Im Feuer der Nacht

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Barnaby Adair verschwendet keinen Gedanken an die Ehe, zu sehr genießt er sein Leben als Detektiv. Bis er eines Abends Penelope Ashford begegnet, die ganz anders ist als die Damen der vornehmen Gesellschaft. Sie kümmert sie sich um die vergessenen Waisenkinder Londons und wendet sich an ihn, weil plötzlich einige ihrer Schützlinge wie vom Erdboden verschluckt sind. Barnaby zögert nicht und übernimmt den Fall. Denn seine Auftraggeberin weckt nicht nur seinen kriminalistischen Spürsinn, sondern auch leidenschaftliche Gefühle in ihm. Aber die temperamentvolle Penelope hat zu seiner großen Überraschung eigene Pläne …

»Für Fans von romantischen Liebesromanen uneingeschränkt zu empfehlen.«
LovelyBooks


  • Erscheinungstag 19.08.2019
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750324
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

November 1835

London

»Danke, Mostyn.« Barnaby Adair, der dritte Sohn des Earl of Cothelstone, saß zufrieden im Lehnstuhl vor dem Kamin im Wohnzimmer seines eleganten Anwesens in der Jermyn Street und hob das Kristallglas von dem Serviertablett, das sein Butler ihm reichte.

»Ich brauche Sie nicht mehr.«

»Sehr wohl, Sir. Ich wünsche eine angenehme Nacht.« Mostyn, mustergültig in seinem Beruf, verbeugte sich formvollendet und zog sich geräuschlos zurück.

Barnaby lauschte angestrengt und hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Er lächelte, nippte an seinem Glas. Gleich nach seiner Ankunft in der Stadt hatte seine Mutter ihm den Mann aufgehalst, und zwar in der kühnen Hoffnung, dass er ihren Sohn, der, wie sie oft zu verkünden pflegte, kaum zu bändigen war, doch noch in eine angemessene Richtung zu lenken verstand.

Obwohl Mostyn die ungeschriebenen Gesetze, die im Unterschied von Rang und Namen lagen, strengstens befolgte und sehr genau wusste, welche Rücksichten er dem Sohn eines Earls schuldig war, hatten Herr und Diener sich schnell aneinander gewöhnt. Ohne die Unterstützung, die sein Butler ihm gewährte – weitgehend, ohne dass er etwas veranlassen musste, wie das Glas feinsten Brandys in seiner Hand bewies –, konnte Barnaby sich seinen Aufenthalt in London nicht mehr vorstellen.

Mit den Jahren war Mostyn milder geworden. Vielleicht auch beide; jedenfalls führten sie nunmehr ein sehr angenehmes Leben.

Barnaby streckte die langen Beine in Richtung Kamin, kreuzte die Fußgelenke, ließ das Kinn auf die Halsbinde sinken und betrachtete die Spitzen seiner polierten Stiefel, die im Widerschein des knisternden Feuers förmlich zu baden schienen. In seiner Welt hätte alles gut sein sollen. Hätte

Ja, er fühlte sich wohl … und unruhig.

Friedlich – nein, eingelullt in eine gesegnete Ruhe – dennoch unbefriedigt.

Dabei war es nicht so, dass er die letzten Monate erfolglos verbracht hatte. Nachdem er neun Monate lang sorgfältig eine Spur verfolgt hatte, hatte er einen Kreis junger Leute enttarnt, sämtlich aus besten Familien, denen es nicht gereicht hatte, sich in Lasterhöhlen zu vergnügen, sondern die es für einen Spaß hielten, selbst welche zu betreiben. Er hatte genügend Beweise gesammelt, sie trotz ihres Standes vor Gericht zu bringen und bestrafen zu lassen. Es war ein schwieriger, langwieriger und mühseliger Fall gewesen, dessen erfolgreicher Abschluss ihm Lob und Dankbarkeit seitens der adligen Kreise eingebracht hatte, die in Londons Metropolitan Police Force die Aufsicht führten.

Als seine Mutter davon erfahren hatte, hatte sie zweifellos die Lippen geschürzt, hatte vielleicht bissig den Wunsch ausgestoßen, dass er doch ebenso viel Interesse für die Fuchsjagd aufbringen möge wie für die Verbrecherjagd, aber mehr würde – und konnte – sie nicht sagen, solange sein Vater zu den genannten adligen Kreisen zählte.

In keiner modernen Gesellschaft durfte das Recht parteiisch sein. Unparteiisch musste Recht gesprochen werden, furchtlos und ohne Ansehen der Person – jenen Angehörigen der besseren Gesellschaft zum Trotz, die sich zu glauben weigerten, dass auch sie den im Parlament verabschiedeten Gesetzen unterworfen waren. Der Premierminister höchstselbst war bewegt worden, ihn zu seinem jüngsten Triumph zu beglückwünschen.

Barnaby hob das Glas und nippte. Es war ein süßer Triumph gewesen, der ihn aber doch merkwürdig leer zurückgelassen hatte. Auf unerwartete Weise unzufrieden. Bestimmt hatte er damit gerechnet, größeres Glück zu empfinden anstelle dieser seltsamen Leere und Ruhelosigkeit, dieser Ziellosigkeit, mit der er durchs Leben driftete, jetzt, wo er keinen Fall mehr hatte, der ihn fesselte, der seinen Scharfsinn herausforderte und ihm die Zeit vertrieb.

Vielleicht war seine Stimmung auch nur ein Spiegel der Saison, die gerade herrschte. Wieder neigte sich ein Jahr dem Ende zu. Es war die Zeit, in der kalter Nebel sich über Stadt und Land senkte, in der die Gesellschaft sich an die wärmenden Feuerstellen auf den Anwesen ihrer Ahnen flüchtete und sich dort auf die Schwelgereien der kommenden Festsaison vorbereitete. Für ihn war diese Jahreszeit immer schwierig gewesen – schwierig, weil es galt, eine plausible Entschuldigung dafür zu finden, den geselligen Zusammenkünften aus dem Weg zu gehen, die seine Mutter mit größtem Geschick arrangierte.

Viel zu leicht war es ihr gelungen, seine älteren Brüder und seine Schwester Melissa zu verheiraten. In ihm war sie nun ihrem Waterloo begegnet, setzte den Kampf aber noch hartnäckiger und unermüdlicher fort als Napoleon. Denn sie war fest entschlossen, ihn, den Jüngsten aus ihrem Stall, angemessen verheiratet zu sehen, und sie war darauf eingerichtet, nichts unversucht zu lassen, um ihr Ziel zu erreichen – mit welchen Mitteln auch immer sie kämpfen musste.

Obwohl er übrig geblieben war, betrachtete er sich nicht als Kandidat ihrer Machenschaften in Sachen Ehestiftung, wollte sich ihr nicht auf Cothelstone Castle ausliefern. Was, wenn es schneite und er nicht die Flucht ergreifen konnte?

Rat-a-tat-tat. Unüberhörbar zerriss das Geräusch die behagliche Stille.

Als Barnaby den Blick zur Wohnzimmertür schweifen ließ, stellte er fest, dass er eine Kutsche auf dem Kopfsteinpflaster gehört hatte. Die ratternden Räder waren vor seinem Anwesen stehen geblieben. Er lauschte Mostyns gemessenem Schritt am Wohnzimmer vorbei zur Haustür. Wer wollte ihn um diese Stunde – es war bereits nach elf, wie ein rascher Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims ihm verriet – noch besuchen? Und in einer solchen Nacht? Jenseits der schweren Vorhänge vor den Fenstern herrschte finstere Dunkelheit, denn undurchdringlicher kalter Nebel waberte durch die Straßen, verschluckte die Häuser und verwandelte die vertrauten Ansichten in unheimliche und gespenstische Gebilde.

In einer solchen Nacht würde sich niemand ohne guten Grund nach draußen wagen.

Gedämpfte Stimmen drangen an sein Ohr. Es schien, als versuchte Mostyn den Besuch zu hindern, die Ruhe seines Herrn zu stören.

Plötzlich schwiegen die Stimmen.

Ein paar Sekunden später trat Mostyn ein und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Nach einem kurzen Blick auf die dünnen Lippen seines Dieners und dessen bemüht ausdruckslose Miene wusste Barnaby, dass der Mann den Besuch, wer auch immer es sein mochte, nicht billigte. Aber noch bemerkenswerter als Mostyns Missbilligung war die logische Voraussetzung, dass dessen Versuch, den Ankömmling abzuweisen, sichtlich gescheitert war – und zwar schnell und gründlich.

»Eine … Lady möchte Sie sehen, Sir. Eine Miss …«

»Penelope Ashford.«

Der klare und entschlossene Tonfall ließ Barnaby und Mostyn den Blick zur Tür wenden, die jetzt weit offen stand und eine Lady in einem dunklen, strengen, aber doch modischen Umhang zu erkennen gab. Ein Muff aus Zobel baumelte am Handgelenk, und die Hände waren in pelzgesäumte Lederhandschuhe gehüllt.

Der üppige mahagonibraune Haarknoten am Hinterkopf glänzte, als sie mit einer Würde und Selbstsicherheit durch den Raum schritt, die ihre gesellschaftliche Stellung noch deutlicher und unmissverständlicher betonten als die zarten und typisch aristokratischen Gesichtszüge. Gesichtszüge, in denen sich die lebhafteste Entschlossenheit ebenso spiegelte wie ein unbezwingbarer Wille, sodass die Kraft ihrer Persönlichkeit ihr wie eine Woge den Weg zu bahnen schien.

Mostyn trat zurück, als sie sich näherte.

Barnaby ließ sie keine Sekunde aus den Augen, als er ohne jede Hast seine überkreuzten Füße nebeneinanderstellte und sich erhob. »Miss Ashford.«

Ein außergewöhnliches Paar dunkelbrauner Augen, eingefasst von einer fein gearbeiteten goldumrandeten Brille, fixierte sein Gesicht. »Mr. Adair. Wir sind uns vor beinahe zwei Jahren begegnet. Morwellan Park. Im Ballsaal, bei Charlies und Sarahs Hochzeit.« Zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen und musterte ihn so aufmerksam, als wolle sie sein Gedächtnis prüfen. »Wir haben uns kurz unterhalten, falls Sie sich erinnern.«

Sie bot ihm nicht die Hand. Barnaby schaute hinunter in das Gesicht, das sie ihm entgegenhob – ihr Kopf reichte kaum bis zu seiner Schulter –, und stellte fest, dass er sich überraschend gut an sie erinnern konnte. »Sie hatten gefragt, ob ich derjenige bin, der Verbrechen nachgeht.«

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Ja. Das stimmt.«

Barnaby blinzelte, er war ein wenig atemlos. Denn er konnte sich, wie er feststellte, nach all den Monaten tatsächlich noch daran erinnern, wie ihre schmalen Finger sich in seinen angefühlt hatten. Sie hatten sich nur flüchtig die Hand gegeben; trotzdem stand ihm die Szene glasklar vor Augen, prickelte ihm die Erinnerung förmlich bis in die Fingerspitzen.

Offensichtlich hatte sie Eindruck auf ihn gemacht, selbst wenn es ihm damals nicht besonders bewusst gewesen war. Zu der Zeit hatte er sich auf einen anderen Fall konzentriert, und mehr als an ihr war er daran interessiert gewesen, ihre Aufmerksamkeit abzulenken.

Seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie gewachsen. Allerdings nicht größer geworden. In der Tat, er konnte nicht behaupten, dass sie irgendwo ein paar Zentimeter zugelegt hätte; sie war so wohlgerundet, wie seine Erinnerung sie gemalt hatte. Dennoch hatte sie an Statur gewonnen, an Selbstsicherheit und Zutrauen, und obwohl er daran zweifelte, dass es ihr an Letzterem jemals gefehlt hatte, gehörte sie jetzt zu solchen Ladys, in deren Charakter selbst jeder Dummkopf eine Naturgewalt erblickte, die man nur auf eigenes Risiko herausforderte.

Kein Wunder, dass sie Mostyn aus dem Weg geräumt hatte. Ihr Lächeln hatte sich verflüchtigt. Sie hatte unverhohlen den Blick über ihn schweifen lassen; bei anderen hätte er es als dreist empfunden. Aber sie schien ihn eher intellektuell als körperlich abschätzen zu wollen.

Die rosigen Lippen, verwirrend üppig, pressten sich aufeinander, als hätte sie einen Entschluss gefasst.

Neugierig neigte er den Kopf. »Welchem Anlass verdanke ich diesen Besuch?«

Es war ein ungewöhnlicher, um nicht zu sagen: unter gegebenen Umständen sogar skandalöser Vorfall. Denn sie war eine höchst wohlerzogene Lady im heiratsfähigen Alter, die einen unverheirateten Gentleman, mit dem sie nicht verwandt war, sehr spät in der Nacht aufsuchte. Allein. Ohne Anstandsdame.

Er sollte protestieren und sie fortschicken. Mostyn würde es ganz sicher für richtig halten.

Ihre schönen braunen Augen trafen seinen Blick. Offen, ohne die geringste Spur von Arglist oder Beklommenheit. »Ich möchte, dass Sie mir helfen, ein Verbrechen aufzuklären.«

Er hielt ihren Blick fest.

Sie erwiderte ihm den Gefallen.

Ein bedeutungsschwangerer Augenblick verstrich, dann deutete er elegant auf den zweiten Lehnstuhl. »Bitte setzen Sie sich. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«

Ein Lächeln huschte über ihr ausgesprochen attraktives Gesicht, ließ es sekundenlang atemberaubend aussehen, als sie sich zum Lehnstuhl ihm gegenüber bewegte. »Vielen Dank. Aber nein. Ich fordere nichts außer Ihrer Zeit.« Mit einer Handbewegung schickte sie Mostyn fort. »Sie dürfen sich entfernen.«

Mostyn versteifte sich. Er warf Barnaby einen wütenden Blick zu.

Barnaby unterdrückte ein Grinsen, bekräftigte den Befehl aber mit einem Nicken. Es gefiel Mostyn zwar nicht, doch er verschwand mit einer Verbeugung und ließ die Tür halb angelehnt. Barnaby, der es bemerkte, sagte nichts. Mostyn war bekannt, dass die jungen Ladys auf der Jagd nach seinem Herrn waren, oftmals recht erfindungsreich; offenbar war er überzeugt, dass Miss Ashford ebenfalls solche Pläne geschmiedet hatte. Barnaby wusste es besser. Penelope Ashford mochte sich die klügsten Pläne ausgetüftelt haben, aber Heirat war ganz sicher nicht ihr Ziel.

Während sie ihren Muff auf dem Schoß richtete, ließ er sich in den Lehnstuhl sinken und betrachtete sie aufs Neue.

Sie war die ungewöhnlichste junge Lady, die ihm jemals begegnet war.

