dachte …“

„Sie sind Ärztin?“ Die Frage und der ungläubige Blick waren mehr als kränkend.

„Moment mal. Glauben Sie etwa, eine Frau sollte nicht Ärztin sein?“

„Habe ich das gesagt?“

Nein, das hatte er nicht gesagt. Allmählich begann es Ally zu dämmern, dass er seine Machorolle bewusst übertrieb, um sie zu ärgern. Und sie fiel jedes Mal darauf herein!

„Alarmieren Sie die Bergwacht, und machen Sie sich im Übrigen keine Sorgen.“ Diesmal schien er es tatsächlich ehrlich zu meinen. „Ich bin selbst Arzt. Sie können also beruhigt sein.“

Beruhigt? Das konnte nur ein Scherz sein. Ally würde sich bei ihm nicht in tausend Jahren beruhigen! Außerdem sah er nicht wie ein Arzt aus – jedenfalls nicht wie die Ärzte, die sie kannte.

Sie beobachtete, wie er die Verankerung des Seils noch einmal überprüfte und sich dann fachmännisch den Gurt umlegte.

„Werden Sie zurechtkommen?“

Der Mann nickte. „Ganz sicher. Ich war in meiner Jugend nicht weniger leichtsinnig als Sie.“

„Seien Sie trotzdem vorsichtig“, bat Ally. „Die Strecke ist schwierig.“

„Es wird schon gut gehen. Trauen Sie sich den Abstieg auch wirklich zu? Ich lasse Sie gegen besseres Wissen allein gehen.“

Ally lächelte zuckersüß. „Tun Sie mir einen Gefallen, und lassen Sie Ihr besseres Wissen unten in der Schlucht.“ Warum fand sie den Mann bloß so unerhört anziehend? Ein Lendenschurz – und der ideale Steinzeitmann würde vor ihr stehen! „Trauen Sie allen Frauen so wenig zu oder nur den blonden?“

„Sie missverstehen mich.“ Diesmal fiel das Lächeln eindeutig erotisch aus. „Ich mag blonde Frauen … vorausgesetzt, sie sind an der richtigen Stelle.“

„Am Herd oder am Abwaschbecken?“

„Dazu barfuß und schwanger?“ Der Mann war einfach nicht zu schlagen. „Oh nein, Schätzchen. Für die Küche wären Sie mir viel zu schade.“

Ally sah ihm wie gebannt in die dunklen Augen. Sie verrieten so deutliches Interesse, dass sie drauf und dran war, alle Vorsicht außer Acht zu lassen, und das wollte sie nicht. Sie hatte Charlie und verstand sich prächtig mit ihr. Vielleicht fehlte ihrem Leben etwas Abwechslung, aber es war friedlich und unkompliziert, und darauf kam es ihr an.

„Wir reden sinnloses Zeug, und unten brauchen die Jungen unsre Hilfe.“ Sie schnippte mit den Fingern nach Hero, der sofort an ihre Seite kam. „Ich warte hier, bis Sie sich abgeseilt haben.“

Der Mann nickte kurz und schwang sich so professionell über die Kante, dass Ally ihn insgeheim bewunderte. Er verstand sein Handwerk zweifellos. Nur gut, dass er nicht wusste, wie sie schon als Kind geklettert war. Er hätte vor Entsetzen einen Herzschlag bekommen!

Einige bange Minuten verstrichen, dann hörte sie tief aus der Schlucht seine schwache, vom Wind gedämpfte Stimme.

„Ich habe sie. Einer hat nur das Schlüsselbein gebrochen, aber der andere ist bewusstlos. Er hat eine böse Kopfwunde, ein gebrochenes Bein und – nach seiner Lage zu urteilen – mehrere gebrochene Rippen. Beeilen Sie sich, aber seien Sie vorsichtig!“

„Das bin ich!“, schrie Ally hinunter, pfiff nach Hero und eilte so schnell zurück, wie ihre Sicherheit es zuließ. Würde es ihr gelingen, rechtzeitig Hilfe zu bringen?

Es dauerte zwei Stunden, bis Ally mit den Männern der Bergwacht die Unglücksstelle erreichte, und eine weitere Stunde, bis die verletzten Jungen aus ihrer Notlage befreit waren.

Als die erste Trage auftauchte, machte Ally große Augen, denn sie kannte den Jungen, der darauf lag. Sein Arm ruhte in einer breiten Schlinge, also war bei ihm das Schlüsselbein gebrochen.

„Andy!“, rief sie. „Was habt ihr bloß angestellt?“

Trotz der ausgestandenen Angst wurde der Junge rot und sah verlegen zur Seite. „Es tut uns wirklich sehr, sehr leid, Dr. McGuire …“

„Schon gut, Andy.“ Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, dem Jungen eine Strafpredigt zu halten. „Warum wart ihr nicht angeseilt?“

Andy schloss die Augen und schüttelte den Kopf, was ihm Schmerzen zu bereiten schien. „Wir hielten es nicht für nötig. Das war ein großer Fehler.“

„Das kannst du laut sagen“, meinte Jack Morgan, der Leiter des Rettungsteams. „Wer ist der andere Junge?“

Andy rutschte auf der Trage hin und her. „Pete. Pete Williams.“

„Oh nein! Nicht Pete!“ Ally lief bis zur Kante der Schlucht, um zuzusehen, wie die zweite Trage heraufgebracht wurde. Sie hatte am Funksprechgerät mit angehört, wie schwierig es gewesen war, den Kreislauf des Verletzten zu stabilisieren.

Sie kannte Pete seit Jahren. Er litt an Diabetes und hatte sich vorgenommen, die Krankheit zu ignorieren und sein kurzes Leben genauso wie die anderen Jungen seines Alters zu verbringen. Er kam von einer misslichen Situation in die andere, und diesmal hatte es ihn richtig erwischt. Allys Herz zog sich vor Mitleid zusammen. Lieber Gott, lass ihn überleben, bat sie unaufhörlich, während der Verletzte langsam heraufgezogen wurde.

Jack half dabei, die Trage oben abzusetzen. „Es sieht schlimm aus“, meinte er besorgt. „Wir brauchten den Hubschrauber, aber das Wetter ist zu schlecht. Wir müssen ihn so wegbringen.“

Er sah sich nach dem Mann um, der die Rettung von der Schlucht aus geleitet hatte, und traute seinen Augen nicht. „Sean Nicholson?“ Er schob seinen Schutzhelm zurück und strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, tatsächlich … er ist es.“

„Sie kennen ihn?“ Ally runzelte die Stirn und stemmte sich gegen einen plötzlichen Windstoß. Der Nebel begann sich allmählich zu lichten, aber der Sturm nahm immer noch zu.

