Traumhaus am Meer - Liebe inklusive?

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Völlig überraschend erbt Abby ein Traumhaus am Meer! Doch die Sache hat zwei Haken: Das geheimnisvolle Testament schreibt vor, dass sie innerhalb eines Jahres verheiratet sein muss. Und es gibt einen verboten attraktiven Mieter in ihrer neuen Immobilie. Shane McCall will zuerst sofort ausziehen – dann aber bleibt er und flirtet heiß mit ihr! Doch selbst in ihren kühnsten Träumen weiß die alleinerziehende Mutter, dass Shane ihre größte Sehnsucht niemals erfüllen wird. Denn eine Heirat oder gar eine Familie sind für den bindungsscheuen Witwer ausgeschlossen …


  • Erscheinungstag 05.09.2023
  • Bandnummer 182023
  • ISBN / Artikelnummer 0800230018
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

PROLOG

„Ich bin sicher, es wird nicht mehr lange dauern, Miss Blakely.“

„Danke.“ Voller Unbehagen schaute Abby um sich.

Die Einrichtung ließ sich nicht anders als prächtig beschreiben: ein eleganter Couchtisch aus dunklem Walnussholz, Sofas aus weichem cognacfarbenem Leder, dicke burgunderrote Teppiche, das Licht dezent gedämpft.

Sie war noch nie zuvor in einer Anwaltskanzlei gewesen – und wenn ihr kein Flugticket zugeschickt worden wäre …

Aber wer könnte ihr überhaupt ein Geschenk machen wollen?

Denn darum ging es in dem Einschreiben, das sie bekommen hatte. Dass sie als Empfängerin eines erheblichen Präsents benannt worden sei … die Spenderin sei anonym. Ihr Anruf bei der Anwaltskanzlei hatte Abby keine weiteren Informationen gebracht, sondern nur eine Einladung für heute, den 15. Februar, um genau 10:00 Uhr im Büro von Hamilton, Sweet and Hamilton in Miracle Harbor, Oregon.

„Miss Blakely, sind Sie sicher, dass Sie keinen Kaffee möchten?“

Die Rezeptionistin lächelte sie freundlich an, doch Abby blieb ein gewisses Unbehagen nicht verborgen. Sie wusste selbst, dass sie nicht in die Umgebung passte.

Ihr Modestil bestand hauptsächlich aus bequemen Sachen, die leicht zu waschen waren. Sportliche Kleidung, die sie im Sandkasten oder auf dem Spielplatz tragen konnte und die jedem Angriff von klebrigen kleinen Händen, Grasflecken und Sabber standhielt. So wie dieser legere Rock in einem fleckenkaschierenden Marineblau, dazu ein passendes Shirt und eine Baumwolljacke. Sie hatte das Ensemble für insgesamt weniger als fünfzig Dollar selbst zusammengestellt.

Sie reckte leicht den Hals und erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild im auf Hochglanz polierten Holz des Couchtisches. Verlegen strich sie sich über ihr kurzes blondes Haar. Sogar bei ihrem Haarschnitt war es eher um Pflegeleichtigkeit als um Schick gegangen.

Nur mit Mühe unterdrückte Abby einen Seufzer.

Obwohl sie noch keine vierundzwanzig Stunden von ihrer kleinen Tochter getrennt war, die gerade ihren zweiten Geburtstag gefeiert hatte, drohten Heimweh und Trennungsschmerz sie bereits zu überwältigen.

Inzwischen war es fast halb elf.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Abby, während ihr Blick sehnsüchtig in Richtung Tür schweifte. Inzwischen bedauerte sie es längst, die seltsame Einladung angenommen zu haben. Allein schon weil sich das latente Gefühl, ihr Leben könne eine unerwartete Wendung nehmen, zunehmend verdichtete.

Warum gerade jetzt? In einer Phase, in der sie sich nichts sehnlicher wünschte als ein stabiles, überschaubares Leben für ihre kleine Tochter. Andererseits hegte sie die vage Hoffnung, das avisierte Geschenk könnte vielleicht helfen, Belle genau das bieten zu können: ein kleines Haus statt der engen Wohnung. Eine freundliche Nachbarschaft, näher an einem Park.

