Heiß lodert die Sehnsucht

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Nur knapp ist Malcolm Sinclair dem Tod entronnen. Seit diesem einschneidenden Erlebnis sieht er sein bisheriges Leben mit anderen Augen. Er will Buße tun für seine begangenen Sünden und sich von den dunklen Schatten seiner Vergangenheit befreien. Als Thomas Glendower möchte er noch einmal von vorn beginnen. Und als die attraktive Rose als Haushälterin auf seinem Anwesen in Cornwall anfängt, weckt sie eine ungeahnte Sehnsucht in ihm. Doch darf er es wagen, seine wahre Identität preiszugeben - oder wird er dann seine einzige Chance auf Liebe verlieren?

»Fantastisch geschrieben und eine der besten Liebesgeschichten.«
Fresh Fiction


  • Erscheinungstag 25.06.2020
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751369
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 Prolog 

1833

An der Küste von Bridgewater Bay, Somerset

Schmerz.

Quälend und erbarmungslos setzte er ihm zu, löschte seine Sinne aus und grub sich mit glühenden Klauen in seinen Verstand. Wahre Höllenqualen, die ihn gleißend hell durchfuhren und seine Gedanken vernichteten, ihm alles Wissen und jede Erinnerung nahmen.

Tod.

Er hatte ihn gewählt, ihn angenommen – ihn willkommen geheißen.

Das war seine gerechte Strafe, sein Leiden auf dem Weg zur Hölle.

Genau das hatte er verdient.

Er konnte sich nicht bewegen und wusste nicht länger zu sagen, ob sein Körper noch existierte, ob er diese sterbliche Hülle noch bewohnte.

Dann verlor sein Geist auch den letzten Halt und entglitt ihm, sein Bewusstsein flatterte wie ein Stoffband im Wind, das sich nicht mehr einfangen ließ.

Auch seine Wahrnehmung begann, vom steten unerbittlichen Schmerz ermüdet, allmählich nachzulassen. Sie geriet ins Stocken. Und dann …

Vergessen breitete sich vor ihm aus, die Leere des Nichts, in die er sich sinken ließ.

Jenseits davon erwartete ihn das Fegefeuer, die Flammen der ewigen Verdammnis.

Er brauchte bloß zu warten.

»Bruder Roland – sehen Sie!«

Mit einem stillen Seufzer wandte Roland, Krankenbruder der Priorei von Lilstock, sich von dem Büschel Seetang ab, in dem er gerade herumgestochert hatte. Wie zu dieser Jahreszeit üblich, hatte er die jüngsten Novizen mit an den Strand genommen, damit sie ihm dabei halfen aufzulesen, was das Meer ihnen an Heilmitteln so reichlich schenkte. Es war eine wöchentliche Routine, und so froh er um ihre Hilfe war, fragte er sich bisweilen, ob es den Aufwand wert war, ließen die Jungen sich doch nur zu gern von der Arbeit ablenken.

So rechnete Roland auch jetzt, als er aufschaute und den Strand hinabblickte, mit einem verirrten Schaf, das es einzutreiben, oder einem seltenen Vogel, den es zu bestimmen galt.

Stattdessen sah er die ganze Schar der Novizen aufgeregt die Dünen hinabklettern und auf ein Bündel nasser Kleider zueilen, das im groben Sand lag.

Roland richtete den Blick auf das klägliche Bündel. Seit über zehn Jahren lebte er jetzt schon in dem an einer Bucht des Bristol Channel gelegenen Kloster – er wusste genau, was es mit solchem Treibgut auf sich hatte. »Halt!«, brüllte er.

Als sie seinen strengen Befehl vernahmen, blieben die Jungen wie angewurzelt stehen. Alle drehten sie sich mit verdutzter Miene nach ihm um. Keiner von ihnen war näher als zwanzig Meter an den angeschwemmten Leichnam herangekommen.

Roland ignorierte die fragenden Blicke und eilte mit flatternder Kutte die Düne hinab. Für ihre unschuldigen Seelen war es besser, wenn er den Toten zuerst in Augenschein nahm. Der Herr allein wusste, in welchem Zustand sich die sterblichen Überreste befanden.

Der Bristol Channel war eine der meistbefahrenen Wasserstraßen der Welt. Schiffskapitäne hatten ihre Toten auf offener See zu bestatten, ehe sie einen Hafen anliefen. Wenn stürmische See dies verhinderte, warteten sie gern die ruhigeren Wasser des Kanals ab, um das Ritual zu vollziehen. Da dessen Gewässer zwar tief, doch von einem Labyrinth starker, schneller Strömungen durchzogen waren, wurden die Toten regelmäßig an den südlichen Gestaden angespült, nicht fern der Priorei.

Rolands Glaube gebot es, diesen Toten mit gebührendem Respekt die letzte Ehre zu erweisen, doch es galt auch die Gefahren ansteckender Krankheiten zu bedenken.

Außerdem ließen sich längst nicht alle der angeschwemmten Leichen mit der gängigen Praxis des Seemannsbegräbnisses erklären.

Während er also den Strand entlangstapfte und den grobkörnigen Sand unter seinen Stiefeln nachgeben spürte, nahm Roland das angespülte Bündel näher in Augenschein. Er sah dunklen Anzugstoff, aus dem es schmutzig weiß hervorblitzte, und fragte sich unweigerlich, ob dieser Leichnam in letztere Kategorie fiel.

Bis er sich dann über den Toten beugte, war er sich dessen fast sicher. Bei dem Mann – denn ein Mann war es – handelte es sich allem Anschein nach um einen Engländer. Das helle Haar, das ihm nass und strähnig am Kopf klebte, war gut geschnitten, und die breite Stirn und die hohen Wangenknochen zeugten von einer noblen Geburt.

Jetzt jedoch …

Mit erfahrenem Blick nahm Roland wahr, in welch unnatürlicher Lage sich die langen, einst eleganten Gliedmaßen befanden, eine Haltung, in die ein menschlicher Körper nur mit äußerster Gewalt gebracht werden konnte – überhaupt nie gebracht werden sollte. Roland wurde von einer Mischung aus Mitleid, Entsetzen und schierem Grauen erfasst.

Welche Folter hatte dieser Mann erleiden müssen?

Er war auf dem Bauch angespült worden, den Kopf zum Meer, die Schultern verrenkt, das Kreuz gekrümmt. Arme und Beine standen unnatürlich ab wie gebrochene Zweige. Roland blickte hinab auf das Gesicht des Mannes. Die einst schönen, noblen Züge waren entstellt, die Haut fahl vom Hauch des Todes.

Dieser Mann war zerstört, auf grausamste Weise gebrochen worden, ehe der Tod ihn zu sich genommen hatte.

Roland bekreuzigte sich und sprach ein leises Gebet für die arme, unbekannte Seele. Doch dann – er wollte sich gerade umdrehen und den Novizen entsprechende Anweisungen geben –, ließ das flüsternde Rauschen des Meeres ihn innhalten.

Eine Welle rollte heran, kräftiger als die vorherigen; die Gezeiten hatten gewechselt, und die Flut kam.

Die Welle erreichte den Mann, umspülte seinen Körper und klatschte gegen seine durchnässten Kleider. Das Wasser stieg so hoch, dass es kurz über die schorfigen Lippen und seine Nase hinwegfloss. Roland hatte keine Notwendigkeit mehr gesehen, das zu verhindern.

Doch dann sah er feine Luftbläschen aus dem Mund des Mannes aufsteigen.

»Der Herr stehe uns bei!« Roland sprang auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Aber wozu war er der Krankenbruder?

Kaum dass die See sich zurückzog, hatte Roland sich wieder gefangen und drehte sich nach den Novizen um, die das Geschehen aus einigen Schritten Entfernung gespannt verfolgten. »Du … Godfrey.« Roland zeigte auf den sehnigsten und sportlichsten der Gruppe. »Lauf zurück zur Priorei und hol die Krankentrage. Ned und Will, ihr geht mit und bringt meinen Arztkoffer sowie die Tasche mit den Bruchschienen und dem Verbandszeug. Los, lauft – und beeilt euch!«

Mehr der Ermahnung brauchte es nicht; schon schossen die Jungen los wie die Hasen, sprangen die Dünen hinauf und sprinteten zurück zu dem schmalen Weg, der zum Kloster führte. Als er sich wieder dem Fremden zuwandte, kamen Roland Zweifel, ob er richtig handelte – ob es überhaupt einen Sinn hatte, ob noch Hoffnung bestand. Ob das, was bevorstand, den Preis wert war … Doch er war ein Mann Gottes; ihm blieb keine Wahl. Er musste es versuchen.

Niemand konnte ihm garantieren, dass der Mann überleben würde. Aber darum ging es nicht. Ebenso wenig darum, dass der Versehrte, sollte er es denn schaffen, ihm kaum dafür danken würde, dass er in ein Leben zurückgeholt worden war, das fortan voller Schmerz und Leid wäre.

Der Mann war Roland quasi vor die Füße gespült worden, ein menschliches Wrack, aber noch am Leben. Es war nicht an Roland, darüber zu urteilen oder zu entscheiden oder auch nur zu zweifeln. Er war bloß der Krankenbruder, und als solcher kannte er seine Pflicht.

Seine Aufgabe war es, dieses Leben zu retten.

Roland atmete tief durch und machte sich ans Werk. Zu den Novizen sagte er: »Ich möchte ihn nicht bewegen, bevor wir ihn nicht bestmöglich stabilisiert haben.« Dazu brauchte es die Bruchschienen und das Verbandszeug. Im Geiste ging er durch, wie viele Schienen in seiner Tasche waren und wie er sie einsetzen könnte, doch es würde nicht reichen. »Ben und Cam, habt ihr eure Messer dabei?«

Beide nickten.

»Gut.« Roland zeigte den Strand hinunter. »In dieser Richtung ist ein kleiner Fluss, der weiter vorn ins Meer mündet. Folgt seinem Lauf ein Stück zurück, bis ihr an eine dicht mit Röhricht bewachsene Uferstelle kommt, und bringt mir so viel davon mit, wie ihr tragen könnt.«

»Ja, Bruder Roland«, kam es von den beiden, ehe sie sich auch schon umdrehten und losliefen.

»Brian und Kenneth, sammelt alle Körbe ein und stapelt sie vorn am Weg zum Kloster, damit wir sie später nur noch mitzunehmen brauchen. Wenn ihr damit fertig seid, kommt ihr wieder zurück.«

»Aye, Bruder Roland.«

Roland wandte sich den verbliebenen sechs Jungen zu. »Wir können ihn noch nicht von der Stelle bewegen, aber wir sollten versuchen, das Wasser bestmöglich von ihm fernzuhalten. Am besten, wir bauen einen Damm aus Sand, um die Flut zurückzuhalten, bis die anderen mit dem Verbandsmaterial zurückkommen und ich ihn schienen kann.«

Er brauchte ihnen bloß zu zeigen, wo sie den Damm bauen sollten. Der Rest war beinahe ein Kinderspiel, denn die Novizen waren noch jung genug, dass sie Spaß daran fanden, im Sand zu buddeln.

Eigentlich müsste er das Höllentor längst passiert haben, aber nein. Der Schmerz ließ nicht nach.