„Und ob! Nicht, dass ich ihn hier erwartet hätte. Als Sie mir meldeten, so ein irrer Machotyp hätte sich in die Schlucht abgeseilt, rechnete ich mit einem der üblichen Touristen.“

„Vielen Dank, Jack.“ Ally errötete bei der Wiederholung ihrer wenig schmeichelhaften Worte, aber ein rascher Blick in Sean Nicholsons Gesicht beruhigte sie. Sein Lächeln zeigte, dass er nicht beleidigt war.

„Was macht die Kunst, Sean?“, fuhr Jack fort, ohne Allys Verlegenheit zu bemerken. „Und was machst du hier?“

„Wie immer war ich zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Sean zog seine Handschuhe aus, um den Jungen noch einmal zu untersuchen. „Ich wusste nicht, dass du inzwischen diesen Laden leitest, Jack. Leider geht es dem Jungen nicht gut. Die Kopfwunde sieht schlimm aus … außerdem hat er gebrochene Rippen und ein gebrochenes Bein, das wir unten provisorisch geschient haben.“

„In Ordnung.“ Jack sah nachdenklich auf den Jungen hinunter. „Sonst noch etwas?“

„Der Wasserfall hat ihn durchnässt, daher ist mit Unterkühlung zu rechnen. Die Knöchelverletzung hat er sich geholt, weil er nur Turnschuhe angehabt hat. Wahrscheinlich ist er abgerutscht und in die Tiefe gestürzt.“

„Turnschuhe? Bei diesem Wetter?“ Jack wechselte einen vielsagenden Blick mit Sean. „Es ändert sich eben nie etwas. Die Berge sind weiter voll von Idioten, die uns in Trab halten. Warum ist der dumme Kerl nicht zu Hause geblieben und hat ferngesehen?“

„Heute ist Mittwoch. Da bringen sie nichts Vernünftiges.“ Ted Wilson, der verantwortliche Techniker, verlor auch in schwierigen Lagen niemals den Humor.

Ally hatte sich neben die Trage gekniet. „Pete? Kannst du mich verstehen?“

Der Junge rührte sich nicht. Seine Blässe war beängstigend.

„Sie kennen ihn?“ Sean kam näher, und Ally fühlte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Armer, armer Pete!

„Ja“, antwortete sie mühsam. „Er ist einer meiner Patienten.“

„Also stammen die Jungen von hier?“ Jacks Ton verriet ehrliche Entrüstung. „Da hätten sie es eigentlich besser wissen müssen. Wir haben genug mit den Touristen zu tun und können auf einheimische Opfer verzichten.“

Ally wollte darauf hinweisen, dass Pete wieder einmal versucht hatte, sich zu beweisen, aber das wäre ein Vertrauensbruch gewesen. Also erwähnte sie nur seinen Diabetes und konzentrierte sich ganz darauf, dem Jungen zu helfen. Zuerst reagierte er nicht auf ihre Ansprache, aber dann begann er zu stöhnen und öffnete die Augen, ohne den Blick auf etwas konzentrieren zu können.

„Es … es tut mir …“

„Alles wird gut, Pete.“ Ally zog einen Handschuh aus und streichelte das Gesicht des Jungen, bevor sie ihm den Puls maß. Er war wieder zu sich gekommen, das gab ihr neue Hoffnung.

„Immer voller Mitleid, unsere Ally“, meinte Jack und griff nach dem Sprechfunkgerät, um neue Anweisungen durchzugeben. „Sie sollte dem Schlingel lieber die Hölle heiß machen.“

„Aber sonst hat sie sich wacker geschlagen.“ Sean hatte Jacks Worte gehört. „Bei dem Nebel in so kurzer Zeit ins Tal zu kommen … Ich hatte große Angst, sie könnte sich verirren.“

„Unsere Ally? Sich verirren?“ Der Gedanke schien Jack ungeheuer zu belustigen. „Du machst wohl Witze, Sean. Ally war unser bestes Teammitglied, bis sie …“

„Fertig, Jack?“, unterbrach Ally ihn schnell. Es war ihr nicht recht, dass er vor einem Fremden Einzelheiten aus ihrem Privatleben ausplauderte. Doch Seans Neugier war geweckt.

„Sie waren bei der Bergwacht?“, fragte er ungläubig.

Ally sah ihn herausfordernd an. „Man hat dort nichts gegen alberne Blondinen, Dr. Nicholson.“

„Und wie steht es mit irren Machotypen?“

„Wenn Sie es unbedingt hören wollen … okay, ich habe mich in Ihnen getäuscht. Sind wir jetzt quitt?“

Sean betrachtete Ally so aufmerksam, dass sie sich nervös abwandte. Was hatte dieser Sean Nicholson bloß an sich? Bei keinem anderen Mann hatte sie sich so vorbehaltlos als Frau gefühlt, und was das Schlimmste war – er wusste es.

„Einverstanden, wir sind quitt“, hörte sie ihn leise sagen, bevor er mit Jack die Einzelheiten des Transports besprach.

Jack hatte sich noch immer nicht über den Irrtum beruhigt. „Wenn der wüsste, wie lange Ally bei uns war“, brummelte er vor sich hin, während sich der Rettungszug formierte. „Sie kennt diese Berge besser als jeder andere. Man könnte ihr einen Sack über den Kopf stülpen, und sie würde sich nicht verlaufen.“

„Eine gute Idee“, meinte Sean lachend. „Dann wäre sie wenigstens vorübergehend außer Gefecht gesetzt.“

Sie brauchten eine knappe Stunde, um die bereitstehenden Krankenwagen zu erreichen. Während die Verletzten vorsichtig hineingehoben wurden, hatte Ally Gelegenheit, unbemerkt Seans männliches Profil zu bewundern.

„Ein gut aussehender Bursche, nicht wahr?“, fragte Jack leise neben ihr.

