Wenn ein Gentleman in Liebe entbrennt

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»Er ist der erfahrenste und vertrauenswürdigste Finanzverwalter Londons«. So nennt die Times Heathcote Montague. Den Gentleman, dem die Oberschicht Englands ihr Vermögen anvertraut. All seine Leidenschaft gehört den Zahlen, aber immer häufiger verspürt Heathcote, eine unbekannte Sehnsucht in sich. Und diese wächst, als ihn Miss Violet Matcham im Auftrag von Lady Halstead aufsucht. Doch bevor er seinen Gefühlen weiter auf den Grund gehen kann, wird Lady Halstead tot aufgefunden. Er und Violet befinden sich plötzlich inmitten eines Mordfalls an der Seite des respektablen Barnaby Adair und von Inspector Stokes …


  • Erscheinungstag 18.02.2020
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750492
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

 Prolog 

London, Oktober 1837

»Vor meinem Tod wüsste ich gern noch ein paar Dinge geregelt«, bemerkte Lady Agatha Halstead und bekam diesen gewissen entschlossenen Zug um den Mund.

Violet Matcham, die ihrer Ladyschaft gerade noch ein weiteres Kissen in den Rücken geschoben hatte, richtete sich auf und legte beruhigend ihre Hand auf die der alten Dame. »Aber was reden Sie denn da? Sie sind das blühende Leben – der Doktor hat es gestern erst gesagt.«

Es war früher Vormittag, die schweren Vorhänge waren zurückgezogen, und eine blasse Herbstsonne schien in das geräumige Schlafgemach, die Lady Halsteads dünne altersfleckige Haut, das schütter gewordene silbrige Haar und die einst blitzblauen, nun jedoch milchig getrübten Augen in ein schmeichelndes Licht tauchte.

»Was weiß der denn schon?«, seufzte Lady Halstead. »Diese jungen Männer glauben, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen. Aber ich bin alt, Violet, Liebes, ich spüre, wie mir der kalte Hauch des Todes in die Knochen kriecht.« Sie ließ sich zurück in die Kissen sinken und schaute zur Decke hinauf. »Früher hielt ich es für Überspanntheit, wenn ich jemanden so reden hörte, aber jetzt verstehe ich, was gemeint ist – ich spüre es auch.« Ohne den Kopf zu bewegen, richtete sie ihren Blick auf Violet und drückte kurz und kraftlos ihre Hand. »Die meisten meiner Freunde sind längst von mir gegangen, und es ist bald ein Jahrzehnt her, dass Sir Hugo, Gott hab ihn selig, mich verlassen hat. Bald werde ich wieder bei ihm sein, und ich bin bereit, meine Liebe – aber erst will ich dafür sorgen, dass alles in seinem Sinne seine Ordnung hat und seinem letzten Wunsch Genüge getan wird.«

Da sie einsah, dass es wenig Sinn hätte, Lady Halstead ihren düsteren Gemütszustand auszureden – denn tatsächlich wirkte die alte Dame, wenn auch ernst, so doch ruhig und gefasst und so klar bei Verstand wie eh und je –, erkundigte sich Violet: »Worum hat Sir Hugo Sie denn gebeten?«

Sie hatte ihre Stellung als Gesellschaftsdame ihrer Ladyschaft erst angetreten, als Sir Hugo bereits verstorben war. Deshalb hatte sie den guten Mann nie kennengelernt, aber aus den Erzählungen Lady Halsteads so viel über ihn erfahren, dass sie manchmal meinte, ihn tatsächlich gekannt zu haben. Zwar nicht persönlich, so doch immerhin gut genug, dass sie nicht fürchten musste, auf ihre Frage irgendeine belanglose Antwort zu bekommen, denn Sir Hugo schien nicht nur ein mustergültiger Gatte, sondern in jeder Hinsicht ohne Fehl und Tadel gewesen zu sein. So war es denn auch.

»Sir Hugo hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich, wenn meine Zeit käme, all meine Angelegenheiten in Ordnung bringen würde – sowohl meine persönlichen Belange als auch den Besitz der Familie. So etwas war ihm immer wichtig.«

Und Sie, dachte Violet, ehren sein Andenken, weshalb es Ihnen ebenso wichtig ist, seinem Wunsch zu entsprechen. Sie kannte das, denn auch Lady Ogilvie, bei der sie zuvor gearbeitet hatte, war ihrem verstorbenen Gatten bis über den Tod hinaus verbunden gewesen.

Lady Halstead reckte den Kopf und setzte sich etwas weiter auf. Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme kräftiger als zuvor. »Auch wenn es mir gerade vergleichsweise gut gehen mag, spüre ich mein Ende doch nahen, weshalb ich sicherstellen will, dass mit meinem Testament und den Besitzverhältnissen alles seine Ordnung hat.«

Sir Hugo hatte sein Vermögen in Indien gemacht und war bei seiner Rückkehr für seine auf dem Subkontinent geleisteten Dienste für die Krone in den Ritterstand erhoben worden. Fortan zählten die Halsteads zu jener gesellschaftlichen Schicht, die irgendwo zwischen gehobenem Landadel und niederer Aristokratie rangierte, und sie konnten sich eines komfortablen Wohlstands erfreuen, wofür auch ihr Stadthaus in der Lowndes Street stand: Die Adresse war respektabel und die Nachbarschaft von gediegenem Reichtum. Lady Halsteads Schlafzimmer, in dem das große, moderne Bett zu den Damastvorhängen, den Überwürfen und Polsterbezügen passte und die hochwertigen Möbel einen sanften, fein polierten Schimmer hatten, zeugte gleichfalls vom gesellschaftlichen Rang der Familie.

Auch wenn sie mit den Einzelheiten der Halstead’schen Besitzverhältnisse nicht vertraut war, so meinte Violet doch zu wissen, dass Sir Hugo sein Vermögen Lady Halstead zur Nutzung auf Lebenszeit vermacht hatte; nach ihrem Tod sollte der Besitz gemäß den in seinem Testament getroffenen Verfügungen dann unter den vier Kindern der Halsteads aufgeteilt werden. Seine Bitte und Lady Halsteads Wunsch, diesbezüglich nach dem Rechten zu sehen, schien ihr durchaus verständlich.

Violet nickte. »Gut. Sagen Sie mir einfach, was ich tun soll.«

Obwohl wie stets klar im Kopf und bisweilen von erstaunlich scharfem Verstand war Lady Halstead in letzter Zeit doch immer gebrechlicher geworden und verbrachte mittlerweile den Großteil ihrer Tage im Bett. Die Treppen bewältigte sie nur noch mit erheblicher Mühe und nach Möglichkeit auch nur dann, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Violet führte den kleinen Haushalt in der Lowndes Street mit routinierter Hand, und da es nur sie und Lady Halstead gab sowie Tilly, die Zofe ihrer Ladyschaft, sowie die Köchin, war es keine allzu schwere Aufgabe, zumal die vier Frauen gut miteinander auskamen. Violets Jahre bei Lady Halstead waren friedlich und sorglos gewesen, ein ruhiges, gleichförmiges Dasein, das ihr nicht allzu viel abverlangte.

Seufzend ließ sich Lady Halstead in die Kissen zurücksinken. »Leider ist der alte Runcorn ja letztes Jahr gestorben, weshalb wir wohl oder übel mit seinem Sohn vorliebnehmen müssen.« Sie runzelte die Stirn. »Vermutlich sollte ich mir langsam ein Bild davon machen, ob der Junge seiner Aufgabe gewachsen ist.«

Der verstorbene Arthur Runcorn war der langjährige Vermögensverwalter der Halsteads gewesen. Andrew Runcorn – seinem Sohn, dem Jungen – war Violet erst einmal begegnet, als er mit irgendeinem Schreiben vorstellig geworden war, für das er die Unterschrift ihrer Ladyschaft brauchte. Obgleich sie ihn jünger schätzte als sich selbst mit ihren vierunddreißig Jahren, hatte Runcorn junior bei Violet einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Er schien ein ernsthafter junger Mann zu sein, ehrlich und aufrichtig und durchaus beflissen, aber ob er dazu befähigt war, die Familienfinanzen zu verwalten, konnte sie natürlich nicht beurteilen. Sie trat an die Kommode, in der Lady Halstead ihre Schreibutensilien aufbewahrte, und hob das kleine Reisepult aus der untersten Schublade heraus. »Wann möchten Sie ihn sprechen?«

»Morgen.« Als Violet sich mit der Schatulle unter dem Arm wieder aufrichtete, nickte Lady Halstead nachdrücklich. »Schreiben Sie ihm, dass ich ihn morgen Vormittag zu sprechen wünsche. Er möge bitte eine Aufstellung sämtlicher Vermögenswerte und Anlagen mitbringen, damit ich mir einen genauen und vollständigen Überblick verschaffen kann.«

Violet trug das Pult zu dem kleinen Tisch, der vor dem Sessel auf der anderen Seite des Bettes stand. Nachdem sie Papier, Tinte und Feder bereitgelegt hatte, sah sie ihre Ladyschaft fragend an. »Möchten Sie diktieren?«

Lady Halstead tat den Vorschlag mit einem Lächeln ab. »Ach was, Sie können das doch viel besser formulieren als ich.«

Violet erwiderte das Lächeln, griff zur Feder und machte sich an die Arbeit.

Lady Halsteads Stirnrunzeln vertiefte sich von Minute zu Minute.

Sie hatten sich unten im Wohnzimmer zusammengefunden, und Violet, die rechts neben ihrer Ladyschaft saß, fragte sich, was an Andrew Runcorns Aufstellung nicht stimmen mochte.

Der junge Mann hatte umgehend auf die kurze Nachricht reagiert, die Violet ihm gestern hatte zukommen lassen, und war heute wie erbeten um Punkt elf Uhr vorstellig geworden. Von mittlerem Wuchs, mit einem runden, jungenhaften Gesicht, braunem Haar und großen braunen Augen hatte der jüngere Runcorn nichts von seinem ernsthaften Eifer verloren, der Violet noch von seinem Besuch einige Monate zuvor in Erinnerung war. Für sie zumindest hatte recht plausibel geklungen, was er kurz und bündig und mit einem für sein Alter bemerkenswerten Selbstbewusstsein über die Halstead’schen Vermögenswerte referiert hatte.

Er hatte, so fand sie, gute Arbeit geleistet, eine Einschätzung, die auch Lady Halstead zunächst zu teilen schien und mit einem wohlwollenden Nicken bedachte. Dann jedoch hatte ihre Ladyschaft darum gebeten, auch die laufenden Finanzen einsehen zu wollen – allen voran ihr Bankkonto bei Grimshaws und sonstige Einlagen.