Möglicherweise sogar eine neue Nähmaschine für Abby, um lukrativere Schneiderarbeiten übernehmen zu können.

Zähl nicht die Sterntaler, bevor sie vom Himmel gefallen sind!

Abby seufzte tief.

Andererseits … dieses Flugticket im Wert von mehreren hundert Dollar hatte doch sicher etwas zu bedeuten. Außerdem war sie in Portland von einer Limousine abgeholt und im luxuriösesten Hotel von Miracle Harbor abgesetzt worden. Und im Brief hatte gestanden, dieses ominöse Geschenk würde beachtlich sein.

Allein diese Hoffnung hatte sie veranlasst, den gesamten Kontinent zu durchqueren, von Illinois bis in dieses kleine Dörfchen in Oregon: Miracle Harbor! Eine romantisch anmutende Postkartenschönheit, auf den Hügeln rund um eine Bucht erbaut. Gepflegte Anlagen und Reihen von schönen alten Schindelhäusern hinter weißen Lattenzäunen, wild wachsende Rhododendren, herrlich warme und nach Meer duftende Luft.

„Gibt es vielleicht ein Problem?“, hakte Abby erneut nach.

„Nein, natürlich nicht. Wir warten nur auf die Ankunft der anderen Parteien“, kam es kühl, aber nicht unfreundlich zurück.

„Die anderen Parteien?“, echote Abby verblüfft.

Plötzlich wirkte die Rezeptionistin nervös, als hätte sie mehr preisgegeben als beabsichtigt. Die Tür schwang auf, und beide Frauen atmeten erleichtert auf.

Eine Diva mit kurzer Pelzjacke und dunkler Sonnenbrille betrat die Kanzlei. Ihr jadefarbener Rock aus schimmernder Seide wirbelte um ihre schlanken Beine, während sie sich mit lässigem Selbstbewusstsein durch den Raum bewegte. Das Haar war perfekt frisiert. Gleichzeitig haftete ihr ein Hauch von etwas Wildem an.

Irgendetwas an dieser Frau kam Abby seltsam vertraut vor. Erst verspätet fiel ihr auf, dass die Fremde und sie nicht nur die gleiche Größe und ähnliche Körperformen hatten, sondern auch noch denselben ungewöhnlichen Haarton: heller Weizen mit Honigakzenten.

„Hi, ich bin Brittany Patterson. Ich …“

Als sie Abby aus dem Augenwinkel wahrnahm, stockte ihre Stimme. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder. Langsam … sehr langsam nahm sie die Sonnenbrille ab. Abby spürte, wie ihr sämtliches Blut aus dem Gesicht wich, und befürchtete für einen Moment, sie würde in Ohnmacht fallen.

Denn was sie vor sich sah, war ihr eigenes Spiegelbild.

Natürlich, das Make-up war aufwendiger, die Augenbrauen feiner … eigentlich war die ganze Frau schöner und eleganter – und zugleich absolut identisch mit ihr.

In der nächsten Sekunde schwang die Tür erneut auf und Abby wandte sich erleichtert um, weil sie sich eine Ablenkung von ihrem Gefühlschaos versprach, das sie zu überwältigen drohte.

Eine weitere Frau betrat atemlos das Büro, so verschieden von der Pelzträgerin wie die Nacht vom Tag. Sie trug enge Jeans zu einer verblichenen Jeansjacke, das lange Haar war zu einem lässigen Pferdeschwanz zusammengefasst.

Doch ihr Gesicht war identisch, genau wie die Haarfarbe. Und selbst die ungewöhnlichen haselnussfarbenen Augen … eigentlich eher blau mit einer Art braunem Stern rund um die Pupille.

Wie in Trance erhob sich Abby von der tiefen Ledercouch. Sie wollte auf die beiden Frauen zugehen, begann plötzlich haltlos zu zittern und ließ sich wieder auf die Couch zurückfallen.