Ally überspielte ihre Verlegenheit mit einem gleichgültigen Lächeln. „Wenn einem der Typ gefällt, der sich von Frauen umschmeicheln lässt.“

Für Jack schien das selbstverständlich zu sein. „Ja, so ist Sean“, meinte er lachend. „Die Frauen verzehren sich nach ihm.“

Das glaubte Ally sofort. Wahrscheinlich gab es auf der ganzen Welt keine Frau, die Sean Nicholson nicht anziehend gefunden hätte und seinen faszinierenden dunklen Augen erlegen wäre. Ob sein Blick kühle Gleichgültigkeit, heftigen Zorn oder herausfordernde Sinnlichkeit verriet – die Botschaft kam immer an.

Sean musste ihre Gedanken erahnt haben, denn er drehte sich plötzlich um, sah, dass sie ihn beobachtete, und war mit wenigen Schritten bei ihr.

„Ich gehe schon“, sagte Jack, ohne eine Aufforderung abzuwarten. „Ich weiß, wann ich störe.“ Leise vor sich hin pfeifend, schlenderte er zu seinen Kollegen hinüber.

Allys Herz begann, heftig zu klopfen. Wie hatte sie so dumm sein können, ausgerechnet diesen Mann wie ein verliebter Teenager anzustarren?

„Woher kennen Sie Jack?“, fragte sie, um Seans Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

„Ich möchte nicht über Jack sprechen.“

Ally kuschelte sich tiefer in ihren Anorak. Sie fröstelte, aber nicht nur wegen des Wetters. „Worüber möchten Sie denn sprechen, Dr. Nicholson?“

„Über uns.“

Ally sah ihn erstaunt an. „Über uns?“

Sean zog ihr die Wollmütze vom Kopf und lächelte befriedigt, als Allys blondes Haar zum Vorschein kam und ihr in dichten Locken auf die Schultern fiel.

„Also habe ich zur Hälfte recht gehabt. Blond, aber nicht albern.“

„Sean …“

„Ich möchte Sie wieder sehen, Ally.“

Sein Blick hielt sie gefangen, und sie fühlte ihr Herz heftig schlagen. Er hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, das musste sie ihm lassen. Hatte man die üblichen höflichen Einleitungen inzwischen abgeschafft? „Man“ wahrscheinlich nicht, aber Sean Nicholson ganz offensichtlich.

„Warum? Soll ich Ihnen Unterricht in Abseilen oder Erster Hilfe geben?“ Ally scherzte bewusst, um nicht zu verraten, wie scheu und verlegen sie sich bei Sean fühlte.

„Ich will keinen Unterricht, Dr. McGuire.“ Seans Lächeln ließ keinen Zweifel daran, was er meinte. „Ich will Sie.“

Ally hatte Mühe, gleichmäßig zu atmen. „Haben Sie auch daran gedacht, was ich will, Dr. Nicholson?“

„Sie wollen dasselbe wie ich. Die Frage ist nur, ob Sie ehrlich genug sind, sich das nach so kurzer Bekanntschaft einzugestehen.“

Ally sah ihn wie hypnotisiert an. Sie wollte nicht dasselbe wie er. Sie hatte Charlie. Sie führte ein ruhiges, gleichmäßiges Leben, für das dieser Mann eine Gefahr bedeutete.

„Sie setzen voraus, dass ich nicht gebunden bin.“

Sean runzelte die Stirn. „Sind Sie denn gebunden?“

„Ja.“

„Und er lässt Sie allein in den Bergen herumspazieren? Trennen Sie sich von ihm. Wenn er nicht besser auf Sie aufpasst, ist er keinen Heller wert.“

Ally zwang sich, Seans Blick standzuhalten. „Charlie kann nicht über mich bestimmen, und einen Aufpasser brauche ich nicht.“

„Darüber ließe sich streiten.“

„Sean!“, rief Jack herüber. „Es geht los!“

Seans Miene war hart geworden. „Wir führen das Gespräch ein andermal fort“, sagte er schroff, wandte sich ab und ging hinüber zu den Krankenwagen.

Was meinte er mit „ein andermal“? Ally zog sich mit zittrigen Händen die Mütze über den Kopf. Sie wollte nicht, dass es ein anderes Mal gab. Sie wollte diesen Mann niemals wieder sehen – und wenn sie hundert Jahre alt wurde! Er gab ihr das Gefühl, schwach und verletzlich zu sein, und weckte Empfindungen in ihr, die für immer vergessen bleiben sollten. Sie hatte Charlie, und das genügte ihr. Mochten andere ihr Leben langweilig finden, sie selbst wünschte sich kein anderes, und daran sollte auch Sean Nicholson nichts ändern.

2. KAPITEL

„Mummy, hast du wirklich zwei Jungen gerettet?“

„Wer hat dir das erzählt?“ Ally beendete ihr Frühstück und ging in Gedanken alles durch, was sie vor der Sprechstunde erledigen musste. Morgens gab es immer viel zu tun.

„Onkel Jack.“ Das kleine Mädchen griff in die Packung, die auf dem Tisch stand, und holte eine Handvoll gerösteter Maisflocken heraus.

„Charlotte McGuire, das tut man nicht!“ Ally nahm die Packung weg und legte ihrer Tochter einen Toast auf den Teller. „Iss Toast, wenn du noch hungrig bist.“

„Toast schmeckt doof.“

Ally atmete tief durch und erinnerte sich daran, dass man beim Essen nicht streiten sollte. „Gestern hat er dir noch geschmeckt.“

„Aber heute nicht mehr.“ Charlie verzog das Gesicht und zuckte dann die Schultern. Der Toast schien doch seine Vorzüge zu haben. „Okay, eine Scheibe … wenn du sie wie ein Haus schneidest. Warum sind sie nicht gestorben?“

Ally bestrich den Toast mit Butter und schnitt Fenster und eine Tür hinein. „Warum ist wer nicht gestorben?“

„Diese Jungen.“ Charlie biss mit Appetit in den Toast, der plötzlich gar nicht mehr „doof“ schmeckte. „Onkel Jack hat bei Grandma erzählt, dass sie ohne dich wahrscheinlich gestorben wären.“

„Sie hatten nicht die richtige Ausrüstung bei sich, Schatz, und das war sehr leichtsinnig.“ Ally nahm sich vor, Jack zu bitten, einem fünfjährigen Kind gegenüber künftig vorsichtiger zu sein.