Kerzengerade saß sie nun in ihrem Lehnstuhl und hielt, die Stirn noch immer in tiefe Falten gelegt, eines der fünf Blätter hoch, die sie vor sich auf dem Schoß ausgebreitet hatte. »Der Saldo meines Bankkontos ist nicht korrekt.«

Der junge Runcorn sah betroffen drein. »Nein?« Lady Halstead reichte ihm das Blatt, und er überflog es, warf dann einen raschen Blick zu Violet, ehe er einen vorsichtigen Einwand wagte. »Der Saldo wurde mir so von der Bank bestätigt, Mylady.«

Lady Halstead schüttelte gereizt den Kopf. »Er stimmt aber nicht, und es interessiert mich nicht, was die Bank sagt – überprüfen Sie das bitte noch einmal.«

Violet, die aus deren Tonfall schloss, dass die alte Dame tatsächlich beunruhigt war, legte sacht ihre Hand auf die ihrer Ladyschaft, die mit nervösen Fingern an der Decke herumzupfte, die über ihre Beine gebreitet war. »Ist denn sonst alles so, wie Sie es erwartet hatten?«

»Jaja, sonst ist alles in Ordnung.« Ihre Finger kamen unter Violets Berührung langsam zur Ruhe, und ihre Miene entspannte sich etwas, bis sie Runcorn schließlich zugestehen konnte: »Sie haben sehr gute und soweit korrekte Arbeit geleistet, und ich habe ansonsten nichts zu beanstanden, aber dieser Kontostand kann unmöglich stimmen.«

»Vielleicht«, warf Violet ein und suchte Runcorns Blick, »könnten Sie ja noch einmal bei der Bank nachfragen, Mr. Runcorn?«

Der junge Mann verstand, was sie ihm sagen wollte; gemessen an der Gesamtheit des Halstead’schen Besitzstands sollte die Überprüfung eines abweichenden Kontostands eine Kleinigkeit sein. »Ja, natürlich. Wird sofort gemacht.« Er griff nach seiner Tasche und steckte das beanstandete Dokument ein. »Ich werde jetzt gleich auf dem Rückweg bei der Bank vorbeischauen.«

Er hätte kaum passendere Worte finden können. Lady Halstead entspannte sich und nickte gnädig. »Danke, junger Mann.«

Mit Violets Hilfe suchte Runcorn auch noch seine restlichen Unterlagen zusammen und verabschiedete sich dann in aller Form von Lady Halstead.

Violet brachte ihn noch hinaus.

Als Violet ins Wohnzimmer zurückkehrte, stellte sie erleichtert fest, dass Lady Halstead die Frage des fehlerhaften Saldos nicht mehr groß zu beschäftigen schien. Gerade so, als gehe sie ganz selbstverständlich davon aus, dass es nur die erneute Nachfrage Runcorns bei der Bank brauche, mit der sich alles zu ihrer Zufriedenheit klären würde.

Weshalb sie denn auch beide etwas erstaunt waren, als Runcorn am folgenden Nachmittag um Punkt drei Uhr die Nachricht brachte, die Bank habe alles noch einmal überprüft und die ursprünglichen Angaben bestätigt.

Lady Halstead, die es sich nicht hatte nehmen lassen, zum Lunch herunterzukommen, empfing ihn abermals in ihrem Lehnstuhl sitzend im Wohnzimmer. Als sie Runcorns Neuigkeiten hörte, wich aller Ausdruck aus ihrem Gesicht. »Das ist … seltsam. Das ist in höchstem Maße seltsam, um nicht zu sagen … beunruhigend.«

Runcorn setzte eilig zu einer Erwiderung an. »Mylady, ich versichere Ihnen, dass wir – und damit meine ich die ganze Kanzlei Runcorn & Son, für die ich mit meinem guten Namen stehe – dieses Konto nicht angerührt haben. Die Bank kann das bestätigen. Unseren Verpflichtungen getreu haben wir lediglich in regelmäßigen Abständen Auszüge angefordert, nie aber auch nur einen Penny abgehoben, das versichere ich Ihnen mit meinem …«

»Junger Mann!«, fiel Lady Halstead ihm mit der Autorität der Frau ins Wort, die selber Söhne hatte; Runcorns Beunruhigung musste sie aus ihrer Benommenheit gerissen haben. »Fassen Sie sich – und bitte, nehmen Sie doch Platz. Es macht mich ganz nervös, Sie so herumstehen zu sehen. Ich zweifle überhaupt nicht an Ihrer Integrität oder denke, dass Runcorn & Son sich an mir bereichert hat. Nein, Sir, das ist nicht das Problem – ganz im Gegenteil.«

»Ganz im … Gegenteil?« Runcorn, der sich gehorsam gesetzt hatte, sah sie mit großen Augen an.

»Allerdings. Das Problem ist nämlich nicht, dass etwas fehlt, sondern dass der Saldo höher ist, als er sein sollte – deutlich höher. Irgendjemand scheint auf dieses Konto Geld einzuzahlen, aber wer das sein könnte oder warum er es tut, ist mir schleierhaft.«

»Ah.« Runcorn schien eher erleichtert denn verwundert zu sein. »Vermutlich handelt es sich um eine alte Geldanlage, die erst jetzt anfängt, Erträge abzuwerfen – das würde es erklären. Sir Hugo könnte bereits vor Jahrzehnten in etwas investiert haben, das sich erst jetzt rechnet. Das kommt immer wieder mal vor.« Runcorn griff nach seiner Tasche, erhob und verbeugte sich. »Seien Sie versichert, Mylady, dass ich mir das Konto noch einmal vornehmen, die Zahlungseingänge genau überprüfen und zurückverfolgen werde.«

Lady Halstead runzelte die Stirn. »Vielleicht handelt es sich auch um ein Versehen. Jemand bei der Bank könnte die Konten verwechselt haben.«

Runcorn nickte. »Auch das wäre möglich. Aber in Anbetracht von Sir Hugos breit gestreutem Portfolio scheint mir die erstere Möglichkeit doch die wahrscheinlichere. Wie gesagt, ich werde sämtliche Gutschriften noch einmal genauestens unter die Lupe nehmen und entsprechende Erkundigungen einholen, und sowie ich auf die Quelle des unerwarteten Geldsegens gestoßen bin, gebe ich Ihnen Bescheid.«

Lady Halsteads Miene ließ vermuten, dass sie sich seines Erfolgs weit weniger sicher war als Runcorn, doch sie beließ es dabei und verabschiedete den jungen Mann mit einem verbindlichen Lächeln.

Als Violet, ehe sie an jenem Abend selbst zu Bett ging, noch einmal nach Lady Halstead schaute, fand sie ihre Ladyschaft in ungewohnt gereizter Stimmung vor. Seit Runcorn gegangen war, hatte ihre Unruhe stetig zugenommen.

Während sie die Bettdecke über Lady Halsteads schmächtiger Gestalt glatt strich, versuchte Violet sie mit sanften Worten zu beruhigen. »Machen Sie sich noch immer Sorgen wegen der Einzahlungen auf Ihrem Konto? Ich bin mir sicher, dass Mr. Runcorn der Sache auf den Grund gehen wird.«

Lady Halstead lehnte sich vor, damit Violet auch ihre Kissen zurechtrücken konnte, und schnaubte: »Ihre Zuversicht möchte ich haben.« Es folgte ein schwerer Seufzer. »Nein, ich will nicht ungerecht sein. Im Grunde habe ich vollstes Vertrauen in Runcorn & Son, mehr noch vermutlich als in den jungen Runcorn selbst. Und genau deshalb ist mir unbegreiflich, wie diese Zahlungen sich aus irgendwelchen alten, längst vergessenen Anlagen speisen sollten. So etwas müsste man doch bemerken! In der Vergangenheit wäre so etwas nie übersehen worden.«

Als sie sich in die frisch aufgeschüttelten Kissen zurücksinken ließ, seufzte Lady Halstead erneut und sah Violet an. »Ich mag von Geldgeschäften nicht viel verstehen, aber ich weiß, dass mit jeder Investition etliche Korrespondenz einhergeht – Urkunden, Ertragsaufstellungen, dutzendfach Belege aller Art. Hätte eine vor Jahren getätigte Anlage nun Gewinn abgeworfen, müssten Runcorn und seine Kollegen davon wissen! Man hätte sie benachrichtigt, oder sie hätten es anderweitig erfahren. Hätten wir irgendwann einmal den Verwalter gewechselt, hätte wohl etwas untergehen können, aber Runcorn & Son betreuen uns seit damals, als wir nach England zurückkehrten, und das ist jetzt bald dreißig Jahre her. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hugo jemals ohne Rat des alten Runcorn investiert hätte und deshalb …« Lady Halstead hob hilflos die Hände. »Woher kommt dieses elende Geld?«

Violet versuchte erneut, sie zu beruhigen. »Wenn Mr. Runcorn sich in ein paar Tagen meldet, werden wir wissen, was er herausgefunden hat. Bis dahin bringt es nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, würde mein Vater jetzt sagen.«

Lady Halstead verzog das Gesicht. »Der gute Herr Pfarrer, Gott hab ihn selig, war gewiss ein weiser Mann, aber die Sache mit dem Geld ist ja längst nicht alles, das mir Sorgen bereitet.«

Aus Lady Halsteads vergrämtem Blick schloss Violet, dass tatsächlich noch mehr im Argen liegen musste und die unerklärlichen Kontobewegungen nicht der alleinige Grund für die zunehmende Unruhe ihrer Ladyschaft waren. »Was war denn noch?«

Lady Halstead sah sie einen Moment schweigend an, als ringe sie mit sich, ob sie ihr anvertrauen sollte, was ihr auf der Seele brannte. Schließlich gab sie sich einen Ruck und deutete zur Kommode hinüber. »Wenn Sie mir bitte mein Pult bringen würden.«

Violet kam der Bitte nach. Als sie den Kasten neben Lady Halstead aufs Bett stellte und den Deckel öffnete, setzte die alte Dame sich auf und kramte in den Papieren herum, bis sie einen ziemlich zerknitterten Bogen zum Vorschein brachte, der in einer dicht gedrängten Schrift beschrieben war. »Der kam letzte Woche. Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll.«

Sie hielt inne und betrachtete den Brief in ihrer Hand.

Violet ließ einen Moment verstreichen, ehe sie sanft nachhakte. »Erzählen Sie es mir. Wenn es Sie besorgt, können wir vielleicht gemeinsam eine Lösung finden.«

Lady Halstead blinzelte, als sei sie in Gedanken gewesen, dann sah sie Violet an und lächelte. »Deshalb hatte ich es erwähnt – Sie lassen nie locker, bis Sie eine Lösung gefunden haben.« Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Brief, legte ihn dann wieder weg und schloss den Deckel des Pultes. »Er ist von der Pfarrersfrau, die in der Nachbarschaft von The Laurels, unserem Landsitz, lebt. Obwohl ich nach dem Tod Sir Hugos nicht mehr im Dorf war und das Haus seit Jahren unbewohnt ist, schreiben wir uns ab und an. Und nun berichtet sie mir von irgendwelchen neuen Bewohnern, die anscheinend sehr zurückgezogen leben, weshalb sie mich fragen wollte, ob wir das Anwesen vermietet hätten oder gar verkauft.« Lady Halstead sah Violet an. »Ich habe es weder vermietet noch verkauft und war bislang in dem Glauben, es stünde leer. Aber wenn es stimmt, was sie schreibt, wer lebt dann dort und was tun diese Leute in meinem Haus?«

Violet erwiderte Lady Halsteads Blick, der nun voller Sorge war, und wünschte, sie hätte der alten Dame wieder eine beruhigende Antwort geben können.

