Süße Sehnsucht nach dem Earl

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Vor Jahren hat Miss Regina Leyland mit dem Earl of Knightly, ihrem Verlobten, sinnliche Stunden genossen – dann ließ er sie am Altar sitzen! Gleichermaßen erfüllt von Rachegelüsten und Sehnsucht nach der vergangenen Zärtlichkeit verfasst sie als „Miss Anonymus“ einen höchst pikanten Bericht über ihre erotischen Erlebnisse. Doch als der ton davon Wind bekommt, sieht Lord Knightly sich gezwungen, seinen guten Ruf zu verteidigen – und steht plötzlich vor ihrer Tür. Jetzt sieht Regina den Mann wieder, dem sie einst ihr Herz geschenkt hat und vor dem sie seit Jahren ein süßes Geheimnis verbirgt …


  • Erscheinungstag 30.11.2024
  • Bandnummer 168
  • ISBN / Artikelnummer 0840240168
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Lorraine Heath

Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt mit ihrem Mann in Texas. Noch mehr über die Autorin erfahren Sie auf ihrer Homepage: www.lorraineheath.com

1. KAPITEL

Ich hätte im Ballsaal sein und tanzen sollen. Stattdessen wartete ich im Garten, weit außerhalb von jedem Licht, darauf, dass ich leise Schritte näher kommen hörte. Sein vertrauter verführerischer Duft nach Sandelholz, gemischt mit seinem eigenen, einzigartigen Geruch, erreichte mich als Erstes, sodass ich wusste, dass er es war. Ich blieb also still stehen und wartete, während mein Atem vor Aufregung zu rasseln begann. Langsam legte er seine Arme um mich und schloss sie so um meinen Körper, dass er mit seinen großen, starken Händen meine Brüste umfasste und sanft drückte, während er mich an sich zog. Schließlich schmiegte sich mein Rücken an seine breite Brust. Dann presste er seine Lippen, die heiß waren, als hätten sie die Feuer des Hades überstanden, in meinen Nacken. Ein köstlicher Schauer überkam mich. In diesem Augenblick war mir klar, dass ich alles getan hätte, was Lord K. von mir verlangte.

Meine geheime Leidenschaft, Erinnerungen, Anonymus

London

5. Juni 1875

Arthur Pennington, der Earl of Knightly, wäre an diesem Abend wirklich lieber zu Hause geblieben, anstatt sich in seinen Lieblingsclub zu begeben. Die aufmerksamen Blicke von jungen Gecken, die ihm nacheifern wollten, waren nichts Neues für ihn, ebenso wenig wie das kokette Lächeln von Frauen – verheiratet oder nicht, jung oder alt –, die ihn in eine abseitige Ecke locken wollten, oder die mordlustigen Blicke von Männern, die er ausgestochen hatte, geschäftlich oder in anderer Hinsicht. Er genoss es, zu gewinnen, er liebte es sogar.

Als junger Mann war das Spiel für ihn vielleicht noch so einfach gewesen, wie der Erste zu sein, der einer Debütantin das Küssen beibrachte. Damals war er noch nicht so wählerisch gewesen. Ein Kuss war nur ein Kuss. Über die Jahre waren die Spiele jedoch immer komplizierter geworden, seine Siege nicht mehr ganz so offensichtlich. Er hatte festgestellt, dass es wunderbar sein konnte, der Einzige zu sein, der wusste, dass er gewonnen hatte. Anonymität hatte ihre Vorteile.

Doch seit Kurzem wurden ihm immer öfter neugierige Blicke zugeworfen, die länger dauerten und wesentlich vielsagender waren. Außerdem wurden sie von Flüstern und Nicken begleitet, leisem Gemurmel und hin und wieder einem Kichern. Letzteres kam normalerweise von einem jungen Ding, das seine erste Saison erlebte, das noch nie geküsst worden war und gleichsam verschämt wie leicht durch jegliche Andeutung von etwas zu erschrecken war, das sich zwischen Erwachsenen, die sich einig waren, abspielen mochte. Er hatte gehofft, dass sich all die Gerüchte inzwischen, sechs Wochen nach Beginn der Saison, zerstreut haben würden, aber die vornehme Gesellschaft liebte nichts mehr als gute Klatschgeschichten. Und in letzter Zeit war er geradezu zum Lieblingsthema aller Klatschbasen geworden.

„Springer, es sieht so aus, als ob du diese Saison mein Nachfolger als der Schuft geworden wärst, dem man um jeden Preis aus dem Weg gehen muss.“

Springer kniff die Augen zusammen und wandte seinen Blick langsam David Blackwood zu, der auch als Läufer bekannt war. Er saß neben ihm und auf seinem raubeinig gut aussehenden Gesicht lag ein Grinsen. Vor zwei Monaten hatte man seinen langjährigen Freund noch als Läufer den Lump bezeichnet, weil er dafür bekannt gewesen war, dass er verheiratete Damen in so offensichtlicher Art und Weise in den Ruin stürzte, dass sie bald darauf geschieden wurden. Inzwischen wurde er öfter als der liebestrunkene Läufer bezeichnet, was er seiner frischgebackenen Ehefrau Marguerite zu verdanken hatte. Sie saß auf dem Sessel auf der anderen Seite von Läufer. Die beiden hatten ihre Finger wie so oft auf skandalöse Weise ungeniert ineinander verschränkt, als könnten sie die Hände nicht voneinander lassen. Allerdings war eine solche Demonstration von Zuneigung im Twin Dragons nichts Ungewöhnliches. Seit Kurzem durften auch Frauen Mitglieder in dieser Spielhölle werden, und seitdem herrschte in diesen Mauern kein Mangel mehr an Liebesgeplänkel.

Nicht dass Springer sich hier jemals selbst etwas gegönnt hätte. Heutzutage war es ihm am liebsten, wenn seine persönlichen Angelegenheiten so wenig wie möglich an die Öffentlichkeit kamen. Das galt auch für die geschäftlichen. Wenn er ehrlich war, eigentlich für alle. Er war zu einem Buch mit sieben Siegeln geworden. Selbst für diejenigen Menschen, die ihn besser als alle anderen zu kennen glaubten. Die anderen Schachspieler.

Sie saßen gerade, jeder mit einem Glas Scotch in der Hand, in ihrer Lieblingsecke in der Bibliothek des Clubs, wo sie meistens Investitionsstrategien wie die besprachen, die zu ihrem Spitznamen geführt hatten.

„Ich weiß ja nicht genau, wie du zu diesem Schluss gekommen bist“, erwiderte er schließlich kurz und bündig. Eine Lüge. Er wusste sehr genau, wie es dazu gekommen war – wegen eines vor Kurzem erschienenen Buches, das nicht ganz so viele Siegel hatte wie er. Es war sogar von so vielen Neugierigen aufgeschlagen worden, dass es ziemlich schwierig geworden war, ein Exemplar davon aufzutreiben.

„Wie du zweifellos weißt“, stellte Turm mit Nachdruck fest, „wird viel darüber spekuliert, dass du Lord K. sein könntest.“

„Ich bin doch bei Weitem nicht der einzige Lord K. Es könnte sogar unser König hier sein“, sagte Springer und nickte mit dem Kopf in die Richtung des Duke of Kingsland, der ebenfalls seine Frau mitgebracht hatte, Penelope. Die jedoch war ebenso skrupellos, wenn es um Investitionen ging, wie sie alle, und sie war schon oft bei ihren Besprechungen dabei gewesen, auch schon bevor König klar geworden war, dass er bis über beide Ohren in sie verliebt war und sie zu seiner Herzogin gemacht hatte.

„Ich bin ein Herzog“, stellte König fest. „Mich würde man nicht Lord irgendwas nennen.“

„Es ist ein Roman. Vielleicht hat sie diesen Namen benutzt, um die Leute auf eine falsche Fährte zu führen.“

„Oder er“, erwiderte Marguerite knapp. „Dass das Buch aus der Sicht einer Frau geschrieben ist, bedeutet schließlich noch lange nicht, dass es auch von einer Frau geschrieben sein muss.“ Als Privatermittlerin war sie tendenziell misstrauisch und verließ sich nie darauf, dass die Dinge oder die Menschen das waren, was sie zu sein vorgaben. Das Doppelleben ihres Ehemannes hatte das natürlich mehr als bestätigt.