„Wie wären sie gestorben?“

Ally stand seufzend auf und trug das schmutzige Frühstücksgeschirr zum Abwaschbecken. „Nun, es war sehr kalt, und an zu großer Kälte kann man sterben. Aber inzwischen geht es ihnen wieder gut.“

„Warum vergisst du sie nicht einfach und machst dich für die Schule fertig?“

Charlie wollte die Jungen nicht vergessen. „Karen trägt auf dem Spielplatz manchmal keinen Mantel. Kann sie deswegen sterben?“

„Natürlich nicht.“ Ally wusch sich die Hände und trocknete sie am Küchentuch ab. „Die Jungen waren vom Wasserfall durchnässt und froren deshalb noch mehr. Außerdem ist es oben in den Bergen viel kälter als auf dem Spielplatz. Und nun beeil dich, und putz dir die Zähne, sonst kommst du zu spät.“

Charlie rutschte vom Stuhl und hüpfte durch die Küche zum Badezimmer. Ally atmete auf. Eine wissbegierige fünfjährige Tochter zu haben war nicht immer ein Vergnügen. Sie holte die Mäntel und Charlies Schultasche, und dann stiegen sie in das kleine Auto, um zu Karens Wohnung zu fahren.

Karens Mutter Tina öffnete ihnen die Tür. „Hallo, ihr beiden.“ Sie lächelte und zauste Charlies Haar, als die Kleine sich an ihr vorbeidrängte, um zu ihrer Freundin zu kommen, die in der Küche beim Frühstück saß.

Ally sah Tina dankbar an. „Ich frage mich immer wieder, was ich ohne euch …“

„Kein weiteres Wort. Du weißt, wie gern wir Charlie bei uns haben.“ Tina gab Ally einen freundschaftlichen Schubs. „Und nun ab mit dir, sonst verspätest du dich. Vergiss unsere Halloweenparty am Sonnabend nicht. Du kommst doch?“

Ally schüttelte den Kopf. „Ich muss arbeiten, aber Mum wird Charlie herbringen.“

Ally umarmte ihre Freundin und stieg wieder in ihr Auto. Es war wirklich ein Segen, Freunde zu haben, die Charlie jeden Morgen bis zum Schulbeginn bei sich aufnahmen und es ihr dadurch ermöglichten, die Morgensprechstunde pünktlich zu beginnen. Nach der Schule wurde Charlie von den Großeltern abgeholt und durfte bei ihnen bleiben, bis auch die Nachmittagssprechstunde beendet war. Als dritter Vorteil kam hinzu, dass Will Carter, ihr älterer Partner, ihren Bereitschaftsdienst so weitgehend einschränkte, dass sie abends und am Wochenende selten arbeiten musste. Alles in allem ergab das einen vertretbaren Stundenplan, obwohl Ally gern mehr Zeit für Charlie gehabt hätte.

Ally traf gleichzeitig mit Will in der Praxis ein. „Guten Morgen, schöne Kollegin“, begrüßte er sie. „Wie geht es der kleinen Tochter?“

Ally verdrehte die Augen. „Sie ist viel zu neugierig.“

Will lachte. „Warten Sie’s ab. Das wird noch schlimmer.“

„Ein furchtbarer Gedanke.“ Ally stimmte in das Lachen ein. Sie verehrte Will. Er stand kurz vor dem Ruhestand und hatte eine Praxis aufgebaut, die in ganz Cumbria gerühmt wurde. Ohne Will hätte sie die traumatischen Umstände von Charlies Geburt niemals überlebt.

Will begrüßte das Praxispersonal in seiner üblichen lockeren Art und ging mit Ally ins Arztzimmer, wo er den Wasserkessel aufsetzte.

„Ich weiß, Sie arbeiten am Sonnabend“, sagte er halb zurückgewandt, „aber Tony Masters gibt eine Dinnerparty, und da dachte ich …“

„Die Antwort ist Nein“, unterbrach Ally ihn, denn sie wusste bereits, was kommen würde. Es kam immer, wenn sie mit Will allein war. Er versuchte, Amor zu spielen, und das wollte sie nicht. „Ich hasse Dinnerpartys, auf denen ich verkuppelt werden soll. Außerdem gefällt mir mein Leben so, wie es ist.“

Will seufzte. „Sie sind jung und hübsch, Ally, und sollten sich wegen Charlie nicht so vergraben.“

„Charlie und mir geht es gut.“ Ally hängte ihren Mantel auf und nahm zwei Becher und ein Glas mit Pulverkaffee aus dem Schrank.

Wills Miene wurde ernst. „Es geht Ihnen keineswegs gut. Sie verkehren nur mit Charlies Freunden und sind finanziell übel dran, weil dieser Kerl …“

„Ich bin unabhängig“, unterbrach Ally ihn von Neuem, „und nur darauf kommt es mir an. Ein Kind braucht Liebe und keinen Luxus. Charlie und ich sind glücklich. Sie sorgen sich mehr um uns als ich selbst.“

„Ja, ich sorge mich“, bestätigte Will grimmig. „Jemand sollte sich um Sie kümmern.“

„Wirklich?“ Das Lächeln verschwand von Allys Gesicht. „Wie Sie sich vielleicht erinnern, haben die Männer, denen ich begegne, wenig Geschick darin. Deshalb kümmere ich mich jetzt um uns beide. Allein.“

„Ach Ally, Sie hätten so viel mehr verdient!“

Allys Gewissen meldete sich. Sie ging zu Will und küsste ihn auf die Wange. „Sie sind ein wunderbarer Mann, Will, aber es gibt leider nicht viele wie Sie.“

„Aber wenn ich jemand finden würde …“

„Will, Schluss mit diesem Thema!“ Ally verzichtete auf den Kaffee und steuerte auf die Tür zu, die zu ihrem Sprechzimmer führte. Warum konnte er sich nicht endlich mit ihrem Nein abfinden? „Ich bin glücklich … Charlie ist glücklich. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen … meine Patienten warten.“

„Okay, okay … es tut mir leid.“ Will hob beide Hände, zum Zeichen, dass er sich geschlagen gab. „Betrachten Sie das Thema als erledigt. Haben Sie etwas Neues über den jungen Pete gehört?“

Ally sah ihn erstaunt an. „Wie haben Sie von ihm erfahren?“

Will lachte und drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. „Es hat eben keinen Sinn, dem alten Onkel Will etwas zu verheimlichen. Aber Spaß beiseite. Ich habe Jack Morgan gestern Abend im ‚Hare and Hounds‘ getroffen. Das war ja eine dramatische Rettungsaktion.“