Aber sie hatte keine und wusste auch nicht, wie man eine solche finden sollte.

Am Ende nahm sie das Pult und stellte es zurück in die Kommode. Als sie sich wieder aufrichtete, kehrte sie ans Bett zurück, strich noch einmal übers Plumeau und streckte die Hand nach der Nachttischlampe aus. Ehe sie das Licht löschte, sah sie Lady Halstead an und versuchte zu lächeln. »Lassen Sie mich eine Nacht darüber schlafen, und morgen können wir dann in Ruhe besprechen, was wir in der Sache unternehmen wollen.«

Lady Halstead verzog erst den Mund, dann nickte sie. Als Violet an dem kleinen Rädchen drehte und das Licht nach und nach erlosch, schloss Lady Halstead die Augen.

Zufrieden verließ Violet das Zimmer und zog die Tür leise hinter sich zu. Während sie langsam den Flur hinab zu ihrem eigenen Zimmer ging, kreisten ihre Gedanken um das zunehmend verwirrende Rätsel, das der Nachlass von Sir Hugo Halstead ihnen aufgab.

»Ich bin zu einer Entscheidung gelangt«, verkündete Lady Halstead, kaum dass Violet in Begleitung Tillys am folgenden Morgen ihr Zimmer betrat.

Violet trat ans Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen, dann half sie Lady Halstead, sich aufzusetzen, und schob ihr die Kissen in den Rücken. »Wie schön«, meinte sie lächelnd. »Während Sie frühstücken, können Sie mir davon erzählen.«

Doch als Tilly ans Bett trat und das Frühstückstablett auf Lady Halsteads Schoß abstellte, winkte die alte Dame Violet fort. »Nein, ich will Sie nicht von Ihrem eigenen Frühstück abhalten. Sie müssen mir nämlich helfen bei dem, was ich vorhabe. Außerdem …«, Lady Halstead griff nach der Times, die Tilly ihr wie jeden Morgen gebügelt und ordentlich zusammengerollt aufs Tablett gelegt hatte, »… muss ich erst noch ein paar Nachforschungen anstellen.«

Beruhigt von der Tatkraft, die Lady Halstead ausstrahlte, gab Violet nach. »Gut, dann komme ich wieder nach oben, sowie ich gefrühstückt habe.«

»Hm.« Lady Halstead blätterte bereits die Zeitung durch, als suche sie nach etwas Bestimmtem.

Violet zog sich zurück, schloss die Tür und folgte Tilly nach unten.

Am Fuß der Treppe drehte Tilly sich nach Violet um. »Sie scheint wieder guter Dinge zu sein – kein Vergleich zu den letzten Tagen.«

Violet nickte. »Es klingt, als sei ihr eine Lösung eingefallen – oder zumindest eine Möglichkeit, an Antworten auf die Fragen zu gelangen, die sie so sehr beschäftigt haben.«

»Das ist gut. Mir gefällt es ja gar nicht, sie so beunruhigt zu sehen.«

»Nein, mir auch nicht.« Violet lächelte und folgte Tilly in die Küche. Tilly und die Köchin waren Lady Halstead ebenso treu ergeben wie Violet. Die alte Dame war der Nabel ihrer kleinen Welt – alles in diesem Haushalt drehte sich um sie –, und sie war eine gute, eine gütige Dienstherrin, der man wie von selbst Zuneigung, Loyalität und Respekt entgegenbrachte.

Eine halbe Stunde später, nachdem sie beide ihr Frühstück beendet hatten, kehrten Violet und Tilly zurück auf Lady Halsteads Zimmer. Die alte Dame schien zuversichtlich, fast ein wenig übermütig, ließ sich dann aber doch erst einmal von den beiden aufhelfen, sich beim Waschen und Ankleiden zur Hand gehen und bat Tilly, ihr Bett zu machen, ohne dass sie auch nur ein Wort über ihren neuen Plan verloren hätte.

Aber sowie Tilly mit dem Frühstückstablett das Zimmer verlassen hatte, streckte Lady Halstead sich auf dem frisch gemachten Bett aus, breitete einen Schal über ihre Beine und strahlte Violet an. »Sie glauben gar nicht, wie gut es mir geht, seit ich weiß, wie wir weiter vorgehen werden.«

Violet ließ sich mit ein paar wohlwollenden Worten in ihrem Sessel am Bett nieder und hoffte inständig, der Plan ihrer Ladyschaft möge vernünftig sein, denn sie hätte nicht gewusst, an wen sie sich um Hilfe hätte wenden sollen, falls die alte Dame sich in irgendwelche Torheiten verrannte. Wenngleich sie vier erwachsene Kinder hatte, ließ sich Lady Halstead in keinster Weise von ihnen beeinflussen, auch wenn der ein oder andere es immer mal wieder versuchte. Violet, die sämtliche Halstead-Sprösslinge fast ebenso lange kannte wie sie schon bei Lady Halstead war, fand die Haltung ihrer Ladyschaft völlig gerechtfertigt. »So«, meinte sie, »dann lassen Sie mal hören.«

»Ich bin zu dem Schluss gelangt«, fing Lady Halstead an, »dass, auch wenn man Mr. Runcorn vermutlich keine Schuld an dieser leidigen Situation geben kann, er doch recht unerfahren ist. Die Angelegenheit der auf mein Konto eingehenden Gelder und die Frage, ob und inwiefern sie etwas mit diesen Unbekannten zu tun haben, die sich angeblich auf dem Landsitz aufhalten, scheint mir so komplex zu sein, dass ich meine Zweifel habe, ob der junge Runcorn dem in vollem Maße gewachsen ist.«

Lady Halstead atmete kurz durch, ehe sie umso entschiedener fortfuhr. »Und deshalb – denn ich will, dass dieser Sache ein für alle Mal auf den Grund gegangen wird – habe ich beschlossen, den besten und erfahrensten Finanzverwalter Londons damit zu betrauen.« Lady Halstead schaute auf und sah Violet an. »Was halten Sie davon?«

Violet zögerte einen Moment. »Doch«, meinte sie dann, »ich glaube, das ist eine gute Idee.« Denn insgeheim hatte sie auch schon leise Zweifel gehabt, ob Mr. Runcorn wirklich der geeignete Mann dafür war – nicht, weil sie an seinem Können gezweifelt hätte oder ihm nicht zutraute, komplexe Zusammenhänge zu durchdringen, sondern weil er sich mit seinen jungen Jahren schwertun würde, Lady Halstead zu überzeugen. Ganz gleich, was Runcorn herausfände, Lady Halstead würde nie völlig beruhigt sein … Violet nickte. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche, einen erfahreneren Kollegen zu Rate zu ziehen. Und wenn dessen Aufgabe sich allein auf diese verworrene Angelegenheit beschränkt, können wir wohl davon ausgehen, dass Mr. Runcorn die Unterstützung gutheißen wird.«

Lady Halstead nickte. »Ganz genau, diesen Punkt habe ich auch bedacht. Im Grunde mag ich den jungen Runcorn ja und möchte ihn nicht vor den Kopf stoßen.« Sie straffte das Kinn. »Aber wie gesagt – ich brauche Gewissheit, denn sonst hätte ich immer das Gefühl, das Versprechen nicht gehalten zu haben, dass ich meinem lieben Hugo gab.«

Und dafür hatte Violet vollstes Verständnis. »Sehr gut. Wen wollen Sie denn mit der Aufgabe betrauen?«

»Das«, räumte Lady Halstead ein, »hat mir erst ziemlich Kopfzerbrechen bereitet, denn außer Runcorn & Son kenne ich niemanden auf diesem Gebiet. Aber dann …«, sie streckte die Hand nach der Zeitung aus, die aufgeschlagen auf ihrem Nachttisch lag, »… fiel mir ein, dass es im Finanzteil der Times doch diese Kolumne gibt, in der Leser Antworten auf alle Fragen der Vermögensverwaltung erhalten – so steht es hier.« Sie hielt Violet das Blatt hin und zeigte auf die entsprechende Seite.

Violet nahm die Zeitung zur Hand und überflog den Text, der nicht sehr lang war; der findige Kolumnist hatte drei Fragen ausgewählt und auf jede mit einem kurzen Absatz geantwortet. »Dann … möchten Sie an die Times schreiben und um eine Empfehlung bitten?«, vermutete Violet.

»So könnte man es sagen, ja.« Als Violet wieder aufschaute, fasste Lady Halstead sich ein Herz. »Ja, ich habe mir überlegt, mich an die Times zu wenden und zu fragen, wer der geschätzten Meinung des Kolumnisten nach der beste, erfahrenste und vertrauenswürdigste Finanzverwalter Londons ist.«

 1 

Eine Woche später

Heathcote Montague saß am Schreibtisch seines Büros, das nur einen Steinwurf weit von der Bank of England gelegen war; vor dem Fenster zog bereits die Tristesse eines weiteren Herbstabends herauf, als er aus dem Vorzimmer Stimmen vernahm. Tief in die Bücher eines seiner adeligen Klienten versunken, versuchte er, den Wortwechsel auszublenden und arbeitete sich stetig weiter durch die Zahlen.

Zahlen, vor allem wenn sie hohe Geldsummen darstellten, übten auf ihn einen fast hypnotischen Reiz aus. Mit ihnen verdiente er nicht nur seinen Lebensunterhalt, sie waren seine Leidenschaft.

Und sie sind es schon seit Jahren.

Wahrscheinlich zu lange.

Ganz sicher zu ausschließlich.

Diese kleine quälende Stimme ignorierend, die ihm im Laufe des letzten Jahres immer stärker zugesetzt hatte, erst von Monat zu Monat, dann von Woche zu Woche beständig beharrlicher geworden war, von einem schwachen Flüstern zu einem Geheul, das einem durch Mark und Bein gehen konnte, richtete er seine Aufmerksamkeit umso entschiedener auf die Zahlenkolonnen, die sich in Reih und Glied über die Seite zogen, und zwang sich zur Konzentration.