„Hast du es gelesen?“

„Nein, aber vor Kurzem wollte mir ein Gentleman den Auftrag geben, herauszufinden, wer der Autor ist. Er hatte Angst, dass das Buch vielleicht von seiner Frau stammt und dass sie darin eine Affäre beschreibt, die sie selbst gehabt hat.“

Es war beunruhigend, dass andere herauszufinden versuchten, wer der Autor war, vor allem falls seine Feinde Informationen über ihn sammelten, die sie gegen ihn verwenden konnten. Er hatte selbst überlegt, ob er Marguerite engagieren sollte, aber er wollte den Gerüchten, die die Runde machten, nicht noch mehr Nahrung geben, dass die Geschichte autobiografisch war und er tatsächlich eine zentrale Rolle darin spielte. „Hast du herausgefunden, wer sie ist?“

„Ich habe den Auftrag nicht angenommen. Ich fand nicht, dass es um ein wichtiges Anliegen ging, und in letzter Zeit habe ich ziemlich viel zu tun.“

„Meine Frau ist die beste Ermittlerin in ganz London“, sagte Läufer nicht ohne Stolz, obwohl es ihre Ermittlungen über ihn gewesen waren, die das Paar zusammengebracht hatten. Springer rechnete fast damit, dass seine Westenknöpfe abspringen würden, so sehr warf er sich in die Brust. „Sie kann sich aussuchen, womit sie ihre Zeit verbringt. Sie hat Wichtigeres zu tun, als herauszufinden, wer ein bestimmtes Buch geschrieben hat.“

„Es wäre vielleicht interessant zu wissen, ob die Autorin jemand aus deiner Vergangenheit ist, Springer“, sagte Turm. „Wen sie es nicht ist oder du sie nicht kennst, würde das dein Leugnen viel glaubwürdiger machen.“

Er seufzte. Es war absurd, dass er sich überhaupt darum scherte, was die Leute von ihm dachten. „Ich hätte gedacht, dass mein Wort ausreicht, dass ich es nicht gewesen bin.“

„Aber wie kannst du so sicher sein, wenn du nicht genau weißt, wer es geschrieben hat?“

„Weil ich mich nicht mit Frauen in Gärten herumtreibe, um Gottes willen.“ Außer einmal, vor vielen Jahren, als er noch ein ganz anderer Mensch gewesen war. Aber diese Frau, die aus einer skandalösen Verbindung geboren worden war, hätte niemals einen solchen Müll geschrieben. Dazu wusste sie zu gut, was ein makelloser Ruf wert war. Sie hatte sich größte Mühe gegeben, den Status zu erhalten, den ihr Vater für sie etabliert hatte. Sie hatte eine Reinheit ausgestrahlt, die unweigerlich zu einer vorteilhaften Ehe mit einem Mitglied des Hochadels hätte führen müssen. Doch sie hatte in ihrer allerersten Saison eine schlechte Wahl getroffen. Sie hatte sich für ihn entschieden. Er nahm an, dass die Reue deswegen sie bis an ihr Lebensende verfolgen würde. Er hatte deswegen jedenfalls schlaflose Nächte gehabt.

„Hast du es denn gelesen?“, fragte Turm.

„Nein, aber ich habe genügend Männer und Frauen über die verfluchte Gartenszene reden hören.“ Von den zahlreichen Vätern ganz abgesehen, die ihn gewarnt hatten, dass er sich sofort und ohne Umwege auf den Weg zum Altar machen konnte, wenn er eine ihrer Töchter auf einen Spaziergang im Garten einlud, ein Schicksal, dem er nicht ohne schreckliche Folgen würde entgehen können. Er hatte überlegt, ob er einfach mit mehreren Damen Spaziergänge in Gärten unternehmen sollte, um zu zeigen, wie wenig er auf Drohungen gab und dass man ihn ganz bestimmt nicht zu einer Ehe zwingen würde – oder zu irgendetwas anderem, wozu er keine Lust hatte. Andererseits konnte er den Vätern wohl kaum Vorwürfe machen, weil sie sich Sorgen machten. Sie hatten ihm einmal vergeben, dass er sich einer Frau gegenüber ungebührlich benommen hatte. Sie hatten ihn sogar, sehr zu seinem Leidwesen, als einen Helden gefeiert, aber es waren ja auch nicht ihre Töchter gewesen, die er betrogen hatte.

In seinem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und er sah zu Königs jüngerem Bruder auf. Der junge Mann trat zu ihnen an den Tisch und wurde von seinem Bruder begrüßt. „Lawrence, möchtest du dich zu uns setzen?“

„Eine Einladung in den Kreis der Schachspieler? Ich fühle mich geehrt.“ Er schnappte sich schnell einen der mit Leder bezogenen Ohrensessel aus einer anderen Sitzgruppe, schob ihn zwischen König und Springer und ließ sich hineinfallen. Er grinste bis über beide Ohren. „Es sind ja schon fast alle Figuren versammelt – König, Springer, Läufer, Turm und zwei Damen –, wahrscheinlich bin ich dann der Bauer.“

„Man darf die Bedeutung eines Bauern niemals unterschätzen“, sagte Springer.

Lawrence wackelte mit den Augenbrauen. „Vor allem, wenn er es schafft, seltene Güter in die Finger zu bekommen.“ Er griff in seine Jackentasche und holte ein ledergebundenes Buch hervor, das er vorsichtig auf den Tisch legte, als sei es zerbrechlich und empfindlich. Der Einband trug einen goldgeprägten Titel. Meine geheime Leidenschaft, Erinnerungen.

Niemand rührte sich. Niemand griff danach.

„Wo zum Teufel hast du das her?“, fragte König mit einem erstaunten Flüstern, als ob plötzlich ein seit Langem verschollener Schatz vor ihm läge und ein Augenblick der Andacht angebracht wäre.

„Lord Chesney hat es beim Kartenspielen als Einsatz benutzt. Zu seinem Pech und meinem Glück hatte ich das bessere Blatt. Ich freue mich schon sehr auf die Lektüre, denn soweit ich weiß, ist es ziemlich unanständig. Chesney hat beinahe geweint, als er verloren hat. Er hat gesagt, dass es wegen Unsittlichkeit verboten werden soll.“

„Dann sollten wir es alle lesen“, sagte Penelope. „Man darf den Menschen nichts vorenthalten, was ihnen Freude macht. Und wer entscheidet denn, was unsittlich ist? Ich habe noch kein Museum und keine Galerie besucht, in der keine nackten Skulpturen stehen und keine Bilder hängen, auf denen eine Menge Haut zu sehen ist. In dieser Umgebung findet niemand etwas dabei. Warum dann hier?“

„Dir liegt ziemlich viel an dieser Sache“, sagte Springer.

„Mir will einfach nicht in den Kopf, wieso es etwas anderes sein soll, den Körper eines Menschen oder einen Akt zu beschreiben, als ihn zu malen, und ich habe gehört, dass dieses Buch sehr in die Einzelheiten geht. Auch wenn ich nichts Genaueres weiß. Ich kann mir höchstens vorstellen, was man als unsittlich begreifen könnte.“

„Vielleicht befürchten diejenigen, wer auch immer sie sind, die entscheiden, wo die Grenzen der Sittlichkeit liegen, dass sie weniger Einfluss darauf haben, was sich jemand vorstellt, der liest, als auf das, was auf einer Leinwand abgebildet ist.“

„Springer sollte es zuerst lesen“, sagte Läufer schnell. Er war offensichtlich nicht daran interessiert, eine philosophische Diskussion anzufangen. „Dann kann er uns sagen, ob es unsittlich ist.“

„Du hast nicht verstanden, was ich sagen wollte“, sagte Penelope. „Einige von uns werden es vielleicht unsittlich finden, andere nicht. Wer entscheidet dann, wer recht hat?“

„Ich habe überhaupt kein Interesse“, log Springer. Er brannte darauf, es zu lesen, herauszufinden, ob die Fantasie der gelangweilten Damen aus der vornehmen Gesellschaft einfach Amok gelaufen war, wenn sie sich ihn als die Hauptfigur vorstellten, weil er sich in den vergangenen Jahren zurückgehalten hatte und den Damen – vor allem denen, deren Mütter sie ihm aufdrängten – nur die Aufmerksamkeit widmete, die die Höflichkeit verlangte. Auf Bällen tanzte er kaum noch. Er ging niemals in Begleitung ins Theater, obwohl er eine Loge hatte. Er blieb so gut er konnte für sich.

„Natürlich hast du Interesse an dem Buch“, sagte Läufer. „Du willst dir vielleicht nicht anmerken lassen, wie sehr dich die Gerüchte stören, dass der Liebhaber der Frau große Ähnlichkeit mit dir hat, aber du musst doch neugierig sein. Wenn du das Buch liest, kannst du Munition sammeln, um den Spekulationen ein Ende zu setzen.“

„Wenn ich mich nicht darum kümmere, geht es auch wieder vorbei.“

„Nichts, um das man sich nicht kümmert, geht vorbei“, sagte Penelope. „Irgendwann trifft es einen.“

Er wusste nicht genau, warum er den Eindruck bekam, sie spräche aus Erfahrung. Seine beiden verheirateten Freunde stellten sich stets vor ihre Damen, und Springer vermutete, dass sie alle Geheimnisse hatten. Er auf jeden Fall auch.