Zu diesem Schluss war er bereits gekommen, bevor sie das Wort ergriff. »Mr. Adair«, begann sie, »ich brauche Ihre Hilfe, um vier vermisste Jungen zu finden und um zu verhindern, dass noch mehr entführt werden.«

Penelope hob den Blick und ließ ihn auf Barnaby Adairs Gesicht ruhen. Und gab ihr Bestes, ihn doch nicht anzusehen. Als sie beschlossen hatte, ihn aufzusuchen, hatte sie sich nicht vorstellen können, dass er – oder seine äußere Erscheinung – die geringste Wirkung auf sie ausüben würde. Warum auch sollte sie nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden? Kein Mann hatte es jemals geschafft, ihr den Atem zu rauben. Warum also er? Trotzdem zerrte die Situation spürbar an ihren Nerven.

Allein die welligen Locken seines goldfarbenen Haars auf dem wohlgeformten Kopf, dessen kräftig gebogene Züge und die himmelblauen Augen mit dem durchdringend scharfsinnigen Blick waren zweifellos interessant genug. Aber ganz abgesehen von seiner Miene hatte er etwas an sich, lag irgendetwas in seiner Ausstrahlung, was sie in Verwirrung stürzte.

Dabei war es ein Rätsel, warum er überhaupt ihre Aufmerksamkeit erregen sollte. Er war groß, hochgewachsen mit langen Gliedmaßen, aber doch nicht größer als ihr Bruder Luc. Seine Schultern waren breit, aber doch nicht breiter als die ihres Schwagers Simon. Und ganz bestimmt war er nicht attraktiver als Luc oder Simon, obwohl er sich neben den beiden mit Leichtigkeit hätte behaupten können. Ihr war zu Ohren gekommen, dass man Barnaby Adair als Adonis beschrieben hatte, und sie musste sich eingestehen, dass der Vergleich nicht von der Hand zu weisen war.

All das war vollkommen nebensächlich, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, warum sie überhaupt darauf achtete.

Stattdessen konzentrierte sie sich auf die zahlreichen Fragen, die sich sichtlich hinter seinen blauen Augen zu formen begannen.

»Die fraglichen Jungen sind arm und verwaist. Aus diesem Grund bin ich bei Ihnen und nicht etwa ein Heer wütender Eltern.«

Er runzelte die Stirn.

Penelope zupfte sich die Handschuhe von den Fingern und verzog kaum merklich das Gesicht. »Am besten, ich fange ganz von vorn an.«

Er nickte. »Das würde die Angelegenheit sicher deutlich erleichtern, namentlich mir das Verständnis.«

Sie legte die Handschuhe auf dem Muff ab. Ihr war nicht klar, ob sie seinen Tonfall guthieß, beschloss aber, sich nicht darum zu kümmern. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber meine Schwester Portia … inzwischen ist sie mit Simon Cynster verheiratet … und drei weitere Ladys aus den höheren Kreisen haben mit mir zusammen ein Findelhaus eröffnet. In Bloomsbury, gleich gegenüber dem Waisenhospital. Das war Anfang der 1830er-Jahre. Seither ist das Haus in Betrieb, nimmt verwaiste Kinder auf, meistens aus dem East End, und bildete sie zu Zofen oder Lakaien aus, neuerdings auch in verschiedenen Gewerben.«

»Bei unserer letzten Begegnung haben Sie Sarah nach ihrer Ausbildung der Waisenkinder gefragt.«

»In der Tat.« Penelope hatte nicht gewusst, dass er die Unterhaltung angehört hatte. »Meine ältere Schwester Anne, jetzt Anne Carmarthen, ist auch involviert. Aber seit ihrer Eheschließung und den Haushalten, die sie zu führen haben, müssen Anne und jüngst auch Portia sich in der Zeit einschränken, die sie im Findelhaus verbringen. Die anderen drei Ladys haben gleichermaßen viele gesellschaftliche Verpflichtungen. Folglich bin ich zurzeit mit der Führung und Aufsicht in der täglichen Verwaltung des Hauses betraut. In dieser Funktion suche ich Sie heute Nacht auf.«

Sie verschränkte die Hände über den Handschuhen und schaute ihn an, hielt seinen steten Blick fest. »Die gewöhnliche Prozedur sieht vor, dass die Kinder durch die Behörden auf amtlichem Weg in die Obhut des Waisenhauses gegeben werden. Oder durch den letzten überlebenden Vormund.«

Penelope hielt kurz inne. »Letzteres ist recht üblich. Es kommt oft vor, dass ein sterbender Verwandter, der erkennt, dass sein Mündel schon bald allein auf der Welt sein wird, die Verbindung zu uns herstellt. Wir machen einen Besuch und treffen die notwendigen Vorkehrungen. Üblicherweise bleibt das Kind bis zum Schluss bei seinem Vormund. Dann werden wir über dessen Tod informiert, oft durch hilfsbereite Nachbarn. Wir kommen ins Haus, holen das Waisenkind und bringen ihn oder sie ins Findelhaus.«

Er nickte, gab zu verstehen, dass er bis hierher verstanden hatte.

Sie atmete scharf ein, spürte, wie ihre Lungen sich füllten und ihr Tonfall vor Wut schneidend wurde, als sie fortfuhr. »Im vergangenen Monat ist es uns bei vier verschiedenen Gelegenheiten passiert, dass uns irgendein Mann zuvorgekommen ist, als wir einen Jungen abholen wollten. Der Mann hatte den Nachbarn erklärt, dass er von der örtlichen Behörde käme. Aber es gibt kein Amt, dessen Aufgabe es ist, Waisenkinder einzusammeln. Wenn es eines gäbe, wüssten wir Bescheid.«

Adairs blaue Augen blickten messerscharf. »War es immer derselbe Mann?«

»Könnte sein, nach allem, was ich gehört habe. Könnte aber auch anders sein.«

Penelope wartete, während er nachdachte, biss sich auf die Zunge und zwang sich, still zu sitzen und seinen konzentrierten Gesichtsausdruck zu beobachten, anstatt nervös herumzuzappeln.

Sie war versucht, ihn zu bestürmen und zu verlangen, dass er handeln solle, ihm sogar vorzuschreiben, wie. Denn sie war es gewohnt zu führen, die Verantwortung zu tragen und die Befehle zu erteilen, die sie für passend hielt. Gewöhnlich behielt sie recht mit ihren Überlegungen, und gewöhnlich waren die Leute viel besser dran, wenn sie einfach das taten, was sie angeordnet hatte. Aber … sie brauchte Barnaby Adairs Hilfe, und ihr Instinkt mahnte sie dringend, umsichtig vorzugehen. Mehr zu leiten, als zu drängen.

Zu überzeugen, anstatt zu befehlen.

Sein Blick war in die Ferne geschweift, richtete sich jetzt aber abrupt auf ihr Gesicht. »Sie kümmern sich um Jungen und Mädchen. Sind es nur Jungen, die vermisst werden?«

»Ja.« Sie nickte bekräftigend. »In den vergangenen Wochen haben wir zwar mehr Mädchen als Jungen aufgenommen, aber dieser Mann will nur Jungen.«

Ein paar Sekunden verstrichen. »Vier hat er an sich genommen. Erzählen Sie mir etwas über jeden Einzelnen. Fangen Sie beim Ersten an, mit allem, was Sie wissen, jedes Detail, ganz gleich, wie belanglos es scheinen mag.«

Barnaby beobachtete sie, während sie in die Erinnerung eintauchte; der dunkle Blick kehrte sich nach innen, die Züge wurden weicher und verloren ein wenig ihre typische Lebhaftigkeit.

Sie atmete tief ein, richtete den Blick starr auf das Feuer, als ob sie die Geschichte aus den Flammen ablesen könne. »Der erste Junge stammte aus der Chicksand Street in Spitalfields, jenseits der Brick Lane nördlich der Whitechapel Road. Er war acht Jahre alt, hat uns sein Onkel jedenfalls erzählt. Er, der Onkel, lag im Sterben, und …«

Barnaby lauschte, während sie, nicht ganz zu seiner Überraschung, seiner Forderung genau nachkam und ausführlich in allen Einzelheiten über jedes Ereignis berichtete, wann, wo und wie es geschehen war. Anders als bei den üblichen Befragungen musste er weder ihr noch ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

Er war den Umgang mit den Ladys aus den Salons gewohnt, war es gewohnt, die jungen Damen zu verhören, deren Geist unruhig hin und her sprang, das Thema einzukreisen versuchte, förmlich um die Tatsachen herumflitzte und tanzte, sodass er salomonische Weisheit und eine geradezu göttliche Ruhe aufbringen musste, um ein Verständnis dessen zu gewinnen, was sie wirklich wussten.

Penelope Ashford war aus anderem Holz geschnitzt. Ihm war zu Ohren gekommen, dass sie ein Heißsporn sein sollte, jemand, der sich keinen Pfifferling um soziale Schranken scherte, wenn diese Schranken ihr den Weg versperrten. Er hatte gehört, dass sie klüger war, als es ihr guttat, dass sie offen und unverblümt den Finger in eine Wunde legen konnte – und dass die Mischung dieser Charaktereigenschaften üblicherweise als Begründung dafür herhalten musste, dass sie noch unverheiratet war.

Weil sie auf ungewöhnliche Art attraktiv war – nicht hübsch oder schön, aber so lebhaft, dass sie mühelos die Blicke der Männer auf sich zog –, weil sie als Tochter eines Viscounts über ausgezeichnete Verbindungen verfügte und weil ihr Bruder Luc, der gegenwärtig den Titel führte, überaus wohlhabend war und sie mit einer mehr als angemessenen Mitgift ausstatten konnte, mochte die weitverbreitete Einschätzung durchaus zutreffend sein. Ihre Schwester Portia hatte jüngst Simon Cynster geheiratet; während Portia sich in der Gesellschaft eher umsichtig verhielt, konnte Barnaby sich erinnern, dass die Cynster-Ladys, auf deren Urteil er in solchen Dingen vertraute, wenig Unterschiede zwischen Portia und Penelope ausmachen konnten, wenn man Penelopes unverblümte Art außer Acht ließ.

Und, wenn er sich recht erinnerte, ihren unbezwingbaren Willen. Zwar hatte er die Schwestern nicht oft erlebt. Aber schon nach den wenigen Begegnungen hätte auch er behauptet, dass Portia sich weit eher einer anderen Auffassung beugen oder doch wenigstens auf Verhandlungen einlassen würde als Penelope.

»Und es war genau wie bei den anderen. Als wir an jenem Vormittag in die Herb Lane gefahren sind, um Dick zu holen, war er fort. Morgens um sieben ist er von diesem mysteriösen Mann eingesammelt worden, kurz nach Sonnenaufgang.«

Ihr Bericht war zu Ende. Sie löste den zwingenden dunklen Blick vom Feuer und schaute ihn an.

Einen Moment lang erwiderte Barnaby ihren Blick, nickte dann bedächtig. »Irgendwie gelingt es also dieser Gruppe … lassen Sie uns annehmen, es sei eine Gruppe, die die Jungen abholt …«

»Ich kann nicht erkennen, dass es mehr als eine Gruppe sein soll. Noch nie ist so etwas vorgekommen, und jetzt gibt es vier Fälle in weniger als einem Monat. Und alle nach derselben Vorgehensweise.« Sie musterte ihn mit hochgezogenen Brauen.

»Genau«, stieß er knapp hervor, »wie ich bereits erwähnte, scheinen diese Leute, wer auch immer es sein mag, über Ihre baldige Verantwortung für die Kinder Bescheid zu wissen …«

»Bevor Sie den Verdacht äußern, dass die Männer ihre Informationen über die Jungen aus Kreisen innerhalb des Findelhauses erfahren, lassen Sie mich versichern, dass es höchst unwahrscheinlich ist. Wenn Sie die beteiligten Menschen kennen würden, würden Sie verstehen, warum ich mir so sicher bin. Außerdem, nur weil ich mit unseren vier Fällen zu Ihnen gekommen bin, heißt es noch lange nicht, dass nicht noch mehr frisch verwaiste Jungen aus dem East End verschwinden. Es gibt zahlreiche Waisen, auf die wir nicht aufmerksam gemacht werden. Es mag also viel mehr verschwundene Kinder geben, nur wer sollte Alarm schlagen?«

Barnaby starrte sie unumwunden an, während ihre Schilderung in seinem Kopf langsam Gestalt annahm.

»Ich hatte auf Ihre Zustimmung gehofft«, sagte sie, und das Licht spiegelte sich auf ihren Brillengläsern, als sie den Blick senkte und die Handschuhe glatt strich, »sich den letzten Fall anzusehen, zumal Dick erst heute Morgen entführt worden ist. Mir ist bekannt, dass Sie gewöhnlich nur in den Salons ermitteln. Aber ich habe mich auch gefragt, ob Sie vielleicht ein wenig Zeit für unser Problem erübrigen können, denn es ist November, und viele aus unseren Kreisen sind auf dem Lande beschäftigt.« Penelope hob den Kopf und schaute ihn an; es lag nicht die geringste Zaghaftigkeit in ihrem Blick. »Natürlich könnte ich mich selbst kümmern …«

Barnaby hatte größte Mühe, nicht zu reagieren.

»… aber ich dachte, es könnte unter Umständen schneller zu einer Lösung führen, wenn ich jemand beauftrage, der in solchen Angelegenheiten erfahren ist.«

Penelope hielt seinen Blick fest und hoffte, dass er so scharfsinnig war, wie man es von ihm behauptete. Und wieder tat es ihrer Erfahrung nach nur selten weh, wenn man offen sprach. »Um es in aller Deutlichkeit zu sagen, Mr. Adair, ich bin hier, weil ich Hilfe brauche, um unseren verlorenen Mündeln auf die Spur zu kommen – und nicht, weil ich irgendjemanden nur über deren Verschwinden informieren und anschließend die Hände in den Schoß legen wollte. Ich habe die unverrückbare Absicht, so lange nach Dick und den anderen drei Jungen zu suchen, bis ich sie gefunden habe. Und ich würde es vorziehen, jemanden an meiner Seite zu wissen, der mit Verbrechen seine Erfahrungen gemacht hat und mit den notwendigen Ermittlungsmethoden vertraut ist. Mehr noch, im Verlauf unserer Arbeit werden wir unvermeidlich im East End zu tun haben, sodass meine Fähigkeiten, in jenem Gebiet an Informationen zu gelangen, eingeschränkt sind.«

Sie hielt inne und ließ den Blick fragend über sein Gesicht schweifen. Sein Ausdruck gab wenig preis: Die breite Stirn, die geraden braunen Brauen, seine starken und markanten Wangenknochen und die eher strengen Züge der Wangen und des Kiefers blieben fest und ließen nichts erkennen.