Schweigend und wie verabredet nahmen die beiden anderen rechts und links von ihr Platz und beäugten einander wortlos und sichtlich schockiert.

Die Rezeptionistin servierte ihnen unaufgefordert Kaffee.

Abby hätte gern gelacht, als sie sah, dass ihre Sitznachbarinnen das Getränk genauso veredelten wie sie: ein winziger Spritzer Sahne, drei Stück Zucker, alles kräftig umrühren und auf dem Weg zum Mund noch einmal pro forma pusten. Doch die Situation war zu bizarr, und so blieb ihr das Lachen im Hals stecken.

„Nun?“, brach die Pelzlady schließlich das Schweigen. „Wenn das hier nicht die Versteckte Kamera ist, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass wir verwandt sind.“

„Ich komme mir eher wie in Twilight Zone vor“, kam es von der Jeansjacke, und dann lachten alle drei.

Sogar ihre Stimmen schienen trotz unterschiedlicher regionaler Akzente in Ton und Höhe identisch zu sein. Plötzlich redeten sie alle gleichzeitig.

„Hattet ihr auch nur die leiseste Ahnung … hiervon?“ Abbys Stimme zitterte.

„Also, ich weiß natürlich, dass ich adoptiert wurde“, sagte die Pelzjacke. „Aber nicht, dass ich Schwestern habe.“

„Ich wurde nie adoptiert“, verkündete die Jeans-Frau zögerlicher. „Bis ich zehn war, lebte ich bei meiner Tante Ella. Es hieß, meine … unsere Eltern …“ Sie schluckte. „Sie seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

„Klar ist jedenfalls, dass wir nicht nur Schwestern, sondern augenscheinlich Drillinge sind“, resümierte der Pelzmantel-Drilling. Wieder starrten sie einander an: staunend und überwältigt. „Ich bin Brittany … Brit.“

„Abigail … Abby.“

„Corrine. Äh …Corrie.“

„Mr. Hamilton ist bereit, Sie zu empfangen“, kam es von der Rezeptionistin.

Alle drei Frauen folgten ihr, einander immer noch verstohlen begutachtend.

Mr. Hamilton erwies sich als würdevoller Mann, in Auftreten und Kleidung gleichermaßen gediegen. Das silbergraue Haar und tiefe Falten um die Augen ließen vermuten, dass er sich langsam auf seinen Ruhestand zubewegte.

Als er die drei Frauen vor sich sah, zeigte er wortloses, aber offenkundiges Erstaunen und forderte sie höflich auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

„Verzeihung, dass ich Sie so anstarre. Ich wusste nicht … ich hatte ja keine Ahnung. Sie tragen unterschiedliche Nachnamen …“

Er starrte auf die vor ihm liegenden Papiere und zuckte hilflos mit den Schultern. Dann schaute er wieder auf und musterte die drei Frauen aufmerksam der Reihe nach. „Drillinge“, lautete sein abschließendes Urteil. „Haben Sie drei sich jemals zuvor getroffen?“

Als alle die Köpfe schüttelten, wurde seine Miene ernst. „Es tut mir leid, und ich hätte Ihnen diese … Überraschung niemals unvorbereitet zugemutet, wenn ich davon gewusst hätte. Ich kann mir nicht vorstellen …“ Seine Stimme brach ab, dann räusperte er sich. „Mit dem Brief, den Sie alle drei erhalten haben, bat ich Sie hierher, weil eine Klientin jedem von Ihnen ein Geschenk machen möchte.“

„Wer ist diese Klientin?“, wollte Brittany wissen. Abby fiel auf, dass sie sich hier weitaus selbstsicherer zu fühlen schien als Corrine oder sie.

„Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber ich habe einen Brief, den ich Ihnen vorlesen möchte.“ Er nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch, hielt es mit ausgestrecktem Arm von sich und blinzelte kurz, bevor er las.