„Ja.“ Sean Nicholsons Gesicht tauchte flüchtig vor Allys geistigem Auge auf. Wie war es ihm bloß gelungen, sie so aus der Ruhe zu bringen? „Ich will nachher im Krankenhaus anrufen und mich nach Pete erkundigen. Als ich es gestern Abend versucht habe, lag er noch im OP.“

Will nickte. „Er ist ein guter Junge.“

„Das weiß ich. Wenn er wieder auf den Beinen ist, werde ich mich ernsthaft mit ihm unterhalten.“

„Tun Sie das. Dabei fällt mir ein …“ Ganz gegen seine sonstige Art, vermied Will Allys Blick. „Würden Sie mir heute beim Lunch Gesellschaft leisten? Es gibt einiges wegen der Praxis zu besprechen.“

Wegen der Praxis? Ally ging in ihr Sprechzimmer und schloss hinter sich die Tür. Sie würde rechtzeitig erfahren, worum es sich handelte. Jetzt waren ihre Patienten wichtiger.

Allys Sprechstunde war gut besucht. Husten, Schnupfen und Ohrenschmerzen lösten sich in regelmäßiger Folge ab, und Ally fand kaum eine freie Minute, um im Krankenhaus anzurufen und sich nach Pete zu erkundigen. Die Auskunft war beruhigend, und sie legte erleichtert den Hörer auf. Sie würde den Jungen besuchen und ihm etwas mitbringen, was ihm Freude machte.

Die letzte Patientin war eine junge Frau von dreißig Jahren, die Ally während ihrer Schwangerschaft betreut hatte.

„Hallo, Jenny. Wie geht es den Zwillingen?“

Jenny Monroe verdrehte die Augen. „Sie halten mich ordentlich in Trab. Sie können noch nicht kriechen, haben aber entdeckt, dass man ein Ziel auch rollend erreichen kann. Ich darf sie keine Minute aus den Augen lassen.“

Ally lachte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „An die Phase kann ich mich gut erinnern. Es ist albtraumartig.“

Das stimmte nicht oder doch nicht ganz. Der Albtraum hatte andere Gründe gehabt …

„Meine Mutter kümmert sich einige Stunden um die Zwillinge“, fuhr Jenny fort und rutschte nervös hin und her. „Ich habe diese Stelle am Bein, und weil man heute so viel über Hautkrebs liest …“

„Lassen Sie mal sehen.“

Ally wartete, bis Jenny ihre Strumpfhose heruntergezogen hatte, und betrachtete dann das Mal, das ihr Sorgen machte. Es hatte einen unregelmäßig gezackten Rand und eine schwarzbraune Farbe – beides deutliche Anzeichen für eine bösartige Wucherung.

„Nehmen Sie Sonnenbäder, Jenny?“ Ally holte ein Lineal aus ihrer Schublade und maß das Mal sorgfältig aus.

Jenny wurde unsicher. „Nicht regelmäßig, Dr. McGuire, aber ich liebe die Sonne und lasse mich gern bräunen. Man fühlt sich dann viel wohler.“

Das kommt auf den Hauttyp an, dachte Ally. Wer so hellhäutig war wie Jenny, sollte die Sonne meiden und versuchen, durch Blässe interessant zu wirken.

„Ich habe vergessen, wo Sie arbeiten, Jenny …“

„In der Bank.“

„Und Sie machen im Süden Ferien?“

Jenny lächelte. „Oh ja. Mike und ich leben für die wenigen Wochen in der Sonne.“

Ein Beruf im Büro und zum Ausgleich einige Wochen in knalliger Sonne – die denkbar ungünstigste Kombination!

Jenny beobachtete Ally misstrauisch. „Warum messen Sie das Mal aus?“

„Es war gut, zu mir zu kommen, Jenny.“ Ally setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und notierte das Ergebnis. „Verdächtige Male müssen genau untersucht werden.“

„Und meins ist verdächtig?“

„Es muss unbedingt entfernt werden.“

Jenny erschrak. „Ob es Krebs ist?“

„Das kann ich nicht sagen, ehe die Zellen unter dem Mikroskop untersucht worden sind.“

„Aber Sie schließen es nicht aus, nicht wahr?“ Jenny sah Ally mit großen, ängstlichen Augen an.

„Die Möglichkeit besteht“, gab Ally zu. „Ein Spezialist wird das Mal entfernen. Danach wissen wir mehr.“

„Und wenn es Krebs ist?“

Ally beugte sich vor und drückte Jennys Arm. „Es kann auch ganz harmlos sein. Wollen wir nicht das Ergebnis abwarten und dann weitersehen?“

Jenny atmete tief ein. „Einverstanden. Wie lange muss ich auf einen Termin warten? Ich werde kein Auge zutun, ehe ich nicht weiß …“

„Das geht schnell.“ Ally griff nach ihrem Telefonbuch. „Ich rufe Dr. Gordon, einen Facharzt für plastische Chirurgie, an. Er wird Sie sicher in dieser Woche empfangen.“

„Einen Chirurgen?“, fragte Jenny unsicher. „Wäre ein Hautarzt nicht besser?“

„Für die Entfernung eines Mals kommen beide infrage. Dr. Gordon ist sehr vertrauenswürdig.“

„Nun, dann geht es wenigstens schnell.“ Jenny lächelte schwach. „Muss ich ins Krankenhaus?“

Ally schüttelte den Kopf. „Er entfernt das Mal in örtlicher Betäubung und schickt Sie anschließend nach Hause. Später erfahren Sie das Ergebnis.“

Jenny nickte und stand auf. „Also muss ich erst mal abwarten. Vielen Dank, Dr. McGuire.“

Ally sah Jenny nach und fühlte sich plötzlich deprimiert. Sie war beinahe sicher, dass sich das Mal als bösartig erweisen würde, und Jenny war noch jung und hatte zwei kleine Kinder!

Sie rief in Dr. Gordons Praxis an, machte den Fall dringlich und sah dann auf die Uhr. Es war später geworden, als sie gedacht hatte. Will würde schon auf sie warten.