Stoisch, gefangen in einem Geist, der ihn wider Erwarten noch immer nicht im Stich gelassen hatte, harrte er aus.

Wartete geduldig, dass der Tod ihn holte.

Dass die Qual ein Ende nahm.

Aber es nahm kein Ende. Hin und wieder kam er flüchtig zu Bewusstsein. Tauchte kurz auf und nahm in der Ferne etwas wahr.

Doch wen oder was er da spürte, hätte er nicht sagen können.

Allmählich begann er zu begreifen, dass er noch in der Welt der Sterblichen weilte. Dass sein Körper noch immer existierte, wenn auch nur als dumpfer Schmerz. Dass sein Verstand, gefangen in einem Schädel, den er kaum spürte, noch funktionierte.

Er lebte, immer noch.

Warum, war ihm ein Rätsel.

Der Schmerz hatte nachgelassen; verschwunden war er nicht, eher zu einem Bestandteil seiner selbst geworden.

Ein Teil seines neuen Selbst.

Wenn dieses Dasein, dieser seltsame Zustand zwischen Leben und Tod, anhielt, würde er irgendwann die Augen öffnen und sich der Frage stellen müssen, was mit ihm passiert war. Aber genau wie der Rest seines Körpers schienen seine Lider sich seiner Gewalt zu entziehen.

Und so wartete er.

Harrte der Dinge, die da kommen würden.

Endlich brachte er die Augen auf. Nur einen Spaltbreit, und das Licht blendete so sehr, dass er sie gleich wieder schloss.

Aber jemand war dort; jemand, der, wie ihm jetzt bewusst wurde, oft bei ihm gewesen war und dessen Gegenwart er vage durch den Nebel seiner Schmerzen wahrgenommen hatte. Dieser Jemand hatte ihn ebenfalls bemerkt.

Wasser benetzte seine trockenen Lippen. Er öffnete sie ein wenig, und das Gefühl, wie es kühl und belebend seine Kehle hinabrann, war so überwältigend, dass sämtliche seiner Sinne aus ihrem Dämmerschlaf erwachten.

»Können Sie mich hören?«

Sein Gehör schien also auch intakt. Die Stimme, die an seine Ohren drang, war die eines Mannes, tief und ruhig, tröstend und fürsorglich. Doch mehr als ein Flattern der Lider brachte er als Antwort nicht zustande.

»Ihr Name«, hörte er die Stimme sagen. »Wenn Sie sich an Ihren Namen erinnern und sprechen können, so sagen Sie ihn – um mehr bitte ich Sie gar nicht.«

Sein Name … Natürlich, sie brauchten irgendetwas, das sie auf den Grabstein setzen konnten. Aber der Mann, der er gewesen war, war längst gestorben. Nicht einmal im Tod wollte er unter diesem Namen ruhen.

Wieder wurde ihm Wasser hingehalten, und er trank es dankbar, während er überlegte, welche Antwort er diesem um sein Wohl besorgten Menschen geben sollte.

In seinem Gedächtnis arbeitete es, Erinnerungen tauchten auf, und allmählich begann seine Vergangenheit Gestalt anzunehmen. Plötzlich stand ihm wieder vor Augen, was er, den es nicht mehr gab, getan hatte – wie es so weit gekommen war und was zuvor passiert war …

Es gab tatsächlich einen Namen – ein Alter Ego, das er sich vor langer Zeit zugelegt und von dem er immer mal wieder Gebrauch gemacht hatte. Den Mann, der er gewesen war, gab es nicht mehr, der war tot, aber jenen anderen … den hatte er fast vergessen.

Nun, da er sterben würde – und in Anbetracht seiner Sünden erwartete er keinen anderen Ausgang –, wollte das Schicksal ihm vielleicht Gelegenheit geben, auch mit diesem Kapitel abzuschließen.

Er mochte es, wenn alles nach Plan ging und er die Dinge ordentlich zu Ende bringen konnte.

»Thomas.« Seine Stimme klang rauer, schroffer als er sie in Erinnerung hatte, als hätten seine Qualen alles Sanfte, Melodische zunichte gemacht. Das Sprechen verlangte ihm eine bewusste Anstrengung ab und verstärkte den Schmerz abermals ins Unermessliche. Doch als er merkte, dass der andere Mann sich über ihn beugte, zwang er sich die Worte mit mehr Deutlichkeit von den Lippen. »Thomas Glendower.«

Greller Schmerz durchzuckte ihn, dann wurde es dunkel um ihn, und er ließ sich in der Flut treiben.

»Wird er durchkommen?« Prior Geoffrey, weißhaarig und betagt, legte seine Hand auf Rolands Schulter.

Roland, der in der schmalen Zelle im hinteren Teil des Krankentraktes am Bett des Mannes saß, den sie Wochen zuvor mehr tot als lebendig am Strand gefunden hatten, schaute auf. Wahrheitsgemäß antwortete er: »Das kann ich nicht sagen, Pater Prior, aber nachdem er so lange durchgehalten und das alles überstanden hat«, er deutete auf die zahllosen Schienen und Verbände, die äußerlichen Zeichen der unzähligen Eingriffe, die nötig gewesen waren, um den Mann zumindest so weit wieder zusammenzuflicken, wie es in Rolands Macht stand, »gehe ich davon aus, dass er so weit genesen wird, wie es unter den Umständen möglich ist.«

Er warf einen Blick auf das versehrte Gesicht ihres Patienten, dann fasste Roland sich ein Herz. Er musste jenen Gewissenskonflikt ansprechen, mit dem er seit jenem Tag rang, als sie den Mann vor den Fängen der See gerettet hatten. »Ich frage mich noch immer, ob wir richtig gehandelt haben … ob es richtig war, ihn zu retten.«

Prior Geoffrey antwortete nicht sogleich, doch dann legten seine knorrigen Finger sich sanft auf Rolands Schulter. »Die Wege des Herrn sind unergründlich, mein Sohn. Wenn Thomas Glendower überlebt, kannst du dir gewiss sein, dass es genauso hat sein sollen und du getan hast, was von dir verlangt wurde.«

Roland wollte es hoffen. Demütig neigte er das Haupt und beließ es dabei.

Thomas saß im Klostergarten der Priorei Lilstock, die sonnenbeschienene Südwand der Krankenstation im Rücken, und betrachtete gedankenverloren die Fülle der Pflanzen in den ordentlich angelegten Beeten.

Er spürte die Sonne in seinem Gesicht und eine laue Sommerbrise, die den Geruch frisch umgegrabener Erde sowie das säuerliche Aroma der Früchte zu ihm trug, die drüben im Obstgarten reiften.

Aus dem hinteren Teil des Gartens, wo zwei Mönche bei der Arbeit waren, nahm er ferne Geräusche wahr, hörte die Vögel in den Bäumen zwitschern und singen. Obwohl das eine Augenlid jetzt leicht herabhing, hatte er in beiden Augen wieder normale Sehkraft erlangt und konnte dem Flug der Schwalben folgen, die im weiten Blau des Himmels ihre Kreise zogen.

Er war sich nicht sicher, ob das alles – die Wiedererlangung seiner Sinne und Fertigkeiten – am Ende eher Fluch oder Segen wäre.

Monate waren vergangen seit dem Tod des Mannes, der er gewesen war.

Er indes lebte, und das war schwer zu begreifen.

Er war mehr als bereit gewesen, diese Welt für immer zu verlassen und es dem Rest der Gesellschaft fortan zu ersparen, seine Person ertragen zu müssen.

Aber das, so schien es, hatte nicht sein sollen.

Glaubte man Bruder Roland, jenem Mann, der wochenlang an seinem Bett gesessen und ihn gepflegt hatte, der ihn gerettet und auch den Mann, der er jetzt war, vor dem Tode bewahrt hatte, so war Thomas stetig auf dem Wege der Besserung und würde mit der Zeit fast vollständig genesen.

Auch wenn er beim Gehen noch auf Hilfe angewiesen war, waren Körper und Geist doch weitgehend wiederhergestellt.

Noch immer litt er unter Schmerzen, aber obwohl er den Schmerz spürte, schenkte er ihm keine Beachtung mehr. Er war sein ständiger Begleiter geworden, ein bisschen lästig vielleicht, aber irgendwann nahm man ihn ganz selbstverständlich hin und ließ sich nicht länger von ihm ablenken oder in seinem Tun einschränken.

Schritte näherten sich auf dem Kies, und an der ruhig bemessenen Gangart erkannte er Bruder Roland, noch ehe dieser aus dem Durchgang zum Klosterhof hervortrat.

Roland schaute sich um, entdeckte dann Thomas auf seiner Bank und kam zu ihm herüber.

Thomas rang sich ein angestrengtes Lächeln ab und wartete, während Roland, nachdem er seinen Gruß mit einem Nicken erwidert hatte, seine Robe raffte und sich neben ihn setzte.

Einige Minuten sahen sie schweigend hinaus in den Garten und genossen die Stille und den Frieden, der hier herrschte, ehe Roland, recht unvermittelt, wie es seine Art war, fragte: »Und wer ist Thomas Glendower?«

Thomas spürte ein Lächeln um seine Lippen spielen. Mit diesem Gespräch hatte er gerechnet. Es war bloß eine Frage der Zeit gewesen.

Und weil er Roland mochte, wollte er ihm die Antwort gerne geben.

Roland gehörte zu jenen Menschen, in denen Thomas sich selbst wiedererkannte; ein Mann, der mit großer Wahrscheinlichkeit einen ähnlichen Hintergrund hatte wie er, der aber einen anderen Weg gegangen war. Vieles an Roland kam Thomas vertraut vor, und jetzt, mit seinem neuen, aus dem Tod geborenen Verständnis, vermochte er das auch zu schätzen, wenn nicht gar zu bewundern.