Liebe Abigail, Brittany und Corrine,

vor vielen Jahren habe ich eurer Mutter ein Versprechen gegeben. Sie starb nur Minuten später, nachdem sie es mir abgenommen hatte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mein Versprechen nicht einhalten konnte. Euch drei wiedervereint zu wissen, entspringt meinem Verlangen, mit dieser Geste eine Art Wiedergutmachung zu leisten, die ich euch schulde. Dazu gehört auch ein Geschenk für jede von euch, von dem ich hoffe, dass es genau das sein wird, was ihr in eurem Leben am meisten braucht und verdient.

Mein Anwalt, Mr. Jordan Hamilton, wird euch darüber ins Bild setzen, zusammen mit den daran geknüpften Bedingungen. Ich wünsche euch alles Glück der Welt.

„Was war das für ein Versprechen, das diese Frau unserer Mutter gegeben hat?“, fragte Abby, hungrig darauf, jedes Detail zu erfahren, das ihr helfen könnte, diese überwältigenden Neuigkeiten zu verdauen.

„Abgesehen von den Geschenken und den damit verbundenen Bedingungen weiß ich nicht mehr als das, was in dem Brief steht“, erwiderte Mr. Hamilton bedauernd.

„Bedingungen?“ Brittany lachte rau. „Am besten fangen wir damit an.“

„Wie Sie wollen …“ Mr. Hamilton sammelte sich. „Um Ihre Zuwendung dauerhaft zu erhalten, müssen Sie ein Jahr lang hier in Miracle Harbor bleiben und …“ Er räusperte sich unbehaglich. „Und Sie müssen innerhalb dieses Jahres heiraten.“

Abby starrte ihn an. Das konnte nur ein alberner Scherz sein, allerdings verzog der Anwalt keine Miene. Sie warf ihren Schwestern einen Seitenblick zu.

Brittany war eindeutig empört. Corrine schaute aus dem Fenster, weshalb nicht zu erkennen war, was sie dachte. Doch aus einem unerfindlichen Grund überlief Abby auf einmal ein eisiger Schauer. Denn Corrie wirkte verängstigt, warum auch immer.

„Und wie sehen diese Zuwendungen aus?“, hakte Brittany mit zusammengekniffenen Augen und verschränkten Armen nach. „Angesichts einer derart skurrilen Bedingung sollten sie schon etwas hermachen.“

Der distinguierte Anwalt maß sie mit einem strengen Blick, schob seine Papiere zusammen und erzählte den Drillingen von ihren erstaunlichen Geschenken, angefangen mit Abby …

1. KAPITEL

Nach all den Jahren verbrachte er die Nächte immer noch so, als bestünde die Möglichkeit, dass sich jemand in den Raum schleichen und ihm eine Waffe an den Kopf halten könnte.

Sogar hier in Miracle Harbor, wo so etwas natürlich nicht vorkam.

Hellwach lag er da – jeder Muskel war angespannt –, lauschte ins Dunkel und fragte sich, welches Geräusch ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte. Das grüne Leuchtzifferblatt seiner Uhr verriet ihm, dass es kurz nach drei Uhr war.

Es musste das Nebelhorn gewesen sein, entschied er für sich, und nicht das Knarren seines Eingangstors, das dringend geölt werden sollte. Also erlaubte er sich, etwas herunterzufahren und zu entspannen … und dann noch etwas mehr, bis seine Augen zufielen und er sich zwang, wieder einzuschlafen.

Er hasste die Nächte, denn während der dunklen Stunden reichte seine gewohnte Disziplin nicht aus, um sein Unterbewusstsein zu manipulieren oder – noch besser – abzuschalten. Aus irgendeinem Grund suchten ihn genau in diesen Phasen unwillkommene Erinnerungen heim und …

Da war er wieder, dieser verdächtige Laut.

Das Geräusch zögerlicher Schritte … eindeutig von jemandem, der sich den Gehweg hinaufschlich. Er hielt den Atem an, lauschte angestrengt und hörte das Knirschen des losen Bretts auf der zweiten Verandastufe. Als dann auch noch das Geräusch der heruntergedrückten Haustürklinke dazukam, bewegte er sich schnell und lautlos aus dem Bett und in Richtung Fenster.