Ally schaltete ihren Computer aus und trat kurz vor den Spiegel, um ihr Haar zu ordnen. Es ließ sich nur schwer bändigen und neigte dazu, sich aus dem Zopf zu lösen, zu dem es jeden Morgen geflochten wurde. Das war heute nicht anders, aber ihr fehlte die Zeit, um es neu zu flechten. Und nur für Will …

Sie hastete über den Korridor zu seinem Zimmer, klopfte kurz an und trat ein. „Entschuldigung, Will, ich musste zwei Patienten dazwischenschieben und konnte daher nicht eher …“

Ally verstummte mitten im Satz, denn sie erkannte den Mann, der neben Will auf der Couch saß. Es war Sean Nicholson, frisch rasiert, in einem modischen Anzug und mit einem frechen, zufriedenen Lächeln auf den Lippen.

Will wirkte ebenfalls sehr zufrieden, obwohl er ihrem Blick auch diesmal auswich. „Da sind Sie ja, Ally! Ich wollte Sie unserem neuen Kollegen vorstellen.“

Ally blieb fast das Herz stehen, und sie brachte kein einziges Wort heraus. Das veranlasste Sean, ihr zu helfen.

„Wir sind uns schon begegnet“, sagte er mit der tiefen, warmen Stimme, die Ally noch so gut im Ohr hatte. „Hallo, Dr. McGuire.“

Hatte er das gewusst? Hatte er nicht nach ihrer Adresse gefragt, weil er sie früher oder später hier treffen musste? Und wer steckte dahinter? Etwa Jack? Panik ergriff Ally. Sie wollte nicht mit diesem Mann zusammenarbeiten. Er gab ihr das Gefühl …

„Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt, aber umso besser.“ Will lächelte immer noch und deutete auf einen Stuhl, aber Ally vermochte sich nicht zu rühren. „Wo seid ihr euch begegnet?“

Ally misstraute Wills unschuldigem Lächeln, und plötzlich fiel ihr ein, dass er Jack gestern Abend im „Hare and Hounds“ getroffen hatte. Jack hatte natürlich nichts Besseres zu tun gehabt, als ihm von Sean zu erzählen!

„Oben in den Bergen.“ Sean beobachtete Ally mit leicht gerunzelter Stirn. „Dr. McGuire gab mir gute Ratschläge fürs Abseilen.“

Will hatte einen Imbiss auf dem niedrigen Couchtisch bereitgestellt und schob jedem eine Tasse Kaffee hin. „Mir war gar nicht bewusst, wie viel ihr beide gemeinsam habt. Das freut mich natürlich sehr. Es wird die Zusammenarbeit fördern.“

Die Zusammenarbeit fördern? Für Ally vertrat Sean Nicholson alles, was sie vor einem Mann fliehen ließ. Er war arrogant, anziehend, selbstgefällig und – unwiderstehlich. Mit diesem Mann sollte sie zusammenarbeiten? Nie und nimmer!

Sean beobachtete sie immer noch aufmerksam. „Nehmen Sie ein Sandwich, Dr. McGuire.“

Ein Sandwich? Sie würde daran ersticken!

„Sagten Sie nicht, dass Sie wenig von Ärztinnen halten?“ Ally sank auf den nächsten Stuhl. Sitzen oder fallen – eine dritte Möglichkeit gab es nicht. „Besonders von blonden Ärztinnen?“

„Im Gegenteil“, antwortete Sean, den ihr Sarkasmus nur zu amüsieren schien. „Ich halte viel von Ärztinnen und besonders viel von blonden.“

Er will mich wieder reizen, dachte Ally, aber diesmal soll er kein Glück haben. Sie nahm ein Sandwich und konzentrierte sich ganz auf Will.

„Sean kommt zu uns, bis wir einen Ersatz für Tim gefunden haben“, fuhr Will fort. „Er ist genau der Mann, den wir brauchen.“

„Dr. McGuire ist da vielleicht anderer Ansicht“, warf Sean lächelnd ein. „Sie hält mich für einen miesen Macho.“

„Ganz unrecht hat sie nicht“, gab Will zu. „Das müssen die Jahre beim Militär sein. Aber ich kenne die Frauen. Im tiefsten Herzen sehnen sie sich nach einem richtigen Mann.“

Ally überhörte die letzte Bemerkung. „Beim Militär?“, fragte sie. „Dann waren Sie Militärarzt?“

„Nein.“ Sean schüttelte den Kopf. „Ich habe erst nach meiner Entlassung Medizin studiert.“

Es fiel Ally nicht schwer, sich Sean beim Militär vorzustellen. Kurzer Bürstenschnitt und eine etwas schiefe Nase als Folge einer handfesten Prügelei, die er natürlich gewonnen hatte.

„Was ist Ihr Spezialgebiet?“

„Wundbehandlung.“

Natürlich – nach den Jahren beim Militär. Jetzt verstand Ally, warum Will so an ihm interessiert war. „Soll er unsere kleine Unfallstation übernehmen?“

Will strahlte. „Sie haben es getroffen.“

Ally fügte sich in das Unvermeidliche. Die Behandlung kleinerer Unfälle gehörte zu den besonderen Errungenschaften von Wills Praxis. Sie brauchten dringend jemanden, der sie übernehmen konnte, und da jede Abteilung selbstständig arbeitete, würde sie kaum mit Sean zu tun haben.

„Dr. Nicholsons Erfahrungen in der Wundbehandlung werden uns sehr nützlich sein“, erklärte sie und war stolz, wie fachmännisch das klang. „Seit wir kleinere Unfälle behandeln, ist unsere Patientenzahl merklich gestiegen, und die Ärzte der umliegenden Krankenhäuser sind uns dankbar.“

Will nickte. „Wir werden die Station jetzt ganztägig offen halten … einschließlich der Wochenenden. Die Leute brauchen dann nicht mehr so weit zu fahren und können schneller und wirksamer behandelt werden. Sean ist die Idealbesetzung.“

„Meine Zusage gilt nur vorläufig“, warf Sean ein.