Ohne den Blick vom Grün des Gartens und den blühenden Beeten zu nehmen, erwiderte Thomas: »Ich wurde in den niederen Adel geboren, aber als ich sechs Jahre alt war, kamen meine Eltern bei einem Unfall ums Leben. Da ich keine nahen Verwandten hatte, gab man mich in die Obhut eines Vormunds, eines Freundes meines Vaters, der politisch und gesellschaftlich sehr angesehen, doch alles andere als ein guter Mensch war. Unter seinem Einfluss entwickelte ich mich auf eine Weise, wie ich es, wäre ich in einem anderen Umfeld aufgewachsen, wohl eher nicht getan hätte. Aber da er sich das Leben nahm, kaum dass ich volljährig war, trage natürlich ich allein die Verantwortung dafür, wie sich meine Entwicklung fortan gestaltete.«

Er hielt inne und überlegte einen Moment, ehe er fortfuhr. Seine Stimme klang noch immer rau, doch fest und klar. »Man hat mich damals gewarnt, mich vorzusehen und den Bogen nicht zu überspannen, aber wie junge Männer nun einmal sind, schlug ich den Rat in den Wind. Ich glaubte, es besser zu wissen, und schöpfte alle Möglichkeiten aus, die das Leben mir bot. In materieller Hinsicht war ich sehr erfolgreich, aber die meiste Zeit blieb ich allein, wenn auch aus freien Stücken. Damals habe ich nicht das Bedürfnis nach persönlichen Bindungen verspürt. Letztlich sollte mir das, mehr noch als alles andere, zum Verhängnis werden. Weil ich nie gelernt hatte, an andere zu denken, habe ich großen Schaden angerichtet. Ich habe andere Menschen verletzt, auch wenn es nicht meine Absicht war. Mehr noch, ich habe Kummer und Leid über sie gebracht … sogar den Tod. Ich war schuld am Tod anderer und deshalb … deshalb musste ich sterben.«

Roland schwieg eine Weile, dann fragte er: »Sie haben jemanden getötet?«

»Ja.«

»Mit eigener Hand?«

Thomas war versucht zu lügen, doch er schuldete Roland die Wahrheit. »Nein. Ich selbst habe niemanden getötet, aber ich war der Grund, dass Menschen ihr Leben verloren.«

Die Stirn in tiefe Falten gelegt, sah Roland ihn von der Seite an. »Dann haben Sie den Auftrag gegeben, jemanden zu töten?«

Lügen, dachte Thomas, wäre so viel einfacher gewesen. Er lehnte sich zurück, ließ den Kopf an der Hauswand ruhen und meinte: »Nein, aber ich habe Anweisungen gegeben, die letztlich zum Tod von Menschen führten.« Nachdem er sich derart offenbart und Roland damit in Verwirrung gestürzt hatte, sah er sich zu einer Erklärung genötigt. »Ich war nicht direkt beteiligt. Aber ich wollte bestimmte Dinge für mich – wollte im Lauf der Jahre immer mehr –, und so habe ich anderen den Auftrag gegeben, mir diese Dinge zu besorgen. Von den Todesfällen erfuhr ich erst später, aber wenn ich das Ganze vorher durchdacht hätte … Doch das habe ich nicht, verstehen Sie? Ich habe nie an andere gedacht – das war mein Fehler. Ich habe immer so gehandelt, als würden andere von meinem Tun unberührt bleiben, was natürlich nicht der Fall war – es war falsch. Und als mir das endlich klar wurde, habe ich dem ein Ende gemacht.«

Wieder folgte eine längere Pause, in der Roland über das Gehörte nachzudenken schien. »Thomas Glendower ist nicht Ihr richtiger Name, oder?«, fragte er schließlich.

Thomas nickte. »Aber der Name, mit dem ich geboren wurde, starb mit dem Mann, der ich war. Ich habe ihn aus dem Weg geräumt, und das in jeder Hinsicht. Ich habe dafür Sorge getragen, dass Wiedergutmachung geleistet wird, wo es der Wiedergutmachung bedarf – und weit darüber hinaus.« Einen Moment hielt er inne und genoss die Genugtuung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, dann fuhr er fort: »Der Mann, der ich war, ist tot, und glauben Sie mir, niemandem wäre damit gedient, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Ganz im Gegenteil. Das würde ich sogar auf die Bibel der Priorei schwören.«

Roland räusperte sich.

Mit aller Geduld, die er in den letzten Monaten auf dem Krankenlager erworben hatte, wartete Thomas ab, welches Urteil seiner harrte, nun, da er die Sünden seiner Vergangenheit gebeichtet hatte.

Schließlich beugte sich Roland, den Blick wie Thomas auf den Garten gerichtet, auf beide Arme gestützt vor und verschränkte die Hände zwischen den Knien. »Es gab Zeiten, vor allem in den ersten Tagen, die Sie bei uns waren, als ich nicht davon ausging, dass Sie überleben würden. Ich musste Ihnen Knochen brechen und Sehnen zerren, um Ihre Glieder wieder einzurenken; ich musste Ihnen etwas gegen die Entzündungen geben und gegen den Schmerz. Ich musste Ihr Rückgrat richten und habe schon befürchtet, dass ich Ihnen damit den Todesstoß geben würde. Sie waren bei alledem nicht bei Bewusstsein, und ich hätte nicht sagen können, ob Sie leben oder sterben wollten. Und so hielt ich es denn auch: Ich hoffte weder auf Ihren Tod noch betete ich für Ihr Leben.«

Die Hände fest verschränkt, fuhr Roland fort: »Prior Geoffrey war anderer Ansicht. Er hielt es für sehr wahrscheinlich, wenn nicht gar sicher, dass Sie überleben würden, denn er sah ein Zeichen Gottes darin, dass Sie, zumal in Ihrem Zustand, ausgerechnet mir in die Hände gefallen sind.«

Thomas blinzelte ungläubig. »Eine Ansicht, die ich nur schwerlich teilen kann.«

Roland nickte nur. »Nach allem, was Sie mir gerade erzählt haben, kann ich verstehen, warum Sie das so sehen, aber … Ich kenne Geoffrey seit Jahren. Während meines Noviziats war er mein Mentor. Er ist sehr klug und weitsichtig, gerade auch was seine Mitmenschen und deren Eigenarten angeht.« Roland hielt einen Moment inne. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr muss ich ihm recht geben.«

»Wie bitte?« In seiner Verwunderung konnte Thomas seinen verbitterten Tonfall kaum verbergen. »Der klägliche Versuch, meine Sünden wiedergutzumachen, soll mir göttliche Vergebung eingebracht haben?«

Roland lachte trocken. Er wandte den Kopf und sah Thomas an. »Nein, so einfach ist es nicht. Geoffrey glaubt, dass Sie nicht ohne Grund verschont wurden. Er glaubt, dass Gott noch etwas mit Ihnen vorhat, eine Aufgabe, für die nur Sie infrage kommen, und Ihnen Gnade gewährt hat. Weil Sie hier auf Erden noch etwas zu vollbringen haben.«

In Rolands Augen sah Thomas eine neue Gewissheit aufleuchten.

Als wolle er ihm dies bestätigen, nickte Roland. »Und nach allem, was Sie mir gerade erzählt haben, neige ich noch mehr dazu, Geoffreys Ansicht zu teilen. Sie können es damit halten, wie Sie wollen, aber glauben Sie mir, unser Herr ist noch nicht fertig mit Ihnen.«

Thomas wusste nicht recht, was er damit anfangen sollte. Er hätte entgegnen können, dass er nicht religiös, ja nicht einmal sicher war, ob es irgendwelche himmlischen Mächte gab. Ans Walten des Schicksals konnte er vielleicht noch glauben, aber an Gott? Eine solche Überzeugung war ihm nicht gegeben.

Doch wie er hier in der Sonne saß und Rolands ruhigem Blick begegnete, war er sich auch dessen auf einmal nicht mehr sicher. So hob er nur eine Schulter – die weniger versehrte – und meinte: »Nun, wir werden sehen.«

Monate sollten vergehen, ehe Thomas es, auf Krücken gestützt, bis in die Bibliothek des Klosters schaffte. Dort fand er, wie erhofft, einige Tageszeitungen, die jeden Nachmittag aus London geliefert wurden, auch wenn fraglich war, für wen. Außer ihm schien niemand im Hause die neuesten Nachrichten zu verfolgen.

Nach einem weiteren Monat bat er Prior Geoffrey um Erlaubnis, sich entgeltlich zu zeigen, indem er das Kloster bei der Verwaltung dessen Vermögens unterstützte. Geoffrey, der von Roland völlig richtig als klug und weitsichtig, wenn nicht gar ein wenig gerissen beschrieben worden war, willigte ein, und zum ersten Mal seit Langem hatte Thomas das Gefühl, wieder zu leben und nicht bloß von einem Tag zum nächsten zu existieren.

Dem Prior gegenüber erklärte er, wenn sein Leben denn aus einem bestimmten Grund verschont worden sei, dann würde sich dieser Grund vermutlich im Laufe der Zeit offenbaren. Bis dahin wolle er sich, ganz im Geist der Bruderschaft, nützlich machen. Und sein einziges Talent war nun einmal die Wahrung und Vermehrung von Vermögen.

Nachdem der Prior ihm einen Eid abverlangt hatte, dass Thomas zu diesem Zwecke nur legale und moralisch einwandfreie Geschäfte tätigen würde, hatte Geoffrey sich sehr umgänglich, ja, geradezu begeistert gezeigt und Thomas die Bücher und Konten der Priorei vorgelegt.

Wiederum einige Monate später ging es dann auch mit den klostereigenen Vermögenswerten stetig bergauf.

Eines Tages, als Thomas an seinem üblichen Platz in der Bibliothek saß und im fahlen Licht des Wintertages, das durch die bleigefassten Fenster hereinfiel, das Angebot des offiziellen Vermögensverwalters der Priorei durchging – seit es jemanden gab, der seine Vorschläge tatsächlich guthieß und umsetzte, ging der Verwalter seinen Aufgaben mit einem völlig neuen Enthusiasmus nach –, betrat Roland die Bibliothek. Als er Thomas an seinem Tisch sitzen sah, kam er herüber.

Mit einem gutmütigen Lächeln zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm.

Thomas quittierte es mit einem Hochziehen der Augenbraue und ging erst noch in Ruhe die Zahlen durch, bis er am Ende der langen Reihe angelangt war.

Dann schaute er auf und erwiderte den Blick aus Rolands grauen Augen. Wie üblich hatte der große, breitschultrige Mann – so groß wie Thomas war er, aber von kräftigerer Statur und mit dunklem Haar und blasser Haut, was französische Vorfahren vermuten ließ – wie immer also hatte er beide Arme auf den Tisch gestützt und die Hände vor sich verschränkt. Thomas lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hob erneut, diesmal fragend, die Brauen.

Rolands Lächeln wurde breiter, ehe er zu seinem Anliegen kam. »Als ich Sie nach Ihrem Namen gefragt habe, waren Sie nicht ganz bei Bewusstsein und halb von Sinnen vor Schmerz, und doch haben Sie mir ohne zu zögern geantwortet. Bevor Sie mich eines Besseren belehrt haben, bin ich davon ausgegangen, dass Ihr Name Thomas Glendower sei. Seit Monaten nutzen Sie diesen Namen und reagieren ganz selbstverständlich darauf, weshalb ich mich frage …« Er sah Thomas unverwandt an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass es Thomas Glendower tatsächlich gibt?«

Thomas nickte. »Ja, es gibt ihn. Er ist«, er gestikulierte vage, wozu er endlich wieder in der Lage war und das sogar mit einer gewissen Anmut, »ein Alter Ego von mir, das ich mir in jungen Jahren zugelegt habe. Aber ich habe nur selten davon Gebrauch gemacht, zumindest nicht für jene Vorhaben, die letztlich mein Verderben waren – oder vielmehr das Verderben dessen, den ich hinter mir gelassen habe.« Er hielt kurz inne und überlegte, wie er es am besten erklären sollte. »Will ich mich hinaus in die Welt begeben, um jene Aufgabe zu erfüllen, für die Gott oder das Schicksal mich ausersehen haben, dann brauche ich eine neue Identität, und Thomas ist vielleicht nicht perfekt, auch nicht frei von Sünde, aber doch schon … da. Er ließe sich leicht wieder zum Leben erwecken und böte sich für diesen Zweck geradezu an.«

Roland nickte. »Sie haben erwähnt, dass Sie, zumindest als der, der Sie waren, dazu neigten, andere nicht zu bedenken und sich nicht um die Folgen zu kümmern, die Ihr Tun für andere Menschen hat.« Den Blick fest auf Thomas gerichtet, setzte er nach: »Deshalb würde ich mich gern vergewissern, ob Thomas Glendower Angehörige hat, Bediente, Menschen, für die sein – oder vielmehr Ihr – Verschwinden und Ihre lange Abwesenheit Schwierigkeiten bedeuten könnten.«

Thomas stutzte einen Moment und setzte sich langsam auf. »Nun, nicht sofort, aber früher oder später vermutlich schon, ja.«

»Verstehe«, meinte Roland. »Dann verstehen Sie dies als Aufforderung, sich am besten unverzüglich darum zu kümmern. Auch wenn Sie lieber in der Weltabgeschiedenheit unserer Priorei auf den Wink des Schicksals warten wollen, so könnten Sie doch wenigstens schreiben«, er deutete auf die Feder, die Thomas beiseitegelegt hatte, »um besagten Menschen zu versichern, dass es Ihnen gut geht, und dafür zu sorgen, dass Ihre weltlichen Belange geregelt sind.«

Schweigend sann Thomas darüber nach, dann nickte er. »Sie haben recht. Danke.«

Roland bedachte ihn mit einem Lächeln und schob seinen Stuhl zurück. »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Die ausgehende Post wird auf dem kleinen Tisch vor Geoffreys Studierzimmer gesammelt.«

Thomas nickte.