Im Vorzimmer kehrte auch langsam wieder Ruhe ein; er hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ungebetener Besuch vermutlich, angelockt von dem Artikel in der Times. Seine kurz und knapp gehaltene Nachricht an den Herausgeber war mit Verwunderung aufgenommen worden; worüber beschwerte Montague sich denn? Sollte es ihn nicht freuen, in der Times als der erfahrenste und vertrauenswürdigste Finanzverwalter Londons aufgeführt zu werden?

Er hatte sich die nüchterne, doch vernichtende Antwort verkniffen, dass sein Unternehmen derartige öffentliche Empfehlungen nicht brauchte und noch weniger schätzte. Was im Übrigen schlichtweg der Wahrheit entsprach – er und seine Handvoll Mitarbeiter waren völlig ausgelastet. Männer vom Fach, die noch dazu Erfahrung hatten und so gekonnt mit Zahlen umzugehen wussten wie er, waren rar gesät. Doch dass seine Kanzlei einen solch guten Ruf hatte, lag wohl auch daran, dass er bei der Auswahl seiner Mitarbeiter großen Wert darauf legte, dass sie das Geschäft ebenso genau nahmen wie er und man ihnen das Geld der Klienten guten Gewissens anvertrauen konnte; er würde seine Reputation nicht aufs Spiel setzen, indem er aus vermeintlicher Notwendigkeit weniger befähigte, weniger vertrauenswürdige und dem Unternehmen weniger verpflichtete Leute einstellte.

Vor zwanzig Jahren hatte er von seinem Vater einen soliden Klientenstamm übernommen; zu dessen Zeiten hatte man sich darauf konzentriert, die Einkünfte aus den Besitzungen der adeligen Kundschaft zu verwalten. Er indes hatte größere Ambitionen und sich deshalb breiter aufgestellt: Er wollte das ihm anvertraute Vermögen nicht nur gewissenhaft verwalten, sondern vermehren.

Diese neue Ausrichtung hatte ihm das Interesse eher fortschrittlich gesinnter Kreise eingebracht, denn auch der alte Adel wollte sich zunehmend nicht mehr damit begnügen, das Familienerbe lediglich zusammenzuhalten, sondern teilte Montagues ganz persönliche Überzeugung, dass man Geld am besten für sich arbeiten ließe.

Frühe Erfolge hatten das Geschäft kräftig angekurbelt. Mittlerweile stand sein Name für sachkundige Investments und eine finanzielle Begabung, die ihresgleichen suchte.

Aber selbst Erfolg begann irgendwann zu langweilen – oder zumindest den Reiz der ersten Jahre zu verlieren und nicht mehr so erfüllend zu sein, wie er es einmal war.

Draußen schien wieder Ruhe eingekehrt; er hörte Slocum, seinen Büroleiter, wie er eine trockene Bemerkung gegenüber Phillip Foster, Montagues Juniorassistenten, fallen ließ. Kurzes Lachen von den anderen, die da waren Thomas Slater, der Bürogehilfe, und Reginald Roberts, der Laufbursche, dann senkte sich wieder arbeitsame Stille über den Raum, in der nur ab und an das Umblättern einer Seite zu hören war, leises Papiergeraschel, das kurze Klacken, wenn ein Ordner geschlossen und zurück ins Regal geschoben wurde.

Montague versenkte sich wieder in die Welt der herzöglichen Schafzucht des Duke of Wolverstone, die er von ihren Anfängen bis zum mittlerweile internationalen Erfolg begleitet hatte. Über solche Ergebnisse konnte er sich nach wie vor freuen – wenn auch nicht mehr gar so sehr wie am Anfang, so erfüllte die Arbeit ihn nach wie vor mit Genugtuung, wenn nicht gar einem gewissen Glücksgefühl. Er prüfte und verglich, analysierte und evaluierte, fand derzeit aber nichts, das sein Eingreifen erfordert hätte.

Als er das Ende der Bilanz fast erreicht hatte, hörte er, dass man sich draußen in dem großen Vorzimmer, in dem seine Mitarbeiter ihren Dienst versahen, zum Feierabend rüstete.

Schubladen wurden geschlossen, Stühle zurückgeschoben, ein paar Worte gewechselt, nette Belanglosigkeiten darüber, was der Abend noch bereithielt, die kleinen Freuden, die seine Männer daheim erwarteten. Frederick Gibbons, Montagues Seniorassistent, war gerade zum dritten Mal Vater geworden. Die Kinder von Slocum waren schon fast mit der Schule fertig, während bei Thomas Slaters Frau die Geburt ihres ersten Kindes unmittelbar bevorstand. Selbst auf Phillip Foster, der bei seiner Schwester lebte, wartete eine Schar kleiner Nichten und Neffen, und Reginald war eins von sieben Kindern einer trubeligen Großfamilie.

Jeder von ihnen hatte jemanden, der zu Hause auf ihn wartete, jemanden, der ihn mit einem Lächeln und einem Kuss auf die Wange begrüßen würde, wenn er zur Tür hereinkam.

Nur Montague nicht.

Der Gedanke, messerscharf und glasklar, riss ihn endgültig aus seiner Versenkung. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, welch einsames Dasein er führte, und dieses Gefühl, das ihn in letzter Zeit immer stärker beschlichen hatte, die Gewissheit, dass es niemanden gab, der ihm zugeneigt war und ihn an diese Welt band, wurde auf einmal übermächtig.

Draußen verabschiedeten sich die Ersten, auch wenn die Grüße nicht ihm galten; seine Mitarbeiter wussten, dass er bei der Arbeit nicht gestört werden wollte. Die Tür wurde mehrmals geöffnet und geschlossen. Slocum würde der Letzte sein und nun jeden Moment an der Tür zu Montagues Büro auftauchen, um ihm mitzuteilen, dass für heute alles erledigt sei und es keine Probleme zu erörtern gab.

Die Tür ging auf – aber nicht die zu seinem Büro, sondern jene zum Vorzimmer.

»Entschuldigen Sie, Ma’am«, hörte er Slocum sagen, »aber wir haben bereits geschlossen.«

Die Tür ging wieder zu. »Mir ist bewusst, dass Sie Feierabend machen möchten, aber ich hatte gehofft, dass Mr. Montague jetzt vielleicht ein paar Minuten für mich erübrigen könnte …«

»Tut mir leid, Ma’am, aber Mr. Montague nimmt keine neuen Klienten an – es hätte uns allen eine Menge Ärger erspart, wenn die Times gleich darauf hingewiesen hätte.«

»Das kann ich gut verstehen, aber ich möchte nicht als neue Klientin angenommen werden.« Die Frau sprach mit fester, klarer Stimme und schien dem Vernehmen nach gebildet. »Ich hätte Mr. Montague ein Angebot zu machen, uns einmalig in einer sehr rätselhaften finanziellen Angelegenheit zu beraten.«

»Aha.« Slocum schien unsicher, wie er weiter verfahren sollte.

Montagues Neugier hingegen war geweckt. Er klappte die Wolverstone’sche Bilanz zu und stand auf. Es war eher ungewöhnlich, dass eine Dame ihr Büro aufsuchte, zumal, wenn es um die Auftragsvergabe ging. Montague konnte sich nicht entsinnen, jemals von einer Frau angesprochen worden zu sein, zumindest nicht beruflich.

Er öffnete die Tür seines Büros und trat ins Vorzimmer.

Slocum drehte sich nach ihm um. »Sir, die Dame …«

»Ja, ich habe es schon gehört.« Er richtete seinen Blick auf besagte Dame, die sehr aufrecht, den Kopf erhoben, vor Slocum stand. Wie von fern drangen seine eigenen Worte zu ihm. Hatte er das wirklich gesagt?

Derweil richtete auch die Dame, die von mittlerer Statur war, weder zu schlank noch zu füllig, sondern genau richtig proportioniert, ihren Blick auf ihn, sah ihn mit einer Offenheit an, die ihn sofort für sie einnahm und sein Interesse weckte. Unter weich sich wellendem, dunklem Haar und fein geschwungenen Brauen fand er seinen eigenen Blick aus erstaunlich hellen blauen Augen erwidert.

Als er zu ihr ging, von ihr angezogen wie von einer unbekannten Macht, die ganz sicher mehr als reine Höflichkeit war, weiteten ihre Augen sich kaum merklich, doch schon hob sie das Kinn, und ihre rosigen Lippen öffneten sich zu einer ganz simplen Frage: »Mr. Montague?«

Er blieb vor ihr stehen und verbeugte sich. »Miss …?«

Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Miss Matcham und komme im Auftrag von Lady Halstead, für die ich arbeite.«

Er gab ihr die Hand, schloss seine Finger kurz um ihre, die überraschend langgliedrig und zart waren, doch zu seinem Bedauern musste es bei einer kurzen, rein geschäftsmäßigen Begrüßung bleiben. »Verstehe.« Er ließ ihre Hand wieder los und trat einen Schritt zurück, deutete zu seinem Büro. »Vielleicht möchten Sie sich einen Moment setzen und mir erklären, in welcher Angelegenheit ich Lady Halstead unterstützen kann.«

Sie neigte anmutig den Kopf. »Danke.«

Als sie an ihm vorbeiging, betörte ein feiner Hauch von Rosen und Veilchen seine Sinne. Er schaute zu Slocum. »Schon gut, Jonas. Sie können ruhig nach Hause gehen – ich schließe nachher ab.«

»Danke, Sir.« Slocum senkte die Stimme. »Nicht gerade unsere übliche Klientel. Ich frage mich, was sie wohl möchte.«

Das fragte Montague sich auch mit zunehmend gespannter Erwartung. »Vermutlich werde ich es gleich herausfinden.«

Slocum verabschiedete sich, nahm seinen Mantel und ging. Sowie die Tür sich hinter ihm schloss, ging Montague zu Miss Matcham, die am Durchgang zu seinem Büro stehen geblieben war.

Er bedeutete ihr einzutreten und folgte ihr. Kurz stellte sich die Frage, inwiefern es sich schickte, hier mit einer jungen Dame allein zu sein, aber nach einem weiteren Blick auf seine Besucherin ließ er einfach die Tür zum Büro offen, womit dem Anstand Genüge getan sein sollte. So jung war sie schließlich nicht mehr. Wenngleich er nicht gerade ein Experte auf diesem Gebiet war, würde er Miss Matcham auf Anfang dreißig schätzen.

Sie trug ein Tageskleid aus feinem violettem Wollstoff und einen dazu passenden Filzhut, der fest auf ihrem Kopf saß und, obwohl durchaus schick, nicht der neuesten Mode entsprach. Die Tasche, die sie bei sich hatte, wirkte eher praktisch als dekorativ.