Will sah angelegentlich aus dem Fenster. „Natürlich.“

Sean schien widersprechen zu wollen, aber dann musste er lachen. „Sie sind ein unverbesserlicher Optimist, Dr. Carter.“

Ally atmete insgeheim auf. Wenn sie Glück hatte, würde Sean nur vorübergehend bleiben. Sie trank einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. „Ich habe vorhin im Krankenhaus angerufen. Petes Zustand hat sich stabilisiert.“

„Das freut mich, wenn es auch mehr ist, als er verdient. Ein solches Risiko einzugehen …“ Sean wandte sich an Will. „Wusstest du, dass Dr. McGuire ebenfalls allein durch die Berge zieht?“

„Ally?“ Will zuckte die Schultern. „Nun ja. Sie hat ihr ganzes Leben hier verbracht und kennt die Berge besser als jeder andere.“

Sean runzelte die Stirn. „Muss sie deshalb ohne Ausrüstung bei Sturm und Nebel am Rand einer Schlucht entlangspazieren?“

Will schenkte sich Kaffee nach und süßte ihn reichlich mit Zucker. „Ihr passiert nichts. Sie ist vernünftig und hat Hero.“

„Hero? Ach ja … ihr Schäferhund. Trotzdem ist es leichtsinnig, allein da oben herumzuklettern.“

„Wer soll sie daran hindern? Wer in den Bergen groß geworden ist und solange bei der Bergwacht war …“ Will nahm sich ein Sandwich. „Ich könnte dich doch auch nicht zurückhalten, Sean.“

Ally hatte genug. „Würden Sie endlich aufhören, über mich zu sprechen, als wäre ich nicht da? Erzählen Sie lieber, woher Sie Will und die Männer von der Bergwacht kennen.“

„Ich bin hier aufgewachsen“, antwortete Sean kurz angebunden und abweisend.

„Und?“

„Und was, Dr. McGuire?“

Ally spürte Seans Ablehnung, aber ihre Neugier war geweckt. Warum machte er aus seiner Vergangenheit ein Geheimnis? Was hatte er zu verbergen?

„Nun, es muss doch mehr darüber zu sagen geben. Sind Sie mit Jack zur Schule gegangen? Hat Will Sie zur Welt gebracht? Sie duzen sich mit beiden …“

Bei den letzten Worten verlor auch Will seine Unbefangenheit und sah Sean besorgt an. Um die Spannung nicht zu verschärfen, sagte Ally schnell: „Dumme Fragen, ich weiß. Was man so redet, um höflich zu sein …“

„Hast du schon eine Unterkunft gefunden, Sean?“, kam Will ihr zu Hilfe.

„Noch nicht.“ Sean entspannte sich merklich. „Ich wollte mich am Wochenende umsehen, aber vielleicht weißt du eine gute Adresse?“

Will nahm einen Apfel aus der Obstschale und begann ihn sorgfältig zu schälen. „Ally sucht einen Untermieter.“

„Will!“, fuhr Ally auf. „Das stimmt nicht. Ich …

Will hob den Kopf, sein altes, freundliches Gesicht verriet nicht, was er dachte. „Sie haben gesagt, dass Sie einen neuen Untermieter suchen, seit Fiona in London ist.“

„Nun ja, aber …“ Ally befeuchtete sich die Lippen. Am liebsten hätte sie Will auf der Stelle umgebracht! „Fiona war Hebamme und …“

Sean hatte sein überlegenes Lächeln wieder gefunden. „Ich kann auch Babys zur Welt bringen, wenn das zu Ihren Bedingungen gehört.“

„Sie wissen genau, dass es nicht so gemeint war.“

Ally konnte sich nur mühsam beherrschen. Nie, niemals würde sie diesen Mann bei sich aufnehmen, und wenn sie das Geld noch so dringend brauchte! Er würde herausfinden, dass sie ihn mit Charlie absichtlich getäuscht hatte. Er hielt Charlie für einen Freund. Nicht auszudenken, wenn er herausfand, dass Charlie eigentlich Charlotte hieß und ihre Tochter war!

Sean sah Will von der Seite an. „Sie hat gemeint, dass Sie mich nicht haben will.“

„Unsinn“, widersprach Will, „es ist die perfekte Lösung. Die Scheune verschlingt jeden Penny, den Ally verdient.“

Sean horchte auf. „Sie wohnen in einer Scheune?“

„Sie würde Ihnen nicht gefallen“, antwortete Ally und warf Will einen drohenden Blick zu. Er versuchte schon wieder, Amor zu spielen. Mit jedem Mann unter neunzig wollte er sie verkuppeln! Warum gönnte er ihr nicht ihre Ruhe?

„Es ist die perfekte Lösung“, beharrte Will. „Ally braucht einen Untermieter, und Sean sucht eine Wohnung.“

Ally wollte protestieren, aber dann fiel ihr Blick auf Wills Gesicht. Es lag so viel Hoffnung und Sehnsucht darin, dass sie schmerzlich daran denken musste, wie sehr er ihr in all den Jahren geholfen hatte. Ohne ihn hätte sie wahrscheinlich nicht überlebt, und vielleicht war dies der richtige Augenblick, um ihre Schuld ihm gegenüber abzutragen.

Vielleicht würde er aufhören, einen Mann für sie zu suchen, wenn sie Sean bei sich aufnahm. Vielleicht würde er endlich einsehen, dass sie nicht interessiert war, und wenn er ihr noch so viele Männer zuführte! Sean würde nur ein Untermieter sein und nicht mal die Scheune mit ihr und Charlie teilen. Der angebaute Stall war mit allen sanitären Anlagen ausgestattet. Sean würde völlig unabhängig sein, und sie würden sich höchstens – und hoffentlich selten – im Vorhof begegnen.

„Würde es Sie stören, in einem Stall zu schlafen?“, fragte sie unfreundlich.

Sean blieb aufreizend ruhig. „Stehen die Pferde noch drin?“

„Im Gegenteil“, versicherte Will. „Ally hat den Stall kostspielig zu einer Wohnung umbauen lassen.“

„Tatsächlich?“ Sean sah Ally spöttisch an, aber sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. „Hat Ihr Mann nichts dagegen, dass Sie untervermieten?“

„Ally ist nicht verheiratet“, berichtigte Will ihn hastig. „Habe ich das nicht erwähnt?“

Ally stieg das Blut ins Gesicht. Danke, Will, dachte sie. Danke vielmals. Jetzt, da ihr alter Freund alles so perfekt in Szene gesetzt hatte, wusste sie nicht mehr, ob sie lachen oder vor Wut schreien sollte.

„Aber sie lebt nicht allein“, beharrte Sean und sah Ally dabei seltsam an.