Während Roland hinausging, rang Thomas noch mit sich, aber schließlich nahm er ein frisches Blatt Papier und begann zu schreiben.

Eine halbe Stunde später humpelte er, auf seine Krücken gestützt, zum Priorszimmer. Keuchend vor Anstrengung blieb er bei dem kleinen Tisch stehen und ließ die beiden Briefe, die er mühsam in einer Hand hielt, auf das silberne Tablett fallen. Beide trugen Londoner Adressen; der erste ging an Drayton, Thomas Glendowers Geschäftsverwalter, der andere an Marwell, seinen Anwalt.

Nachdem er sich einen Moment ausgeruht hatte, stützte er sich wieder auf seine Krücken und blickte noch ein letztes Mal auf die zwei Briefe, die ganz zuoberst auf dem kleinen Poststapel lagen. Sie waren sein erster Vorstoß hinaus in die Welt – und er war sich sicher, dass Roland sich der Größe dieses Schrittes bewusst gewesen war.

Aber er hatte recht, es musste getan werden; diese Briefe wollten geschrieben, der Schritt gewagt werden.

Noch immer etwas schwerfällig drehte Thomas sich um und schleppte sich zurück zur Bibliothek.

Die Bibliothek war jetzt sein angestammter Arbeitsplatz, und so verging die Zeit. Auf den Winter folgte der Frühling, und mit ihm gab sich auch der Abt des Hauptklosters ein Stelldichein, um bei den Brüdern in Lilstock nach dem Rechten zu sehen. Nachdem Prior Geoffrey ihm die Bücher und Konten der Priorei vorgelegt hatte, zeigte der Abt sich sehr beeindruckt und ließ anfragen, ob Thomas mit dem Vermögen der Abtei nicht ein ähnliches Wunder vollbringen könne.

Thomas nahm die Herausforderung gerne an. Weitere Gelder zu verwalten würde ihn noch eine Weile beschäftigen, seinen Verstand schärfen und ihn davor bewahren, in Trübsal zu verfallen. Auch kam er so mit mehr Menschen in Kontakt, und allmählich begann er zu begreifen, dass er sich üben musste in der Kunst, an andere zu denken, wie Roland es in ergreifender Schlichtheit genannt hatte.

Für andere mochte das eine Selbstverständlichkeit sein, Thomas indes hatte seine Schwierigkeiten damit. Auch jetzt noch. Stets musste er sich bewusst dazu anhalten, sein Handeln und dessen Folgen in Hinblick auf alle Beteiligten zu durchdenken.

Und da er noch immer nicht wusste, zu welchem Zweck sein Leben verschont geblieben war, sah er seine erste Aufgabe darin, so leben zu lernen, dass er anderen durch seine selbstbezogene Art nicht ungewollt Schaden zufügte. Das war etwas, das er selbst hier, in der kleinen Gemeinschaft der Priorei, erlernen konnte.

Die Priorei Lilstock gehörte zum Benediktinerorden, und etwas überrascht stellte Thomas fest, wie er sich allmählich in das Klosterleben einfügte. Der festgeschriebene Tagesablauf hatte etwas Beruhigendes. Roland blieb sein engster Vertrauter, doch auch mit Geoffrey verbrachte er viele Stunden. Beide Männer waren ihm, wenn vielleicht nicht ebenbürtig, in ihren geistigen Interessen doch ähnlich genug, dass man sich gegenseitig zu schätzen wusste.

Langsam heilte auch sein Körper. Sein Gesicht würde nie mehr so aussehen wie früher, und er würde für den Rest seines Lebens gezeichnet bleiben, aber mit der Zeit konnten die zahlreichen Schienen, Schlingen und Bandagen, mit denen Roland Thomas’ Brüche gerichtet und seine verrenkten Gelenke gestützt hatte, abgenommen werden, da er sie nicht mehr brauchte. Zwei Jahre, nachdem Roland ihn in der Bucht gefunden hatte, konnte Thomas wieder selbstständig laufen und war dazu bloß noch auf einen Gehstock angewiesen.

Allen Qualen zum Trotz hatte seine einst so robuste Gesundheit ihn nicht verlassen. Immer öfter verbrachte er die Nachmittage nicht wie sonst in der Bibliothek, sondern half im Garten, in den Ställen und Werkstätten. Er machte sich überall da nützlich, wo gerade mit angepackt werden musste, und gewann so jeden Tag etwas mehr an Kraft und neuen Fertigkeiten hinzu. Letzteres bereitete Thomas ein fast diebisches Vergnügen, hatte er in seinem früheren Leben doch nie Gelegenheit gehabt, zu Hammer, Axt oder Spaten zu greifen. Und sollte er tatsächlich verschont worden sein, weil eine bestimmte Aufgabe auf ihn wartete, so konnte es sicher nicht schaden, sich beizeiten die dazu nötige Kraft anzueignen.

Drei Jahre, nachdem Thomas in die Priorei gekommen war, starb Geoffrey. Etwas überrascht stellte Thomas fest, wie nah ihm der Tod des alten Mannes ging. Er empfand aufrichtige Trauer und Bedauern bei dem Verlust seines Freundes, Gefühle, die ihm bislang eher fremd gewesen waren. Natürlich hatte er auch um seine Eltern getrauert, aber da war er noch ein Kind gewesen. Thomas nahm es als ein Zeichen, dass er mehr und mehr lernte, sich den Menschen verbunden zu fühlen.

Nachdem man Geoffrey mit allen Ehren beigesetzt hatte, fanden die Brüder sich zur Wahl des nächsten Priors zusammen. Es überraschte Thomas nicht, dass man sich einhellig für Roland entschied.

»Auf Sie, Prior Roland.« Thomas lehnte sich in einen der beiden Sessel zurück, die am Kamin des Priorszimmers standen, und erhob sein Glas auf Roland, der ihm auf Geoffreys altem Platz gegenübersaß.

Roland lächelte wehmütig. »Sosehr ich diese Ehre zu schätzen weiß, wünschte ich doch, Geoffrey wäre noch bei uns.«

Das konnte Thomas ihm nur zu gut nachfühlen. Er blickte zu Boden. »Allerdings.«

Einen Moment schwiegen sie, dann hob Roland sein Glas. »Auf jene, die von uns gegangen sind.«

»Auf Geoffrey«, erwiderte Thomas.

Nachdem sie beide einen Schluck getrunken hatten, lehnte Roland sich zurück und sah Thomas an. »Und auf Sie, denn Ihnen gebührt unser Dank, der meine und der meiner Brüder, dass die Priorei finanziell so gut dasteht und wir uns keine Sorgen um ihr Fortbestehen mehr machen müssen.«

Thomas winkte ab. »Ich war nun mal hier, die Tage wurden mir lang – da schien es mir mehr als recht, Ihnen und dem Kloster etwas zurückzugeben für alles, das Sie für mich getan haben.« Er deutete an sich hinab. »Was meinen Sie, muss ich mich damit abfinden oder werde ich mit der Zeit noch etwas flotter auf den Beinen?«

Roland schmunzelte. »Sie werden kräftiger werden, das konnte ich schon während der letzten Monate beobachten. Aber Sie werden Ihren Körper anders beanspruchen. Ihre Hände packen fester zu, weil sie Ihr ganzes Gewicht stemmen müssen, und auch Ihre Arme und Ihre Schultern werden kräftiger als früher, wohingegen Ihre Beine immer etwas schwächer bleiben werden als zuvor. Und ob sie Sie in Zukunft schneller tragen …«, Rolands Stimme wurde milder, »Nun, Sie werden das eine Bein immer ein wenig nachziehen, das konnte ich leider nicht ändern. Vermutlich werden Sie auch immer einen Stock brauchen, aber dessen ungeachtet können Sie, wie Sie ja schon festgestellt haben, wieder reiten, und im Laufe der Zeit werden Sie auch weitere Strecken zu Fuß zurücklegen können als jetzt noch.«

Thomas senkte den Blick auf sein linkes Bein, das schwächere, und nickte.

»Aber«, fuhr Roland in forscherem Tonfall fort, »um auf den Punkt zurückzukommen, den ich eigentlich hatte ansprechen wollen, ehe Sie mich so geschickt davon abgebracht haben …«

Ertappt lächelte Thomas.