Penelope breitete die Hände aus. »Ich habe unsere Lage beschrieben. Werden Sie uns helfen?«

Zu ihrer Verwirrung antwortete er nicht sofort. Sprang nicht ein, ließ sich zu nichts hinreißen, noch nicht einmal von der Vorstellung, dass sie auf eigene Faust durch das East End marschierte.

Aber er weigerte sich auch nicht. Verbrachte längere Zeit damit, sie mit undurchdringlicher Miene zu beobachten; so lange, dass sie sich fragte, ob er ihren Trick durchschaut hatte. Dann rührte er sich, lehnte sich mit den Schultern bequem in den Stuhl und deutete einladend auf sie. »Wie hatten Sie sich unsere Ermittlungen vorgestellt?«

Sie verbarg ihr Lächeln. »Ich dachte, dass Sie dem Waisenhaus morgen einen Besuch abstatten, falls Sie die Zeit erübrigen können, um einen Eindruck von unserer Arbeit zu gewinnen und die Kinder zu sehen, die wir zu uns nehmen. Dann …«

Barnaby hörte zu, während sie eine sehr kluge Strategie entwickelte, die ihn mit den wesentlichen Fakten so weit vertraut machen würde, dass er bestimmen konnte, in welche Richtung die Ermittlungen führen würden und wie man folglich am besten vorgehen solle.

Er behielt sie im Blick, während ihr überaus vernünftige Worte über die rubinroten Lippen perlten, üppige, reife und verwirrende Lippen, und er sah sich bestätigt, dass Penelope Ashford gefährlich war. Genauso gefährlich, wie ihr Ruf es von ihr behauptete, wenn nicht noch gefährlicher.

In seinem Fall ganz sicher noch gefährlicher, gemessen an der Faszination, die ihre Lippen auf ihn ausübten.

Außerdem bot sie ihm etwas an, was keine junge Lady ihm jemals zuvor unter die Nase gehalten hatte.

Einen Fall. Just in dem Augenblick, in dem er nichts dringender gebrauchen konnte als einen Fall.

»Ich hoffe, dass Sie in der Lage sein werden, einen Vorschlag über den weiteren Weg der Ermittlungen zu machen, nachdem wir mit dem Nachbarn gesprochen haben, der bezeugen kann, wie Dick abgeholt wurde.«

Ihre Lippen hörten auf, sich zu bewegen. Er hob den Kopf und suchte ihren Blick. »Allerdings.« Er zögerte; es lag auf der Hand, dass sie die Absicht hatte, die treibende Kraft in den folgenden Ermittlungen zu sein. Wenn man bedachte, dass er ihre Familie kannte, gehörte es zweifellos zu seinen Pflichten und zu seiner Ehre, sie von einem solch waghalsigen Unternehmen abzubringen. Aber es war ebenso unzweifelhaft, dass jeder Vorschlag, sich doch an den heimischen Herd zurückzuziehen und ihm die Verbrecherjagd zu überlassen, auf härtesten Widerstand treffen würde. Er senkte den Kopf. »Wie der Zufall es will, bin ich morgen noch frei. Vielleicht könnten wir uns vormittags im Waisenhaus treffen?«

Er würde sie aus den Ermittlungen herausdrängen, sobald er sämtliche Fakten kannte und alles in Erfahrung gebracht hatte, was sie über diese seltsame Angelegenheit wusste.

Ihr strahlendes Lächeln brach wieder einmal in seine Gedanken.

»Ausgezeichnet!« Penelope raffte ihre Handschuhe und den Muff zusammen, erhob sich. Sie hatte erreicht, was sie erreichen wollte. Höchste Zeit also, das Haus zu verlassen. Bevor er irgendetwas sagen konnte, was sie nicht hören wollte. Auf keinen Fall jetzt einen Streit vom Zaun brechen. Nicht in diesem Moment.

Er erhob sich ebenfalls und begleitete sie zur Tür. Sie ging voran und zog sich auf dem Weg die Handschuhe an. Barnaby hatte die zauberhaftesten Hände, die sie je an einem Mann gesehen hatte, mit langen Fingern, elegant und überaus verwirrend. Sie hatte seine Finger noch aus der früheren Begegnung in Erinnerung, weshalb sie ihm zur Begrüßung nicht die Hand geboten hatte.

Neben ihr durchquerte er die Eingangshalle. »Steht Ihre Kutsche draußen?«

»Ja.« Vor der Tür blieb sie stehen und schaute zu ihm auf. »Sie wartet vor dem Nachbarhaus.«

Seine Lippen zuckten. »Verstehe.« Der Butler lungerte in der Halle herum. Barnaby winkte ihn zu sich heran und griff nach dem Türknauf. »Ich werde Sie begleiten.«

Penelope senkte den Kopf und trat hinaus auf die schmale Veranda, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Ihre Nerven vibrierten, als er sich ihr anschloss. Groß und beinahe überwältigend männlich führte er sie die drei Stufen zum Gehsteig hinunter und dann dorthin, wo die Stadtkutsche ihres Bruders mit einem geduldigen Kutscher auf dem Bock wartete.

Adair griff nach dem Kutschenschlag, öffnete und bot ihr die Hand. Penelope hielt den Atem an, als sie ihm die Finger reichte – und bemühte sich verzweifelt, nicht die Empfindung zu registrieren, die sich einstellte, als ihre schlanken Finger in seine viel größeren gehüllt wurden, versuchte, nicht auf die Wärme seines festen Griffs zu achten, als er ihr in die Kutsche half.

Und versagte.

Sie hielt den Atem an, bis er ihre Hand losließ. Konnte nicht atmen. Dann sank sie auf den Ledersitz, brachte ein Lächeln zustande und nickte. »Danke, Mr. Adair. Wir sehen uns morgen Vormittag.«

Mit durchdringendem Blick musterte er sie in der Dunkelheit, verabschiedete sie mit erhobener Hand, trat zurück und schloss die Tür.

Der Kutscher ließ die Zügel klatschen, der Wagen ruckte an und rollte dann gleichmäßig davon. Seufzend lehnte Penelope sich zurück und lächelte in die Dunkelheit hinein. Zufrieden und mit einem Hauch Arroganz. Sie hatte Barnaby Adair für ihren Fall rekrutiert, und trotz ihres beispiellosen Gefühlsausbruchs hatte sie die Begegnung über die Bühne gebracht, ohne ihre innere Aufgewühltheit zu offenbaren.

Alles in allem konnte sie die Nacht als Erfolg verbuchen.

Barnaby stand im wabernden Nebel auf der Straße und schaute der davonfahrenden Kutsche nach. Nachdem das Rattern der Räder verklungen war, drehte er sich lächelnd zur Tür.

Während er die Treppe hinaufstieg, stellte er fest, dass seine Stimmung sich gebessert hatte. Seine frühere Niedergeschlagenheit hatte sich verflüchtigt und einer gespannten Erwartung Platz gemacht, was der nächste Tag wohl bringen würde.

Und das hatte er Penelope Ashford zu verdanken.

Nicht nur, dass sie ihm einen Fall anvertraut hatte, der ihn über die Grenzen seiner üblichen Ermittlungen hinausführen, ihn deshalb höchstwahrscheinlich herausfordern und sein Wissen erweitern würde; es war viel bedeutsamer, dass noch nicht einmal seine Mutter die Übernahme der Ermittlungen missbilligen würde.

In Gedanken verfasste er bereits den Brief, den er früh am nächsten Morgen an sie schreiben wollte. Leise pfeifend betrat er das Haus und ließ Mostyn die Tür hinter sich verriegeln.

»Guten Morgen, Mr. Adair. Miss Ashford hat uns angewiesen, Sie zu empfangen. Die Lady befindet sich im Büro. Wenn Sie bitte hier entlangkommen wollen …«

Barnaby überschritt die Schwelle des Findelhauses und blieb stehen, bis die sauber gekleidete Frau mittleren Alters, die auf sein Klopfen hin geöffnet hatte, die schwere Eingangstür wieder schloss und den oberen Riegel vorschob.

Sie drehte sich weg und gab ihm ein Zeichen mit der Hand. Er folgte ihr auf dem Weg durch das große Foyer und einen langen Korridor mit Räumen an der rechten und linken Seite. Auf den schwarz-weißen Fliesen verursachten ihre Schritte nur ein schwaches Echo. Die schmucklosen Wände waren in einem blassen cremefarbenen Gelb gestrichen. Baulich schien das Haus in bestem Zustand zu sein; allerdings gab es nicht die geringste Dekoration, auch keine bescheidenen Verzierungen, weder Bilder an der Wand noch Teppiche auf den Fliesen.

Nichts, was über die Tatsache hinwegtäuschte, dass es sich um eine Anstalt handelte.

Ein rascher Blick von der gegenüberliegenden Seite der Straße hatte ein großes älteres Herrenhaus gezeigt, weiß gestrichen, mit zwei Stockwerken über dem Erdgeschoss und einem Dachboden, in der Mitte ein großer Block, der von zwei Flügeln flankiert wurde. Vor jedem Flügel befand sich ein großer Kiesgarten, der durch ein schmiedeeisernes Gatter vom Gehsteig getrennt wurde. Ein schmaler, schnurgerader Pfad führte vom schweren Tor am Eingang zur Veranda vor der Tür.

Soweit Barnaby den Bau hatte begutachten können, strotzte er vor solider Sachlichkeit.

Er konzentrierte sich wieder auf die Frau vor ihm. Obwohl sie keine Uniform trug, erinnerte ihr schneller, entschlossener Schritt ihn an die Hausdame von Eton, auch wegen der Art, wie sie den Kopf wendete, um einen raschen Blick auf die Jungen in jedem Zimmer zu werfen, an dem sie vorbeikamen.

Er schaute ebenfalls in die Zimmer, entdeckte Kinder verschiedenen Alters, die gruppenweise auf dem Boden oder um Tische herumsaßen und mit gespannter Aufmerksamkeit den vorlesenden und unterrichtenden Frauen lauschten; in einem Fall auch einem Mann.

Schon längst hatte die Frau, der er folgte, ihren Schritt verlangsamt und war vor einer Tür stehen geblieben, als er begann, seine Notizen zu Penelope Ashford gedanklich zu ergänzen. Es war der Anblick der Kinder – ihrer rötlichen runden Gesichter mit unauffälligen Zügen, des ordentlich geschnittenen, aber unfrisierten Haars, der anständigen, aber schlichten Kleidung –, der ihm die Augen öffnete. Denn er sah Kinder, die überaus anders zu sein schienen als die, mit denen sie beide gewöhnlich zu tun hatten.

Indem sie sich für diese machtlosen, verwundbaren und unschuldigen Wesen engagierte, die einer ganz anderen gesellschaftlichen Sphäre angehörten, verlor Penelope sich nicht in einer schlichten, selbstlosen Geste. Nein, indem sie die Grenzen dessen weit überschritt, was die Gesellschaft bei einer Lady ihres Standes für ein angemessenes wohltätiges Engagement halten würde, riskierte sie sogar – wissentlich, wie er überzeugt war – die Missbilligung der Salons.

Sarahs Waisenhaus und Penelopes Verbindung zu ihm hatten nichts damit zu tun, was sie hier tat. Sarahs Kinder waren auf dem Lande erzogen worden, waren Kinder von Farmern und ansässigen Familien, die sich auf den herrschaftlichen Anwesen verdingten, dort lebten und arbeiteten. Adel verpflichtet, dachte er, Grund genug, sich um jene Kinder zu kümmern.

Aber die Kinder im Findelhaus entstammten den Slums und endlosen Mietskasernen in London, hatten keinerlei Verbindung zur Aristokratie, und die Familien schlugen sich eher schlecht als recht durchs Leben, kämpften mit allen Mitteln für ihr tägliches Brot.

Und manchmal würde dieser Kampf einem wohlwollend prüfenden Blick nicht standhalten können.

Die Frau winkte ihn mit einer Handbewegung durch die Tür.

»Miss Ashford erwartet Sie im hinteren Büro, Sir. Wenn Sie bitte eintreten wollen?«

Auf der Schwelle des Vorzimmers hielt Barnaby inne. Drinnen saß eine adrette Frau mit gesenktem Kopf an einem schmalen Schreibtisch, der vor einer Phalanx verschlossener Schränke stand, und sortierte eifrig einen Stapel Papiere. Sanft lächelnd dankte Barnaby seiner Begleitung, überschritt die Schwelle und betrat das Heiligtum.

Die Tür stand ebenfalls offen.

Leise näherte er sich, hielt inne und linste hinein. Penelopes Büro – »Hausverwaltung« war auf einem Messingschild an der Tür zu lesen – war ein strenges, schmuckloses Viereck mit weißen Wänden. An der Wand befanden sich zwei große Schränke, vor dem Fenster ein großer Tisch und zwei Stühle mit gerader Lehne. Penelope saß auf dem Stuhl hinter dem Tisch und konzentrierte sich auf einen Stapel Papiere. Die dunklen Brauen über ihrer kleinen geraden Nase hatten sich zu einer beinahe waagerechten Linie verzogen, als sie kaum merklich die Stirn runzelte.

Er bemerkte, dass sie die Lippen fest und beinahe unfreundlich zusammengepresst hatte.

Sie trug ein dunkelblaues Straßenkleid; die blaue Farbe betonte ihren porzellanzarten Teint und das füllige tiefbraune Haar. Natürlich bemerkte er den rötlichen Schimmer in der üppigen Pracht.

Er hob die Hand und klopfte einmal an die Tür. »Miss Ashford?«

Sie schaute auf. Einen Moment lang blieben ihr Blick und ihre Miene verständnislos, dann blinzelte sie, erinnerte sich und winkte ihn herein. »Mr. Adair. Willkommen im Findelhaus.«

Kein Lächeln, notierte Barnaby in Gedanken, wie erfrischend.

Vollkommen geschäftlich.

Ungezwungen betrat er das Büro und blieb neben einem Stuhl stehen. »Vielleicht können Sie mir das Haus zeigen und auf dem Spaziergang meine Fragen beantworten.«

Penelope dachte kurz über seinen Vorschlag nach, richtete den Blick auf die Papiere vor sich. Er konnte förmlich hören, wie sie mit sich zurate ging, ob sie ihn mit ihrer Gehilfin auf die Tour schicken sollte. Aber dann presste sie die rubinroten Lippen, die zu ihrer faszinierenden natürlichen Fülle zurückgefunden hatten, wieder fest zusammen, legte den Stift zur Seite und stand auf. »In der Tat. Je schneller wir die verschwundenen Jungen finden können, desto besser.«

Sie umrundete den Tisch und verließ den Raum mit schnellem Schritt. Barnaby hatte die Brauen kaum merklich hochgezogen, drehte sich um und heftete sich ihr an die Fersen, wiederum folgte er einer Frau, obwohl sie ihn diesmal nicht im Geringsten an eine gestrenge Hausdame erinnerte.