Er starrte das Buch an, das so harmlos auf dem Tisch lag, als könne es auf keinen Fall ein Stein des Anstoßes sein, obwohl er sicher war, dass es Zerstörungskraft hatte. Zumindest machte es ihm das Leben schwer, weil es – und damit auch er – Gesprächsthema Nummer eins war. Die Leute wurden immer unverschämter, sie fragten ihn schon von Angesicht zu Angesicht, ob er Lord K. wäre. Er hätte liebend gerne das Buch in die Hand genommen und die Seiten aufgeblättert, bis er alle Geheimnisse darin entdeckt hatte.

„Verflucht noch einmal“, knurrte er schließlich, ehe er das Buch packte. „Ich nehme es und sei es nur, damit ihr es nicht in die Finger bekommt. Können wir jetzt über etwas Erbaulicheres reden? Die Pest vielleicht?“

Die Mistkerle, die er zu Freunden hatte, besaßen die Frechheit, zu grinsen und zu feixen. Wenn er das Buch doch nur liegengelassen hätte, denn er hatte jetzt schon das Gefühl, dass es ihm die Fingerspitzen verbrannte und in seine Seele einsickerte, wo es ihm keine Ruhe mehr lassen würde, bis er alles wusste.

Miss Regina Leyland mochte schummrige Ecken. Vor allem die im Twin Dragons. Der Tisch, den sie bevorzugte und an dem sie jetzt saß, stand in genau so einer Ecke. Sie wusste nicht genau, wie es dazu gekommen war, dass das Pokerspiel, das in Amerika offensichtlich sehr beliebt war, zum Repertoire der Vergnügungen in diesem Etablissement gehörte. Es war auf jeden Fall schnell zu ihrem Lieblingsspiel geworden und sie konnte inzwischen die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass sie ein Blatt auf der Hand hatte, mit dem sie gewinnen musste. Sie war außerdem sehr gut darin geworden, ihre Mitspieler zu durchschauen und zu erkennen, ob sie blufften.

Sie war am Rand der feinen Gesellschaft aufgewachsen, sodass sie mehr als genug Zeit gehabt hatte, die Menschen unauffällig zu beobachten, die an ihr vorbeigingen, vorauszusagen, was sie als Nächstes tun würden, und herauszufinden, ob sie recht hatte. Sie war wie ein Kind gewesen, das sich die Nase am Schaufenster eines Spielzeugladens plattdrückte, sich danach sehnte, hineinzugehen und dort etwas zu entdecken, das nur für sie gemacht war. Sich die richtige Puppe auszusuchen, mit der sie Gemeinsamkeiten mit all den anderen kleinen Mädchen fand. Endlich von ihnen akzeptiert zu werden.

Aber das hatten sie nie getan und so hatte sie einfach beobachtet. Und während sie beobachtete, hatte sie gelernt, Temperament und Laune von Menschen zu erkennen, zu sehen, wann sie wütend waren oder traurig oder verliebt. Sie wusste genau, wer gütig war und wer unangenehm. Wem sie den Vorzug geben musste und wen sie meiden musste. Sie hatte sich nur ein einziges Mal in ihrem Leben vollkommen und umfassend geirrt. Aber das war eine Lektion gewesen, die sie nicht wieder vergessen hatte, und ein Fehler, den sie nicht noch einmal machen würde.

Von ihrem Beobachtungsposten am Tisch mit dem Rücken zur Wand hatte sie einen ungehinderten Blick auf die Leute, die die Spielhölle betraten, und sie beobachtete sie oft, bis sie in einem der vielen Flure verschwanden, die zu Salons führten, in denen andere Unterhaltungsmöglichkeiten geboten wurden. Mit ihrer blühenden Fantasie malte sie sich aus, wohin sie gingen, mit wem sie sich trafen und was sie dann vorhatten.

Und so hatte sie auch das Eintreffen von Lord Knightly beobachtet, einem Mann, den sie früher leidenschaftlich und mit jeder Faser ihrer Seele geliebt hatte, mit derselben Heftigkeit, wie sie ihn jetzt aus tiefster Seele verabscheute. Vor dem Altar stehengelassen zu werden konnte die Gefühle einer Frau von Grund auf verändern. Sie war vor fünf Jahren zwar eigentlich noch keine Frau gewesen, sondern eher ein unschuldiges Mädchen, trotz ihres fortgeschrittenen Alters von zweiundzwanzig. Sie hatte an Hoffnungen und Träume geglaubt und daran, dass es wahr war, dass die Liebe die Macht hatte, alle Hindernisse zu überwinden.

Beschützt und behütet. Eine Prinzessin hatte ihr Vater sie immer genannt. Er war ihr Ritter und Beschützer gewesen und sie hatte jemanden gesucht, der seinen Platz einnehmen konnte. Der Earl of Knightly hatte scheinbar alle Voraussetzungen erfüllt – aber dann leider doch nicht.

Sie hatte in der Kirche darauf gewartet, zum Altar geführt zu werden, in einem elfenbeinfarbenen Kleid, das von Charles Worth in Paris persönlich entworfen worden war. Sie war noch nie so glücklich gewesen und hatte geglaubt, dass die Freude, die sie empfand, mit den Jahren nur noch mehr werden würde.

Knightly war zu spät gekommen und nur um ihr mitzuteilen, dass er es sich anders überlegt hatte und sie doch nicht heiraten konnte. Keine Erklärung, bloß die generelle Feststellung, dass ihm klar geworden war, dass sie kein gutes Paar waren.

Sie hatte sich nicht anmerken lassen, wie sehr es sie getroffen hatte, dass er sie verlassen hatte, oder wie sehr es ihr wehgetan hatte. Stattdessen war sie auf eine dreijährige Reise durch Europa gegangen und hatte für ein Magazin über ihre Eskapaden geschrieben. Allerdings wurde oft die Version ihrer Abenteuer abgedruckt, die sie sich ausgedacht hatte, anstatt der Realität. Doch der Unterschied war niemandem aufgefallen. Vor allem hatte sie entdeckt, dass das Schreiben eine Leere in ihrer Seele füllte, einen hohlen Schmerz, einen bodenlosen Abgrund, in dem sie sich an dem schicksalhaften Morgen verloren hatte, an dem sie in der Kirche von St. George auf ihre Trauung gewartet hatte – nur um im letzten Augenblick verstoßen zu werden.

Jetzt, mit siebenundzwanzig, interessierte sie sich für niemandes Meinung außer ihrer eigenen. Sie kam hierher, wo die meisten Mitglieder aus dem Hochadel stammten, und stellte ihren schlechten Ruf zur Schau, während sie ihr Geld nahm. Dabei gab sie sich selbstbewusst und unerschrocken. Auf sie blickte man nicht herab. Trotz der Umstände, unter denen sie zur Welt gekommen war, war sie immer noch die Tochter eines Earl und die einer ausgezeichneten Schauspielerin. Sie war stolz auf ihr Erbe. Das konnte ihr niemand nehmen.

Sie sah sich die beiden Damen an, die sie gerade auf der Hand hatte. Die anderen Karten waren wertlos, aber die Damen besaßen Macht, genau wie sie. Sie besaß die Macht, zu zerstören, den zu zerstören, der sie betrogen hatte. Und das würde sie auch tun. Es war nur eine Frage der Zeit.

Als sie aufsah, erblickte sie Knightly – offenbar hatte er den Tisch verlassen, an dem er sich direkt nach seinem Eintreffen niedergelassen hatte. Jetzt durchquerte er mit langen Schritten den Salon, in dem gespielt wurde. Unglaublich selbstbewusst, sogar regelrecht arrogant. Auf abscheuliche Weise. Sie überlegte, an welchem Tisch er sich wohl niederlassen würde. An diesem mit Sicherheit nicht, weil alle Plätze besetzt waren. Dann schalt sie sich selbst dafür, dass sie überhaupt über ihn nachdachte. Nach all den Jahren sollte sie jede Erinnerung an ihn aus ihren Gedanken getilgt haben, aber es war, als ob ein Maler wirklichkeitsgetreue Porträts von jedem einzelnen ihrer gemeinsamen Augenblicke in ihren Kopf gemalt hätte. Von einem höflichen Gruß, einer versehentlichen Berührung ihrer Finger, während sie sich angesehen hatten, einem erregten Blick, der zu lange gedauert hatte, einem Spaziergang im Park oder in einem Garten, geflüsterten Worten und gebrochenen Versprechen.