Roland räusperte sich und hob erneut an. »Um auf mein eigentliches Anliegen zurückzukommen: Ich habe ja nun meinen Platz gefunden, mein weiterer Weg ist vorgegeben. Wie Geoffrey werde ich bis ans Ende meiner Tage Prior dieses Klosters sein. Ein Weg, den ich bewusst gewählt und auf den ich hingearbeitet habe, damit ich, wenn die Zeit so weit wäre und meine Mitbrüder es so wollten, Prior werden und mein Lebensziel erreichen konnte. So wie auch Geoffrey es vor mir getan hat. Aber was ist mit Ihnen, Thomas? Seit Sie hier sind, scheinen Sie auf etwas zu warten, dabei sind Sie doch niemand, der das Leben einfach auf sich zukommen lässt. Sie sind in dieser Hinsicht wie Geoffrey und wie ich, Sie wollen die Dinge selbst in die Hand nehmen. Was also haben Sie vor, was ist Ihr Ziel?«

Mit einem Seufzen hob Thomas den Blick und sah den neuen Prior an. »Ich dachte, ich würde sterben. Aber ich habe überlebt. Indem ich mir Ihre und Geoffreys Überzeugung zu eigen gemacht habe, dass ich aus einem ganz bestimmten Grund verschont wurde, dass ich eine Aufgabe zu erfüllen habe, die vielleicht nur ich erfüllen kann …« Er breitete die Hände aus. »Vermutlich warte ich darauf. Auf einen Wink des Schicksals, einen Fingerzeig Gottes, der mir diese Aufgabe offenbart.« Als er merkte, dass Roland auf den Rest seiner Erklärung wartete, fuhr er fort: »Mein Plan war es, und daran hat sich wenig geändert, den Mann sterben zu lassen, der ich einst war. Sein Tod sollte Strafe und Wiedergutmachung für die Sünden sein, die ich unter seinem Namen begangen habe. So gesehen scheint es mir gar nicht so abwegig, dass ich verschont wurde, um etwas zu tun, das nur mir möglich ist.« Thomas trank sein Glas aus und ließ es wieder sinken. »Mir kommt es vor«, setzte er leiser nach, fast wie zu sich selbst, »als sei mein Weg einer der Buße. Fast wäre ich gestorben, doch so leicht sollte ich nicht davonkommen. Dann meine lange Genesung und schließlich diese Aufgabe, die sich mir stellen wird. Meinen Frieden, so sehe ich es mittlerweile, werde ich erst finden, wenn diese Aufgabe erfüllt ist. Erst dann werden die Taten aus meiner Vergangenheit gesühnt sein.«

Roland betrachtete ihn schweigend. Eine Minute verstrich, dann noch eine, schließlich meinte er: »Ich kann nachvollziehen, warum Sie das so sehen und daran glauben wollen. Wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich es wohl genauso sehen, weshalb ich Ihrer Überzeugung auch nichts entgegenzusetzen habe. Allerdings möchte ich einwenden, und damit komme ich auf jenen Punkt zurück, den ich hatte ansprechen wollen, dass Sie mittlerweile weit genug genesen sind, um Ihren Weg aktiv zu suchen, statt lediglich auf Ihre Bestimmung zu warten. Denn – verzeihen Sie mir, sollte mein Eindruck täuschen – so kommt es mir vor: dass Sie untätig abwarten, statt Ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.«

Seine Irritation konnte Thomas nicht ganz verhehlen. Stirnrunzelnd sagte er: »Ich bin immer davon ausgegangen, dass genau dies der tiefere Sinn wäre – dass Gott oder das Schicksal mich finden würde, wenn es so weit ist … Wenn ich dafür bereit bin. Ich habe angenommen, dass es bloß eine Frage der Zeit ist, bis meine Aufgabe sich mir offenbart.«

Ein Lächeln spielte um Rolands Lippen. »Das wäre eine Möglichkeit, aber eine von vielen. Die Priorei ist letztlich eine doch sehr begrenzte Welt. Daher scheint es mir durchaus möglich, dass Ihre Aufgabe sich jenseits dieser Mauern findet und sich Ihnen erst dann offenbaren wird, wenn Sie selbst danach suchen.«

Schweigend und mit leerem Blick schaute Thomas zu Boden.

Roland gab ihm ein wenig Zeit, dann setzte er milde nach: »Ziehen Sie diese Möglichkeit zumindest in Betracht. Mit der Zeit werden Sie Klarheit gewinnen, da bin ich mir sicher.«

In jener Nacht wälzte Thomas sich in seinem schmalen Krankenbett hin und her. Rolands Worte und deren tiefere Bedeutung – dass er, um wirklich Wiedergutmachung zu leisten und Frieden zu finden, die sicheren Grenzen der Klostermauern verlassen und die ihm bestimmte Aufgabe draußen in der Welt suchen musste – wollten ihm keine Ruhe lassen.

Roland hatte natürlich recht. Eigentlich gehörte Thomas zu jenen Menschen, die gern die Zügel in der Hand hielten und selbst über ihr Schicksal bestimmten. Auch war er nie davor zurückgescheut, dem Schicksal nachzuhelfen, wenn es denn sein musste. Und das gab ihm vielleicht am meisten zu denken. Versuchte er, indem er scheinbar tatenlos der Dinge harrte, lediglich auf andere Weise seinen Willen durchzusetzen?

Wollte er das Schicksal dazu zwingen, nach seinen Regeln zu spielen?

Eines indes wusste er ganz sicher: Er wagte sich nicht gern ins Ungewisse. Es war ihm immer ein Gräuel gewesen, sich Situationen auszusetzen, die er nicht unter Kontrolle hatte.

Und er hatte noch immer keine Ahnung, nicht den leisesten Schimmer, worin die ihm bestimmte Aufgabe bestehen könnte.

Die Ungewissheit zu akzeptieren und das Risiko, sich einfach auf den Weg zu machen und darauf zu vertrauen, dass seine Bestimmung ihn schon finden würde, wenn er sich nur auf die Suche begab …

Es war Thomas nie leichtgefallen, auf etwas zu vertrauen, das er nicht beeinflussen konnte.

»Es ist an der Zeit, dass ich die Priorei verlasse.« Auf seinen Gehstock gestützt ließ Thomas sich in Rolands Studierzimmer in einen der beiden Kaminsessel sinken.

Roland setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn lange, dann nickte er. »Sie haben alles erreicht, was Sie hier erreichen wollten.«

Mit grimmiger Entschlossenheit nickte Thomas ebenfalls. »Ich habe einen Pakt mit mir selbst geschlossen. Sollte meine vermeintliche Bestimmung sich mir bis zu dem Zeitpunkt nicht gezeigt haben, da ich genügend Gelder für die Priorei und die Abtei zusammenhabe, damit Sie und der Abt jene baulichen Maßnahmen ausführen können, die Sie schon so lange im Blick hatten, dann ist das ein Zeichen, dass ich mich auf den Weg und die Suche machen sollte. Heute Mittag war es dann so weit. Wie es aussieht, hatten Sie von Anfang an recht damit, dass meine Berufung hinter diesen Mauern nicht zu mir finden wird.«

Den Kopf leicht geneigt blickte Roland suchend in sein Gesicht. »Mir war Ihr Zögern, wieder hinaus in die Welt zu gehen, nie ganz verständlich. Es ist ja keineswegs so, als sei Ihnen das Weltliche fremd.«

»Das stimmt, und um ganz offen mit Ihnen zu sprechen, ist mir selbst nicht ganz klar, woher mein Widerwillen rührt.« Thomas dachte über seine Worte nach und fuhr dann mit einem sarkastischen Lächeln fort: »Ich kann bloß vermuten, dass es eine Art Schutzmechanismus ist, der mich in diesem sicheren Hafen hält, statt zuzulassen, dass ich mich den Herausforderungen des Lebens stelle in einer Welt, in der viele Menschen allen Grund hätten mich zu hassen, ja, mich hängen sehen zu wollen.«

Ruhig blickte Roland ihn an; und Thomas spürte seinen Blick mit einem Gewicht auf sich ruhen, das stetig gewachsen war im Laufe der letzten zwei Jahre, die Roland nun das Amt des Priors bekleidete.

»Eines indes gibt es«, meinte Roland schließlich, »das Sie oft zu vergessen scheinen.«

Als er nicht sogleich weitersprach, schaute Thomas auf und hob fragend die Brauen.

»Sie sind nicht mehr der, als den die Welt Sie kannte. Glauben Sie mir, Ihr Tod, wie Sie es nennen, und Ihre Jahre hier bei uns haben Sie von Grund auf verändert.«

Thomas ließ den Kopf wieder sinken. »Vielleicht. Und vielleicht ist das ja auch der Grund, warum ich meinen Aufbruch immer wieder hinauszögere. Warum ich es nicht wage, mich in der echten Welt auf die Bewährungsprobe zu stellen.«

Roland stutzte. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Um es ganz simpel zu sagen: Ich weiß selbst nicht, wer Thomas Glendower heute ist und wie er außerhalb dieser Mauern zurechtkommen wird.«

Ein leises Lächeln spielte um Rolands Lippen. »Aber was wäre das Leben ohne solche Herausforderungen? Macht das nicht gerade den Reiz aus?«

Erneut hob Thomas die Brauen. »Zum Teil, sicherlich. Und ich denke, wir wissen beide, dass es erst der Anfang dessen ist, was mich erwartet, wenn ich die Kraft aufbringe, das Kloster zu verlassen.« Er ließ einen Moment verstreichen, ehe er, nun mit mehr Bedacht, fortfuhr: »Aber um meine Aufgabe zu finden, so viel ist mir jetzt klar, werde ich diesen Schritt wagen und mich auf die Suche machen müssen. Oder mich zumindest hinausbegeben in die Welt, um dem Schicksal Gelegenheit zu geben, mich zu finden.«

 1. Kapitel 

März 1838

Priorei Lilstock, Somerset

Als Thomas zum Tor der Priorei hinausritt, schillerte der raubereifte Rasen in der Morgensonne und Tautropfen funkelten wie Kristalle an den noch winterkahlen Ästen.

Sein Pferd hatte er vor einigen Monaten gekauft, als er Roland auf einem von dessen Besuchen zur Abtei begleitet hatte. Ihre Route hatte sie durch Bridgewater geführt, wo er besagten Apfelschimmel entdeckte, einen nicht mehr ganz jungen Wallach, aber robust und verlässlich. Angesichts von Thomas’ körperlichen Einschränkungen gab das den Ausschlag, konnte er sich doch nicht mehr darauf verlassen, mit den Knien genügend Kraft aufzubringen, um ein unruhiges Pferd zu beherrschen.

Silver – so hatten die Novizen ihn genannt – ließ sich durch nichts mehr aus der Ruhe bringen. Wenn ihm etwas nicht passte, blieb er einfach stehen, was Thomas alles in allem lieber war, als abgeworfen zu werden.

Seine Knochen waren für die nächsten fünf Leben oft genug gebrochen worden.

Als Thomas jetzt die Straße nach Bridgewater entlangritt, ging er ganz automatisch alle Schmerzen und Zipperlein durch, die ihn momentan plagten. Ganz frei würde er nie davon sein, aber im Großen und Ganzen hatten seine Beschwerden so weit nachgelassen, dass er sie kaum noch bemerkte. Oder er war mittlerweile abgestumpft, seine Nerven unempfindlich geworden gegen den ständigen Reiz.

In Vorbereitung auf seine Reise war er während des letzten Monats jeden Tag ausgeritten, um seine Kraft und Kondition zu verbessern, aber auch, um sich zu vergewissern, ob er überhaupt in der Lage wäre, die vier oder fünf Tage im Sattel durchzuhalten, die es brauchte, um an sein Ziel zu gelangen.

Die erste Anhöhe lag vor ihm, und jäh überkam ihn das Gefühl, etwas Unschätzbares hinter sich zu lassen. Oben angekommen, ließ er Silver anhalten und schaute zurück.

Dort unten lag die Priorei, schmiegte sich mit ihren grauen Steinmauern ins blasse Grün der Landzunge, darüber der blaue Himmel und in der Ferne die bleigrauen Wasser des Bristol Channel. Versonnen erinnerte sich Thomas an die ungezählten Stunden, die er mit Roland, mit Geoffrey und all den anderen Mönchen verbracht hatte, die ihn, ohne zu fragen, ohne sich ein Urteil anzumaßen, bei sich aufgenommen hatten.

Sie waren es, mehr noch als er selbst, die ihm diese Chance ermöglicht hatten – hinauszugehen in die Welt, um seine Vergangenheit zu sühnen und so seinen Frieden zu machen.

Seinem Verwalter Drayton hatte Thomas es zu verdanken, dass er mit ausreichend Barem ausgestattet war, und in seinen Satteltaschen fand sich alles, was er für die nächsten Tage brauchen würde.