„Nicht allein? Nun, da ist Charlie, aber …“ Will fing Allys beschwörenden Blick auf und schwieg verwirrt. „Wie auch immer … Ich muss Anrufe erledigen und überlasse es euch beiden, euch über die Einzelheiten zu einigen.“

Ally sah Will mit offenem Mund nach. Er hatte sie wie eine Marionette gelenkt, und dafür hasste sie ihn.

Sean beugte sich vor. „Noch Kaffee?“

„Nein, danke.“ Ally hätte vor Verlegenheit im Boden versinken mögen. „Ich weiß wirklich nicht, was in Will gefahren ist …“

„Nein?“ Sean zuckte die Schultern. „Dann sind Sie vielleicht doch die alberne Blondine, für die ich Sie zuerst gehalten habe. Er versucht, ein Paar aus uns zu machen, ist das nicht offensichtlich? Ich verstehe nur nicht, warum er das tut, denn angeblich sind Sie doch gebunden.“

Ally begann das Geschirr zusammenzustellen, um ihr Unbehagen zu verbergen. „Wenn Sie zu der albernen Blondine zurückkehren, Dr. Nicholson, kehre ich zu dem irren Macho zurück. Eine Partnerschaft mit Ihnen kann ich mir im Leben nicht vorstellen. Für Sie gehört eine Frau ins Haus und sorgt für ihren Mann. Von einem neuen Männerbild haben Sie bestimmt noch nie gehört.“

„Ein neues Männerbild?“, wiederholte Sean spöttisch. „Was versteht man denn darunter?“

„Einen Mann, der die Frau respektiert“, antwortete Ally hitzig. „Der sich nicht zu schade ist, seine eigenen Hemden zu bügeln oder das Geschirr abzuwaschen, und der mich bestimmt nicht daran hindern würde, allein in den Bergen spazieren zu gehen, wenn ich das will.“

„Und diesem neuen Männerbild entspreche ich nicht?“

„Sie?“ Ally gab einen verächtlichen Laut von sich. „Sie stammen nicht aus dem Mittelalter, sondern aus der Steinzeit. Sie sind ein Höhlenmensch, der statt des Lendenschurzes Anzüge trägt.“

Sean amüsierte sich immer mehr. „Wenn Sie mich im Lendenschurz sehen wollen, Dr. McGuire, brauchen Sie es nur zu sagen.“

„Sie sind einfach unmöglich!“ Lebhafte Bilder von einem nackten Sean Nicholson erschienen vor Allys geistigem Auge und ließen sie vor Verlegenheit und Wut erröten. Sean bemerkte es, wie an seinem selbstgefälligen Lächeln zu erkennen war.

„Warum sind Sie nicht verheiratet, Dr. McGuire?“

„Das geht Sie nichts an!“

„Entspricht Charlie wenigstens dem neuen Männerbild?“

„Lassen Sie uns eins klarstellen“, Allys blaue Augen funkelten unheilvoll, „ziehen Sie meinetwegen in den Stall. Sie machen Will damit eine Freude, und ich habe, ehrlich gesagt – nicht die Kraft, mich seinen Wünschen zu widersetzen. Aber merken Sie sich eins: Sie sind mein Untermieter und sonst nichts. Kommen Sie nicht auf die Idee, falsche Schlüsse daraus zu ziehen.“

„Dann ist ja alles geklärt.“ Sean trank seinen Kaffee aus und stand auf. Plötzlich fehlte Ally in dem kleinen, sonst so gemütlichen Raum die Luft zum Atmen. „Ich respektiere es, wenn eine Frau an einen andern Mann gebunden ist. Sollte sie allerdings ungebunden sein …“ Sean trat dicht an Ally heran und sah ihr tief in die Augen. „Ja, dann sieht natürlich alles ganz anders aus.“

Ally wich instinktiv einen Schritt zurück. Hatte Sean ihr Spiel durchschaut? Ahnte er die Wahrheit über „Charlie“? Was würde geschehen, wenn er erfuhr, dass sie eine Tochter hatte?

Nichts, gar nichts würde geschehen, weil sie selbst dafür sorgen würde. Das war sie sich und Charlie schuldig.

3. KAPITEL

Dank der Neubesetzung der Unfallstation verliefen die Sprechstunden ruhiger und gleichmäßiger, was auch die Patienten dankbar zur Kenntnis nahmen.

„Sie haben einen neuen Arzt“, meinte eine von Allys älteren Patientinnen, indem sie sich gemütlich zurechtsetzte und eine erwartungsvolle Miene machte.

Ally musste sich zusammennehmen. Sie hatte viele angenehme Patienten, aber einige gingen ihr auf die Nerven.

„Ganz recht, Mrs Turner. Wir freuen uns sehr über die zusätzliche Hilfe.“

Mrs Turner kramte in ihrer Handtasche und zog ein Taschentuch heraus. „Wird er länger bleiben als sein Vorgänger?“

Ally rang sich ein Lächeln ab. Von ihr aus konnte er noch schneller verschwinden als Tim, damit sie endlich wieder ruhig schlafen konnte.

„Dr. Nicholson hat nur die Vertretung übernommen. Und nun zu uns, Mrs Turner. Was kann ich für Sie tun?“

Die alte Dame sah Ally verwirrt an. „Für mich? Oh, nichts, meine Liebe.“

„Aber Sie sind doch zu mir gekommen“, wandte Ally ein und wurde mit einem Lächeln belohnt.

„Ach ja, natürlich. Meine Ohren, Dr. McGuire.“ Mrs Turner schüttelte leicht den Kopf. „Ich höre ständig Geräusche.“

Ally nahm ihr Auriskop und untersuchte sorgfältig beide Ohren der Patientin. „Es ist alles in Ordnung“, stellte sie fest. „Ihre Ohren müssen nur gründlich gespült werden. Lassen Sie sich bei Schwester Lucy einen Termin geben. Sie sollten mehrere Tage lang etwas Olivenöl in Ihre Ohren träufeln, ehe Sie zur Spülung kommen.“

Mrs Turner schien eher enttäuscht zu sein, und Ally entließ sie mit einem heimlichen Seufzer. Es fiel ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, denn sie überlegte unentwegt, wie sie mit Sean Nicholson fertig werden sollte. Eins war ihr klar – er gehörte zu den Männern, die sich nicht so leicht abschütteln ließen. Was er wollte, bekam er auch.

Ally strich sich über die Stirn, hinter der es schmerzhaft pochte, und empfing die nächste Patientin mit einem mechanischen Lächeln.

...

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