Trotzdem verursachte sie eine beachtliche Betriebsamkeit, als sie das Vorzimmer durchquerte. »Das ist meine Gehilfin, Miss Marsh. Sie ist selbst einmal ein Findelkind gewesen. Jetzt arbeitet sie bei uns und sorgt dafür, dass unsere Akten in Ordnung sind.«

Barnaby lächelte über die mausgraue junge Frau, die errötend den Kopf neigte und sich gleich wieder über ihre Papiere beugte.

Während er Penelope in den Korridor folgte, überlegte er, dass die Bewohner des Findelhauses in ihren Mauern sicher nur selten einen Gentleman der feinen Gesellschaft zu Gesicht bekamen.

Er beschleunigte seinen Schritt und hielt sich neben Penelope, die ihn tiefer ins Haus führte, mit ausgreifenden, beinahe männlichen Schritten, die eine deutliche Geringschätzung gegenüber dem eleganten, anmutigen Dahingleiten, das gerade in Mode gekommen war, auszudrücken schienen. Er suchte ihren Blick. »Gibt es viele Ladys der Gesellschaft, die Sie in Ihrer Arbeit hier unterstützen?«

»Nein, nicht viele.« Es dauerte einen Moment, bis sie fortfuhr.

»Es kommen nur wenige. Portia, wenn ich sie darum bitte, oder die anderen wie unsere Mütter und Tanten, die uns in der Absicht besuchen, ihre Dienste anzubieten.«

Als der nächste Korridor kreuzte, der in den anderen Flügel führte, blieb sie stehen und drehte sich zu ihm. »Die Besucher kommen, sie schauen sich um … und gehen dann wieder fort. Die meisten stellen sich vor, vor den Gassenjungen die gute Fee spielen zu können, sofern die armseligen Wesen entsprechend dankbar sind.« Ein boshaftes Lächeln glitzerte in ihren Augen; sie drehte sich wieder weg und deutete den Flügel hinunter. »Aber das haben wir hier nicht zu bieten.«

Noch bevor sie die offene Tür drei Zimmer weiter den Korridor hinunter erreicht hatten, war der Krach unüberhörbar.

Penelope riss die Tür weit auf. »Jungs!«

Der Lärm brach so abrupt ab, dass die Stille beinahe schmerzte.

Zehn Jungen, ungefähr zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr, erstarrten mitten im Gewühl eines allgemeinen Ringkampfes, rissen Augen und Münder weit auf, als sie begriffen, wer hereingekommen war, rempelten sich an, als sie sich in einer Linie aufstellten, und bemühten sich um ein unschuldiges Lächeln, das trotz allem sehr aufrichtig wirkte. »Guten Morgen, Miss Ashford!«, riefen sie im Chor.

Penelope bedachte sie mit einem strengen Blick. »Wo ist Mr. Englehart?«

Die Jungen wechselten Blicke, bis der größte schließlich das Wort ergriff. »Er ist nur für ein paar Minuten ausgetreten, Miss.«

»Ich bin mir sicher, dass er euch eine Arbeit aufgegeben hat, nicht wahr?«

Die Jungen nickten. Wortlos kehrten sie an ihre Tische zurück, halfen den beiden wieder auf, die zu Boden gegangen waren, griffen nach Kreide und Schiefertafel, setzten sich und machten sich wieder an ihre Aufgaben. Bei einem Blick über die Schultern der Jungen stellte Barnaby fest, dass sie gerade Addition und Subtraktion lernten.

Das Geräusch entschlossener Schritte echote über den Korridor. Sekunden später erschien ein ordentlich gekleideter Mann um die dreißig in der Tür.

Er betrachtete die Jungen und Penelope, grinste und sagte: »Für einen kurzen Moment hatte ich die Befürchtung, sie hätten sich gegenseitig umgebracht.«

Gedämpftes Gelächter ertönte in der Klasse. Englehart nickte Penelope zu, musterte Barnaby neugierig und eilte nach vorn in das Zimmer. »Kommt schon, Jungs. Noch drei Reihen Addition, dann könnt ihr nach draußen gehen.«

Die Jungen stöhnten unterdrückt, beugten sich aber über ihre Tafeln. Nicht nur einer stieß mit der Zungenspitze gegen die Zähne.

Einer hob die Hand, Englehart ging zu ihm und schaute sich an, was der Schüler auf die Tafel geschrieben hatte.

Penelope ließ den Blick über die Gruppe schweifen und schloss sich dann Barnaby unmittelbar an der Tür an. »Englehart kümmert sich um die Jungen dieses Alters und bringt ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Die meisten lernen wenigstens genug, um eine bessere Arbeit zu verrichten als die eines niedrigen Burschen, während andere es sogar zu einer Lehre in verschiedensten Berufen bringen.«

Barnaby nickte, als er die Ernsthaftigkeit der Jungen im Umgang mit Englehart und umgekehrt bemerkte.

Er folgte Penelope nach draußen. »Englehart scheint genau die richtige Wahl für diese Arbeit.«

»Das ist er. Er ist auch Waise, aber sein Onkel hat ihn zu uns gebracht und ihn ausbilden lassen. Der Mann arbeitet in leitender Position in einer Anwaltskanzlei. Der Anwalt weiß um unser Haus, weshalb er es Englehart gestattet, uns sechs Stunden pro Woche zur Verfügung zu stellen. Für andere Fächer haben wir andere Lehrer. Die meisten verrichten ihre Arbeit freiwillig. Das bedeutet, dass sie sich wirklich um ihre Schüler kümmern und gewillt sind, das Beste aus einer Situation zu machen, die wohl kaum jemand als ideal bezeichnen würde.«

»Es scheint, als hätten Sie beachtliche und sehr nützliche Unterstützung gewinnen können.«

Sie zuckte die Schultern. »Wir haben Glück gehabt.«

Barnaby vermutete, dass das Glück sich nicht zufällig einstellte, wenn diese Frau sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. »Was ist mit den Verwandten, die ihre Mündel hierher überstellen … kommen die Leute vorher ins Haus, um es zu besichtigen?«

»Wer es noch kann, macht es meistens auch. Aber in jedem Fall schauen wir uns das Kind und dessen Vormund bei ihm zu Hause an.« Sie hob den Kopf und blickte ihn an. »Es ist wichtig, dass wir wissen, aus welchem Umfeld sie stammen und woran sie gewöhnt sind. Viele sind anfangs verängstigt, wenn sie zu uns kommen. Denn für sie ist es eine neue und oftmals fremde Umgebung mit unbekannten Sitten und merkwürdigen Gebräuchen. Wenn wir wissen, woran sie gewöhnt sind, können wir ihnen helfen, sich hier zurechtzufinden.«

»Sie machen die Besuche.« Er fragte nicht, sondern stellte eine Behauptung auf.

Penelope hob das Kinn. »Ich trage die Verantwortung. Also muss ich auch Bescheid wissen.«

Er konnte sich keine andere junge Lady vorstellen, die willentlich dorthin ging, wo sie hingehen musste. Es war nicht zu leugnen, dass jegliche Vermutungen über sie, über ihr Verhalten oder ihre Reaktionen, sofern man sich am durchschnittlichen Verhalten der jungen Ladys der guten Gesellschaft orientierte, bestens geeignet waren, sie völlig falsch einzuschätzen.

Sie führte ihn weiter, stoppte bei diesem oder jenem Klassenzimmer, zeigte ihm die Schlafsäle, die zurzeit leer standen, das Krankenzimmer und das Esszimmer, hielt einen kleinen Vortrag über ihre Arbeitsweise und stellte ihn dem Kollegium vor, das ihnen auf dem Weg begegnete. Er sog alles in sich auf, genoss es, die Menschen zu studieren – denn er hielt sich selbst für einen ausgezeichneten Menschenkenner –, und je mehr er sah, desto faszinierter war er, am meisten von Penelope Ashford.

Sie besaß einen starken Willen, war dominant, aber nicht tyrannisch, voller Geistesgegenwart und Scharfsinn, engagiert und hingebungsvoll – am Ende ihrer Tour hatte er genug gesehen, um sich seines Urteils sicher zu sein. Und er konnte hinzufügen, dass sie gereizt reagierte, wenn man sie drängte, selbstherrlich, wenn man sie herausforderte, und leidenschaftlich bis ins Mark, was er besonders dann jedes Mal feststellte, wenn sie mit Kindern umging. Er hätte einen Eid schwören können, dass sie jeden Namen kannte und die Geschichte eines jeden der achtzig Kinder, die sich unter dem Dach des Hauses aufhielten.

Irgendwann waren sie wieder im Foyer des Hauses angekommen. Penelope fiel nichts ein, was sie ihm noch hätte zeigen müssen, um ihm die Bedeutsamkeit der Angelegenheit vor Augen zu führen. Denn er war erfrischend aufmerksam und offenbar fähig, die Lage einzuschätzen, ohne dass man ihm jede Einzelheit minutiös erläutern musste. Sie hielt inne und schaute ihn an. »Gibt es noch irgendetwas, was Sie über die Vorgänge bei uns wissen müssten?«

Einen Moment lang erwiderte er ihren Blick und schüttelte dann den Kopf. »Zurzeit nicht. Alles scheint geradlinig, wohlüberlegt und bestens eingerichtet zu sein.« Er betrachtete das Haus. »Auf der Grundlage dessen, was ich vom Kollegium habe sehen können, stimme ich zu, dass sehr wahrscheinlich niemand aus diesem Kreis in die Sache involviert ist und auch keine Informationen an die … in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, an die Entführer weitergereicht hat.«

Wieder fixierte er sie mit seinen blauen Augen. Penelope gab sich die größte Mühe, so zu tun, als würde sie nicht merken, dass er sie eindringlich musterte.

»Mein nächster Schritt wird mich an den Ort des letzten Verschwindens führen. Ich will die ansässigen Leute befragen, will wissen, was sie wissen.« Er schenkte ihr ein überaus bezauberndes Lächeln. »Wenn Sie mir die Adresse geben, muss ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

Ihre Augen wurden schmal, und sie biss die Zähne fest zusammen. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf wegen meiner Zeit. Bis wir die vier Jungen zurückhaben, ist diese Angelegenheit wichtiger als alles andere. Selbstverständlich werde ich Sie zur Unterkunft von Dicks Vater begleiten. Abgesehen von allen anderen Gründen, die mich zu diesem Entschluss bewogen haben, sind Sie den Nachbarn nicht bekannt, weshalb die Leute kaum bereit sein werden, sich mit Ihnen zu unterhalten.«

Barnaby hielt ihren Blick fest. Sie fragte sich, ob sie jetzt wohl in einen Streit ausbrechen würden, denn ihr war vollkommen klar, dass Streit sich nicht immer würde vermeiden lassen … aber er senkte den Kopf. »Wie Sie wünschen.«

Das letzte Wort ging im Getrappel der Schritte auf dem Korridor unter. Penelope wirbelte herum und entdeckte die Hausdame Mrs. Keggs. »Bitte, Miss Ashford, wenn Sie ein paar Minuten erübrigen könnten, bevor Sie das Haus verlassen.« Mrs. Keggs blieb stehen und fügte hinzu: »Es geht um die Besorgungen für die Schlafsäle und das Krankenzimmer. Ich muss heute dringend die Bestellung aufgeben.«

Penelope verbarg ihren Ärger – nicht über Mrs. Keggs, deren Notwendigkeit zu einem Gespräch unabweisbar war, sondern über den unglücklichen Zeitpunkt. Würde Adair die Verzögerung als Vorwand nutzen, um sie aus den Ermittlungen zu drängen? Sie drehte sich wieder zu ihm. »Es wird mich nicht mehr als zehn … vielleicht fünfzehn Minuten kosten«, kündigte sie an, fragte nicht, ob er warten könne, sondern fuhr gleich fort: »Danach können wir uns auf den Weg machen.«

Immer noch hielt er ihren Blick fest. Sie konnte nichts in seinen blauen Augen erkennen, außer dass er sie abschätzte, prüfte. Dann zuckten seine Mundwinkel, nicht wie bei einem Lächeln, sondern als ob er sich innerlich amüsierte.

»Ausgezeichnet.« Die Eingangstür war inzwischen geöffnet, die lärmenden Stimmen der Jungen drangen ihnen ans Ohr, und er deutete mit dem Kopf in die Richtung. »Ich warte draußen, schaue mir Ihre Mündel an.«

Sie war viel zu erleichtert, um noch fragen zu können, was genau er beobachten wolle, und nickte rasch. »Ich bin in Kürze bei Ihnen.«

Penelope gab ihm keine Gelegenheit, noch einmal seine Meinung zu ändern, drehte sich zu Mrs. Keggs und eilte mit ihr zusammen über den Korridor zu ihrem Büro.

Barnaby schaute ihr nach, vermerkte wohlwollend den forschen Schwung ihrer Hüften, während sie entschlossen über den Flur schritt, lächelte noch unverhohlener als zuvor und ging hinaus in den düsteren Tag.

Draußen auf der Veranda ließ er den Blick nach rechts schweifen. Ein ganzer Schwarm Jungen und Mädchen, ungefähr fünf und sechs Jahre alt, jagten einander lachend und kreischend durch den Garten, während sie sich mit weichen Bällen bewarfen. Bei einem Blick nach links entdeckte er eine ähnliche Anzahl Jungen, alle in einem Alter zwischen sieben und zwölf, zu denen die vermissten Kinder sehr gut gepasst hätten.

Er trat die Stufen hinunter und lenkte seine Schritte in Richtung dieser Gruppe. Es war nichts Bestimmtes, wonach er Ausschau hielt; aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es oftmals scheinbar belanglose Informationsfetzen waren, die sich für die Lösung des Falls als entscheidend erwiesen.

Er lehnte sich gegen die Mauer und ließ den Blick über die Gruppe schweifen. Es gab Jungen in allen möglichen Größen und Gestalten, einige plump, untersetzt und zupackend, andere dürr und schlank. Die meisten bewegten sich frei und unbefangen im Spiel, einige wenige hinkten, und ein Junge zog den Fuß nach.

Jede vergleichbare Kindergruppe aus der besseren Gesellschaft wäre körperlich einheitlicher gewesen, in den Gesichtszügen ähnlicher und mit gleich langen Gliedmaßen.

Und doch gab es eine Sache, die Kinder der besseren Gesellschaft nicht nur untereinander, sondern mit den Kindern dieser anderen gesellschaftlichen Sphäre teilten, und das war eine gewisse Sorglosigkeit, die man bei armen Kindern normalerweise nicht fand. In dieser Sorglosigkeit spiegelte sich das Vertrauen in ihre Sicherheit, darin, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten und einen ordentlichen Lebensunterhalt, nicht nur heute, sondern ebenso morgen und für die vorhersehbare Zukunft.

Diese Kinder waren glücklich, viel glücklicher, als viele ihrer Altersgenossen es jemals sein würden.