Unten auf der Straße parkte ein altes Auto samt Anhänger. Diebe? Wollten sie ihn ausrauben und ihre reiche Beute gleich aufladen und abtransportieren? Aber sie würden enttäuscht sein in Anbetracht seiner spartanischen Einrichtung und dem Fehlen etwaiger Luxusgüter. Er hatte kein Interesse an all diesem Zeug. Kein Fernseher, keine Stereoanlage, nur sein PC.

Habe ich mich je für sogenannte Luxusgüter interessiert? An derartige Kleinigkeiten konnte er sich kaum erinnern, obwohl ihm genau in dieser Sekunde seine Frau Stacey vor Augen stand, wie sie lachend mit ausgestrecktem Finger in ein Schaufenster wies und sich über einen viel zu hohen Preis amüsierte. Aber auch eine Spur Wehmut in ihrem Blick war nicht zu übersehen gewesen.

Er zuckte zusammen wie unter einem Schlag, als ihm einfiel, was sie an diesem Tag betrachtet hatten. Eine Wiege …

Undurchdringliche Schwärze, die nichts Gutes für den Störenfried verhieß, senkte sich auf ihn wie ein bleiernes Gewicht. Nur mit den Boxershorts am Leib, in denen er geschlafen hatte, schlich er die Stufen hinunter und durch das dunkle Haus – lautlos, kaltblütig und emotionslos, wie es ihm zur zweiten Natur geworden war.

Er öffnete die Hintertür nur so weit, dass sie nicht quietschte, und schlüpfte ins Freie, im Kopf bereits einen fest umrissenen Plan. Er würde den Gehweg neben dem Haus nutzen, um nach vorn zu gelangen, und den dreisten Eindringling auf der vorderen Veranda stellen.

Um zu entkommen, musste der Kerl dann erst an ihm vorbei … Sein Pech, er würde schnell merken, dass er sich das falsche Objekt ausgesucht hatte: das Zuhause von Shane McCall, Agent der Drogenfahndungseinheit im Ruhestand.

Der aufgezogene Nebel war nahezu undurchdringlich, die Steinplatten unter seinen nackten Füßen eiskalt und die Rhododendren entlang des Seitenwegs so dicht, dass seine nackte Haut auf der einen Seite nass von den gummiartigen Blättern der Büsche war und auf der anderen Seite an den rauen Schindeln der Hausfassade entlangschrappte. Doch das bekam er kaum mit.

An der Hausecke angekommen, hielt er sich im Schatten der Sträucher, lauschte und versuchte aus schmalen Augen, den Nebel zu durchdringen.

Dann sah er die gebeugte Gestalt an der Haustür. Es war zu dunkel und der Nebel zu dicht, um sie richtig ausmachen zu können. Baseball-Cap und ein schmächtiger Körperbau, der keine Bedrohung für ihn darstellte.

Ein Jugendlicher? Oder gar ein Kind?

Shane stutzte, fuhr sich mit der Hand über die Augen und spürte, wie seine kalte Wut sich verflüchtigte, während er zusah, wie der Eindringling erneut an der Türklinke rüttelte. Versuchte er etwa auf diese Weise das Schloss zu knacken?

Warum hatte er nicht einfach die Polizei gerufen, wie jeder normale Bürger es getan hätte? Wahrscheinlich schob sogar sein alter Kumpel Morgan heute Nachtdienst. Dann hätten sie nach dem Einsatz noch Kriegsgeschichten austauschen können, was auf jeden Fall besser gewesen wäre, als wieder zurück ins Bett gehen zu müssen, nachdem er das hier erledigt hatte. Zurück zu den Erinnerungen, die dort auf ihn warteten …

Es war immer noch eine Option, die Polizei zu rufen, doch da er wusste, dass er es nicht tun würde, trat Shane aus seiner Deckung und bewegte sich lautlos auf den Eindringling zu.