Seit dem Vormittag, als er ihr das Herz gebrochen hatte, hatten sie nicht miteinander gesprochen, hatten einander nur flüchtig gesehen – aus großer Entfernung. Dabei wollte sie es unbedingt belassen. Es war nicht gerecht, dass sein Handeln nur ihren Ruf befleckt hatte, nicht aber seinen, dass die vornehme Gesellschaft es begrüßt hatte, dass er frei von ihr war, während man sie dafür geschmäht hatte, dass sie es gewagt hatte, davon zu träumen, dass ein Mann wie er eine Frau wie sie tatsächlich lieben könnte.

Vielleicht hatte er sie ohnehin nur umworben, um sie glauben zu machen, dass ihre Herkunft keinen Unterschied machte, und sie anschließend zum Abschuss freizugeben, weil sie es gewagt hatte, sich Hals über Kopf in ihn zu verlieben. Sie zu demütigen, weil sie davon geträumt hatte, dass jemand anders als ihre Eltern sie liebenswert finden könnte. Ihr einen Denkzettel zu verpassen, weil sie die Frechheit besessen hatte zu glauben, dass sie es verdient hatte und würdig war, von der Bürgerlichen zur Gräfin aufzusteigen.

„Miss Leyland?“

Mit einem Ruck richtete sie ihren Blick auf den Kartengeber. Er schenkte ihr ein dünnes Lächeln. „Sie müssen die Karten auf den Tisch legen.“

Ach ja, sie war die Letzte gewesen, die den Einsatz erhöht hatte, und es sah so aus, als ob nur zwei andere Spieler mitgegangen waren. Die anderen drei hatten gepasst. Mit einer geübten, geschmeidigen Bewegung drehte sie ihre Karten um. Lady Warburton sah ihr fest in die Augen, als sie ihre zwei Buben umdrehte. Der Gentleman, der Regina direkt gegenüber saß, seufzte und warf seine Karten achtlos auf den Tisch. „Das war’s dann für mich.“

Er schob seinen Stuhl zurück.

„Was? Nein, warten Sie“, sagte sie mit viel zu viel Nachdruck in der Stimme, so viel, dass er in einer eher ungelenken Haltung innehielt. Er hatte sich teilweise über den Tisch gebeugt, sodass er den Hintern herausstreckte. Doch Knightly schlich noch immer zwischen den Spieltischen herum und sie sah deutlich, dass sein aufmerksamer Blick auf diese Ecke gerichtet war wie der eines Raubtiers, das seine Beute erspäht hatte. Herr, hilf der Beute, hätte sie beinahe laut gemurmelt. „Sie wollen sich doch die Gelegenheit nicht entgehen lassen, zurückzugewinnen, was Sie verloren haben.“

Nicht dass er sie wirklich bekommen würde. Der Mann war ein wahnsinnig schlechter Spieler, der offenbar glaubte, dass er gut bluffen konnte, obwohl ihm fast die Augen aus dem Kopf sprangen, wenn er etwas von Wert auf der Hand hatte, und er blinzelte, wenn er nichts hatte, als könne er, wenn er sich nur genug konzentrierte, die Karten, die er bekommen hatte, austauschen. Doch wenn die Karten einmal verteilt waren, musste man das Beste aus ihnen machen – im Spiel wie im Leben. Das wusste sie nur zu gut.

„Sie haben mir alles abgenommen, was ich für diesen Abend als Spielgeld dabei hatte. Ich würde niemals auf Kredit spielen.“

„Nun ja …“ Sie hätte beinahe das gesamte Geld, das in der Mitte des Tisches lag, zu ihm hinübergeschoben, aber wenn sie das getan hätte, hätte sie wie eine Närrin ausgesehen. Verzweifelt. Die Leute würden sich mit Sicherheit fragen wieso. Bleiben Sie nur noch ein paar Minuten, nur bis …

Zu spät. Der schöne Teufel war gekommen und legte seine große Hand auf die Schulter des Gentlemans. „Wenn Sie gehen wollen, übernehme ich Ihren Platz, alter Junge.“

Der alte Junge, der nicht einmal vierzig sein konnte, drehte sich um und grinste bis über beide Ohren. „Aber sicher doch, Knightly!“ Er beugte sich vor, als wolle er ihm ein Geheimnis anvertrauen. „Aber behalten Sie Miss Leyland im Auge. Sie hat mir all mein Geld abgenommen.“

Der Blick, mit dem Knightly sie aus seinen leuchtend blauen Augen ansah, war wie eine warme Liebkosung. Nein, nicht wie eine Liebkosung, wie ein Schlag mit tausend Schwertern. Musste er so verflucht gut aussehen in seiner schwarzen Jacke, der leuchtend blauen Weste und der grauen Krawatte? Mussten seine störrischen dunklen Locken ihm immer noch so einladend in die Stirn fallen? Es juckte sie in den Fingern, die Strähnen zu durchkämmen und sie wieder an ihren Platz zu legen, wie sie es tausend Mal getan hatte. Sie wollte nicht daran denken, wie sie diese Stirnlocke an der eigenen Stirn gekitzelt hatte, als er sich über sie gebeugt und sie geküsst hatte.

„Ich behalte Miss Leyland immer im Auge.“

Seine Stimme hatte noch immer dasselbe tiefe, volle Timbre, das die Macht besaß, die Sehnsucht in ihrem ganzen Körper zu erwecken. Sie wusste noch genau, wie sie früher seine Neckereien und seine Tändelei genossen hatte, wie sie von jedem Wort gefesselt gewesen war, das aus seinem Mund gekommen war. Jetzt wünschte sie sich nichts mehr als irgendein Leiden, das ihn verstummen ließ. Sie hob hochmütig das Kinn. „Weil Sie glauben, dass ich Ihnen in den Rücken fallen könnte? Lächerlich. Ich würde Sie natürlich von vorn erdolchen, damit Sie genau wüssten, wer ihnen den verheerenden Schlag versetzt hat.“

Die anderen Spieler, die mit am Tisch saßen, ächzten erschrocken und lachten verhalten. Der alte Junge wich zurück, als ob sie tatsächlich gerade jemanden mit einem Messer bedroht hätte.

„Ich hätte nichts anderes erwartet“, sagte Knightly und neigte dabei ein wenig den Kopf im Einverständnis, in Anerkennung, beinahe mit Respekt, zum Gruß, während er sie weiter durchdringend ansah. Wäre er tatsächlich ein Ritter auf dem Turnierplatz gewesen, hätte er jetzt vielleicht seine Lanze in ihre Richtung gereckt und um ihre Gunst gebeten. Natürlich hätte sie ihm niemals eine Schleife geschenkt wie damals, als sie ihn geliebt hatte.

Dann war der Augenblick vorüber. Er rückte den Stuhl zurecht und setzte sich auf den gefederten Sitz – der Club sorgte dafür, dass seine Mitglieder es immer bequem hatten, zweifellos um sie daran zu hindern, die Spieltische vorzeitig zu verlassen, solange sie noch Geld in den Taschen hatten. Als er saß, legte er ein Buch auf den Tisch.

„Oh, du liebe Güte, Sie haben ein Exemplar von Meine geheimen Leidenschaften ergattert“, fing Lady Letitia zu schwärmen an. Das Drama von eben war vollkommen vergessen. Das Kartenspiel offenbar ebenfalls. „Haben wir es in der Club-Bibliothek?“

Er fuhr mit einem seiner langen schlanken Finger über den Buchrücken und Regina versuchte, nicht daran zu denken, wie wunderbar es sich angefühlt hatte, wenn er das mit ihrem Rücken gemacht hatte. „Leider nicht. Jemand hat es vorhin beim Kartenspiel gewonnen.“

„Ich würde alles tun, um es in die Finger zu bekommen.“ Diese Finger spielten gerade mit dem Geld, das sie für ihren Wetteinsatz brauchte. „Eine Beschreibung der skandalösen Abenteuer einer Frau – so viel habe ich inzwischen gerüchteweise erfahren. Was für eine prickelnde Lektüre.“

„Manche Leute sagen, es seien gar keine Lebenserinnerungen“, hielt Viscount Langdon ihr entgegen, „sondern nur eine fiktive Geschichte, dass im Titel von Erinnerungen die Rede ist, soll nur Teil der Fantasie sein, die das Buch erschafft. Wie Fanny Hill, ein Roman, der angeblich die Erinnerungen einer frivolen Frau enthalten soll. So eine Veröffentlichung erregt mit Sicherheit viel mehr Aufmerksamkeit, wenn sie für ein Geständnis gehalten wird und nicht für das Produkt einer blühenden Fantasie. Es wird sogar bei White’s und auch hier im Wettbuch darauf gewettet, ob es sich um Wahrheit oder Erfindung handelt.“

„Selbst wenn es eine Erfindung ist: Man kann nicht über so intime Themen schreiben, wenn man keinerlei Erfahrung damit hat.“ Lady Letitia beugte sich ein wenig vor. „Würden Sie uns vielleicht die Freude machen, uns den ersten Absatz laut vorzulesen, damit wir uns ein Urteil bilden können?“

„Wir sind zum Kartenspielen hier“, stellte Regina rüde fest, da der Kartengeber vergessen zu haben schien, was seine Aufgabe an diesem Tisch war, „und nicht um uns witzige Geschichten anzuhören.“

„Haben Sie es gelesen?“, fragte Knightly.