Auf der Bank an der gegenüberliegenden Seite des Spielplatzes saß ein Betreuer und las ein Buch, ließ aber hin und wieder den Blick über seine Mündel schweifen.

Irgendwann gesellte sich einer der Jungen – ein sehniges, ungefähr zehn Jahre altes Kerlchen mit einem wieselartigen Gesicht – zu Barnaby. Er wartete, bis Barnaby den Blick auf ihn senkte, bevor er fragte: »Sind Sie der neue Betreuer?«

»Nein.« Offenbar erwartete der Junge weitere Erklärungen, sodass er hinzufügte: »Ich bin Miss Ashford in einer gewissen Angelegenheit behilflich. Ich warte auf sie.«

»Oh«, stieß der Junge hervor, während ein zweiter zu ihnen kam, einen Blick auf seine Freunde warf und sich mutig genug fühlte, ihn zu fragen: »Was sind Sie dann?«

Der dritte Sohn eines Earls. Barnaby grinste, versuchte sich vorzustellen, wie die Jungen darauf wohl reagieren würden. »Ich helfe Menschen, Sachen zu finden.«

»Welche Sachen?«

Normalerweise Verbrecher. »Besitztümer. Oder Menschen, die verloren gegangen sind.«

Einer der älteren Jungen runzelte die Stirn. »Ich dachte, das machen die Bobbys. Aber Sie sind kein Bobby.«

»Nee«, mischte sich ein weiterer Junge ein, »die Polizei ist sowieso dafür da zu verhindern, dass Sachen geklaut werden. Geklaute Sachen zu finden, das ist was anderes.«

Weisheiten aus dem Munde von Kleinkindern.

»Also …«, der erste Junge musterte ihn abwägend, »erzählen Sie uns eine Geschichte, wie Sie mal geholfen haben, eine Sache zu finden.« Sein Tonfall ließ die Worte eher hoffnungsvoll flehend als fordernd klingen.

Barnaby ließ den Blick über die Gesichter der Jungen schweifen, war sich vollkommen bewusst, dass jeder Einzelne seine Kleidung und deren Qualität registriert hatte, und überlegte. Eine Bewegung im Garten lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Betreuer hatte das Interesse der Jungen an Barnaby bemerkt, schaute ihn mit hochgezogenen Brauen an und fragte stumm, ob er gerettet zu werden wünschte.

Barnaby schickte ein beruhigendes Lächeln zurück und schaute sein Publikum an. »Die erste Sache, die ich geholfen habe wiederzufinden, war das Smaragdcollier der Herzogin von Derwent. Es ging auf einer privaten Festlichkeit im Hause der Derwents verloren …«

Sie bombardierten ihn förmlich mit Fragen; es wunderte ihn nicht, dass das Fest selbst, das herzogliche Anwesen und wie die »Snobs« sich amüsierten, im Mittelpunkt ihres Interesses stand. Smaragde hingegen spielten in ihrer Welt keine Rolle. Aber Menschen faszinierten sie, wie auch er von Menschen fasziniert war, und als er ihre Reaktionen auf seine Antworten beobachtete, musste er innerlich lachen.

In ihrem Büro bemerkte Penelope, dass Mrs. Keggs’ Aufmerksamkeit nachließ und auf irgendetwas hinter ihrer linken Schulter gelenkt war. »Ich denke, das sollte für die nächsten Wochen reichen.«

Sie legte ihren Stift beiseite und klappte den Deckel des Tintenfasses zu. Das Geräusch riss Mrs. Keggs aus ihrer Ablenkung zurück.

»Ah, vielen Dank, Miss.« Mrs. Keggs griff nach dem unterschriebenen Zettel, den Penelope ihr reichte. »Ich werde die Bestellung zu Connelly bringen und lasse noch heute Nachmittag ausliefern.«

Penelope lächelte und entließ Mrs. Keggs mit einem Nicken. Sie schaute zu, wie die Frau sich erhob, knickste und nach einem letzten Blick aus dem Fenster in Penelopes Rücken aus dem Büro eilte.

Sie schwenkte auf ihrem Stuhl herum, warf ebenfalls einen Blick hinaus – und entdeckte Adair, der von einer Gruppe Jungen förmlich gefangen gehalten wurde.

Entspannt beobachtete sie die Szene und registrierte ihre Überraschung. Trotz allem, was sie über ihn gehört hatte, hatte sie niemals erwartet, dass Adair die notwendigen Fähigkeiten oder sogar die Neigung besaß, frei und offen mit Menschen aus den unteren Ständen umzugehen; ganz sicher nicht so frei und offen, dass er sich je dazu herabließe, einen Haufen Kinder zu unterhalten, die um ein Haar in der Gosse gelandet wären.

Sein Lächeln schien allerdings aufrichtig.

Penelope war ängstlich und vorsichtig gewesen, als sie ihn aufgesucht hatte, und diese Ängstlichkeit ließ ein wenig nach. Die anderen Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands hielten sich außerhalb Londons auf. Obwohl sie den Vorstand über die ersten drei verschwundenen Jungen informiert hatte, hatte sie sie nicht über den jüngsten Fall benachrichtigt. Und auch nicht darüber, dass sie vorhatte, Mr. Barnaby Adairs Hilfe in Anspruch zu nehmen. Was das betraf, hatte sie auf eigene Faust gehandelt. Sie war überzeugt, dass Portia und Anne ihre Entscheidung unterstützen würden; bei den anderen dreien war sie sich nicht so sicher. Denn Barnaby hatte sich den Ruf erworben, der Polizei zu helfen, insbesondere die Angehörigen der besseren Gesellschaft vor Gericht zu bringen. Bemühungen, die nicht auf ungeteilte Zustimmung der Salons trafen.

Entschlossen legte sie die Handflächen auf die Stuhllehne und erhob sich. »Es kümmert mich nicht«, erklärte sie ihrem leeren Büro, »um die Jungen zurückzubekommen, würde ich noch nicht einmal die helfende Hand meines Erzfeindes ausschlagen.«

Die Drohungen der Gesellschaft hatten keinerlei Macht über sie. Andere Bedrohungen dagegen …

Mit schmalen Augen beobachtete sie die große elegante Gestalt, umringt von der bunt gemischten Gruppe. Und gestand sich zögernd ein, dass diese Gestalt in gewisser Hinsicht eine Bedrohung für sie darstellte. In der Tat …

Für ihre Sinne, ihre plötzlich kribbelnden Nerven … und die noch nie da gewesene Launenhaftigkeit ihres Hirns. Noch nie war es einem Mann gelungen, ihre Gedanken durcheinanderzubringen.

Noch nie hatte ein Mann sie dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn er …

Sie drehte sich wieder zu ihrem Tisch und schloss das Bestellbuch.

Nachdem sie gestern sein Haus verlassen hatte, hatte sie sich eingeredet, dass das Schlimmste nun überstanden war. Dass, wenn sie ihm das nächste Mal begegnete, seine Wirkung auf ihre Sinne sich schon verflüchtigt haben würde. Oder zumindest abgeflaut wäre. Stattdessen hatte sie feststellen müssen, dass sie keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte, als sie aufgeschaut, ihn im Türrahmen entdeckt und den überaus eindringlichen Blick aus seinen blauen Augen bemerkt hatte.

Es hatte sie echte Anstrengung gekostet, ihre Miene ausdruckslos zu halten und so zu tun, als wäre sie in Gedanken ganz woanders gewesen.

Es lag auf der Hand, dass sie sich innerlich wappnen, dass sie eine Art Rüstung anlegen musste, wenn sie wünschte, dass er an ihrer Seite ermittelte. Oder noch mehr …

Ihr war der Gedanke unerträglich, dass er wusste, wie tief er sie berührt hatte, und die Mundwinkel langsam zu diesem eigensinnig arroganten, unglaublich männlichen Lächeln verzog …

Sie presste die Lippen aufeinander und wiederholte mit fester Stimme: »Wie auch immer, es interessiert mich nicht.«

Penelope zog das Retikül und die Handschuhe aus der Schreibtischschublade und eilte mit erhobenem Kinn zur Tür.

Und zu dem Mann, den sie als Champion des Findelhauses engagiert hatte.

»Auf Geheiß von Dicks Vater haben Mrs. Keggs und ich ihm vor zwei Wochen einen Besuch abgestattet.« Durch das Fenster der Droschke betrachtete Penelope die vorbeifliegenden Straßenzüge. Draußen vor dem Findelhaus hatten sie die Droschke angehalten, der Kutscher hatte sie zufrieden aufgenommen, und nun ratterten sie zügig in Richtung Osten.

Die Geschwindigkeit verlangsamte sich, nachdem sie in das enge, überfüllte Gängeviertel eingebogen waren, das man in London das »East End« nannte. Es handelte sich um eine Ansammlung baufälliger Häuser, die auf Tuchfühlung errichtet worden waren, Mietskasernen, Läden und Lagerhäuser, die ursprünglich in den Dörfern draußen vor der alten Stadtmauer entstanden waren. Mit den Jahrhunderten hatten sich die provisorischen Gebäude zu einem ärmlichen, düsteren, unangenehm feuchten Mischmasch zerbrechlicher Wohnstätten entwickelt.

Clarkenwell, die Gegend, in die sie jetzt fuhren, war nicht ganz so schlimm, nicht ganz so überfüllt und bedrohlich wie andere Teile des East Ends.

»Er … Dicks Vater, Mr. Monger … litt an Auszehrung.« Sie schwankte, als die Droschke in die Farrington Road bog. »Es war klar, dass er sich nicht erholen würde. Der ansässige Arzt, ein gewisser Mr. Snipe, war auch dort. Er war es auch, der uns über Mr. Mongers Tod benachrichtigt hat.«

Adairs Miene verdüsterte sich immer mehr, seit sie in die ärmlicheren Straßen eingebogen waren. »Gestern Vormittag haben Sie Snipes Nachricht erhalten?«

»Nein. Schon am Abend zuvor. Monger ist gegen sieben Uhr gestorben.«

»Sie sind nicht im Findelhaus gewesen.«

»Nein.«

Er drehte sich zu ihr und schaute sie an. »Aber wenn es anders gewesen wäre …«

Schulterzuckend wandte sie den Blick ab. »Abends bin ich niemals dort.«

Nachdem vier Jungen entführt worden waren, hatte sie inzwischen Anweisung gegeben, dass die Nachricht vom Tod eines Vormunds ihr unverzüglich gemeldet werden solle, wo auch immer sie sich gerade aufhielt. Wenn es das nächste Mal ein Waisenkind abzuholen galt, würde sie sich die Kutsche ihres Bruders leihen, dazu seinen Kutscher und einen Burschen, und würde ins East End eintauchen, ganz gleich, wie spät es schon war … aber sie sah keinen Grund, ihre derzeitige Begleitung in ihren Entschluss einzuweihen.

Sie wusste, dass Adair mit ihrem Bruder Luc, der sie immer beschützt hatte, mindestens bekannt war, und es fiel ihr nicht schwer zu erraten, was ihm wohl durch den Kopf ging – dass Luc es unmöglich gutheißen konnte, wenn sie ihren Fuß in solche Gegenden setzte, noch dazu mehr oder weniger allein und am späten Abend.

Damit hatte Barnaby vollkommen recht. Luc ahnte nur entfernt, welche Pflichten ihr als Hausverwalterin auferlegt waren. Und sie zog es vor, ihn nicht aus seiner Ahnungslosigkeit aufzustören.

Bei einem Blick aus dem Fenster stellte sie erleichtert fest, dass sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten. »In diesem Fall haben drei Nachbarn den Mann, der Dick am Tag nach Mongers Tod abgeholt hat, gesehen und mit ihm gesprochen. Ihre Beschreibung des Mannes passt auf die Beschreibung, die die Nachbarn in den vorangegangenen drei Fällen gegeben hatten.«

Die Kutsche fuhr so langsam, dass sie beinahe stehen geblieben war, und bog dann schwerfällig in eine Gasse ein, die fast zu eng für den Wagen war.

»Endlich sind wir da.« Sie drängte nach vorn, kaum dass das Gefährt angehalten hatte. Aber Adair war schneller, schnappte nach dem Griff der Kutschentür, zwang sie zurückzuweichen, bis er geöffnet hatte.

Beim Aussteigen blockierte er den Ausstieg, während er sich umschaute.

Sie biss sich auf die Zunge und unterdrückte den Impuls, ihm heftig zwischen die Schulterblätter zu stoßen. Sehr schöne Schultern, gekleidet in einen modischen Übermantel, aber trotzdem waren sie ihr im Weg … sie musste sich darauf beschränken, sie anzustarren.

Irgendwann rührte er sich, so langsam und bedächtig, als wäre er sich gar nicht bewusst, was er tat. Trat zur Seite und bot ihr die Hand. Sie vergaß nicht ihre Manieren, riss sich zusammen und überließ ihm ihre Finger. Nein, die Wirkung seiner Berührung, das verstörende Gefühl seiner langen, starken Finger, die sich besitzergreifend um ihre schlossen, hatte sich nicht verflüchtigt. Bissig mahnte sie sich, dass er nur auf ihre Bitte hin erschienen war, auch wenn er viel zu viel Platz in ihrem Leben beanspruchte und ihren Geist verwirrte, ließ es zu, dass er ihr hinunterhalf, und löste rasch ihre Finger aus seinen.

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, machte sie ein paar Schritte nach vorn, gestikulierte in Richtung der Hütte vor ihnen. »Dort hat Mr. Monger gelebt.«

Natürlich hatte ihre Ankunft die Aufmerksamkeit der Menschen erregt. Gesichter drückten sich an die verschmierten Scheiben, Hände schoben Lappen beiseite, wo nie eine Scheibe gewesen war.

Sie betrachtete das Gebäude nebenan, vor dem ein Holztisch stand. »Mr. Mongers Nachbar ist Flickschuster. Er und sein Sohn haben den Mann gesehen.« Barnaby bemerkte das verwahrloste Individuum, das sie von einem Überstand aus beobachtete, unter dem der Tisch des Flickschusters aufgebaut war. Penelope ging zu ihm, er folgte ihr auf dem Fuße. Falls sie das Elend und den Dreck um sich herum überhaupt bemerkte, ganz zu schweigen von dem Gestank, ließ sie sich nichts anmerken.

»Mr. Trug.« Penelope nickte dem Schuster zu, der wachsam den Kopf senkte. »Das ist Mr. Adair, ein Experte, wenn es darum geht, seltsamen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen. Wie zum Beispiel Dicks Verschwinden. Ich frage mich, ob ich Sie bewegen kann, ihm zu erzählen, was das für ein Mann war, der gekommen ist und Dick mitgenommen hat.«

Trug linste Barnaby an, und der wusste auf Anhieb, was dem Mann durch den Kopf ging: Was versteht ein feiner Pinkel wie der vom Verschwinden eines Gassenjungen?