Vielleicht hätte er seinen Dienstrevolver mitnehmen sollen, der sich allerdings ebenfalls im Ruhestand befand. Und gegenüber einem Halbstarken, der versuchte, um drei Uhr morgens in ein Haus einzubrechen, und sich dabei offenbar gnadenlos überschätzte, war das wohl eine überzogene Maßnahme.

Shanes Verstand arbeitete mit der distanzierten Kälte und Präzision, die typisch für ihn war. Spontan entschied er sich, Abstand zu halten und es so aussehen zu lassen, als würde er eine Waffe bei sich führen. Nicht gerade üblich, wenn man nur Boxershorts trug, aber auch nicht unmöglich. Lautlos schlich er weiter bis zum Fuß der Verandatreppe.

„Halt die Hände so hoch, dass ich sie sehen kann, und dreh dich nicht um“, befahl er mit fester Stimme.

Die Gestalt fuhr zusammen und erstarrte.

„Du hast mich schon verstanden, also … Hände hoch.“

„Ich kann nicht.“ Angst und Panik ließen die Stimme klingen wie von einem Mädchen oder Kind.

„Du kannst nicht? Es wäre aber besser für dich.“

„Dann müsste ich das Baby fallen lassen.“ Die Stimme bebte.

Das Baby?

Shane nahm zwei Stufen auf einmal, legte seine Hand auf die Schulter des Eindringlings und wirbelte ihn herum.

Oder … besser gesagt sie

Eine ausgewachsene Sie mit einem Baby auf dem Arm. Beide starrten ihn aus blauen Augen an. Blaue Augen mit einem Hauch von Bernsteinbraun, wie er im Schein der Wandleuchte ausmachen konnte.

Shane zog seine Hand zurück, fuhr sich durchs Haar und fluchte unterdrückt.

Erst als ihre Schuhspitze auf sein Schienbein traf, wurde er schmerzlich daran erinnert, dass er Regel Nummer eins vergessen hatte: Niemals die Deckung außer Acht lassen.

„Hilfe, Feuer!“, schrie die Frau. „Feuer!“

Ohne nachzudenken, legte er eine Hand über ihren Mund, bevor sie noch die gesamte Nachbarschaft auf den Plan rief, wofür er kaum angemessen gekleidet war.

Sie war wunderschön. Blondes kurzes Haar, das unter dem Baseball-Cap hervorlugte, und ein zartes Gesicht. Perfekter Porzellanteint, hohe Wangenknochen, eine wohlgeformte Nase. Doch die Augen waren zweifellos das dominierende Merkmal. Riesig und in der Farbe des Meeres, wie er es vor langer Zeit nur einmal vor der Küste von Kailua-Kona auf Hawaii gesehen hatte. Dazu goldbraun gesprenkelt … eine ungewöhnliche Kombination.

In diesen faszinierenden Augen funkelten wütende Tränen.

Er fluchte erneut, und sie begann zu zittern. Jetzt fing auch noch das Kleinkind auf ihrem Arm zu weinen an.

Shane wagte einen unbehaglichen Rundumblick in Richtung seiner Nachbarschaft. „Nicht noch einmal Feuer schreien, versprochen?“, knurrte er grimmig, und die Fremde nickte nach kaum merklichem Zögern.

Sie war unbestreitbar wunderschön, aber offensichtlich geistesgestört. Als er die Hand hob, wich sie vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken an die Türfüllung prallte, die Augen weit aufgerissen, ihre Arme schützend um das Baby gelegt, das eigentlich keines mehr war.

„Halt dich von uns fern, du … du Perversling!“

„Perversling?“, echote er verdutzt. „Ich?“

„Sich in Unterhose zwischen den Büschen zu verstecken und eine wehrlose Frau zu überfallen, die nur in ihr Haus will, das nenne ich pervers.“

„Die in ihr Haus will?“, echote er erneut, diesmal noch fassungsloser.

Als er sich eine Spur bewegte, wurden ihre Augen schmal. Das zarte, aber feste Kinn hob sich. Sie wog wahrscheinlich nur halb so viel wie er, doch er wusste, sie würde versuchen, es mit ihm aufzunehmen, wenn er sich jetzt falsch bewegte.