„Ich habe das Buch selbstverständlich nicht gelesen. Ich verschwende meine Zeit nicht mit so einem Schund.“ Oder mit jemandem wie Ihnen. Sie sollte jetzt gehen, aber sie wollte ihm nicht die Genugtuung verschaffen, dass er sie vertrieben hatte.

„Woher wollen Sie wissen, ob es Schund ist, wenn Sie es nicht gelesen haben? Vielleicht ist es ein Werk, das die Jahrhunderte überdauern wird?“

„Mit einem aufreizenden Titel wie diesem? Es stammt mit Sicherheit aus der Feder von ein paar gelangweilten alten Jungfern.“ Sie war stolz darauf, dass ihre Stimme nichts über ihre Gefühle verriet. Warum musste er sie jetzt so triezen?

„Ich schlage vor, wir stimmen ab“, platzte Lady Letitia voller Begeisterung heraus. „Wer möchte, dass Lord Knightly uns den Anfang vorliest, hebt die Hand.“

Ihre Hand schoss sofort in die Höhe, genau wie die einer der beiden anderen Ladys. Selbst Lord Langdon, der Taugenichts, hob eine Hand und eine Augenbraue, als er Regina ansah, um ihr zu sagen, sie sollte nicht so prüde sein. Der Kartengeber mischte geduldig die Karten, als ob er keine andere Aufgabe hätte, als ihre Reihenfolge zu verändern.

Regina sah ihn wütend an. „Sie werden doch mit Sicherheit nicht zulassen, dass dieser Wahnsinn noch weitergeht.“

Er zuckte nur mit seinen schmalen Schultern. „Meine Anweisung lautet, dafür zu sorgen, dass die Clubmitglieder zufrieden sind.“

„Also, dieses Mitglied hier ist fürchterlich unzufrieden. Ich gehe mit meinem Gewinn woanders hin.“ Sie fing an, das gewonnene Geld einzusammeln, was sie sofort hätte machen sollen, als Knightly sich gesetzt hatte. Sie war versucht, ihm alles ins Gesicht zu werfen. Andererseits hatte sie etwas gegen die öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen. Sie war inzwischen sehr gut darin, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen, was zum größten Teil an dem Unhold lag, der ihr gegenübersaß.

„Komm schon, Reggie, sei keine Spielverderberin“, sagte Knightly. „Es schadet doch nichts, wenn der Kartengeber eine kurze Pause macht, während ich die Runde unterhalte.“

„Nennen Sie mich nicht so. Wir sind schon lange nicht mehr so vertraut miteinander.“ Sie hätte beinahe die Augen zugekniffen, so sehr wünschte sie sich, sie hätte andere Worte gefunden. Vertraut. Dabei sah sie vor ihrem inneren Auge brennende Küsse, hitzige Berührungen und glühende Blicke. Diese verdammten Stirnlocken, die ihm ins Gesicht fielen, als er sich vorbeugte …

„Verzeihen Sie bitte, Miss Leyland. Aber sind Sie nicht genauso neugierig auf das Buch wie alle anderen?“

„Haben Sie etwa noch nicht hineingesehen, um nach den Stellen zu suchen, die den Autor mit großer Wahrscheinlichkeit wegen unsittlichen Verhaltens vor Gericht bringen werden?“

„Falls man jemals herausfindet, wer der Autor ist – aber nein, ich habe vorhin Freunde besucht und wollte nicht unhöflich sein. Doch da ich darum gebeten worden bin“, er winkte mit der Hand in Richtung von Lady Letitia, „und nichts lieber tue, als die Neugier von jemandem zu befriedigen, tun Sie mir doch bitte den Gefallen.“

Er hatte ihre Neugier früher einmal befriedigt – mit einer Berührung, einem Kuss und noch viel mehr. Er hatte ihr Welten eröffnet, die sie sich nicht einmal vorzustellen gewagt hatte. Trotz der Katastrophe, in der ihr Verhältnis geendet hatte, war sie während ihrer gemeinsamen Zeit wie berauscht vor Glück gewesen, hatte geglaubt, dass sie wüsste, wie es war, geliebt zu werden. Vor allem hatte sie erfahren, wie es war, einen anderen Menschen zu lieben, von ganzem Herzen und bedingungslos. Sie hatte natürlich auch ihre Eltern immer geliebt, aber die Gefühle, die sie für ihn gehabt hatte, waren nicht an Blutsbande geknüpft. Sie waren allumfassend gewesen. Wie die Sterne am Himmel, unendlich.

Sie seufzte schwer, verdrehte die Augen und verschränkte die Arme unter ihren Brüsten. Ihr entging nicht, wie er daraufhin kurz den Blick senkte. Vor langer Zeit hatte er ihre Brüste bewundert und mit Küssen übersät. „Na gut. Ein paar Minuten lang halte ich es schon aus, dass Sie einen langweiligen Text vorlesen.“

Lady Letitia klatschte freudig erregt in die Hände und hüpfte in ihrem Sessel auf und ab. Alle anderen beugten sich vor, sogar der Kartengeber, obwohl der direkt neben Knightly saß. Regina behielt ihre stocksteife Haltung bei, um ihm keinen einzigen Anhaltspunkt darauf zu geben, dass es sie interessierte, wie er auf etwas reagierte, das nach Meinung vieler ziemlich frivol war.

Er holte seine Brille aus seiner Tasche und setzte sie sich auf die Nase. Dann schlug er das Buch mit denselben Fingern auf, mit denen er ihr früher Lust verschafft hatte, und blätterte die Seiten um. Er räusperte sich und las: „Kapitel eins. Der Gentleman. Für mich wird er immer der Gentleman sein. Der einzige, den ich nie vergessen konnte, den kein Mann je ersetzen könnte. Unsere erste Begegnung ereignete sich auf einem Ball. Ich muss mindestens hundert Männern vorgestellt worden sein, bevor er auftauchte. Doch als ich seine bezaubernden blauen Augen sah, hatte ich alle anderen sofort vergessen. Es war, als ob sie alle in Rauch aufgegangen und von einer warmen Brise davongetragen worden wären. Nur er war real. Nur er hatte Substanz. Nur er war von Bedeutung. Als Lord K. meine Hand nahm, sich über sie beugte und seine vollen Lippen auf meine Knöchel drückte, konnte ich die Wärme seines feuchten Mundes auf meiner Haut spüren, obwohl ich Handschuhe trug.“

Sie hatte vergessen, was für eine unglaublich schöne Stimme er hatte, wie viel Leidenschaft er in sie hineinlegen konnte. Wie er sie zum Lachen bringen konnte. Und zu Tränen rühren. Wie er ihren ganzen Körper in Brand stecken konnte, bis sie fluchte und vor Lust laut aufschrie. Die schrecklich verruchten Dinge, die er knurrte, um sie zur Ekstase zu bringen. Seine Stimme war gleichzeitig dunkel, tief, rau und weich. Sie war mit das Erotischste an ihm.

Sehr langsam klappte er das Buch zu, als wäre es plötzlich aus hauchdünnem, zerbrechlichem Glas. Oder vielleicht war er es. Vielleicht hatte seine Stimme auf ihn dieselbe Wirkung – erweckte alles zum Leben, bis er sich die erste Begegnung zwischen einem unschuldigen Mädchen und einem sehr erfahrenen Mann bildlich vorstellen konnte. Die Sätze waren zwar nicht geschmacklos, sie waren sogar ziemlich zahm, von der Erwähnung der Haut abgesehen, aber so wie er sie vorlas, weckten sie die Hoffnung auf schlüpfrige Bilder, die das Paar, und vielleicht auch den Leser, bald vor Verlangen brennen lassen würden.

„Sie wollen doch jetzt nicht aufhören“, sagte Lady Letitia atemlos.

Er sah Regina weiter mit seinen himmelblauen Augen an, während er erwiderte: „Wir hatten uns doch auf einen Absatz geeinigt.“

„Das kann unmöglich schon ein ganzer Absatz gewesen sein.“

Er wandte sich Lady Letitia zu und zwinkerte. „Vorfreude ist die schönste Freude.“

Vor allem, wenn es um das Verlangen ging. Er hatte sie so oft an den Rand der Ekstase getrieben, sie dort aushalten lassen, bis sie geglaubt hatte, sie müsse sterben, und sie dann wieder zum Leben erweckt, indem er sie überwältigt hatte. Sie hatte immer wieder gestaunt und war dankbar gewesen, dass die Natur das Laster mit einer so wunderbaren Lust belohnte.