»Mr. Trug? Darf ich Sie bitten? Wir wollen Dick so schnell wie möglich wiederfinden.«

Trug ließ den Blick zu Penelope schweifen und räusperte sich.

»Aye, sehr wohl … es war gestern früh am Morgen, kaum hell geworden. Der Kerl kam und hat bei dem alten Monger an die Tür geklopft. Mein Sohn Harry war grade auf dem Weg zur Arbeit. Hat den Kopf aus der Tür gesteckt und dem Kerl gesagt, dass der arme Monger sich auf und davon gemacht hat.« Trug musterte Barnaby.

»War ein netter Kerl. Kam zu uns und hat erklärt, dass er hier ist, um den jungen Dick mitzunehmen. Da hat Harry mich gerufen.«

»Dieser Kerl … wie hat er ausgesehen?«

Trug betrachtete Barnabys blonde Locken. »Größer als ich, aber nicht so groß wie Sie. Auch nicht so breite Schultern. Ein bisschen runder in der Mitte. Stämmig und untersetzt.«

»Haben Sie zufällig seine Hände sehen können?«

Trug schien zuerst überrascht, dann nachdenklich. »Scheint kein grober Klotz zu sein, jetzt, wo ich drüber nachdenke. Auch kein Hilfsarbeiter oder so … hatte keine rauen Hände, keine Schwielen. Arbeitet vielleicht in einem Laden … nun, das hat er gesagt. Arbeitet für die Behörden.«

Barnaby nickte. »Kleidung?«

»Schwerer Mantel. Nichts Besonderes. Hut aus Tuchstoff, das Übliche. Arbeitsstiefel, wie sie alle hier tragen.«

Barnaby verkniff es sich, Trugs Blick auf seine polierten Stiefel zu folgen. »Was ist mit seiner Sprache? Irgendein Akzent?«

Trug hob den Blick und blinzelte. »Akzent? Nun …«, wieder blinzelte er und schaute Penelope an. »Denken Sie, was Sie wollen, aber das hatte ich völlig vergessen. Kommt aus dieser Gegend. East End. Keine Frage.«

Penelope warf Barnaby einen Blick zu.

Er fing ihren Blick auf und wandte sich wieder an Trug. »Ist Ihr Sohn zu Hause?«

»Aye.« Trug stolperte ins Innere des Hauses. »Ist schon zu Hause. Werde ihn holen.«

Der Sohn bestätigte die Angaben seines Vaters. Als er nach dem Alter des Mannes gefragt wurde, schürzte er die Lippen und meinte dann: »Nicht alt. Vielleicht ungefähr so alt wie ich. Siebenundzwanzig, würde ich sagen.«

Er grinste Penelope an. Aus den Augenwinkeln sah Barnaby, wie sie die Augen zusammenkniff, der dunkle Blick hart wurde.

»Vielen Dank.« Er nickte beiden Trugs zu und trat zurück.

»Aye, ist schon gut.« Der alte Trug machte es sich hinter seiner Bank bequem. »Ist klar, dass der alte Monger wollte, Dick soll mit der Lady gehen. Schien nicht in Ordnung, dass der andere Kerl kommt und ihn stiehlt. Wer weiß, was der mit ihm im Sinn hat. Zwingt den armen kleinen Bettler, den Kamin zu fegen, höchstwahrscheinlich.«

Penelope erblasste, aber ihre Miene wirkte noch entschlossener.

Sie nickte den Trugs ebenfalls zu. »Danke für Ihre Hilfe.«

Sie drehte sich um, schloss sich Barnaby an und winkte zu dem kleinen Haus an der anderen Seite der Unterkunft von Dicks Vater.

»Wir sollten mit Mrs. Waters sprechen. Dick hat den Abend und die Nacht bei ihr verbracht. Das heißt, dass sie den Mann ebenfalls gesehen und gesprochen hat.«

Aufgescheucht durch die Klingel an der Tür, tauchte Mrs. Waters aus den Tiefen ihres überfüllten Hauses auf. Es handelte sich um eine breite, mütterliche Frau mit einem erfrischenden Gesichtsausdruck, aber welkem grauen Haar; sie bestätigte Trugs Angaben. »Aye, fünfundzwanzig Jahre alt, würde ich sagen, und er stammt irgendwo hier aus der Gegend. Aber nicht von nebenan. Ich kenne die meisten Straßen in der Nachbarschaft, und er ist nicht hier ansässig, aber trotzdem würde ich sagen, dass er im East End geboren ist und aufgewachsen ist, allein wegen der Art, wie er spricht.«

»Das heißt, er ist viel zu jung, um als Gerichtsdiener oder so ähnlich zu arbeiten.« Penelope schaute Barnaby an.

Mrs. Waters schnaubte. »Nein, der nicht … der war kein Boss oder so, ist nicht für irgendwas zuständig. Darauf könnte ich schwören.«

Barnaby wunderte sich über ihre Gewissheit. »Wie kommen Sie darauf?«

Nachdenklich zog Mrs. Waters die Brauen zusammen. »Weil er noch nicht mal für das zuständig war, was er hier getan hat. Hat sorgsam gesprochen. Überaus sorgsam. Wie jemand, dem man beigebracht hat, was er zu sagen hat und wie er es sagen soll.«

»Dann würden Sie behaupten, dass er geschickt worden ist, um hier einen Auftrag zu erledigen? Gewissermaßen als Laufbursche?«

»Ganz genau.« Mrs. Waters nickte. »Jemand hat ihn geschickt, um Dick zu holen, und genau das hat er getan.« Ihre Miene schien umwölkt, und sie schaute zu Barnaby auf. »Finden Sie diesen Dreckskerl, und bringen Sie Dick zurück. War ein guter Junge, hat nie Ärger gemacht, kein Fünkchen Bosheit steckt in ihm. Hat es nicht verdient, was auch immer diese Kerle …«, sie richtete den Blick auf Penelope, »… bitte um Verzeihung, Miss, mit ihm vorhaben.«

Barnaby senkte den Kopf. »Ich werde mein Bestes tun. Danke für Ihre Hilfe.« Er streckte Penelope die Hand entgegen. »Miss Ashford?«

Sie verzichtete darauf, seine Hand zu ergreifen, dankte Mrs. Waters und eilte an seiner Seite zur Droschke zurück. Allerdings musste sie seine Hand beanspruchen, um in den Wagen zu klettern. Nachdem er den Kutscher angewiesen hatte, zum Findelhaus zurückzufahren, schloss Barnaby sich ihr an und schlug die Tür zu.

Er kauerte sich in den Sitz, dachte darüber nach, was sie erfahren hatten und was es für ihre nächsten Schritte zu bedeuten hatte.

Penelope unterbrach seine Gedanken. »Es ist also möglich, dass Dick sich gar nicht weit von uns entfernt aufhält.« Sie starrte konzentriert in die dämmrige Kutsche. »Was hat das zu bedeuten … was sollen wir als Nächstes unternehmen?«

Er überlegte kurz, bevor er antwortete. »Das East End ist groß und dicht bevölkert.« Und mehr noch, es strotzt nur so vor Verbrechen.

Sie verzog das Gesicht, konzentrierte sich dann wieder auf ihn.

»Und wie gehen wir vor?«

»Ich denke … wenn Sie einverstanden sind, würde ich unsere Erkenntnisse gern einem Freund unterbreiten … Inspektor Basil Stokes von Scotland Yard.«

Penelope zog die Brauen hoch. »Scotland Yard?« Sie musterte ihn eindringlich. »Um aufrichtig zu sein, ich kann mir nicht vorstellen, dass Sir Robert Peels neue Polizeitruppe an vermissten armen Jungen aus dem East End ein ausgeprägtes Interesse hegt.«

Sein Lächeln war so sarkastisch wie ihr Tonfall. »Unglücklicherweise würden Sie recht behalten, wenn die Dinge ihren gewöhnlichen Lauf nähmen. Wie dem auch sei, Stokes und ich, wir kennen uns schon seit längerer Zeit. In diesem Stadium werde ich allerdings nichts anderes tun, als ihn auf die Lage aufmerksam zu machen und ihn nach seiner Meinung zu fragen.« Er hielt inne, sprach kurz darauf weiter. »Wenn ihm die Geschichte erst mal zu Ohren gekommen ist …«

Und wenn es Stokes, wie Barnaby, unwillkürlich in den Fingern juckte …

Aber solche Gedanken musste er Penelope Ashford nicht anvertrauen.

Er zuckte die Schultern. »Wir werden sehen.«

Barnaby brachte Penelope zum Findelhaus zurück und fuhr dann mit der Droschke zu Scotland Yard. Unbehelligt ging er zu Stokes’ Büro, nachdem er das unscheinbare Gebäude betreten hatte, in dem jetzt die Metropolitan Police Force zu Hause war. Die meisten Leute im Hause kannten ihn flüchtig, und sie wussten um seinen Ruf.

Stokes’ Büro befand sich im Erdgeschoss. Die Tür stand offen, als Barnaby ankam. Draußen blieb er kurz stehen, warf einen Blick hinein und lächelte beim Anblick seines Freundes, der ohne Mantel mit hochgekrempelten Ärmeln am Schreibtisch saß und eifrig Berichte schrieb.

Wenn es überhaupt etwas gab, was Stokes an seinem wachsenden Erfolg und Ansehen nicht schätzte, dann die Pflicht, die unvermeidlichen Berichte verfassen zu müssen.

Der Mann spürte, dass er nicht allein war, schaute auf und lächelte erfreut, als er seinen Freund entdeckte. Er legte den Stift ab, schob den Stapel Papiere beiseite und lehnte sich zurück. »Sieh an, was führt dich hierher?«

Stokes klang überaus erwartungsvoll.

Lachend betrat Barnaby das Büro, das zum Glück nicht winzig war, sondern groß genug, um im Notfall vier Leute aufzunehmen. Vor dem Fenster war der Schreibtisch so aufgebaut, dass der Stuhl zur Tür schaute. An der Wand stand ein Schrank, gefüllt mit Akten. Barnaby öffnete die Knöpfe seines eleganten Übermantels und ließ sich auf einen der beiden Stühle vor dem Tisch sinken.

Er fing den Blick aus Stokes’ schiefergrauen Augen auf. Der Inspektor erinnerte in Größe und Statur an Barnaby, war dunkelhaarig, besaß eher düstere Gesichtszüge und fiel dadurch auf, dass er nirgendwo recht heimisch zu sein schien. Sein Vater war Kaufmann gewesen, kein Gentleman; aber dank seines Großvaters mütterlicherseits hatte Stokes eine gute Ausbildung genossen.

Aus diesem Grund hatte der Mann ein besseres Gespür für die Salons und deshalb mehr Glück im Umgang mit der gehobenen Gesellschaft als irgendein anderer Inspektor in Sir Robert Peels Polizeitruppe.

Barnaby war der Meinung, dass die Truppe sich glücklich schätzen konnte, Stokes in ihren Reihen zu wissen. Selbst wenn man von all diesen Vorteilen absah, war er klug und konnte seinen Verstand benutzen – was nicht zuletzt zu ihrer engen Freundschaft geführt hatte.

Und das war umgekehrt der Grund dafür, dass Stokes ihn mit solch unverhohlenem Eifer betrachtete; insgeheim hoffte er, dass Barnaby ihn vor seinen Berichten retten würde.

Barnaby grinste. »Ich habe einen ungewöhnlichen Fall an der Hand, der dein Interesse finden könnte.«

»Das dürfte dir im Moment nicht schwerfallen.« Stokes’ Stimme klang tief, beinahe heiser, ganz im Unterschied zum wohlmodellierten Tonfall seines Freundes. »All unsere Bösewichte haben sich in diesem Jahr früher in die Ferien verabschiedet. Oder sie haben sich aufs Land zurückgezogen, weil wir ihnen den Boden hier zu heiß gemacht haben. Wie auch immer, ich bin ganz Ohr.«

»Im vorliegenden Fall … die Leitung des Findelhauses in Bloomsbury hat mich gebeten, im Fall des Verschwindens von vier Jungen zu ermitteln.«

Sorgfältig erläuterte Barnaby, was er von Penelope erfahren und beim Besuch des Hauses sowie dem Ausflug nach Clarkenwell beobachtet hatte. Während er sprach, nahmen seine Stimme und sein Ausdruck eine Ernsthaftigkeit an, die er vor Penelope verborgen hatte.

Als er seine Geschichte endlich zu Ende erzählt hatte, blickte er Stokes nicht nur grimmig an, sondern fühlte sich auch so: »Am auffälligsten ist die Tatsache, dass es immer derselbe Mann war, der die Jungen entführt hat«, schloss er.

Stokes’ Gesichtszüge hatten sich verhärtet. »Willst du meine Meinung hören?«

Barnaby nickte.

»Mir gefällt die Geschichte genauso wenig wie dir.«

Stokes lehnte sich auf dem Stuhl zurück und pochte mit der Fingerspitze auf den Tisch. »Lass uns nachdenken … was kann jemand mit vier, das heißt, mit mindestens vier siebenbis zehnjährigen Jungen aus dem East End anfangen?« Ohne Pause gab Stokes selbst die Antwort. »Hurenhaus. Schiffsjunge. Kaminfeger. Einbrecher. Nur um das zu nennen, was auf der Hand liegt.«

Barnaby zog eine Grimasse, verschränkte die Hände über seiner Weste und richtete den Blick zur Decke. »Mit dem Hurenhaus bin ich mir nicht so sicher, dem Himmel sei Dank. Bestimmt beschränken sie sich nicht auf das East End, wenn sie solche Opfer suchen.«

»Aber wir können nicht wissen, wie weit sich die Sache schon ausgedehnt hat. Es könnte sein, dass wir nur deshalb von den Fällen im East End gehört haben, weil die Leiterin des Findelhauses dich aufgesucht hat … und das Haus meistens mit dem East End zu tun hat.«

»Stimmt.« Barnaby senkte den Blick. »Nun, was hältst du von der Geschichte?«

Stokes’ Blick verlor sich in der Ferne. Barnaby ließ es zu, dass sich das Schweigen zwischen ihnen dehnte, denn er konnte sich ohne Mühe vorstellen, womit sein Freund sich beschäftigte.

Irgendwann spielte ein Lächeln um Stokes’ dünne Lippen, und er sah aus wie ein Raubtier auf Beutezug, als er Barnaby musterte.

»Du weißt ja, dass wir gewöhnlich nicht die geringste Aussicht auf die Erlaubnis hätten, uns die Mühe zu machen … um vier bettelarme Jungen. Obwohl der mögliche Einsatz der Jungen, soweit er uns durch den Kopf gegangen ist, auf nichts Gutes schließen lässt. Sämtliche Einsätze sind höchst kriminell. Es sind Verbrechen, die unsere Aufmerksamkeit verdient haben.« Er überlegte kurz.