Die Fremde nickte und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihr Blick huschte hin und her und glitt über seine Schulter, als suche sie verzweifelt nach einem Ausweg.

Shane verschränkte die Arme vor der nackten Brust. „Dies ist zufällig mein Zuhause, und ich habe dich für einen Eindringling beziehungsweise Dieb gehalten.“

Ihr Mund klappte auf, dann zu, und ihre Augen verengten sich vor Argwohn.

Fast hört er, was sie von ihm dachte, sah aber auch Verwirrung auf den zarten Zügen. Ihr Blick suchte und fand die schwarze Hausnummer aus geschmiedetem Eisen unter der an der Wand montierten Verandalampe.

Pervers! Er war nicht sicher, ob er jemals derart beleidigt worden war. Und sie? Bei genauerer Betrachtung erschien sie ihm weniger wirr als eher erschöpft und todmüde.

Sekundenlang musterten sie einander kritisch und stumm, dann sah er, wie ihre Anspannung merklich nachließ. Dafür liefen zu seinem Entsetzen dicke Tränen über ihre blassen Wangen. Offenbar benutzte sie keine Wimperntusche, was ihm aus irgendeinem törichten Grund gefiel. Ihre schmalen Schultern bebten unter einer Jacke, die zu dünn aussah, um Schutz vor der durchdringenden Nachtkälte zu bieten.

„Ich … Entschuldigung.“ Sie stöhnte und schnitt eine kleine Grimasse. „Ich befürchte, ich habe mich tatsächlich geirrt. Ich bin nur so schrecklich müde …“

Das Wimmern des Kindes wurde lauter. „Tut mir schrecklich leid, Sie gestört zu haben.“

Shane spürte entsetzt, wie sein Herz, von dem er eben noch geschworen hätte, es sei aus purem Eisen, weich wurde.

„Ich wollte Sie auf keinen Fall belästigen“, erklärte die Fremde mit aller Würde, die sie aufbringen konnte. „Können Sie mir sagen, wo ich ein Motel finde?“

„Das könnte ich, aber es würde dir … es würde Ihnen wenig nützen. Warum Feuer?“, wollte er dann wissen.

„Pardon?“

„Sie haben Feuer geschrien. Glauben Sie, dass Perverse davor Angst haben? Ist das so eine Art Abwehrwaffe – wie ein Kreuz gegen einen Vampir?“

Das entlockte ihr ein brüchiges Kichern. „Ich habe einmal gelesen, dass niemand darauf reagiert, wenn eine Frau um Hilfe ruft. Dafür kommt jeder angerannt, sobald man Feuer schreit.“

Sie ist nicht von hier, dachte Shane. Das klang eher nach der Überlebenstaktik einer Großstadtpflanze. Ihre Stimme war längst nicht so zart und süß wie ihr Gesicht, sondern ziemlich dunkel mit einem leicht rauen Unterton.

„Warum gibt es hier in der Gegend eigentlich keine freien Motels?“, wollte sie jetzt wissen. „Während der letzten fünfzig Meilen stand vor jedem Motel ein Belegt-Schild.“ Sie wischte sich erneut mit dem Ärmel über die Augen, dann dem Kind sanft das Gesicht ab und küsste es auf die Nasenspitze, was einen magischen Effekt hatte.

Das kleine Mädchen, eine exakte Kopie seiner Mutter, abgesehen davon, dass sein Blondhaar lockig und widerspenstig war, hörte augenblicklich auf zu weinen. Dann wandte es verschämt den Kopf, um ihn aus dem Augenwinkel zu beäugen … und fing erneut an zu schluchzen, lauter als zuvor.