Vor dem Schreibtisch blieb sie stehen und sah ihn an. Er trat um den Schreibtisch herum und deutete auf einen der bequemen Besucherstühle, die davor standen. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Sie setzte sich, und in der Art, wie sie dabei ihren Rock unter sich zog, zeigte sich wieder jene natürliche Anmut, die ihm bereits vorhin aufgefallen war. Er setzte sich ebenfalls, schob die Unterlagen von Wolverstone beiseite und stützte die Arme vor sich auf den Tisch, verschränkte die Hände und richtete den Blick auf sie, zweifellos fasziniert von ihrem Gesicht. »So. Womit kann ich Ihnen – oder vielmehr Lady Halstead – denn nun dienen?«

Violet zögerte, denn obwohl sie und Lady Halstead alles so gründlich geplant hatten und nun auch alles nach Plan lief, denn sie war hier – wer hätte das gedacht? –, hörte sie sich auf einmal sagen: »Bitte verzeihen Sie mein Zögern, Sir, aber ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt.«

Seine Augenbrauen – gepflegte braune Brauen, die sich über ungewöhnlich runden Augen wölbten, die ihn vertrauenswürdig wirken ließen, ganz gleich, ob er es nun war oder nicht – hoben sich in sichtlichem Erstaunen.

Der Anblick ließ sie lächeln; vermutlich kam es nicht oft vor, dass er überrascht war. »Unter dem erfahrensten und rechtschaffendsten Vermögensverwalter Londons hatte ich mir eher einen alten, pedantischen und leicht verschrobenen Herrn vorgestellt, mit tintenfleckigen Fingern und buschigen weißen Brauen, der mich argwöhnisch über den Rand seiner Brille mustern würde.«

Montague blinzelte, ein langsames Senken der Lider, ehe er sie wieder ansah mit seinen goldbraunen Augen. Dass sie braun waren, fiel ihr erst jetzt auf, ein helles Braun, wie seine Haare, die auch etwas heller waren als ihre eigenen, und die Augen warm, bernsteinfarben. Doch am meisten Eindruck hatte sein Gesicht auf sie gemacht – und tat es noch –, seine ganze Erscheinung. Und während sie ihren Blick über die breite, kräftige Stirn, die glatt rasierten Wangen mit den starken Wangenknochen, das markante Kinn gleiten ließ, hob er plötzlich seine rechte Hand und spreizte die Finger.

»Hier, schauen Sie«, sagte er und deutete auf Zeige- und Mittelfinger, wo tatsächlich Tintenflecke zu sehen waren, etwas verblasst schon, aber deutlich erkennbar. Dann beugte er sich zur Seite und griff nach einer goldgerahmten Brille. »Und die habe ich auch. Wenn es für Sie hilfreich wäre, könnte ich sie aufsetzen. Nur bei den weißen Brauen und dem argwöhnischen Blick müsste ich passen.«

Sie schaute in seine Augen, sah den Humor darin aufblitzen und musste lachen.

Er stimmte kurz ein, lachte übers ganze Gesicht, und auf einmal wirkte er noch jünger – zumindest deutlich jünger als Mitte vierzig, worauf sie ihn geschätzt hätte.

Sympathisch, solide, verlässlich; alles an ihm – seine Erscheinung, seine Miene, sein Auftreten und seine ganze Art – schien diesen Eindruck zu bestätigen. Auf einmal fand sie selbst das überschwängliche Lob der Times nicht mehr übertrieben.

»Entschuldigen Sie bitte.« Sie bemühte sich um Ernst, doch dieses verräterische Lächeln wollte einfach nicht von ihren Lippen weichen. Erst als sie sich aufsetzte, merkte sie, wie entspannt sie sich in ihren Stuhl zurückgelehnt hatte. »Meinem kleinen Heiterkeitsausbruch zum Trotz bin ich tatsächlich im Auftrag Lady Halsteads hier, um etwas Geschäftliches mit Ihnen zu besprechen.«

»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihrer Ladyschaft?«

»Ich arbeite für sie als ihre Gesellschafterin.«

»Sind Sie schon lange bei ihr?«

»Über acht Jahre.«

»Und was kann ich für ihre Ladyschaft tun?«

Violet sammelte sich einen Moment. »Lady Halstead beschäftigt bereits jemanden, der sich um ihre finanziellen Belange kümmert – Runcorn & Son, falls Ihnen das etwas sagt. Die Halsteads hatten den Vater des jetzigen Mr. Runcorn vor über dreißig Jahren mit der Verwaltung ihrer Güter betraut, sein Sohn hat die Geschäfte erst kürzlich übernommen. Ich möchte betonen, dass Lady Halstead nichts an den Fertigkeiten des jungen Runcorn zu beanstanden hat – nur dass er eben nicht der alte Herr ist, wenn Sie wissen, was ich meine. Jüngst wurde eine Unstimmigkeit auf dem Bankkonto ihrer Ladyschaft festgestellt, die bislang nicht zu klären war, und Lady Halstead glaubt, dass es Mr. Runcorn vielleicht an der nötigen Erfahrung fehle, das Problem zu lösen. Zumindest nicht so zufriedenstellend, wie sie sich das wünscht.« Violet begegnete seinem Blick. »Ich sollte noch hinzufügen, dass Lady Halstead verwitwet ist. Ihr Gatte, Sir Hugo, verstarb vor zehn Jahren, und sie selbst ist mittlerweile recht betagt. Die Unstimmigkeit auf ihrem Konto kam eigentlich nur deshalb ans Licht, weil Lady Halstead gemäß des Versprechens, das sie Sir Hugo gab, ihre persönlichen Angelegenheiten und die der Familie in Ordnung bringen wollte, wenn es dann an der Zeit dazu ist.«

Montague nickte. »Verstehe. Und was soll ich nach Ansicht ihrer Ladyschaft in der Sache unternehmen?«

»Lady Halstead möchte, dass Sie sich ihr Bankkonto einmal ansehen und dem Rätsel auf den Grund gehen. Sie kann sich nicht erklären, was dort vor sich geht, braucht aber eine Antwort, die ihr Gewissheit gibt, dass alles korrekt ist. Im Grunde geht es darum, eine zweite Meinung einzuholen – eine Art Beratung, ein Gutachten –, mehr wäre es nicht.« Violet sah Montague an und setzte ruhig nach: »Mir hingegen geht es vor allem darum, einer liebenswerten alten Dame unnötige Aufregung zu ersparen. Deshalb bin ich hier. Ich möchte Sie bitten, ihr einfach die nötige Rückversicherung zu geben, die sie für ihren Seelenfrieden braucht.«

Montague erwiderte ihren Blick, dann spielte ein Lächeln um seine Mundwinkel. »Das haben Sie sehr schön ausgedrückt, Miss Matcham.«

»Ich versuche, das mir Mögliche zu tun, Sir.«

Loyalität war in Montagues Augen eine sehr löbliche Eigenschaft. »Können Sie mir kurz schildern, was es mit diesen Unregelmäßigkeiten auf dem Bankkonto auf sich hat?«

»Das würde ich gern Lady Halstead überlassen.« Als ahne sie die Frage, die er sich im Stillen stellte, fügte sie hinzu: »Allerdings habe ich genug gesehen, um bestätigen zu können, dass es diese Unregelmäßigkeiten tatsächlich gibt und sich bislang keine Erklärung dafür hat finden lassen. Das Gutachten von Mr. Runcorn kenne ich allerdings nicht, weshalb ich kein Urteil dazu abgeben kann.«

Ach, wären nur all seine Klienten so umsichtig und vernünftig! Montague riss sich schweren Herzens von Miss Matchams betörenden Augen los und konsultierte seinen Kalender. »Gut … Ich könnte morgen Vormittag eine halbe Stunde für Lady Halstead erübrigen.« Er schaute auf. »Zu welcher Zeit würde es am besten passen?«

Miss Matcham lächelte – kein strahlendes, sondern eher ein sanftes Lächeln, das ihn aber umso mehr berührte und durch seine für gewöhnlich undurchdringliche, professionelle Fassade drang und sein Herz erwärmte. Er blinzelte und musste seine Sinne rasch wieder zusammennehmen, als sie erwiderte: »Am späten Vormittag wäre es am besten. Wollen wir elf Uhr sagen? Lowndes Street Nummer vier, gleich unterhalb des Lowndes Square.«

Montague hielt die Feder mit fester Hand und konzentrierte sich darauf, Zeit und Anschrift einzutragen. »Hervorragend.«

Er hob den Blick, sah, dass Miss Matcham bereits Anstalten machte zu gehen, und stand ebenfalls auf.

»Haben Sie vielen Dank, Mr. Montague.« Sie schaute ihm in die Augen und streckte die Hand aus. »Ich freue mich, Sie morgen zu sehen.«

Montague griff nach ihrer Hand und musste sich zwingen, sie wieder loszulassen. »Ganz meinerseits, Miss Matcham.« Er trat einen Schritt zurück, deutete zur Tür und ließ ihr den Vortritt. »Bis morgen.«

Nachdem er Miss Matcham noch hinausbegleitet und hinab ins Erdgeschoss hatte gehen sehen, schloss Montague die Tür, hielt einen Moment inne und ließ das Gespräch von eben noch einmal Revue passieren, rief sich mal diesen, mal jenen Aspekt in Erinnerung …

Bis er sich einen Ruck gab, um sich aus dem Bann zu lösen, und über sich selbst verwundert, an seinen Schreibtisch zurückkehrte.

Der Feuereifer, mit dem er sich am folgenden Morgen gegen elf Uhr zur Lowndes Street aufmachte, war, so versuchte er sich einzureden, dem Reiz des Neuen geschuldet, der Ahnung, dass ein Problem abseits der Norm sich auftun könnte, eine Herausforderung, die ihn aus dem ewig gleichen Trott risse. Und ganz sicher nicht den Verlockungen der lieblichen Miss Matcham.

Als sie auf sein Klopfen selbst zur Tür kam, war es sogleich vorbei mit seinem Versuch, sich selbst zu täuschen. Er hätte schwören können, dass sein Herz bei ihrem bloßen Anblick schneller schlug. Dann lächelte sie. »Guten Morgen, Mr. Montague. Bitte treten Sie ein.«

Er ermahnte sich, das Atmen nicht zu vergessen, als er über die Schwelle trat und sie einen Schritt zurücktrat, um ihn einzulassen. Ein erster Blick zeigte ihm geschmackvolle Gemälde an den getünchten Wänden, solides Mobiliar und gediegen schimmerndes Holz. Alles wirkte sauber und gepflegt, und er fand bestätigt, was er aufgrund der Anschrift bereits vermutet hatte: Lady Halstead fehlte es nicht an Mitteln. Sie mochte nicht in derselben Liga spielen wie das Gros seiner Klienten, aber sie verfügte über hinreichend Vermögen, das es sicher zu bewahren galt. Zumindest würde er bei diesem Auftrag seine Zeit nicht verschwenden.