Endlich war der erste Schritt getan auf der Suche nach seiner Bestimmung. Im Grunde lieferte er sich damit seinem Schicksal aus. Doch er war bereit für alles, was ihn erwarten mochte.

Thomas warf noch einen letzten Blick zurück auf die Priorei, dann nahm er Silvers Zügel wieder auf und setzte seinen Weg fort.

Seine Reise führte ihn durch Taunton, einen Ort voller Erinnerungen und Menschen, die ihn, so sehr die Zeit und seine Verletzungen ihn auch verändert haben mochten, erkennen könnten; also ritt er zügig durch das kleine Städtchen und verbrachte die Nacht in Waterloo Cross, ehe er bei Tagesanbruch weiter gen Westen ritt.

Am späten Nachmittag des vierten Tages erreichte er Breage Manor. Er war durch Helston geritten und erst der Straße Richtung Penzance gefolgt, dann einem Fuhrweg, der nach Süden zu den Klippen führte. Die Zufahrt zum Anwesen hätte man leicht übersehen können: ein schlichter Schotterweg, der sich zwischen geduckten Bäumen hindurchwand und über eine kleine Anhöhe bis zum Haus führte.

Im Grunde hatte er sich das Anwesen vor Jahren aus einer Laune heraus gekauft. Es hatte ihm gefallen, und ausnahmsweise hatte er nicht lange gezögert und dem Impuls einfach nachgegeben. Ein schlichtes, aber solides Landhaus in der Abgeschiedenheit Cornwalls, dessen Erwerb er dennoch nie bereut hatte. In den zweiundvierzig Jahren seines Lebens war es sein erster eigener Besitz und kam einem Zuhause damit am nächsten.

Der massive, wenn auch etwas einfallslose Bau aus dem hiesigen Sandstein verfügte über zwei Stockwerke und ein Mansardengeschoss mit niedrigen Fenstergauben im bleigedeckten Dach. Die Empfangs- und Wohnräume gingen nach Süden, mit einem weiten Blick über die Klippen und auf die See.

Während er die Auffahrt hinaufritt, nahm Thomas das Haus in Augenschein. Zu seiner Zufriedenheit fand er es noch genauso vor wie in seiner Erinnerung. Er war seit Jahren, länger als jene fünf, die er in der Priorei verbracht hatte, nicht mehr hier gewesen. Doch die Gattings, das ältere Ehepaar, das er als Haushälterin und Hausmeister beschäftigte, schienen sich weiterhin so gut um alles gekümmert zu haben, als sei das Haus ihres. Die Fenster waren blitzend sauber, die Stufen vor dem Haus gefegt, und selbst aus der Ferne konnte er den Türklopfer mit mattem Glanz in der Abendsonne schimmern sehen.

Thomas wollte Silver direkt zu den Stallungen führen, aber aus Respekt vor dem alten Ehepaar, das er über sein Kommen nicht in Kenntnis gesetzt hatte, ließ er Silver doch bis zum Haus traben und stieg dort ab. Trotz seines lahmenden Beins und der Blessuren, die seine linke Gesichtshälfte davongetragen hatte, würden die Gattings ihn gewiss noch erkennen, aber er brauchte sie ja nicht unnötig zu erschrecken, indem er unangemeldet zur Hintertür hereinspazierte.

Wenngleich hereinpoltern in seinem Fall wohl zutreffender wäre.

Nachdem er seinen Gehstock aus dem Sattelhalter gezogen hatte, den der Stallmeister der Priorei eigens für ihn angefertigt hatte, machte er Silvers Zügel locker und sah dem gutmütigen Grauen zu, wie er auf den Rasen neben der Auffahrt trottete und das saftige Gras zu weiden begann. Thomas, der Silver die nächste halbe Stunde gut beschäftigt wusste, wandte sich zum Haus.

Als er die paar Stufen hinaufging, spürte er die Müdigkeit in seinen Knochen. In Anbetracht der zurückgelegten Strecke und der ständigen Anstrengung, mit seinen Verletzungen zurechtzukommen, verwunderte ihn das kaum. Aber er hatte es geschafft. Jetzt war er hier, an dem einzigen Ort, den er Zuhause hätte nennen können, und durfte sich ausruhen. Zumindest so lange, bis das Schicksal an seine Tür klopfte.

Entschlossen betätigte er den Klingelzug.

Während es in den Tiefen des Hauses läutete, versuchte er Haltung anzunehmen, die Schultern straff, die Hand fest auf dem silbernen Knauf seines Gehstocks, und sich auf das Wiedersehen mit Gatting vorzubereiten.

Leichte, schnelle Schritte näherten sich, und ehe er sich darüber noch wundern konnte, tat sich die Tür auch schon auf.

Eine junge, wenn auch nicht mehr ganz junge Frau stand vor ihm und sah ihn mit unverwandtem Blick an. »Ja, bitte? Sie wünschen?«

Diese Frau hatte Thomas noch nie gesehen. Er stutzte und runzelte die Stirn. »Wer sind Sie?« Wer zum Henker sind Sie? lag es ihm eigentlich auf der Zunge, aber die Jahre in der Priorei hatten ihn gelehrt, auf seine Wortwahl zu achten.

Sie reckte das Kinn. Für eine Frau war sie recht groß, gerade mal einen halben Kopf kleiner als er. Auch wenn sie deutlich jünger war als die Gattings, so war sie für ein Hausmädchen doch weder jung noch zurückhaltend genug. »Das sollte wohl eher ich Sie fragen«, entgegnete sie.

»Nein«, erwiderte er, »die Frage ist sehr wohl an mir. Ich bin Thomas Glendower, und mir gehört dieses Haus.«

Sie verzog keine Miene, doch ihre Hand schloss sich fester um den Türgriff. Nach einigen Sekunden beiderseitigen Schweigens räusperte sie sich. »Da ich Sie leider nicht persönlich kenne, müsste ich Sie um einen Beweis für Ihre Identität bitten, ehe ich Sie hereinlasse.«

Seine Stirn legte sich in noch tiefere Falten. Er versuchte an ihr vorbei ins Haus zu schauen. »Wo sind die Gattings? Das ältere Ehepaar, das sich in meiner Abwesenheit um alles kümmern sollte?«

»Sie haben sich zur Ruhe gesetzt – schon vor zwei Jahren. Und in den beiden Jahren davor bin ich ihnen bereits zur Hand gegangen, weshalb ich die Stelle dann einfach von ihnen übernommen habe.« Der Argwohn, der, wie ihm jetzt bewusst wurde, von Beginn an da gewesen war, wurde jetzt deutlich in ihren Augen sichtbar. »Wären Sie tatsächlich Mr. Glendower, sollten Sie das wissen. Es wurde alles ordnungsgemäß abgesprochen mit … Ihrem Verwalter in London. Der hätte Sie über die Änderung eigentlich in Kenntnis setzen müssen.«

Sehr klug von ihr, ihm den Namen des Verwalters nicht zu nennen. Als sie die Tür gerade wieder schließen wollte, erwiderte er, nun doch schon etwas deutlicher: »Falls Sie Drayton meinen, so wird er diesem Wechsel nicht genug Bedeutung beigemessen haben, um mich davon in Kenntnis zu setzen.« Er deutete kurz an sich hinab. »Zumal ich die letzten fünf Jahre wahrlich andere Sorgen hatte.«

Immerhin hielt sie das davon ab, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Stattdessen betrachtete sie ihn mit wachsender Irritation, wie ihm schien. Ihre Lippen – die im Übrigen sehr hübsche Lippen waren – zogen sich zu einer schmalen Linie zusammen. »Es tut mir leid, Sir, aber Sie werden sich dennoch irgendwie ausweisen müssen, ehe ich Sie ins Haus lassen kann.«

Versuche es aus der Perspektive des anderen zu sehen. Selbst bei Männern tat er sich damit noch schwer genug; sie aber war eine Frau – wie sollte das gehen? Thomas schaute sie an, sie schaute zurück. Sie würde nicht nachgeben, so viel war sicher. Na gut. Dann musste er eben eine kreative Lösung finden. »Stauben Sie in der Bibliothek ab?«

Sie blinzelte. »Natürlich.«

»Dann kennen Sie ja den Schreibtisch – er steht vor dem Fenster, das auf den seitlichen Garten hinausgeht.«

»Das stimmt, aber jeder könnte das von außen sehen.«

»Korrekt, aber das meinte ich auch nicht. Wenn Sie den Schreibtisch abstauben, wissen Sie sicher auch, dass die mittlere Schublade abgeschlossen ist.« Er hob die Hand, damit sie sich den Hinweis sparen konnte, dass das bei solchen Schreibtischen häufig der Fall sei. »Wenn Sie zum Schreibtisch gehen, sich mit dem Rücken zu eben dieser Schublade stellen und dann nach rechts schauen, blicken Sie direkt auf ein Bücherregal, und in der Reihe, die …«, er sah sie abschätzend an, »… sich ungefähr auf Höhe Ihres Kinns befindet, steht auf der Ihnen näheren Seite eine Reiseuhr. Unten an der Uhr befindet sich vorn ein schmales Paneel, das aufspringt, wenn Sie leicht darauf drücken. In dem Fach dahinter liegt der Schlüssel zu der Schreibtischschublade. Wenn Sie die Schublade öffnen, werden Sie ein in schwarzes Leder gebundenes Notizbuch vorfinden. Darin steht mein Name, zusammen mit einem Datum – 1816. Auf den folgenden Seiten stehen Listen mit den Fördermengen der beiden Kupferminen, die ich seinerzeit gepachtet hatte.« Er hielt inne und hob fragend eine Braue. »Genügt Ihnen das als Ausweis meiner Person?«

Ohne eine Miene zu verziehen, hielt sie seinem Blick stand und erwiderte mit geradezu vorbildlicher Ruhe: »Wenn Sie hier warten, will ich mal eben nachsehen.«

Damit ließ sie ihn stehen und schloss die Tür.

Thomas seufzte. Als er dann hörte, wie sie den Riegel vorlegte, nahm er das bereits wieder als Affront.

Was dachte sie denn von ihm? Dass er sich gewaltsam Zutritt verschaffen wollte?

Wie zum Beweis seiner Invalidität meldete sich sofort sein linkes Bein; wenn er es nicht wenigstens für ein paar Minuten entlastete, würde aus dem leichten Ziehen ein pulsierender Schmerz, und der hatte ihm gerade noch gefehlt. Er ging die drei Stufen wieder hinunter, setzte sich auf einen Vorsprung und streckte die Beine aus, den Stock ans linke Knie gelehnt.

Nicht mal ihren Namen hatte er erfahren, und trotzdem empfand er es als Beleidigung, dass sie ihn für eine Bedrohung zu halten schien. Wie kam sie bloß auf den Gedanken? Er könnte sie ja nicht einmal verfolgen, wenn sie vor ihm davonrannte! Und selbst wenn er es versuchte, brauchte sie ihm bloß etwas vor die Füße zu werfen, und schon würde er stolpern und der Länge nach hinschlagen.