„Am Stadtrand wird gerade ein neues Resort gebaut“, erklärte Shane. „Seitdem wimmelt es hier von Bauunternehmern, Schreinern, Installateuren … und alle müssen irgendwo unterkommen.“

Er bezweifelte sogar, dass noch irgendwo Privatquartiere frei waren. Es sei denn, man zählte sein leeres Haus mit. Drei Schlafzimmer … eins oben, zwei unten. Das Haus war bis vor ein paar Monaten ein Zweifamilienhaus gewesen, bis er mit Erlaubnis seines Vermieters die Küche im Obergeschoss in ein Arbeitszimmer verwandelt hatte.

Denk nicht einmal daran! ermahnte er sich.

Gleichzeitig wusste er, dass ihm gar keine Wahl blieb, nachdem er das arme Wesen vor ihm fast zu Tode erschreckt hatte. Ganz abgesehen von dem verängstigten Kleinkind auf ihrem Arm, das noch die gesamte Nachbarschaft aufwecken würde, wenn es so weiterbrüllte.

„Am besten, Sie kommen erst mal ins Haus“, brummte er ungnädig und griff an ihr vorbei nach dem Türknauf. Natürlich war die Tür verriegelt.

Das Weinen der Kleinen wurde immer lauter, sodass er kurz versucht war, die alte Holztür mit einem gezielten Tritt zu öffnen. Doch er beherrschte sich in letzter Sekunde.

„Nein“, entschied die Fremde, ehe er weitere Vorschläge machen konnte. Das Misstrauen in den faszinierenden Augen war nicht zu übersehen. „Ich komme schon zurecht. Ich bin nur müde, weil ich länger als gedacht unterwegs war. Außerdem muss ich die falsche Adresse haben …“

Sie wollte gehen, doch da die Holztreppe sehr schmal war, hätte sie sich an ihm vorbeizwängen müssen.

Erst als er im Schein der Verandalampe sah, wie sich ihre Wangen röteten, wurde sich Shane wieder seines Aufzuges bewusst. „Warten Sie hier“, befahl er im autoritären Polizeiton und war noch nachträglich froh, dass er zufällig lässige Boxershorts trug anstatt …

Davon abgesehen konnten die mit dem klassischen Schottenkaro auch leicht als Sporthose durchgehen. Trotzdem stand der Fremden immer noch die nackte Angst im Gesicht geschrieben.

„Ich bin Polizist“, erklärte er widerwillig und unterstrich seine Aussage mit betont aufrechter Haltung und fokussiertem Blick, wobei der korrekte Haarschnitt hoffentlich sein Übriges tat. „Im Ruhestand“, fügte er dann wahrheitsgetreu hinzu.

Die schöne Fremde nickte mit weit aufgerissenen Augen. Doch sobald er zurücktrat, flog sie an ihm vorbei und hastete den Weg hinunter in Richtung ihres Wagens. Als Nächstes hörte er ein leises Klicken, mit dem sie die Autotüren von innen verriegelte. Anschließend ein ungesundes Schleifgeräusch, als sie versuchte, den Motor zu starten. 

Zum Glück nicht sein Problem.

Shane ging über den Seitenweg zurück ins Haus, stieg seufzend die Stufen hinauf ins Obergeschoss, während sein geschärftes Polizistengehör auf das Geräusch eines sich entfernenden Autos wartete.

Nichts.

Oben angekommen, öffnete er ein Fenster und hörte prompt wieder das Knirschen des Anlassers. „Verdammt!“, fluchte er und fischte nach seiner Jeans, die am Fußende des Bettes lag.

Obwohl sein Schienbein immer noch schmerzte, sah er nur das erschöpfte Gesicht der Fremden vor sich und den verletzlichen Ausdruck in den faszinierenden Augen. Er konnte sie unmöglich ihrem Schicksal überlassen – und wollte es auch nicht. Sie war nicht warm genug angezogen, um da draußen im eiskalten Auto zu übernachten, ganz zu schweigen von dem Kleinkind.

Wenige Minuten später schaltete er die volle Verandabeleuchtung ein und stieß die Haustür auf. Wenn sie wollte, konnte sie reinkommen. Aber das tat sie nicht. Schön, aber stur. Ja, genau das war sie.

Autor

Cara Colter
<p>Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel. Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...
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