Miss Matcham schloss die Tür hinter ihm und wies zu einem Zimmer gleich rechter Hand des Vestibüls. »Lady Halstead erwartet Sie im kleinen Salon.«

Er neigte den Kopf und ließ Miss Matcham den Vortritt, was ihm nicht zuletzt Gelegenheit gab, sich zu sammeln und sich einmal mehr über die Wirkung zu wundern, die sie auf ihn ausübte. Erklären konnte er sich das selbst nicht so recht; gewiss, sie war reizend anzusehen – er hätte sie stundenlang anschauen können, ohne dessen überdrüssig zu werden –, aber eine umwerfende Schönheit war sie nicht. Heute trug sie ein blassblaues Morgenkleid, das ihre Figur auf eine Weise umspielte, die einen Mann durchaus auf andere Gedanken bringen konnte. Zumindest erging es ihm so. Im Haus trug sie natürlich auch keinen Hut, weshalb er die Fülle ihres Haares bewundern konnte, das sie am Hinterkopf zu einem Knoten aufgesteckt trug. Wie schon tags zuvor fiel es ihr in einer dunklen Welle weich in die Stirn, was den alabasternen Schimmer ihrer Haut und das helle Blau ihrer Augen noch verstärkte.

Als er ihr in das Zimmer folgte, zwang er sich, seinen Blick von ihr abzuwenden und seine Umgebung zu betrachten. Eine betagte Dame mit schütterem weißem Haar und feinen Gesichtszügen saß, die Arme neben sich auf die gepolsterten Armstützen gelegt, in einem hohen Lehnstuhl. Sie schien Trauer zu tragen und hatte sich einen Schal um die Schultern und einen weiteren über die Beine gebreitet. Ein Stock aus Ebenholz mit silbernem Knauf lehnte seitlich am Stuhl.

Miss Matcham trat zu ihr. »Das ist Mr. Montague, Ma’am.« Sie wandte sich an Montague. »Lady Halstead.«

Nachdem Miss Matcham zu ihrer Rechten Platz genommen hatte, streckte Lady Halstead, die ihn derweil mit Argusaugen gemustert hatte, ihm die Hand hin. »Danke, dass Sie gekommen sind, Sir. Gewiss sind Sie ein viel beschäftigter Mann – ich will versuchen, Ihnen nicht allzu viel von Ihrer Zeit zu rauben.«

Montague nahm ihre Hand und beugte sich darüber. »Keineswegs, Ma’am. Ich bin schon sehr gespannt zu erfahren, was es mit Ihrem Bankkonto auf sich hat.«

»Was Sie nicht sagen.« Lady Halstead deutete auf den Sessel zu ihrer Linken. »Nun, wenn das so ist, setzen Sie sich doch bitte.«

Während er der Aufforderung nachkam, hatte Miss Matcham ihrer Ladyschaft einige Papiere gereicht, die Lady Halstead nun an ihn weitergab. »Das ist eine Abschrift sämtlicher auf meinem Konto getätigten Ein- und Auszahlungen der letzten sechs Monate.«

Montague nahm die Unterlagen entgegen und sah sie sich durch, dieweil Lady Halstead fortfuhr: »Wie Sie sehen, habe ich verschiedene Einlagen angestrichen, die mir unerklärlich sind. Ich weiß beim besten Willen nicht, wer dieses Geld auf mein Konto einzahlt, geschweige denn warum.«

Montague stutzte einen Moment, dann blätterte er durch die insgesamt fünf Seiten, die ihre Ladyschaft ihm zur Verfügung gestellt hatte, addierte die Summen auf und stellte im Geiste erste Berechnungen an … »Ich muss gestehen«, meinte er dann und schaute erst zu Lady Halstead, dann zu Miss Matcham, »dass ich, nachdem Sie von Unregelmäßigkeiten sprachen, mit einem Fehler seitens der Bank gerechnet hätte. Oder mit Unterschlagung.« Er richtete den Blick wieder auf die Unterlagen. »Aber hier scheint etwas völlig anderes vorzuliegen.«

»In der Tat«, bestätigte Lady Halstead voller Genugtuung. »Der junge Runcorn, der mein Vermögen verwaltet, glaubt, dass diese Zahlungen einer schon vor Jahren getätigten und völlig aus dem Blick geratenen Investition, die jetzt erst Gewinne abwirft, zu verdanken sind.«

Montague sah sich die Zahlen noch einmal an und schüttelte den Kopf. »Mir fiele kein Finanzinstrument ein, das sich einer solchen Auszahlungsweise bediente. Die Beträge gehen ungefähr monatlich ein, aber nicht zu einem festen Termin, wie er in einem entsprechenden Vertrag festgeschrieben wäre, seien es Dividenden oder die Begleichung einer Schuld – zumal Dividenden in aller Regel nicht monatlich ausgezahlt werden. Versicherungsraten könnten einem solchen Turnus entsprechen, dann allerdings wieder zu einem festen Termin. Und was die Beträge angeht, so kommt ja eine beträchtliche Summe zusammen.«

Er schaute auf und sah Lady Halstead an. »Wie lange geht das schon so?«

»Meines Wissens seit vierzehn Monaten.«

»Immer in etwa dieselbe Summe?«, fragte er mit Blick auf die vor ihm liegenden Kontoblätter nach.

»Mehr oder minder.«

Montague schwirrte der Kopf bei dem Versuch, eine Erklärung für dieses Zahlungsmuster zu finden, aber es gab keine. Zumindest keine plausible, dessen war er sich sicher. Und was die Gesamtsumme aller in den letzten vierzehn Monaten auf das Konto ihrer Ladyschaft getätigten Einzahlungen anging, so würde er viel darum geben, wenn er seinen Klienten eine Anlage offerieren könnte, die solche Beträge erwirtschaftete.

»Ich werde mir das noch einmal genauer ansehen«, versprach er, denn das Finanzgenie in ihm würde keine Ruhe haben, bis er das Rätsel gelöst hatte.

»Danke. Ich werde Ihnen natürlich Ihr übliches Honorar zahlen.«

»Nein«, erwiderte er und hob den Blick, sich plötzlich wieder jenes Überdrusses bewusst, der sich seiner seit Monaten in immer stärkerem Maße bemächtigt hatte. Auch wenn er sich selbst kaum eingestehen mochte, wie sehr sein Dasein ihn in letzter Zeit oft langweilte; dieses bleierne Gefühl zunehmender Sinnlosigkeit hatte jäh nachgelassen, als Miss Matcham in seiner Kanzlei aufgetaucht war. »Sie würden mir ehrlich gesagt einen Gefallen tun, mich mit dieser Sache zu betrauen.« Von der beruflichen Herausforderung abgesehen, böte sich so doch die Gelegenheit weiterer Treffen mit Miss Matcham. »Ich drohte ein wenig an dem immer gleichen Trott zu ersticken, wenn Sie wissen, was ich meine, aber dies …«, er hielt die Papiere hoch, »… scheint mir eine echte Herausforderung. Die Genugtuung, das Rätsel zu ergründen und Ihnen eine zufriedenstellende Erklärung zu liefern, soll mir Lohn genug sein.«

Lady Halstead zog die Brauen hoch und betrachtete ihn eine Weile, doch schließlich nickte sie. »Wenn das Ihr Wunsch ist, soll es mir nur recht sein.« Sie wandte sich von ihm ab und warf einen kurzen Blick auf Miss Matcham, als solle nun wieder sie übernehmen.

Was diese denn auch tat, indem sie ihn ansah und auf die Papiere in seiner Hand deutete. »Die Abschriften können Sie gern mitnehmen. Brauchen Sie sonst noch etwas?«

Er erwiderte ihren Blick einen Moment und staunte selbst, welcher Art die Antworten waren, die ihm auf ihre Frage in den Sinn kamen. Dann versuchte er, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren und setzte eine ernste Miene auf. »Nun, da Sie fragen … Ja, ich würde mich gern mit dem Vermögensverwalter ihrer Ladyschaft absprechen, weshalb ich Sie bitten möchte, mir die Anschrift von Runcorn & Son zu geben. Und«, hier wandte er sich wieder an Lady Halstead, »ich bräuchte eine Vollmachtserklärung, die es mir erlaubt, in Ihrem Namen Nachforschungen anzustellen.«

Lady Halstead nickte verständig. »So etwas dachte ich mir schon. Wenn Sie den offiziellen Wortlaut einer solchen Vollmacht parat haben, können wir sie gleich aufsetzen.«

»Wunderbar. Wenn Sie möchten, diktiere ich Ihnen.« Er schaute fragend zu Miss Matcham, dann wieder zu Lady Halstead. »Nach Möglichkeit sollte das gesamte Schreiben aber eigenhändig von Ihnen verfasst sein, Ma’am. Auf diese Weise lässt sich das Dokument weniger leicht anfechten.«

»Aber sicher.« Lady Halstead wandte sich an Miss Matcham. »Violet, Liebes, würden Sie mir wohl mein Schreibpult holen?«

Miss Matcham nickte und erhob sich, um das Zimmer zu verlassen.

Montague schaute ihr hinterher. Violet. Der Name passte zu ihr.

»So«, meinte Lady Halstead, »Runcorns Anschrift lautet …«

Jäh aus seinen Betrachtungen gerissen, legte Montague die Papiere auf seinen Knien ab, zückte Bleistift und Notizbuch und schrieb sich die Adresse auf.

Zwanzig Minuten später hatte Montague die benötigte Vollmachtserklärung in der Tasche, nahm die Abschriften der Kontoblätter an sich und verabschiedete sich von Lady Halstead. Violet Matcham brachte ihn noch hinaus.

Als sie die Tür öffnete, sah sie ihn an. »Danke. Es mag Ihnen nicht aufgefallen sein, aber es ist ihr eine große Erleichterung, und sie wirkt schon viel ruhiger – seit sie vor einer Woche auf diese Unregelmäßigkeiten gestoßen ist, hat es sie sehr belastet.«

Montague erwiderte ihren Blick und erwog verschiedene Antworten – die alle gleichermaßen der Wahrheit entsprochen hätten –, entschied sich letzten Endes aber für eine knappe Verbeugung und ein recht allgemein gehaltenes »Es freut mich, dass ich die in mich gesetzten Erwartungen zumindest schon ein wenig erfüllen konnte«. Er ließ seine Worte einen Moment nachwirken, ehe er ihr versicherte: »Ich werde der Sache auf den Grund gehen. Sollte ihre Ladyschaft sich erneut sorgen, richten Sie ihr bitte aus, dass sie dessen ganz gewiss sein kann.«

Violet fiel es schwer, sich von seinem Blick zu lösen, musste dann aber doch lächeln über ihre eigene Empfänglichkeit und auch über ihn, wie er nun einmal war, und so schlug sie schließlich die Augen nieder und begnügte sich mit einem leisen »Noch einmal vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Wir hoffen, bald von Ihnen zu hören«.

Auch Montague neigte den Kopf, dann trat er zur Tür hinaus und eilte die Treppe hinunter.