Lady Letitia sah aus, als wäre sie den Tränen nah. Doch dann richtete sie sich auf und verkündete ohne Umschweife und mit Nachdruck: „Ich glaube, dass es sich in der Tat um die Erinnerungen einer Frau handelt – und dass sie ihn immer noch liebt.“

„Sie schreibt nirgendwo, dass sie ihn liebt“, sagte Knightly.

„Eine Frau kann einen Mann, den sie nicht liebt, leicht vergessen.“ Bei diesen Worten trat ein wissenden Leuchten in ihre Augen. „Erkennen Sie die Begegnung wieder, Lord Knightly? Sind Sie tatsächlich Lord K.?“

Er lachte leise, düster, sodass Regina ein Schauer über den Rücken lief. „Habe ich dafür gesorgt, dass sie jeden Mann vergessen, den Sie je kennengelernt hatten, als wir uns auf Ihrem ersten Ball begegnet sind, Lady Letitia?“

„Das ist wohl kaum eine Antwort, Mylord. Ich würde allerdings sagen, dass sich in dem Ausschnitt, den Sie vorgelesen haben, bedauerlich wenige Hinweise befinden. Es könnte jeder Ball sein. Jede Lady. Leder Gentleman. Ich bin dennoch fest entschlossen, ein Exemplar in die Finger zu bekommen, mehr noch als vorher.“

„Dann werde ich dieses hier auf Biegen und Brechen verteidigen.“

Regina war genervt von diesem Gespräch, aber sie wollte nicht über die Gründe für ihre Verärgerung nachdenken. Sie interessierte sich überhaupt nicht mehr für Knightly – außer dass sie ihn in diesem Spiel schlagen und um das Geld erleichtern wollte, das er in der Tasche hatte. Sie seufzte heftig vor Ungeduld. „Können wir jetzt mit dem Flirten aufhören und weiterspielen?“ Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern warf einfach eine Münze in die Mitte des Tisches. Gott sei Dank folgten die anderen schnell ihrem Beispiel und der Kartengeber machte sich sofort daran, die Karten zu verteilen.

Sie war sich vollkommen bewusst, dass Knightly sie beobachtete, und betete, dass sie nicht so leicht zu lesen war wie das Buch.

Es war ein Fehler gewesen, an diesen Tisch zu kommen. Er hatte es vorher gewusst. Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, dass er Regina so nah gewesen war. Seit dem Vormittag in der Kirche, als er ihr das Herz gebrochen hatte, hatten sie einander kaum gesehen. Er hätte Abstand von ihr halten sollen, den Schwur halten, den er vor sich selbst abgelegt hatte, sie nicht mit seiner Anwesenheit zu belästigen.

Aber König und Läufer hatten sich auf den Heimweg gemacht, ihre zauberhaften Frauen mitgenommen, Frauen, die sie jetzt gerade zweifellos verrückt vor Leidenschaft liebten. Turm und Lawrence hatten den Club verlassen, um sich anderswo auf die Suche nach weiblicher Gesellschaft zu machen.

Springer hatte allein am Tisch gesessen und in dem verdammten Buch geblättert, sein Blick war hier und da auf einen Absatz gefallen, jeder rief Erinnerungen an Regina in ihm wach, die er vor langer Zeit zu vergessen versucht hatte.

Als er dann hatte gehen wollen, schon auf dem Weg zur Tür, hatte er sie an dem Tisch in der hinteren Ecke sitzen sehen. Nicht zum ersten Mal. Er hatte sogar gewusst, dass sie vielleicht hier sein würde und sich absichtlich nach ihr umgesehen, eine Strafe, eine Erinnerung daran, was er hätte haben können, wenn die Wahrheit über ihn nie ans Licht gekommen wäre. Bis jetzt hatte er immer nur ein paar Augenblicke lang ihren Anblick genossen, ehe er weitergegangen war. Heute Abend hatte er ihr jedoch näher sein wollen.

Ihr blondes Haar war kunstvoll aufgesteckt. Ein paar Strähnen fielen lose über ihren Hals, die einen Mann reizen konnten, die weichen Locken durch seine heißen Lippen zu ersetzen, weil er wusste, was ihn dort für eine Seidigkeit erwartete. Er wusste außerdem, dass ihn direkt hinter ihrem Ohr der Duft von Gardenien erwartet hätte. An ihren Handgelenken. Und in dem schmalen Tal zwischen ihren Brüsten. Ihr smaragdgrünes Kleid ließ ihre Schultern unbedeckt. Sie hatte sie zweifellos mit irgendeinem Puder bestäubt, denn er konnte die drei winzigen Sommersprossen nicht erkennen, die ihn viel zu oft verspottet hatten, die er geküsst und dabei die Sonne beneidet hatte, weil sie sie dort zuerst geküsst hatte.

Er hatte nicht vergessen, wie schön sie war. Das zu vergessen wäre gewesen, als ob er das Wunder des nächtlichen Himmels, die Erhabenheit des unendlichen, blauen Ozeans oder die Anmut einen Schmetterlings vergessen hätte. Selbst wenn man solche Dinge nicht vor sich hatte, war es leicht, sich ihr Bild vor das innere Auge zu rufen, weil ihr Anblick irgendwann einmal seine Seele erfüllt hatte.

Regina Leyland war vor langer Zeit ein Teil von ihm geworden. Das Heiratsversprechen zu brechen, das er ihr gegeben hatte, war das Schwerste gewesen, was er je getan hatte, weil ihm bewusst gewesen hatte, dass es verheerend für sie sein würde – und sie hatte den vernichtenden Schlag nicht verdient, den er ihr gezwungenermaßen hatte versetzen müssen. Er hatte sich große Mühe gegeben, die Wucht des Schlages zu vermindern, aber die Zerstörung eines Traums bot keine einfachen Lösungen. Wahrscheinlich hätte es sie beide weniger geschmerzt und gequält, wenn man ihnen ein Bein oder einen Arm abgeschlagen hätte. Er hatte versucht, sie wütend zu machen, damit der Schmerz nicht mehr so schlimm war. Er hatte gehofft, dass sie dann ihr Leben mit noch größerer Entschlossenheit weitergeführt hätte, um ihm zu beweisen, dass er wirklich nicht wichtig war. Er hatte gehofft, dass sie jemand anderen finden würde, der ihr Glück und Freude schenkte. Und das hatte sie. Während ihrer Europareise hatte sie skandalöse Affären mit Männern aus allen Ländern gehabt, falls man den Klatschgeschichten glauben durfte. Die angeschlagene Gesundheit ihres Vaters hatte sie schließlich wieder nach Hause geführt.

Er war zwar derjenige gewesen, der in der Kirche vorgetreten war und verkündet hatte, dass sie zur Vernunft gekommen war und eingesehen hatte, dass er keinen passenden Ehemann abgeben würde, aber seltsamerweise – es war kein Geheimnis, dass er die Gesellschaft von Damen suchte – war sein Ansehen in den Kreisen des Hochadels gewachsen. Er war darum herumgekommen, sich an eine Lady von zweifelhafter Abstammung zu binden. Eine illegitime Tochter, die seiner eigenen Blutlinie schaden konnte. Man hatte ihm auf den Rücken geklopft, ihm Getränke ausgegeben, die er nicht getrunken hatte, ihm die Hände von Töchtern geboten, die er nicht angenommen hatte. Die Einladungen zu gesellschaftlichen Anlässen waren immer mehr geworden und er war verblüffend gefragt gewesen.

Sie musste währenddessen die Demütigung und die Schande allein ertragen.

Er hatte geglaubt, dass beides auf ihn fallen würde, dass man ihn aus der Gesellschaft ausstoßen würde, weil er sich als ihrer nicht würdig erwiesen hatte. Stattdessen war er verehrt worden.

Kürzlich hatte er jedoch das Gerücht gehört, dass sie einen Verehrer hatte und vielleicht schon bald erneut vor den Altar treten würde, dieses Mal, ohne dass ihr dabei das Herz gebrochen wurde. Sie sollte das Glück bis an ihr Lebensende bekommen, das sie so sehr verdient hatte.

Er war ein selbstsüchtiger Bastard, deswegen hatte Springer ihr noch einmal nah sein wollen. Er wollte das Unentschuldbare entschuldigen, das Unerklärbare erklären. Deswegen war er hier, saß ihr gegenüber, während sie konzentriert ihre Karten ansah, als fände sich in ihnen die Lösung für alle Probleme der Welt … oder vielleicht eine Methode, die zu seinem Ableben führte.

„Ich habe gehört, dass Viscount Chidding Sie öfter besucht“, sagte er knapp, um zu überspielen, welches Interesse wirklich hinter seiner Frage steckte.