Manche Menschen fanden den Anblick körperlich Versehrter schwer zu ertragen, aber obwohl sie seine Narben bemerkt hatte, schien es ihr nichts auszumachen. Zumindest hatte sie seiner Verletzungen wegen keinerlei Nachsicht walten lassen. Aber um ehrlich zu sein, sah er so schlimm auch gar nicht aus. Seine linke Gesichtshälfte war zwar etwas mitgenommen – das linke Augenlid hing nun immer halb herab, das Jochbein war leicht eingedrückt und quer über die Wange zog sich eine hässliche Narbe –, aber rechts hatte er bloß ein paar kleinere Schrammen abbekommen und sah aus wie eh und je. Deshalb war er sich ja so sicher gewesen, dass Gattings ihn sofort wiedererkennen würde.

Um den Rest seines Körpers war es ähnlich bestellt: ein Flickwerk stark vernarbter Stellen und solche, die vergleichsweise glimpflich davongekommen waren. Aber das wurde ja dankenswerterweise durch seine Kleider verdeckt. Seine Hände hatten alles gut überstanden, oder waren doch, nachdem Roland sich ihrer angenommen hatte, wieder voll funktionstüchtig. Das einzig äußerlich sichtbare Zeichen seiner Verletzungen war sein linkes Bein, das von der Hüfte abwärts steif war, und der Stock, den er brauchte, um beim Gehen das Gleichgewicht zu halten.

Er versuchte, sich mit ihren Augen zu sehen. Gewiss, er war noch immer ein Mann in den besten Jahren, aber wie konnte sie in ihm eine Bedrohung sehen?

An diesem Punkt seiner fruchtlosen Überlegungen angelangt, merkte er, dass er beobachtet wurde. Er sah sich um und entdeckte zwei Kinder, einen Jungen von ungefähr zehn Jahren und ein Mädchen, das ein paar Jahre jünger war, die hinter der Hausecke hervorspähten.

Da sie sich, nachdem er sie entdeckt hatte, nicht eilends aus dem Staub machten, nahm er an, dass sie hierher gehörten … Eventuell erklärte das die Vorsicht seiner neuen Haushälterin.

Das Mädchen musterte ihn weiter völlig ungeniert, doch der Blick des Jungen hatte sich jetzt auf Silver gerichtet.

Selbst von hier sah Thomas den sehnsuchtsvollen Gesichtsausdruck des Jungen. »Du kannst ihn ruhig streicheln«, rief er. »Er ist schon alt und an Menschen gewöhnt, er tut niemandem etwas.«

Der Junge schaute Thomas an. Seine Augen, sein ganzes Gesicht, strahlten vor Freude. »Danke.« Er kam hinter dem Haus hervor und ging langsam auf Silver zu, der ihn zwar kommen sah, aber, wie Thomas prophezeit hatte, ganz ruhig und friedlich blieb und sich geduldig die Mähne streicheln ließ.

Thomas schaute den beiden zu, denn natürlich hatte das Mädchen nicht lange auf sich warten lassen und war seinem Bruder gefolgt. Zumindest war er sich den Gesichtszügen nach fast sicher, dass es Geschwister waren, die zudem verwandt sein mussten mit seiner neuen Haushälterin. Auch war ihm die klare Aussprache des Jungen aufgefallen, die wiederum jener der Frau glich, die ihm die Tür geöffnet hatte. Wer immer die drei sein mochten und woher sie auch kamen – sie waren ganz sicher nicht von hier.

»Genauso wenig kommen sie aus einfachen Verhältnissen«, murmelte Thomas leise vor sich hin.

Dafür konnte es allerdings viele Gründe geben. Für einen Gentleman vom Stande eines Thomas Glendower den Haushalt zu führen, war für eine Dame aus finanziell bedrängtem Landadel eine durchaus achtbare Position.

Als er hinter der Tür erneut ihre leichten Schritte hörte – langsamer, verhaltener als zuvor –, griff Thomas nach seinem Stock und mühte sich hoch. Kaum hatte er sich zur Tür umgewandt, wurde sie auch schon geöffnet. Die Frau hielt sein schwarzes Notizbuch aufgeschlagen in der Hand.

Rose blickte hinaus auf den Mann, der ihr bis ins Detail erklärt hatte, was sie in jenem ledergebundenen Notizbuch finden würde, das sich wiederum in der verschlossenen Schreibtischschublade ihres bislang abwesenden Dienstherrn fand – einer Schublade, die während all der Jahre, die Rose jetzt schon im Haus war, noch kein einziges Mal geöffnet worden war. Mit einem leisen Seufzer hielt sie ihm die Tür auf, klappte das Buch zu und winkte ihn damit herein. »Willkommen zu Hause, Mr. Glendower.«

Sie sah ein belustigtes Zucken in seinen Mundwinkeln, doch versuchte er, sich seinen Triumph nicht anmerken zu lassen, und neigte höflich den Kopf. »Vielleicht können wir ja noch einmal von vorn beginnen, Mrs. …?«

Rose nahm die Hand von der Tür und hob das Kinn. »Sheridan. Mrs. Sheridan. Ich bin Witwe.« Mit einem Blick hinaus auf Homer und Pippin, die Mr. Glendowers Pferd hätschelten, fügte sie hinzu: »Meine Kinder und ich sind vor vier Jahren zu den Gattings gekommen. Ich suchte Arbeit, und die Gattings wurden alt und brauchten Hilfe.«

»Allerdings, ja. Ich habe eben kurz nachgerechnet und hätte mir so etwas fast denken können. Es ist schon eine Weile her, dass ich zuletzt hier war.«

Warum musste er dann ausgerechnet jetzt zurückkommen? Aber Rose wusste, es wäre müßig, mit dem Schicksal zu hadern. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als ihn hereinzulassen, damit er sein Haus wieder in Besitz nehmen konnte. Denn seines war es, daran hatte sie nun keinen Zweifel mehr. Von seinen genauen Angaben zum Inhalt des Notizbuches abgesehen, hätte sie das kleine Geheimfach in der Uhr niemals gefunden, wenn er ihr nicht davon erzählt hätte. Wie oft hatte sie die Uhr beim Abstauben schon in der Hand gehabt, aber sie wäre nicht einmal auf den Gedanken gekommen, nach einem solchen verborgenen Mechanismus zu suchen. Die Uhr hatte sich, seit Rose und die Kinder im Haus waren, unverändert an ihrem Platz befunden – wie also sollte er davon wissen? Nein, er musste tatsächlich Thomas Glendower sein, und sie konnte ihm ja kaum den Zutritt zu seinem eigenen Haus verwehren. Zumal alles noch viel schlimmer hätte kommen können.

Sie trat beiseite und wartete, während er sich auf seinen Stock gestützt die Stufen vor dem Haus hinaufmühte. »Homer – das ist mein Sohn – wird Ihr Gepäck nach oben bringen und das Pferd im Stall versorgen.«

»Danke.« Oben angekommen, hob er den Blick und sah sie an.

Sie schaute in seine warmen braunen Augen, entdeckte ein wenig Grün darin – und spürte einen leisen Schauer des Erkennens. Kurz stockte ihr der Atem. Warum, hätte sie nicht sagen können. Aber plötzlich war da die Gewissheit, dass sich hinter diesen Augen ein scharfer Verstand verbarg, dem nichts entging.

In Anbetracht der Umstände war das für Rose nicht gerade von Vorteil. Trotzdem fühlte sie sich in keiner Hinsicht durch ihn bedroht. Sie hatte gelernt, sich in ihrem Urteil über Männer auf ihren Instinkt zu verlassen, der sie nur selten trog. Und ihr Instinkt sagte ihr, dass das plötzliche Auftauchen ihres bislang durch Abwesenheit glänzenden Dienstherrn längst nicht die Katastrophe war, die sie zunächst befürchtet hatte.

Trotz seines verwüsteten Gesichts wirkte er recht sympathisch – ja, auf der unversehrten Seite strahlte sein Antlitz eine fast himmlische Ruhe und Reinheit aus. Obwohl seine Verletzungen ihn ganz offensichtlich in seinen Bewegungen einschränkten, konnte Rose doch die unglaubliche Stärke spüren, die er ausstrahlte. Wie ein Erzengel mit gebrochenen Flügeln, der nur wenig von seiner Kraft eingebüßt hatte.

Im Stillen schalt sie sich für den albernen Vergleich. Ausgerechnet jetzt sollte sie sachlich bleiben! »Wenn Sie mir nur ein paar Minuten geben, will ich Ihr Zimmer zurechtmachen und Ihnen warmes Wasser hinaufbringen, damit Sie sich nach der Reise erfrischen können.«

Thomas neigte den Kopf, dann beugte er sich vor und griff nach dem schwarzen Notizbuch, das sie noch immer in der Hand hielt. Dabei streiften seine Finger die ihren, und wieder stockte ihr kurz der Atem. Rasch ließ Rose das Buch los.

Ach, sieh an, dachte er bei sich, als er erneut jene Anziehung spürte, die er vorhin schon bemerkt hatte. Wie es schien, beruhte sie auf Gegenseitigkeit.

Ein wenig schockierte ihn das, denn damit hätte er niemals gerechnet. Langsam richtete er sich wieder auf, atmete tief durch – und nahm einen feinen, flüchtigen Rosenduft wahr.

Die Wirkung auf ihn war so unmittelbar, ja überwältigend, dass Thomas richtiggehend erschrak.

Brüsk schob er seinen Empfindungen einen Riegel vor, schließlich wollte er Mrs. Sheridan keine Angst machen. Er brauchte sie als seine Haushälterin, und nichts wäre gewonnen, wenn er sie in die Flucht schlug. Er steckte sein Notizbuch ein und meinte ruhig: »Ich werde mich solange in der Bibliothek umschauen.«

Denn ein Blick auf die Treppe hatte ihn zu der Einsicht gebracht, dass er sich erst ein wenig ausruhen musste, ehe er sich an den beschwerlichen Aufstieg wagte.

»Wie Sie wünschen, Sir.« Seine neue Haushälterin schloss die Tür hinter ihm und teilte ihm in ihrer nüchternen, forschen Art mit: »Das Abendessen wird um sechs so weit sein. Da ich nicht wusste, dass Sie kommen …«

»Machen Sie sich keine Umstände, Mrs. Sheridan.« Er humpelte bereits Richtung Bibliothek davon. »Ich habe die letzten fünf Jahre im Kloster gelebt und bin in kulinarischer Hinsicht recht genügsam geworden.«

Zwar drehte er sich nicht noch einmal nach ihr um, doch hätte er schwören können, dass sie ihm einen finsteren, argwöhnischen Blick hinterherschickte. Aber er beließ es dabei, wie er auch das Rätsel, vor das sie und ihre Kinder ihn stellten, vorerst auf sich beruhen ließ. Er betrat die Bibliothek und schloss leise die Tür hinter sich. Jetzt galt es erst einmal, sich wieder in sein Leben als Thomas Glendower einzufinden und zu schauen, was das Schicksal für ihn bereithielt.

Frisch gewaschen und umgezogen machte Thomas sich wieder an den Abstieg aus dem oberen Stockwerk. Er schaffte es fünf Minuten vor der Zeit und vertrieb sich selbige damit, den Salon in Augenschein zu nehmen, den er in der Vergangenheit zwar nur selten genutzt hatte, der jedoch, wenn seine Erinnerung ihn nicht trog, kaum verändert schien.