»Wenn ich bedenke«, meinte er dann, »welchen politischen Aufruhr dein jüngster Erfolg gegen einige kriminelle Mitglieder der gehobenen Gesellschaft verursacht hat, wenn ich außerdem bedenke, dass unsere Vorgesetzten uns ständig bedrängen, in unseren Bemühungen doch ein wenig ausgewogener zu sein, dann kommt es mir vor, als sei der Fall eine glänzende Gelegenheit zu demonstrieren, dass die Polizei es nicht nur darauf abgesehen hat, die kriminellen Machenschaften in den Salons aufzudecken, sondern ebenso darauf vorbereitet ist, die unschuldigen Menschen auf der Schattenseite des Lebens zu beschützen.«

»Du könntest auch darauf hinweisen, dass die kriminellen Machenschaften der besseren Gesellschaft sich momentan saisonbedingt auf einem Tiefpunkt bewegen.« Barnaby senkte den Kopf und fing Stokes’ Blick auf. »Nun, was glaubst du, kannst du die Erlaubnis erwirken, an diesem Fall zu arbeiten?«

Es verging ein Moment, bevor Stokes die Lippen zusammenpresste. »Ich glaube, ich kann dafür sorgen, dass der Fall ihre Vorurteile durcheinanderwirbelt. Und ihre Politik.«

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Du könntest ein paar Zeilen an deinen Vater schreiben. Nur für den Fall, dass wir Unterstützung benötigen. Davon abgesehen komme ich zurecht, glaube ich.«

»Gut.« Barnaby setzte sich auf. »Soll das heißen, dass ich auf dich zählen kann?«

Stokes ließ den Blick über den Aktenstapel an seinem Ellbogen schweifen. »Oh ja, ich bin ganz bestimmt mit von der Partie.«

Barnaby grinste und erhob sich.

Stokes schaute auf. »Es sollte mir gelingen, den Kommissar später zu erwischen. Ich werde dich benachrichtigen, sobald ich die Angelegenheit geklärt habe.« Er erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen.

Barnaby schlug ein, ließ die Hand wieder los und verabschiedete sich. »Ich überlasse dir die Überzeugungsarbeit.«

Er eilte zur Tür.

»Noch eins.«

Stokes’ Stimme ließ ihn an der Tür innehalten. Er schaute zurück.

Stokes war schon dabei, die Papiere wegzusortieren. »Du könntest die Leiterin des Findelhauses fragen, ob ihr an den Jungen irgendeine Gemeinsamkeit aufgefallen ist. Gemeinsame Eigenschaften … waren sie alle groß oder klein, dick oder dünn? Stammten sie aus ordentlichem Hause oder direkt vom Bodensatz der Gesellschaft? Das könnte uns den Schlüssel dazu liefern, was mit ihnen angestellt werden soll, wer auch immer sie entführt hat.«

»Gute Idee. Ich werde sie fragen.« Barnaby grüßte und verschwand.

Er hatte gesagt, dass er sie fragen wolle, aber er brauchte sie nicht an diesem Tag zu fragen.

Es war nicht notwendig, dass er noch am Nachmittag ins Findelhaus zurückkehrte und Penelope Ashford aushorchte. Schließlich hatte sie erklärt, dass sie sich gewöhnlich vormittags in der Einrichtung aufhielt. Selbst wenn er sie ausfindig machen konnte, wo auch immer sie stecken mochte, würde sie ihm nicht die Akten zur Durchsicht überlassen.

Allerdings hatte er sie so kennengelernt, dass sie in der Lage sein würde, Stokes’ Fragen zu beantworten, ohne einen Blick in die Akten werfen zu müssen.

Auf den Stufen des Gebäudes, in dem sich Stokes’ Büro befand, hielt Barnaby inne. Die Hände hatte er in den Taschen seines Übermantels vergraben, der ihn gegen die frische Brise schützte; er betrachtete das Gebäude auf der anderen Straßenseite, während er ergebnislos darüber nachdachte, ob es Sinn machte, Penelope Ashford vielleicht doch aufzusuchen.

Wenn ich ihr nachjage, glaubt sie bestimmt, ich würde ihre Fähigkeiten anzweifeln, grübelte er.

Barnaby fühlte sich bestätigt, schritt lächelnd die restlichen Stufen hinunter und machte sich auf den Weg in die Mount Street.

Mithilfe eines Straßenkehrers machte er das Haus der Calvertons aus und ließ den Türklopfer auf das Holz sausen. Ein paar Sekunden verstrichen, bevor ein beeindruckender Butler öffnete, die Brauen hochzog und ihn gebieterisch musterte.

Barnaby lächelte ungezwungen und charmant. »Ist Miss Ashford zu sprechen?«

»Bedaure, Sir, Miss Ashford hält sich zurzeit nicht im Hause auf. Darf ich ausrichten, wer sie zu sehen wünscht?«

Barnabys Lächeln verflüchtigte sich, er senkte den Blick und dachte nach, ob er eine Nachricht hinterlassen sollte. Wenn er nur vorhersagen könnte, wie Penelope reagieren würde …

»Mr. Adair, nicht wahr?«

Er schaute den Butler an, dessen Miene nach wie vor vollkommen ausdruckslos blieb. »Ja.«

»Für den Fall, dass Sie vorsprechen sollten, hat Miss Ashford mich beauftragt, Ihnen auszurichten, dass sie Lady Calverton auf ihrem Nachmittagsspaziergang zu begleiten hätte. In dieser Angelegenheit ist sie zur üblichen Stunde in den Park gegangen.«

Barnaby verkniff sich ein Lächeln. Der Park. Zur üblichen Stunde. Zeit und Ort in einer Kombination, die er gewöhnlich zu meiden pflegte. »Vielen Dank.« Er ging die Treppe hinunter, zögerte auf dem Fußweg und wandte sich nach Westen.

Und schlenderte in Richtung Hyde Park.

Es war November. Der Himmel war wolkenverhangen, die Brise frisch. Der größte Teil der Horde aus den glitzernden Ballsälen der gehobenen Stände hatte sich bereits auf das Land zurückgezogen. Nur wer an den Schaltstellen der Macht saß, war geblieben, denn das Parlament tagte noch. Bald würde es so weit sein, und dann wären sämtliche Salons in London leer und verwaist. Selbst jetzt konnte man schon sehen, dass die Anzahl der Kutschen in der Avenue deutlich ausgedünnt war.

Es würde nicht viele Witwen und Hausdamen geben, ganz zu schweigen von all den süßen jungen Ladys, die sich ratlos fragten, warum er die feste Absicht hatte, ausgerechnet mit Penelope Ashford zu sprechen.

Er überquerte die Park Lane, schritt durch das Tor und ging weiter, nahm die Abkürzung über den Rasen zu der Stelle, wo die Kutschen der Ladys aus den besten Kreisen sich zu sammeln pflegten.

Seine Einschätzung der Menschen, die den Hyde Park bevölkerten, erwies sich sowohl als richtig als auch als falsch. Die geschwätzigen Hausdamen und kichernden Mädchen waren dankenswerterweise abwesend; die Witwen und deren Gesellschafterinnen dagegen, deren stechenden scharfäugigen Blicken nichts entging, waren unübersehbar. Den Verbindungen seiner Mutter und der Berühmtheit seines Vaters hatte er es zu verdanken, dass er auf Anhieb erkannt wurde – und dass all jene sich sofort für ihn interessierten.

Die Kutsche der Calvertons stand auf dem Seitenstreifen ungefähr in der Mitte der Wagenreihe, was ihm die Blicke mindestens der Hälfte der versammelten Ladys sicherte, während er am Rande der Reihe vorbeispazierte. Lady Calverton war in eine ernste Unterhaltung mit zwei Damen vertieft; Penelope hielt sich sichtlich gelangweilt neben ihr.

Lady Calverton entdeckte ihn zuerst, lächelte, als er sich dem Wagen näherte. Penelope schaute ebenfalls in seine Richtung, straffte dann den Rücken, während die typische innere Lebhaftigkeit ihr ganzes Gesicht strahlen ließ.

»Mr. Adair.« Lady Calverton streckte ihm die Hand entgegen. Er ergriff ihre behandschuhte Hand und beugte sich vor. »Lady Calverton.«

Penelopes Augen glänzten hinter der goldumrandeten Brille. Er begegnete ihrem Blick und neigte höflich den Kopf. »Miss Ashford.«

Sie lächelte ungezwungen, denn weder Portia noch ihr mangelte es an gepflegten Umgangsformen. »Mr. Adair unterstützt mich bei Ermittlungen über den Hintergrund einiger unserer Mündel«, erklärte sie ihrer Mutter und wandte dann den Blick auf Barnaby.

»Ich wage die Vermutung, dass Sie weitere Fragen haben, Sir.«

»In der Tat.« Auch er beherrschte den spielerischen Plauderton der Gesellschaft und ließ den Blick über den benachbarten Rasen schweifen. »Vielleicht können wir ein paar Schritte spazieren gehen, während wir uns unterhalten, Miss Ashford?«

Sie lächelte zustimmend. »Eine ausgezeichnete Idee«, meinte sie und drehte sich wieder zu ihrer Mutter. »Ich bezweifle, dass wir lange fort sein werden.«

Er schwang die Kutschentür auf und bot ihr die Hand, die sie ergriff, um aus dem Wagen zu klettern. Draußen ließ sie ihn los, schüttelte ihre Röcke zurecht und schien gelinde überrascht, als er ihr den Arm bot.

Penelope nahm das Angebot an, legte ihre Hand zögernd auf seinen Ärmel; er hatte den Eindruck, als würde sie ihn nur sehr vorsichtig, beinahe misstrauisch berühren.

Interessant. Er zweifelte, dass sie sich mit Rücksicht auf die Gesellschaft so verhalten musste. Oder wegen jemand anderem. Dennoch spürte er, dass es nur daran lag – und vielleicht an ihrem Bedürfnis, die Lage jederzeit im Griff zu haben –, als sie sich von der Kutsche und den anderen Spaziergängern entfernten und sie fortfuhr: »Ich nehme an, dass Sie mit Ihrem Freund Inspektor Stokes gesprochen haben. Können Sie mit Neuigkeiten aufwarten?«

»Über die Tatsache hinaus, dass Stokes geneigt ist, sich mit Ermittlungen über das Verschwinden von vier Jungen zu vergnügen?«

Sie warf ihm einen erfreuten Blick zu. »Sie konnten ihn überzeugen, sich des Falles anzunehmen?«

Die Versuchung war groß. Aber höchstwahrscheinlich würde sie Stokes früher oder später über den Weg laufen. »Nein, weniger überzeugt als ihn unterstützt, seine eigenen Gründe zu finden, warum er es tun sollte. Persönlich war er nur zu bereit, aber bei der Polizei gelten andere Prioritäten. In diesem Fall war Stokes der Meinung, dem Kommissar Argumente liefern zu können, sich der Sache annehmen zu dürfen.« Er begegnete ihrem Blick. »Noch hat er nicht die Erlaubnis erhalten, den Fall auf seine Liste zu setzen, aber er ist voller Hoffnung.«

Penelope nickte und schaute wieder nach vorn. Es übertraf ihre Erwartungen bei Weitem, von der Polizei unterstützt zu werden. Es war eindeutig richtig gewesen, Barnaby Adair aufzusuchen, selbst wenn sie noch nicht wusste, wie sie ihre kribbelnden Nerven beruhigen sollte, wenn sie in seiner Nähe war. »Sie haben Stokes als Freund bezeichnet. Seit wann kennen Sie ihn schon?«

»Seit einigen Jahren.«

»Wie haben Sie sich kennengelernt?« Sie suchte seinen Blick.

»Nun … der Sohn eines Earls und ein Polizist. Es muss einen Vorfall gegeben haben, der ihn in Ihre Umlaufbahn geschleudert hat. Oder lag es an Ihren eigenen Ermittlungen?«

Er zögerte, als ob er in seiner Erinnerung kramte. »Beides«, gestand er schließlich ein, »ich hielt mich am Tatort auf … es handelte sich um eine Serie von Diebstählen während einer Party in einem Landhaus … und er wurde als Ermittler geschickt. Ich war ein enger Freund des Gentlemans, auf den der stärkste Verdacht fiel. Sowohl Stokes als auch ich fühlten uns, jeder in anderer Hinsicht, der Sache nicht gewachsen. Aber wir haben bemerkt, dass wir gut zusammenarbeiten können. Ich kenne mich in der feinen Gesellschaft aus, und er weiß, wie Verbrecher handeln; es hat sich als nützlich erwiesen, unsere Kenntnisse zu kombinieren, um den Fall aufzuklären.«

»Stokes hat Simon und Portia zutiefst beeindruckt. Nach den Vorfällen auf Glossup Hall haben sie ihn in den höchsten Tönen gelobt.«

Adair lächelte, als ob ihre Worte ihn berührten. Noch bevor er ihr antwortete, spürte Penelope, dass er sich geschmeichelt fühlte und auf seinen Freund stolz war. »Das war der erste große Mordfall, den Stokes ausschließlich in der feinen Gesellschaft zu ermitteln hatte. Er hat seine Sache gut gemacht.«

»Wie kam es, dass Sie ihn nicht nach Devon begleitet haben? Ermitteln Sie in den Salons nicht immer gemeinsam?«, erkundigte Penelope sich interessiert.

»Doch, gewöhnlich arbeiten wir zusammen. So geht es schneller, und die Ergebnisse sind zuverlässiger. Aber als der Bericht aus Glossup Hall eintraf, steckten wir mitten in einem langwierigen Fall, der die Salons hier in London betraf. Der Kommissar und Mitglieder der Regierung haben Stokes ausgewählt, nach Devon zu gehen, und mir die Ermittlungen hier überlassen.«

Sie hatte von dem nachfolgenden Skandal gehört; natürlich hatte sie ihre Fragen, die sie prompt stellte. Aus ihren Fragen, die sie überdies noch kurz und knapp vorzubringen wusste, sprach so tiefe Einsicht, dass er sie bereitwillig beantwortete, verführt von einem aufmerksamen und verständnisvollen Geist. Bis das Tor des Parks vor ihnen auftauchte. Er blinzelte, schaute sich um und bemerkte, dass sie sich mehr oder weniger zielstrebig von der Avenue entfernten.

Penelope hatte ihn so sehr mit ihrem Verhör abgelenkt, dass er noch nicht einmal dazu gekommen war, ihr die dringlichen Fragen zu stellen, um derentwillen er sie überhaupt nur im Park aufgesucht hatte. Er blieb stehen und drehte sich mit ihr um. »Wir sollten zu Ihrer Mutter zurückkehren.«

Penelope zuckte die Schultern. »Es wird sie nicht kümmern, dass ich länger fortbleibe. Sie weiß, dass wir uns über ernste Angelegenheiten unterhalten.«

Aber die anderen Damen nicht. Er verkniff sich seine Bemerkung und beschleunigte den Schritt.