Ohne den Blick von ihren Karten zu lösen, legte sie zwei vor dem Kartengeber ab, der ihr sofort zwei neue gab, ehe er sich Lady Letitia zuwandte. „Ich kann mir vorstellen, dass man Ihnen viele Geschichten erzählt.“

„Er ist verschuldet.“

„Das habe ich auch gehört.“

„Stört es Sie nicht, in was für einer Situation er sich befindet?“

Sie hob langsam den Blick und sah ihn direkt an. „Meiner Erfahrung nach kann ein Mann größere Schwächen haben, Mylord.“

Es lag eine gewisse Schärfe in ihrem Tonfall, die nicht zu ihrem verführerischen Mund passen wollte. Er wandte den Blick nicht ab, widersprach nicht, sondern nahm den Schlag hin als das, was ihm zustand. Vielleicht war es falsch gewesen, ihr aus dem Weg zu gehen, ihr die Gelegenheit zu nehmen, ihn auf seinen Platz zu verweisen und ihre kleinen Siege zu genießen.

„Mylord?“, fragte der Kartengeber.

Er musste sich dazu zwingen, sich von ihrem Blick zu lösen. Springer sah sich am Tisch um und stellte fest, dass zwei der Mitspieler gepasst hatten. Sein Blatt war katastrophal und er hätte es ihnen gleichtun sollen, aber er war nicht bereit, seine Niederlage einzugestehen. Er legte drei Karten ab und hoffte auf ein Wunder. Allerdings hatte er vor langer Zeit schon gelernt, dass Hoffnung keine Strategie war, und das erwies sich auch dieses Mal als wahr.

Regina machte als Erste ihren Einsatz. Ein Pfund. Konnte sie ein so gutes Blatt haben? Die beiden verbliebenen Mitspieler passten, sodass nur noch sie beide übrig waren. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie bluffte? Ihr undurchdringliches Gesicht war unmöglich zu deuten. Das war anders gewesen, als er sie kennengelernt hatte. All ihre Gefühle waren deutlich an ihrem süßen Lächeln und ihren dunklen braunen Augen abzulesen gewesen. Augen, die damals so unschuldig gewesen waren, vertrauensvoll.

Jetzt war in ihnen ganz klar abzulesen, dass sie wusste, dass Märchen gelogen waren. Das hatte er ihr angetan. Der Schmerz, der ihn bei dieser Erkenntnis überkam, ließ ihn sich beinahe krümmen.

Er ging bei ihrem Pfund mit und erhöhte um zwei. Ohne zu zögern warf sie zwei Pfund auf den Tisch und fügte noch drei hinzu. Er meinte beinahe, ihren Blick aufschlagen zu hören, als er seinen traf. Doch jetzt lag Herausforderung in diesem eisigen Blick. Wenn er nicht mitging, bekam er ihre Karten nicht zu sehen, würde nicht erfahren, was sie auf der Hand hatte.

Es war nicht so, dass er es sich nicht leisten konnte, noch drei Pfund zu verlieren. Er hatte keine Geldsorgen. Es ging ihm ums Prinzip. Er wollte nicht als Trottel dastehen, falls sie bluffte. Andererseits war es für sie vielleicht ein Grund zum Lächeln, wenn sie gewann. Er sehnte sich plötzlich nach ihrem Lächeln. Er schob drei Pfund über den Tisch auf den Haufen in der Mitte. „Ich will sehen.“

Ohne ihren Gesichtsausdruck auch nur im Mindesten zu verändern, legte sie ihre Karten auf den Tisch. Sie hatte ein Paar Asse.

Mit einem ruhigen Lächeln deckte er sein Blatt auf – eine Reihe von niedrigen Karten, die keinerlei sinnvolle Reihe ergaben. „Ich hatte gehofft, dass sie bluffen.“

„Im Gegensatz zu Ihnen bluffe ich nie und verbreite auch keine Lügen, Mylord.“ Sie strich ihren Gewinn ein und steckte ihn in einen schwarzen Beutel. „Ich mache Schluss für heute.“

Sie stand auf und er tat es ihr nach. Dabei stopfte er die Münzen, die ihm noch geblieben waren, in eine Tasche und schnappte sich sein Buch. Nachdem sie an ihm vorbeigegangen war, folgte er ihr. „Ich kann Sie in meiner Kutsche mitnehmen.“

„Ich habe eine Kutsche hier.“

„Dann trinken Sie in der Bibliothek etwas mit mir.“

Sie blieb abrupt stehen und drehte sich um. „Sind Sie eifersüchtig? Sie haben gehört, dass jemand mich beehrt und plötzlich schenken Sie mir Ihre Aufmerksamkeit. Glauben Sie keine Sekunde, dass ich dumm genug bin, all den schmeichelnden Worten zu glauben, die Sie mit so großer Überzeugungskraft von sich geben können.“

„Ich bin nicht … ich wollte nur … Ich wollte die Gelegenheit bloß nutzen, um mich noch einmal bei Ihnen zu entschuldigen, um Verzeihung zu bitten.“

Sie machte eine abwehrende Handbewegung. „In Ordnung. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe.“

Sie drehte sich auf dem Absatz um.

„Bin ich Lord K.?“

Sie wandte sich wieder ihm zu und kniff die Augen zusammen, bis sie nur noch Schlitze waren, die schmal wie eine Messerklinge waren, mit der sie ihn in Stücke schneiden konnte. „Woher zum Teufel soll ich das wissen?“

„Ich habe vorhin gelogen. Ich hatte das Buch durchgeblättert bis zu der Gartenszene, von der alle reden. Ich habe Sie einmal im Garten genau so in den Armen gehalten wie beschrieben.“

Sie seufzte tief. „Was mich zu der Autorin machen würde. Nun ja, ich habe nicht gelogen. Ich habe das Buch nicht gelesen, deswegen habe ich keine Ahnung, was sich in der Gartenszene ereignet. Aufgrund Ihres Rufes nehme ich jedoch an, dass Sie eine Menge Ladys in einer Menge Gärten auf dieselbe Weise in den Armen gehalten haben. Wenden Sie sich an eine von denen. Und jetzt gute Nacht, Mylord.“

Mit diesen Worten marschierte sie zur Tür und verschwand.

Aber sie irrte sich. Er hatte keine andere Frau wie beschrieben in den Armen gehalten. Nur sie.

Am Spieltisch hatte sie nicht geblufft, bluffte sie vielleicht jetzt? War sie vielleicht Anonymus? Doch er wusste, wie viel Wert sie auf ihre Privatsphäre legte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie die persönlichen Einzelheiten ihres Lebens aufgeschrieben und dann auch noch veröffentlicht hatte. Nein, was er bislang von dem Buch gelesen hatte und die Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit, die die Worte und Beschreibungen in ihm auslösten, waren einfach nur Zufall. Man wurde andauernd jemandem vorgestellt. Und es gab ständig Begegnungen in Gärten.

Doch genau wie die Lady in dem Buch konnte er den Abend, an dem sie sich kennengelernt hatten, nicht vergessen.

2. KAPITEL

April 1870

„Heute Abend wird nicht geflirtet, Springer“, brummte König, während seine Kutsche über die holprige Straße fuhr. „Ich will nicht in sämtlichen dunklen Ecken nach dir suchen, wenn ich nach Hause will.“

„Hör auf damit, König, wenn ich gewusst hätte, dass du mir den Spaß verdirbst, hätte ich dich nicht auf diesen Umweg begleitet, bevor wir uns mit Läufer und Turm treffen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum du dir all diese Mühe machst und unseren Spaß mit den anderen aufschieben willst. Du heiratest doch kein Mädchen, das unehelich zur Welt gekommen ist.“

„Mutter hat eine Schwäche für verletzte Seelen und sie hat Angst, dass es schrecklich peinlich für dieses Mädchen wird, wenn Bremsford sie in die Gesellschaft einführen will und niemand zu dem Ball kommt. Aber die zwanzigtausend Mäuse, die er für sie springen lassen will, zieht sicher ein paar junge Schwerenöter an.“

Zu ihrer Mitgift gehörte auch ein kleines Anwesen am Stadtrand von London, zu dem mehrere Morgen fruchtbares Land gehörten, und ein Herrenhaus, das zu gegebener Zeit ihre Witwen-Residenz werden konnte. Heute Abend war es Schauplatz des eleganten Balls, über den in den besseren Kreisen seit Wochen getratscht worden war. „Weißt du irgendetwas über sie, abgesehen von ihrer skandalösen Herkunft und dass Bremsford sie an jemanden verschachern will, dessen gesellschaftliche Stellung gesichert ist?“

„Sie ist die Tochter einer Mätresse, die er seit Langem hat. Sie war eine gefeierte Schauspielerin, wenn man Mutter glaubt. Sie hat zwar etwas gegen Untreue, aber sie mag gute Liebesgeschichten und offenbar war die von Bremsford eine für die Ewigkeit. Der Earl war der Mutter des Mädchens in Liebe ergeben und ist seiner illegitimen Tochter mehr zugetan, als seinen legitimen Nachkommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gräfin begeistert war, oder seine anderen beiden Töchter.“

„Glaubst du, dass eine von ihnen heute Abend dabei sein wird?“

„Ich bezweifle es.“

Die Kutsche hielt an. Ein Lakai kam auf sie zu und öffnete die Tür. Springer wartete, bis sein Freund, der Herzog, ausgestiegen war. Sie waren einander in vielerlei Hinsicht ebenbürtig, aber Springer vergaß nie, dass König einen höheren Rang hatte, solange Springer den Titel seines Vaters noch nicht geerbt hatte. Wenn sie sich gemeinsam in die Öffentlichkeit begaben, achtete er darauf, dass er ihm die Ehrerbietung erwies, die ihm zustand.