Sie sah ihn mit beschwingten Schritten davongehen und merkte, wie auch sie sich auf einmal leicht und unbeschwert fühlte – als habe er ihr eine Last, derer sie sich gar nicht bewusst war, von den Schultern genommen. Er war wirklich ein Gentleman, ein Retter in der Not; er hatte sich nicht lange bitten lassen, war ihr ohne große Umstände zur Seite gesprungen, um sich dieser Sache anzunehmen, die Lady Halstead solche Sorgen machte und damit auch ihr.

Das erklärte zweifelsohne ihre etwas überbordenden Gefühle für ihn.

Wieder musste sie darüber schmunzeln, wie leicht sie doch zu beeindrucken war, dann schloss sie die Tür und kehrte zu Lady Halstead zurück.

Am Abend fand sich die Familie zum Abendessen ein. Da Lady Halstead sich körperlich nicht mehr dazu in der Lage sah, ihre Kinder zu besuchen, lud sie sie samt Anhang einmal im Monat zu Tisch in die Lowndes Street, und sie kamen alle.

Immer, ohne Ausnahme.

Während ihrer ersten Monate bei Lady Halstead war Violet etwas verwundert gewesen, dass selbst die drei erwachsenen Enkelkinder ihrer Ladyschaft jedes Mal mit von der Partie waren und den ganzen Abend blieben. Aber im Laufe der Zeit war sie zu dem Schluss gelangt, dass besagte Besuche vor allem auf die Geschwisterrivalität zurückzuführen waren, die zwischen den Halstead-Kindern ungeahnte Ausmaße erreichte; selbst wenn die drei jungen Leute liebend gern anderswo gewesen wären, mussten sie sich der elterlichen Weisung fügen und ihrer Großmutter die ihr gebührende Ehre erweisen.

Wie üblich saß Violet bei Tisch links von Lady Halstead, um ihr bei Bedarf zur Hand zu gehen. Die Halstead-Kinder, die sich wiederum auch sehr der ihnen zu bezeugenden Ehrerbietung bewusst waren, duldeten ihre Anwesenheit, weil Lady Halstead erstens darauf pochte, und weil sie letzten Endes, da Violet von ebenso guter, wenn nicht gar besserer Geburt war als sie alle, keinen plausiblen Grund vorbringen konnten, sie auszuschließen.

Allerdings ließen sie es sich nicht nehmen, sie nach Möglichkeit zu ignorieren, was Violet nur recht war. Sie war zutiefst dankbar, sich nicht mit »der Brut« abgeben zu müssen, wie sie, Tilly und die Köchin die Halstead’schen Sprösslinge unter sich nannten. Stattdessen saß sie schweigend dabei und beobachtete das Geschehen; als Einzelkind verfolgte sie die Spannungen und das ständige Konkurrenzdenken zwischen den Anwesenden mit einer Mischung aus Faszination und Erstaunen, das bisweilen an Grauen grenzte.

Es kam nicht selten vor, dass sie, wenn sie sich nach einem dieser Familienessen auf ihr Zimmer zurückzog, dem Himmel dafür dankte, keine Geschwister zu haben. Andererseits waren vermutlich nicht alle Familien so. Die Halsteads schienen diesbezüglich ein Fall für sich zu sein.

An diesem Abend erstreckten sich die Gesprächsthemen über die derzeit im Parlament eingebrachten Gesetze, die irische Frage und die diversen Beratungen, die im Innenministerium anstanden. Das erste Thema wurde von Cynthia angeschnitten, der Zweitgeborenen und einzigen Tochter der Halsteads, um ihren Gatten, den Honourable Wallace Camberly und Abgeordneten des Parlaments, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, seine Bedeutung zu unterstreichen und damit auch ihre eigene.

Cynthia, eine gestrenge Matrone in meerblauem Satin, saß rechter Hand von Lady Halstead und Violet gegenüber. Sie hatte scharfe Gesichtszüge, ihre braunen Augen waren kalt und hart, ihr Mund schmal und verkniffen von ständigem Verdruss. Ihr Mienenspiel schien sich auf zwei Ausdrücke zu beschränken, entweder Missbilligung oder Verachtung. Man hatte den Eindruck, dass es nur wenig gab im Leben, das Cynthias Zustimmung fand. Müsste man blindem Ehrgeiz ein Gesicht geben, so wäre es das ihre. »Natürlich«, verkündete sie, »wird die Krönung bald Vorrang vor allem anderen haben. Der zuständige Parlamentsausschuss dürfte in Kürze benannt werden.«

Schräg gegenüber saß Constance Halstead, Gattin von Stammhalter Mortimer, dem Erstgeborenen ihrer Ladyschaft, und griff nach ihrem Weinglas. Constance war eine stattliche Erscheinung, hochgewachsen und drall, mit weichen, kindlichen Zügen, die eine Schwäche für Rüschen und Tand hatte und eine Stimme, die immer etwas zu laut und zu schrill klang. »Das will ich wohl meinen«, setzte sie bekräftigend nach. »Aber letztlich fällt es natürlich dem Innenministerium zu, über den genauen Ablauf der Feierlichkeiten zu entscheiden. Mortimer«, Constance warf einen Blick auf ihren Gatten, der am Kopf der Tafel saß, »wird zweifelsohne in alle Abläufe involviert und sehr beschäftigt sein.«

Violet schaute den Tisch hinunter zu Mortimer, einen in jeder Hinsicht durchschnittlichen Mann, der sich zudem so steif und förmlich gab und so konventionell kleidete, dass er leicht in der Menge unterging. Auch sein Gesicht war wenig bemerkenswert, seine Miene stets beherrscht, wenn nicht gar ausdruckslos. Mortimer hatte gerade eine Bemerkung zu dem wirklich vorzüglichen Roastbeef gemacht, doch jetzt schaute er auf und richtete seinen blassen Blick auf Cynthia. »So ist es«, beschied er kühl. »Es bedarf noch eines großen organisatorischen Aufwands, der ausschließlich in der Verantwortung des Innenministeriums liegt. Erste Gespräche haben bereits stattgefunden, aber natürlich unterliegt das strenger Vertraulichkeit.«

Seine Worte entlockten Cynthia lediglich ein spöttisches Lächeln, mit dem sie ihre Überzeugung kundtat, dass Mortimer ohnehin nicht in die eigentlichen Abläufe eingeweiht war und schlichtweg nichts wusste, was vertraulich gewesen wäre.

Mortimer biss prompt an, doch ehe er seinem Unmut Luft machen konnte, mischte sich Maurice Halstead ein, zweitältester Sohn und schwarzes Schaf der Familie, ein Spieler, Frauenheld, Tunichtgut. »Dann wirst du darüber entscheiden, welches Kleid Alexandrina bei der Krönungszeremonie trägt? Oh, Moment … Sie soll sich Victoria nennen, oder?«

Mortimer maß Maurice mit schmalem Blick. »Über das Kleid entscheidet der Palast, aber du hast ausnahmsweise ganz recht damit, dass unsere künftige Königin Victoria heißen wird.«

Jetzt kam auch in den Tischnachbarn von Constance Leben. »Warum? Was hat sie denn gegen Alexandrina?« William Halsteads Worte klangen schon ein wenig verwaschen.

Wenn Maurice als das schwarze Schaf der Familie galt, so war William ihr hoffnungsloser Fall. Violet hätte schwören können, dass er nur deshalb regelmäßig an diesen Familienessen teilnahm, um wenigstens einmal im Monat eine ordentliche Mahlzeit in den Bauch zu bekommen. Ein weiterer und vielleicht der entscheidende Grund mochte sein, dass es ihm eine diebische Freude bereitete, wie unangenehm seine bloße Anwesenheit seinen Geschwistern und deren besseren Hälften aufstieß. Für sie war William wenig mehr als eine Kakerlake und ebenso unerwünscht, zudem mit dem Nachteil behaftet, dass man ihn nicht einfach unter dem Absatz zertreten konnte.

Als jüngstes der Halstead-Kinder gehörte es zu einer von vielen Freiheiten, die William sich herausnahm, zu den Familienessen stets in einem schlichten schwarzen Anzug zu erscheinen, der gerade noch so als standesgemäß durchgehen mochte, aber natürlich die reine Provokation war.

»Genau genommen«, ließ Wallace Camberly sich vernehmen, und Violet meinte, ihn zum ersten Mal, seit sie sich zu Tisch gesetzt hatten, das Wort ergreifen zu hören, »verhält es sich so, dass Victoria schlichtweg der Name ist, den sie allen anderen vorzieht.«

Ein Argument, das so naheliegend und vernünftig klang, dass es, zumal da es von Camberly kam, der sicher wusste, wovon er sprach, dem Thema ein für alle Mal ein Ende machte.

Violet schätzte Wallace Camberly, der bei diesen Treffen immer eher schweigsam neben seiner Angetrauten Cynthia saß, als stilles Wasser ein, als einen Mann, dessen Ehrgeiz den seiner Frau sogar noch übertraf. Doch im Gegensatz zu Cynthia hatte er kein Interesse an den innerfamiliären Grabenkämpfen und hielt sich aus dem verbalen Schlagabtausch weitestgehend heraus, um nur ab und an eine Bemerkung fallen zu lassen, wenn ein Thema ihn tatsächlich interessierte. Wie üblich war er zurückhaltend, aber doch modisch gekleidet, wie man es von jemandem seines Ranges erwarten durfte. Violet wusste, dass er kühl kalkulierte und seine Ziele rücksichts-, bisweilen skrupellos verfolgen konnte, sich aber stets an die Spielregeln hielt, weil er wusste, dass ihm so langfristig am besten gedient war. Wenn er sich von etwas keinen Nutzen versprach, verschwendete er weder Zeit noch Energie darauf.

Das Gezanke der Halsteads brachte ihm nichts, weshalb er es weitestgehend ausblendete.

Sein Sohn Walter, der ihm gegenüber zwischen Violet und William saß, schien seinem Beispiel zu folgen – wenn auch nur in dieser Hinsicht. Obgleich schon siebenundzwanzig, hatte Walter noch immer keine sinnvolle Beschäftigung gefunden, mit der er seine Tage füllen konnte. Scheinbar ziellos ließ er sich durchs Leben treiben. Violet wusste nicht, was Walter tagein, tagaus trieb, aber da Cynthia ein eisernes Regiment führte, dürfte ihr Sohn nicht allzu viel Freude an seinem vermeintlich so freizügigen Leben haben.