»Nun, welche Fragen hat Stokes aufgeworfen?«, wollte Penelope wissen. »Ich nehme an, es gab einige.«

»In der Tat. Er hat danach gefragt, ob die vermissten Jungen irgendwelche Gemeinsamkeiten aufwiesen.« Er verzichtete darauf, ihr Beispiele zu nennen, weil er ihre Antwort nicht beeinflussen wollte.

Nachdenklich verzog sie das Gesicht, und wieder formten die dunklen Brauen eine Linie über ihrer Nase. Während sie überlegte, eilten sie mit schnellem Schritt zurück zur Kutsche. »Alle vier sind eher dünn und schlank«, meinte sie schließlich, »aber trotzdem gesund und stark. Drahtig, wenn Sie so wollen. Und ich empfand alle vier als bemerkenswert flink und geschickt. Aber sie sind unterschiedlich groß. In der Tat, ich kann mich nicht erinnern, dass sie sonst noch Gemeinsamkeiten gehabt hätten. Sie waren noch nicht einmal gleich alt.«

Jetzt war es an ihm, das Gesicht zu verziehen. Es dauerte einen Moment, bis er das Wort ergriff. »Wie groß war der Größte?«

Sie hob die Hand bis an ihr Ohr. »Dick war ungefähr so groß. Aber Ben, der als Zweiter verschwunden ist, war mehr als einen Kopf kleiner.«

»Welchen Eindruck haben sie ganz allgemein gemacht … waren es attraktive Kinder, oder …«

Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Schlicht und vollkommen unauffällig. Selbst wenn man sie elegant angezogen hätte, hätte niemand sie eines zweiten Blickes gewürdigt.«

»Blond oder braun?«

»Beides, in verschiedenen Schattierungen.«

»Flink und geschickt, sagten Sie. Meinten Sie körperlich oder geistig?«

Wieder zog sie die Brauen hoch. »Im Grunde genommen beides. Ich hatte mich darauf gefreut, die vier Jungen zu unterrichten. Alle vier waren ziemlich helle.«

»Und ihr Hintergrund? Stammen sie alle aus armen Häusern, nur diese vier eben aus stabileren Familien? Vermutlich konnten sie sich besser benehmen, waren leichter zu unterrichten, leichter zu führen, nicht wahr?«

Sie schürzte die Lippen, schüttelte wieder den Kopf. »Nein. Ihre Familien waren nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt, obwohl die vier schwere Zeiten durchgemacht hatten, selbst für die elenden Verhältnisse im East End. Aus diesem Grund waren die Jungen für uns prädestiniert. Ich kann nur beteuern, dass es in den vier Familien nicht den geringsten Hinweis auf verbrecherische Machenschaften gegeben hat.«

Er nickte, richtete den Blick nach vorn – wo ihre Mutter in der Kutsche wartete und ausgesprochen aufdringlich in ihre Richtung starrte.

Penelope hatte es nicht bemerkt, denn sie musterte eifrig sein Gesicht. »Was hat das zu bedeuten? Was sagt es Ihnen, wenn Sie wissen, wie die vier ausgesehen haben? Wie kann es uns helfen?«

Barnaby ließ den Blick über die aufgereihten Kutschen schweifen und fluchte innerlich. Wie lange waren sie fort gewesen? Niemals hätte er es zulassen dürfen, dass sie ihn mit ihren Fragen ablenkte. Zahllose Witwen starrten ihn an, einige hatten sogar die Lorgnette an die Augen gehoben. »Ich weiß es nicht.« Aber ich habe meine Vermutungen. »Ich werde Stokes berichten, was Sie mir erzählt haben, und mir anhören, was er dazu meint. Er ist mit jener Welt vertrauter als ich.«

»Ja, bitte machen Sie das.« Neben dem Kutschenschlag blieb Penelope stehen. »Sie werden mich über seine Einschätzung auf dem Laufenden halten, nicht wahr?«

Adair senkte den Kopf, hielt aber ihren Blick fest. »Selbstverständlich.«

Sie kniff die Augen zusammen, achtete nicht auf all die neugierigen Blicke, die so eifrig auf sie gerichtet waren. »So bald wie möglich.«

Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

Ungeachtet dessen, ob sie sich besitzergreifend verhielt oder nicht, verstärkte sie den Griff um seinen Arm und bereitete sich offenbar darauf vor, sich an ihm festzuklammern, falls er es wagen sollte, sie ohne sein Versprechen zu verabschieden …

»Wie Sie wünschen«, sicherte er ihr kurz und bündig zu. Der Blick aus seinen blauen Augen glitzerte hart wie Stahl.

Sie lächelte und ließ ihn los. »Vielen Dank. Auf ein baldiges Wiedersehen.«

Barnaby hielt ihren Blick einen Moment lang fest, bevor er nickte. »In der Tat. Bis dann.«

Er klang, als wolle er sie eindringlich warnen; aber es interessierte sie nicht. Schließlich hatte sie sich durchgesetzt.

Er half ihr in die Kutsche, verabschiedete sich von ihrer Mutter, nickte noch einmal kurz und eilte davon. In Richtung Scotland Yard, wie sie bemerkte, wo Sir Robert Peels Polizeitruppe ihr Hauptquartier eingerichtet hatte. Sie lächelte zufrieden, als sie sich in die Polster zurücklehnte. Denn trotz des Aufruhrs ihrer Nerven hatte sie die Begegnung recht gut über die Bühne gebracht.

Als Barnaby das Büro betrat, stand Stokes hinter seinem Schreibtisch und räumte auf, bevor er das Büro verlassen wollte. Stokes schaute auf, musterte seinen Freund. »Was ist los?«

Penelope Ashford entwickelt sich zum Problem. Barnaby sog die Luft beherrscht ein. »Ich habe Miss Ashford nach den vier Jungen befragt.«

Stokes zog die Brauen hoch. »Miss Ashford?«

»Penelope Ashford, Portias Schwester, derzeitige Leiterin des Findelhauses. Sie meinte, alle Jungen wären dünn, drahtig, flink und schnell gewesen. Sowohl körperlich als auch geistig. Sie hält sie für klüger als den Durchschnitt. Davon abgesehen, sind sie zwischen sieben und zehn Jahren alt, von verschiedener Größe, vollkommen reizlos. Darüber hinaus lassen sich keinerlei Gemeinsamkeiten feststellen.«

»Verstehe.« Stokes kniff die Augen zusammen und ließ sich auf den Stuhl fallen. Er wartete, bis Barnaby sich auf den Stuhl gegenüber gesetzt hatte, bevor er fortfuhr. »Klingt so, als könnten wir sämtliche Spielarten des Menschenhandels von unserer Liste streichen.«

Barnaby nickte. »Und zumindest einer der Jungen scheint viel zu groß zu sein, um sich als Kaminfeger nützlich machen zu können. Das können wir also auch streichen.«

»Vor einer Stunde bin ich Rowland von der Wasserpolizei begegnet. Er war zu einer Besprechung hier. Ich habe ihn gefragt, ob ein Mangel an Schiffsjungen zu verzeichnen ist. Aber offenbar ist genau das Gegenteil der Fall. Es gibt also keinen Grund zu der Annahme, dass die Burschen zum Dienst auf See gepresst werden.«

Barnaby fing Stokes’ Blick auf. »Nun, was heißt das für uns?« Stokes dachte nach, hob dann die Brauen. »Einbruch. Höchstwahrscheinlich wird man sie zum Einbruch zwingen – dünn, drahtig, flink und schnell, wie sie sind. Ihre Unscheinbarkeit ist ein zusätzlicher Vorteil. Sie würden sich keine hübschen oder irgendwie auffälligen Jungen aussuchen. Und in jenem Teil der Stadt …« Stokes unterbrach sich, fuhr nach einer Weile fort: »In den vergangenen Jahren hat man sich immer wieder Märchen erzählt … die nur zu wahr sind, wenn man es recht bedenkt … von Einbrecherschulen, regelrechten Lehranstalten für künftige Einbrecher, wenn man es so nennen will, die im tiefsten East End betrieben werden. Die Gegend ist vollkommen überfüllt. In manchen Straßenzügen herrscht ein Gemenge von Wohnungen und Lagerhäusern, in das noch nicht einmal die örtliche Polizei gern einen Fuß setzt. Diese Lehranstalten werden aufgebaut und verschwinden bald wieder. Sie bleiben niemals lange, aber es sind immer dieselben Leute, die dahinterstecken.«

»Bevor die Polizei sie auffliegen lassen kann, haben sie bereits die Zelte abgebrochen?«

Stokes nickte. »Gewöhnlich ist es nicht möglich zu beweisen, dass die Eigentümer solcher Anstalten in irgendein nennenswertes Verbrechen verstrickt sind, irgendeines, mit dem wir sie vor Gericht zerren könnten. Deshalb …« Er zuckte die Schultern. »Im Großen und Ganzen schenkt man ihnen keine Beachtung.«

Barnaby runzelte die Stirn. »Und was wird in diesen Schulen gelehrt? Was muss den Jungen beigebracht werden, wenn sie als Einbrecher arbeiten sollen?«

»Früher haben wir angenommen, dass sie als Spähposten eingesetzt werden. Vielleicht stimmt das sogar, wenn der Einbruch in einer weniger wohlhabenden Nachbarschaft stattfinden soll. Aber der echte Nutzen der Jungen als Einbrecher liegt in Diebstählen aus reichen Häusern, besonders aus herrschaftlichen Anwesen. Es ist nicht so leicht, in die Häuser in Mayfair einzudringen. Die Fenster im Erdgeschoss sind meistens verriegelt, oder sie sind zu schmal, jedenfalls für einen Mann. Aber junge, dünne Burschen können sich oft hindurchzwängen. Normalerweise sind es diese Jungen, die das Diebesgut an sich nehmen und dann an den Haupttäter weitergeben. Zu diesem Zweck müssen die Jungen geschult werden, um sich lautlos durch die Dunkelheit schleichen zu können, auf poliertem Holz und Bodenfliesen, um Möbel herum. Man bringt ihnen bei, wie der Grundriss eines herrschaftlichen Anwesens gewöhnlich aussieht, wohin sie gehen und was sie vermeiden sollen – und wo sich verstecken, falls sie den Haushalt aufwecken. Sie lernen, wie man wertvolles Diebesgut von wertlosem Schrott unterscheidet, wie man ein Gemälde aus seinem Rahmen löst, wie man Schlösser aufbricht. Einige lernen sogar, wie man einen Tresor knackt.«

Barnaby zog eine Grimasse. »Und wenn etwas schiefgeht …«

»Werden die Burschen geschnappt, nicht der Anstifter. Stimmt genau.«

Barnaby starrte auf das Fenster hinter Stokes. »Dann sieht die Sache also so aus, dass wir mit einer Lehranstalt rechnen müssen, die die Burschen ausbildet, in herrschaftliche Anwesen einzusteigen …« Er brach ab und suchte den Blick seines Freundes. »Natürlich! Sie bereiten sich auf eine Einbruchsserie während der Ballsaison vor. Die Zeit, in der die Gesellschaft größtenteils nicht in ihren Anwesen residiert.«

Stokes dachte nach. »Aber die meisten Ladys nehmen ihre Juwelen mit aufs Land …«

»In der Tat.« Barnabys aufkeimende Begeisterung ließ nicht nach. »Aber diese Kerle, wer auch immer dahinterstecken mag, haben es nicht auf Schmuck abgesehen. Die Gesellschaft packt nur den Schmuck, die Kleidung und die Angestellten ein … den gesamten Zierrat, der oft überaus kostbar ist, lässt sie zurück. Diese Dinge verbleiben im Haus, meistens mit ein paar wenigen Angestellten. Es gibt Anwesen, die nur einer einzigen Aufsicht überlassen sind.«

Barnabys Begeisterung hatte Stokes angesteckt. Sein Blick schweifte nachdenklich ab und fixierte dann seinen Freund. »Wir überschlagen uns förmlich. Aber lass uns einen Moment annehmen, dass wir recht haben. Warum vier? Warum werden innerhalb weniger Wochen vier Jungen entführt, um sie ausbilden zu lassen?«

Barnaby grinste gefährlich. »Weil diese Gruppe mit ihren Einbrüchen in Serie gehen will. Oder weil es mehrere Kriminelle gibt, die in den nächsten Monaten zur Tat schreiten wollen.«

»Während die feine Gesellschaft sich nicht in London aufhält.« Seine Miene verhärtete sich. »Es könnte sich lohnen. Es könnte den Aufwand lohnen, vier geeignete Jungen … unter Umständen sogar mehr … ausfindig zu machen und deren Entführung zu organisieren.«

Eine Weile hingen die beiden Männer ihren eigenen Gedanken nach, bis Barnaby das Schweigen brach. »Es könnte sogar eine große Sache sein. Viel größer, als sie im Moment scheinen mag.«

Stokes nickte. »Vorhin habe ich mit dem Kommissar gesprochen. Er hat mich von anderen Aufgaben freigestellt, um die Ermittlungen angemessen führen zu können.« Stokes lächelte düster. »Morgen werde ich wieder mit ihm sprechen und ihn darüber informieren, zu welchem Schluss wir heute gekommen sind. Ich glaube, ich kann jetzt schon garantieren, dass ich danach freie Hand haben werde.«

Barnaby lächelte sarkastisch. »Nun, wie sieht unser nächster Schritt aus? Machen wir uns auf die Suche nach dieser Anstalt?«

»Sie befindet sich höchstwahrscheinlich im East End, nicht weit entfernt vom Wohnort der Jungen. Du meintest, es sei unwahrscheinlich, dass die Angestellten des Findelhauses die Burschen als zukünftige Schüler erwähnt hätten. Wenn es sich so verhält, dann gibt es nur eine Erklärung dafür, wie unser Lehrmeister von den vieren erfahren hat. Und mehr noch, dass er wusste, wann und wohin er einen Mann schicken musste, um sie abzuholen: Er und seine Leute stammen selbst aus dem East End.«

»Die Nachbarn waren sich sicher, dass der Mann aus dem East End kam, aber auch, dass er nicht mehr war als ein Laufbursche. Jemand, den man geschult hatte, so zu sprechen, dass er die Leute überzeugen konnte, ihm die Waisen zu übergeben.«

Barnaby verzog das Gesicht. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich mich im East End auf die Suche nach einer Lehranstalt für Einbrecher machen soll. Oder nach sonst irgendetwas, wenn wir schon dabei sind.«

»In der Tat, es ist nicht einfach, im East End etwas zu finden.

Ich bin mit der Gegend genauso wenig vertraut wie du.«

»Und die örtlichen Polizeikräfte?«, schlug Barnaby vor.

Autor

Stephanie Laurens
Stephanie Laurens wurde in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
Mehr erfahren
Stephanie Laurens
Stephanie Laurens wurde in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
Mehr erfahren