Als sie durch das Herrenhaus schlenderten, fiel Springer eine junge Lady ins Auge, die ihm schüchtern zulächelte. Er tippte sich an den Hut und schenkte ihr ein Lächeln, das ihr eine Lektion im Küssen versprach, die in einer verschwiegenen Ecke zu geben war. Sie wollte gerade ihren Fächer an die rechte Wange drücken, das Zeichen für ja, sie war nur ein paar Finger breit davon entfernt, da wurde sie von ihrer Mutter am Arm gepackt und fortgezogen. Die Lady sah sich um. Er legte eine Hand auf seine Brust, um sein Bedauern darüber auszudrücken, dass sie mit Adleraugen bewacht wurde.

„Ich habe doch gesagt, es wird nicht geflirtet“, ermahnte König ihn.

„Ich hatte noch nicht das Vergnügen mit Lady Lisbet. Ein Kuss dauert doch nicht lange.“

„Das behauptest du, aber dein Ruf sagt etwas anderes.“

„Wahrscheinlich hängt das von der Lady ab. Wo ist dein Sinn fürs Abenteuer, König?“

„Er wartet auf mich, bis ich diese langweilige Aufgabe hier hinter mich gebracht habe.“

Während sie die wenigen Stufen zu der geöffneten Tür hinaufstiegen, machten sich auch einige Männer ohne Begleitung auf den Weg ins Haus. Springer kannte einige von ihnen. Sie waren alle unverheiratet und wahrscheinlich dem Ruf des Geldes gefolgt. Vielleicht wollten sie sich auch in dem Haus umsehen, in dem sie möglicherweise leben würden – falls sie kein eigenes hatten. Es gab keinen Grund, das Haus leer stehen zu lassen, bis sie eines Tages Witwe war.

Er stellte fest, dass einige andere Ladys anwesend waren, sie hatten sich zweifellos von ihrer Neugier überwältigen lassen. Oder vielleicht wollten sie die Gelegenheit nutzen, sich als Gegenbild zur Tochter des Earl zu präsentieren. Er war siebenundzwanzig und hatte das Spiel der Brautwerbung noch nie mitgespielt. Er war heute Abend nur hier, weil er es für wichtig hielt, ein gutes Verhältnis zu jedem anständigen Lord zu wahren. Man wusste schließlich nie, wann man die Hilfe eines bestimmten Lords – oder die Erlaubnis, seine Tochter zu heiraten – gebrauchen konnte. Und Bremsford war ein Mann mit viel Einfluss.

Nachdem sie die Schwelle übertreten hatten, machten König und er sich auf den Weg den Flur hinunter, der schließlich in einen großen Raum mit breiten Treppen zu beiden Seiten mündete, die einen weiten Bogen beschrieben und sich dann oben in der Mitte trafen, wo sich eine riesengroße Tür befand. Sie gingen zur Treppe auf der rechten Seite, wo ein Lakai jedem von ihnen eine Tanzkarte reichte. König nahm eine und steckte sie in seine Jacke, während Springer abwinkte. Sie würden nicht so lange bleiben, dass sie Gelegenheit zum Tanzen bekamen. Oben angekommen begrüßten sie die Umstehenden, die sie kannten, und stellten sich dann in die Schlange. 

„Was meinst du?“, flüsterte Springer mit leiser, ruhiger Stimme. „Eine halbe Stunde?“

„Zwanzig Minuten. Ein Lächeln hier und da und dann verschwinden wir.“

Als das Paar vor ihnen angekündigt worden war und die Treppe hinunterstieg, überreichte König seine Einladung dem Haushofmeister und Springer warf einen Blick nach unten. Er erkannte Bremsford, der hochaufgerichtet, stolz und unfügsam am Fuß der Treppe stand. Sein Haar war nicht mehr weizenblond wie in seiner Jugend, sondern glänzte silbrig. Die junge Dame zu seiner Rechten sah auf …

Springer fühlte sich, als hätte ihn ein Rammbock in die Brust getroffen. Die Luft in seinen Lungen hatte sich zurückgezogen und er konnte kaum noch atmen. „Gott, ist sie das?“

König sah nach unten. „Das würde ich annehmen.“

Sie war wunderschön. Ihr Haar hatte die Farbe von Mondlicht. Es war mit Perlenkämmen festgesteckt. Ein paar Strähnen hingen um ihr Gesicht und ihren schlanken Hals hinab. Sie war kaum so groß, dass sie die Schulter ihres Vaters erreichte. Sie wirkte souverän, ihre Bewegungen waren elegant, eine winzige Falte auf ihrer Stirn reflektierte ein Unbehagen, vielleicht sogar Traurigkeit. Doch da stand sie nun, weil die Vorstellung weitergehen musste, und spielte ihre Rolle. Wie ihre Mutter. Eine Schauspielerin.

„Sir?“

Ihr Kleid war schneeweiß, das Kerzenlicht der Kronleuchter funkelte in sicher einer Million winziger Perlen, was es schillern ließ, glänzten wie frisch gefallener Schnee im Licht des Vollmonds. Die Zeit, zu der er am liebsten über das Moor auf dem herzoglichen Gut in Yorkshire ging.

Dann konnte er sie nicht mehr sehen, weil sich König auf den Weg zu Bremsfort gemacht hatte und so – mit seinem nervtötend breiten Rücken – Springer die Sicht versperrte. War er angekündigt worden? Springer hatte es nicht gehört, vielleicht weil er so von dem Mädchen eingenommen gewesen war, dass alles um ihn herum aufgehört hatte zu existieren, alles außer ihr.

„Sir?“

Er beugte sich nach rechts, um sie weiter ansehen zu können, da hörte er, wie sich jemand heftig räusperte. Dann: „Knightly, um Gottes willen, passen Sie doch auf, Mann.“

Als er über die Schulter sah, erblickte er den Earl of Chadbourne, der ihn finster ansah. Er erwiderte den finsteren Blick, ehe er hörte, wie jemand leise sagte: „Sir?“

Erst dann ging ihm auf, dass der Haushofmeister ihm seine weiß behandschuhte Hand entgegenstreckte. „Verzeihung.“ Er holte die Einladung hervor, auf die sein Name gekritzelt war.

Der Mann nickte knapp und verkündete dann dröhnend: „Seine Lordschaft, der Earl of Knightly.“

Springer wollte am liebsten die Treppe hinunterstürmen. Er kam sich vor wie ein unerfahrener Junge, was lächerlich war. Er hatte schon jede Menge Frauen gehabt, aber irgendetwas an ihr zog ihn an, rief in ihm das Bedürfnis wach, sie zu beschützen, obwohl ihr Vater offensichtlich ihr Beschützer war. Sie war wie ein Vogel in einem goldenen Käfig, ein Mädchen im Turmzimmer. Blödsinn, solche Gedanken waren vollkommen albern. Und er schaffte es, nicht loszurennen, sondern sich Zeit zu lassen, eine Haltung voller Selbstvertrauen einzunehmen, die Generationen von Kriegern vor ihm verfeinert hatten, die sich nicht nur auf dem Schlachtfeld ins Getümmel gestürzt hatten, sondern auch im politischen Geschäft. Diese Pflicht würde beim Tod seines Vaters auf ihn übergehen, eine Pflicht, für die er eine starke Frau an seiner Seite brauchte.

König setzte sich endlich wieder in Bewegung, sodass Springer einen besseren Blick auf die Lady hatte, die jetzt wieder zur Treppe hinübersah. Sie fing seinen Blick auf und hielt ihn. Jetzt, da er näher gekommen war und sie besser sehen konnte, kam sie ihm nicht so jung vor wie die meisten anderen Debütantinnen. Sie kam nicht direkt mit siebzehn oder achtzehn aus dem Mädchenpensionat. Nein, er hätte gewettet, dass sie über zwanzig war, aber nicht viel. G...

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