Punkt sechs tat sich die Tür auf, und Mrs. Sheridan bat zum Dinner. »Wenn Sie bitte ins Speisezimmer kommen möchten, Sir – das Essen ist aufgetragen.«

Er nickte. Schwer auf seinen Stock gestützt – die Treppen waren doch eine ziemliche Herausforderung, die er aber zu meistern gedachte –, kam er zur Tür, bedeutete Mrs. Sheridan, ihm vorauszugehen, und folgte ihr durch die Halle. Dort wie auch im Speisezimmer warfen die Lampen ihr warmes Licht auf seine mysteriöse Haushälterin, und er fand Gelegenheit, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Als er ans obere Ende des Tisches humpelte und sich setzte, beobachtete er mit verstohlenem Blick, wie sie hinüber zur Anrichte ging. Ihr Kleid war aus dunkelbraunem Tuch von durchaus passabler Qualität, aber mit dem hohen Kragen und den langen, schmalen Ärmeln nicht bloß schlicht, sondern geradezu züchtig geschnitten. Ihr Haar – tiefbraun und leicht gewellt – trug sie im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst.

Als sie mit der Suppenterrine an den Tisch kam, senkte er den Blick auf seinen Teller. Dass ihre Augen von einem hellen Braun waren, umkränzt von dichten Wimpern und von dunkel geschwungenen Brauen überwölbt, wusste er bereits. Ihre Haut war hell wie Milch mit einem rosigen Hauch auf den Wangen, ihre Züge zart und fein geschnitten, das Gesicht herzförmig mit einem sanft gerundeten Kinn.

Auch ihre klassisch gerade Nase und ihre vollen rosigen Lippen waren ihm schon vorhin aufgefallen, doch als sie sich nun vorbeugte, damit er sich von der Suppe nehmen konnte, fand er eben diese reizenden Lippen wie zuvor zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

Ein Anblick, der ihm nicht recht gefallen wollte, was ihn dann doch verwunderte. Die Gefühle anderer kümmerten ihn nur selten. Und wenn er sie doch bedachte, war es eine bewusste Anstrengung, die er sich abverlangen musste.

»Danke.« Er griff nach der Schöpfkelle und tat sich auf.

Sowie er den Suppenlöffel zur Hand nahm, trug Mrs. Sheridan die Terrine zurück zu den anderen Speisen und hielt sich dann, die Hände duldsam verschränkt, neben der Anrichte bereit, um ihm die nächsten Gänge zu servieren.

Während er den ersten Löffel Suppe aß, überlegte er, wie er es ihr sagen sollte. Am Ende entschied er sich für: »Die Suppe ist köstlich. Mein Kompliment an die Köchin.«

»Danke.«

»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Mrs. Sheridan: Sie brauchen mich nicht zu bedienen. Stellen Sie einfach alles hier auf den Tisch, sodass ich leicht herankomme, und dann können Sie gerne gehen und gemeinsam mit Ihren Kindern zu Abend essen.« Er schaute kurz auf und warf ihr einen fragenden Blick zu. »Ich nehme an, die beiden sitzen gerade in der Küche beim Abendbrot, oder?«

Aus ihrer Miene schloss er, dass er richtig lag. Auf dem Land wurde üblicherweise um sechs zu Abend gegessen, auch und gerade in den Häusern des Landadels. Und er war sich sicher, dass sie und die Kinder aus einem solchen Hause stammten.

Sie zögerte so lange, dass er sich schon fragte, ob sein gut gemeinter Vorschlag in irgendeiner Weise beleidigend oder herabsetzend gewesen war, doch dann begriff er, dass sie lediglich mit sich rang. Sie musste entscheiden zwischen dem, was sie wollte, und dem, was ihr geboten schien.

Mit einem stillen Lächeln setzte er nach: »Wirklich, es macht mir nichts aus.« Außerdem kratzt es ein bisschen an meiner Ehre, eine Dame stehen zu lassen, während ich hier sitze. Er schluckte die Worte rasch herunter, ehe sie ihm unbedacht herausrutschten, aber … genauso empfand er. War das allein nicht schon aufschlussreich? Seine Menschenkenntnis war trotz allem immer erstaunlich gut gewesen; gerade wenn es darum ging, die gesellschaftliche Stellung seines Gegenübers einzuschätzen. Zwar mochte sein Gespür ihn mangels Übung ein wenig verlassen haben, aber hier zumindest schlug es sofort wieder an.

»Wenn es Ihnen auch wirklich nichts ausmacht, Sir …«

»Wenn dem so wäre, hätte ich es nicht vorgeschlagen.«

»Na gut.« Sie drehte sich zur Anrichte um und brachte zwei abgedeckte Servierplatten an den Tisch. Zwei weitere Male musste sie hin- und zurückgehen, ehe er samt Salz, Pfeffer und Saucen alles, was er brauchte, in Reichweite hatte.

Noch immer stand seine Haushälterin unschlüssig herum, als traue sie es ihm nicht so ganz zu, sich selbst zu bedienen.

Ein wenig ärgerte ihn das. Ja, er mochte ein lahmes Bein haben, aber deshalb war er noch lange nicht unfähig, alleine eine Mahlzeit einzunehmen! Mit knapper Geste winkte er sie hinaus. »Danke, Mrs. Sheridan. Das wäre dann alles.«

Sein brüsker Ton traf sie. Etwas verschnupft wandte sie sich ab, ehe ihr noch einfiel, einen kurzen Knicks zu machen. Dann verließ sie das Zimmer.

Nun konnte Thomas in Ruhe seine Suppe essen und in Gedanken die diversen Szenarien durchspielen, die erklären würden, wer sie war und was sie dazu bewegt hatte, in einem abgeschiedenen Landhaus die einfache Haushälterin zu geben.

Er war mit der Suppe fertig und hatte sich gerade Lammkeule als zweiten Gang aufgetan, als ihm die Stille auffiel. Nachdem er sie erst einmal bemerkt hatte, begann er von Minute zu Minute unruhiger zu werden, rastloser, unzufriedener. Obwohl er nicht allein im Haus war, musste er schon sehr die Ohren spitzen, um hin und wieder einen Laut aus der Küche zu hören – mal ein leises Klirren, dann ein gedämpfter Satz. Aber seine Wahrnehmung richtete sich jetzt allein darauf, und es brauchte wiederum ein paar Minuten, bis er begriff, wo das Problem lag.

Es zu beheben war im Grunde ganz einfach, und doch zögerte er. Vielleicht, weil er wusste, was der Mann, der er gewesen war, getan hätte. Aber dieser Mann war er nicht mehr, und anscheinend hatte der, der er jetzt war, andere Bedürfnisse.

Der Wunsch war so beharrlich, dass Thomas ihm schließlich nachgab. Wenigstens waren es nicht mehr die Gattings, die weitaus schockierter gewesen wären über das, was er vorhatte. Rasch nahm er seinen Teller und was er für den Rest seiner Mahlzeit noch zu brauchen glaubte und stapelte alles auf das große Tablett, das Mrs. Sheridan an der Anrichte hatte stehen lassen. Dann stemmte er das Tablett mit einer Hand hoch – eine Kunst, die er in der Priorei gelernt hatte –, stützte sich mit der anderen auf den Gehstock und machte sich auf Richtung Küche.

Natürlich hörten sie ihn kommen.

Er stieß die Schwingtür am hinteren Ende der Halle auf und folgte dem schmalen Flur zu den Wirtschaftsräumen. Als er in dem offenen Durchgang stand, hinter dem sich die Küche auftat – ein überraschend großer Raum, in dessen Mitte ein einfacher Holztisch stand, an dem, wie erwartet, sämtliche der drei anderen Hausbewohner beim Essen saßen –, wandten sie sich nach ihm um. Zumindest bei den Kindern mischte sich in das Erstaunen auf ihren Gesichtern auch eine unverhohlene Neugier.

Mrs. Sheridan, die am Tischende saß, legte ihr Besteck beiseite und machte Anstalten, aufzustehen.

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, beeilte er sich zu sagen und trat aus dem Dunkel des Korridors in die helle Küche. »Das Essen ist ganz ausgezeichnet.« Er kam näher und setzte sein Tablett auf dem blank gescheuerten Tisch ab. »Es ist nur so, dass ich die letzten fünf Jahre in einem Kloster verbracht habe, weil ich mich von einem … Unglück erholt habe. Dort war ich es gewohnt, meine Mahlzeiten im Refektorium einzunehmen – gemeinsam mit den Mönchen.« Als er aufsah, begegnete er Mrs. Sheridans Blick. »Und nachdem ich soeben feststellen musste, dass es mir wenig behagt, allein zu essen, habe ich mich gefragt, ob Sie etwas dagegen hätten, wenn ich mich bei den Mahlzeiten zu Ihnen geselle.«

Das war sogar die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze. Thomas wollte auch mehr über die kleine Familie erfahren, die er so unerwartet unter seinem Dach angetroffen hatte.

Rose ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken, betrachtete ihn einen Moment und überlegte derweil, welche Wahl ihr blieb. Seine Bitte war mehr als ungewöhnlich, um nicht zu sagen vermessen. Andererseits war es sein Haus; und wer war sie, ihm Vorschriften zu machen? Sie war angewiesen auf diese Stelle und auf die Sicherheit, die das Haus ihr – und mehr noch den Kindern – bot. Das wollte sie wegen einer solchen Lappalie nicht aufs Spiel setzen. Außerdem hatte er ja recht schlüssig erklärt, warum er sich Gesellschaft wünschte, und sie konnte das gut nachempfinden. Wie lange war es her, seit sie zuletzt ein Gespräch mit einem Erwachsenen geführt hatte? Oh ja, niemand verstand dieses Bedürfnis nach Gesellschaft besser als sie, und doch … Sie warf einen Blick auf die Kinder.

Seit vier Jahren lebten sie jetzt hier, und ihre Geschichte war ihnen längst zur zweiten Natur geworden. Homer, drei Jahre älter als die sechsjährige Pippin, war verständig genug, sich vorzusehen, und Pippin konnte sich kaum verplappern, weil sie damals noch zu klein gewesen war und sich an kaum etwas erinnerte.

Über den Tisch hinweg blickte Rose zu Glendower, nahm ihn noch einmal in Augenschein, vergewisserte sich, dass diese Präsenz, die sie trotz seiner Gebrechen an ihm wahrgenommen hatte, noch da war – und noch immer eine solche Wirkung auf sie hatte. Sie horchte auf ihren Instinkt, und wie zuvor regte sich kein Einspruch. Die Situation mochte etwas ungewöhnlich sein, aber sie empfand diesen Mann nicht als Bedrohung. Schließlich nickte sie. »Wenn Sie es so wünschen, können Sie sich gern zu uns setzen.« Sie sah Homer an. »Holst du bitte einen Stuhl für Mr. Glendower?«

Mit einem erfreuten Lächeln im Gesicht sprang Homer auf und brachte noch einen der Stühle, die seitlich an der Wand standen.

Autor

Stephanie Laurens
Stephanie Laurens wurde in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
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Stephanie Laurens
Stephanie Laurens wurde in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
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