Wie Violet versuchte auch Walter, sich möglichst wenig bemerkbar zu machen und ließ die Wortsalven an sich vorbeifliegen, als gingen sie ihn nichts an. Die beiden anderen der jüngeren Generation – Mortimers und Constances Kinder, namentlich der dreiundzwanzigjährige Hayden und seine Schwester Caroline, die gerade zwanzig geworden war – schienen diese Abende auch eher zu erdulden, als sich daran zu erfreuen. Beide meldeten sich nur selten zu Wort, und sei es noch so belanglos. Soweit Violet es einzuschätzen vermochte, waren die jüngeren Halsteads allesamt sehr gewöhnlich und wenig bemerkenswert. Vermutlich langweilten sie sich zu Tode, waren aber zu höflich und zu sehr von ihren Eltern abhängig, um sich zu widersetzen, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als teilzunehmen und den Abend schweigend über sich ergehen zu lassen. Wurden sie angesprochen, so ließen sie sich zu einer Antwort herab, trugen von sich aus jedoch wenig zur Konversation bei.

Andererseits konnte man es ihnen kaum verdenken, schien es doch wenig geraten, die Aufmerksamkeit der älteren Halsteads auf sich zu ziehen.

Mortimer tupfte sich penibel die Lippen mit seiner Serviette ab und schickte sich einmal mehr daran, sich in Szene zu setzen. »Vermutlich werden wir dazu raten, dass die junge Königin sich in naher Zukunft mit den irischen Repräsentanten trifft – eventuell werde ich als Teil dieser Delegation mit nach Irland reisen.«

»Ach ja?« Cynthia streckte die Hand nach der Sauciere aus. »Wer weiß – am Ende bekommst du dort drüben noch einen Posten als Staatssekretär.« Sie wandte sich an Constance. »Meine Liebe, mein aufrichtiges Beileid, solltet ihr nach Irland ziehen müssen.«

Mortimer schoss das Blut in die Wangen. »Sei doch nicht albern! Man schätzt mich und meine Meinung viel zu sehr, als dass der Innenminister auch nur erwägen würde, mich nach Irland zu verbannen.« Sowie er merkte, dass er Cynthia auf den Leim gegangen war, verstummte er. Den Blick auf seine Schwester gerichtet, die Lippen fest zusammengepresst, hielt er einen Moment die Luft an, als versuche er sich mit knapper Not von dem fernzuhalten, was, wie Violet aus leidiger Erfahrung wusste, sich im Nu zu einem scharfen Wortwechsel voller persönlicher Tiefschläge auswachsen konnte. Als der kritische Moment überwunden war, richtete Mortimer sein Augenmerk von Cynthia auf Lady Halstead.

Die alte Dame zeigte sich wie üblich von den feindseligen Spannungen bei Tisch unberührt und aß seelenruhig weiter.

Mit Bedacht legte Mortimer seine Serviette beiseite. »Und wie ergeht es Ihnen, Mutter? Ich hoffe, es strengt Sie nicht zu sehr an, uns alle hier versammelt zu haben.«

Lady Halsteads Brauen hoben sich fast ein wenig verwundert, als sie aufschaute und in den Kreis ihrer Familie blickte. »Oh, ich kann nicht klagen und fühle mich so wohl, wie man es in meinem Alter erwarten kann. Danke der Nachfrage, Mortimer.«

Cynthia fühlte sich zu einer beflissenen Bemerkung berufen, die von Constance sogleich übertrumpft wurde. Um sich nicht ausstechen zu lassen, merkte Maurice an, dass Lady Halstead wohl etwas blass aussehe, aber sonst »ganz die Alte« sei. Eine Weile ging es so hin und her, und die alte Dame bemühte sich, das geheuchelte Interesse ihrer Kinder mit Fassung zu tragen.

Mortimer versuchte, der Farce ein Ende zu machen, indem er feststellte: »Ich wage zu behaupten, Mama, dass Sie noch viele lange Jahre vor sich haben.«

»Vielleicht«, kam es lässig von William, der sich mit den Händen in den Taschen auf seinem Stuhl lümmelte. »Aber für den Fall der Fälle will ich hoffen, dass Sie Ihre Angelegenheiten geregelt haben.« Sein finsterer Blick schweifte über die Geschwister. »Der Himmel stehe uns bei, sollten die Besitzverhältnisse sich nach Ihrem Ableben als uneindeutig erweisen.«

Violet konnte ihm in der Sache nur recht geben, aber Mortimer, Cynthia, Constance und selbst Maurice nahmen es gar nicht gut auf. Ein wahrer Zornesausbruch ging auf William nieder, der wohl noch eine ganze Weile hätte andauern können.

Lady Halstead legte ihr Besteck beiseite und klatschte einmal laut und vernehmlich in die Hände. »Ruhe! Herrje, seid doch einfach einmal still!« Als das Stimmengewirr verstummte, nahm sie das Besteck wieder zur Hand und wandte sich ihrem Teller zu. »Wenn ihr es denn unbedingt wissen wollt: Ich habe unlängst den jungen Runcorn gebeten, sämtliche meiner Unterlagen durchzusehen, damit alles seine Ordnung hat.« Sie schaute kurz auf, ihr Blick ganz ernst. »Auch wenn ich nicht die Absicht habe, so bald zu sterben, könnt ihr beruhigt sein, dass es nach meinem Tod zu keinen Ungereimtheiten bei den Besitzverhältnissen kommen wird.«

Einen Moment herrschte Schweigen, dann hob leises Gemurmel an, aus dem immer wieder »der junge Runcorn« herauszuhören war und die Frage, ob dieser der Aufgabe denn überhaupt gewachsen sei.

Violet warf einen fragenden Blick zu Lady Halstead und hielt es dann wie sie, nicht weiter auf die Spekulationen einzugehen.

Als dann Tilly hereinkam, um den Tisch abzuräumen und das Dessert aufzutragen, fragte Violet sich wie schon so oft in den letzten acht Jahren, wie es sein konnte, dass eine so freundliche und gütige Dame wie Lady Halstead eine Familie hatte, in der jeder nur an sich dachte und alle auf die eine oder andere Weise immer nur auf ihren Vorteil aus waren.

»Verdammt!« Er starrte auf sein Gesicht, das ihm aus dem runden Rasierspiegel entgegenschaute. Mit einer ruckartigen Handbewegung riss er sich ein einzelnes Barthaar am Kinn aus, richtete sich dann halb auf und wandte den Kopf langsam nach links und dann nach rechts, um sich zu vergewissern, dass alles zu seiner Zufriedenheit war.

Hinter ihm lag das Ankleidezimmer in den schwachen Schein der einen Lampe getaucht, die er mit hereingebracht hatte. Aber das trübe Dunkel störte ihn nicht, er fand es tröstlich. Dieser Raum war sein Reich. Hierher konnte er sich zurückziehen, um seine Pläne zu schmieden und sie immer feiner auszuarbeiten, bis sie perfekt waren.

Im Spiegel traf ihn sein eigener Blick. »Sie denkt überhaupt nicht daran zu sterben. Wie lange warte ich schon darauf, dass die Natur ihren Lauf nimmt, aber die Alte ist zäh … Und jetzt lässt sie noch diesen Jungspund in die Bücher schauen!«

Er richtete sich vollends auf und zwang sich, diese neue, völlig unerwartete und höchst beunruhigende Wendung der Dinge zu durchdenken. »Wird er es herausfinden? Das ist die Frage.«

Eine Minute stand er still in Gedanken versunken, dann fuhr er fort: »Wenn ja …«

Wieder etwas später schüttelte er den Kopf. »Selbst wenn er nichts davon merkt, ihr wird es auffallen. Irgendwie wird er sie darauf aufmerksam machen, und sei es nur, dass er es eben nicht mit aufführt. Und sobald sie den Braten gerochen hat, wird sie Fragen stellen – jede Wette. Sie wird es nicht auf sich beruhen lassen.«

Seine wachsende Anspannung ließ die letzten Worte messerscharf durchs Dunkel dringen.

Sowie sie verklungen waren, hing er weiter seinen Gedanken nach.

Die nächtliche Stille wurde nur durch das ferne Ticken einer Uhr unterbrochen.

Schließlich gab er sich einen Ruck, vergewisserte sich mit einem Blick in den Spiegel und sah sich tief in die Augen. »Es darf niemals herauskommen, weder jetzt noch später. Also werde ich mich der Sache annehmen müssen. Ich werde keine Ruhe haben, ehe das nicht geklärt ist und ich mich sicher weiß. Dummerweise werde ich noch andere zum Schweigen bringen müssen, aber … schön der Reihe nach.«

Das war schon immer sein Motto gewesen, solange er denken konnte, und bislang war er sehr gut damit gefahren.

 2 

Noch nie war Montague aufgefallen, wie befriedigend es sein konnte, jenen Erleichterung zu verschaffen, die sich von ihren Finanzen überwältigt fanden. Es war ein Aspekt seiner Arbeit, den er bislang völlig unterschätzt hatte, künftig aber höher halten und stolz darauf sein wollte.

Nachdem er das Haus in der Lowndes Street verlassen hatte, fand er sich noch den ganzen Tag von der stillen Freude erfüllt, Lady Halstead zumindest schon ein wenig von ihrer Sorge genommen zu haben, und dieses Gefühl hatte auch den wie üblich ereignislos verlaufenen Abend über angehalten und ihn gleich am Morgen dazu beflügelt, ohne Verzug Lady Halsteads Vermögensverwalter aufzusuchen.

Wiewohl ihre Ladyschaft keinen Verdacht gegen Runcorn zu hegen schien, wollte Montague sich doch gern ein eigenes Bild machen. Hätte es sich um Unterschlagung gehandelt, wäre er wohl weitaus skeptischer gewesen, aber so fand er sich eher von Neugier denn Besorgnis getrieben, als er zügig das Trottoir entlangschritt.

Den ganzen Tag und auch den Abend waren ihm Lady Halsteads »Unregelmäßigkeiten« durch den Kopf gegangen, aber noch immer war er zu keiner plausiblen Erklärung gelangt. Was ihn allerdings nicht entmutigte, ganz im Gegenteil, denn es war lange her, dass ihn Zahlen vor ein Rätsel gestellt hatten, noch dazu vor eines, das sich als eine solch harte Nuss entpuppte.

Fast wie neugeboren fühlte er sich, als er beschwingten Schrittes von der Broad Street in die Winchester Street bog. Runcorns Kanzlei war ein ganzes Stück die Straße hinauf im Erdgeschoss eines Gebäudes gelegen, das genau an der Ecke stand, wo die Winchester Street einen scharfen Knick nach Norden machte. Auf der anderen Straßenseite war eine Schenke, aber die Geschäftsräume von Runcorn & Son wurden von einer kleinen Druckerei und einem Tabakladen flankiert.

Die Gegend unterschied sich sehr von den Straßen rund um die Bank of England, wo Montague und viele seiner Kollegen aus der Finanzbranche ihr Domizil hatten, aber Winchester Street war nicht weit von den etablierten Geschäftsvierteln entfernt und durchaus eine anständige Adresse für ein kleines Familienunternehmen.

Vor der Tür blieb er stehen und betrachtete einen Moment die verblichenen Lettern über dem großen Fenster, das auf die Straße hinausging, dann schaute er durchs Türglas und sah drinnen Licht brennen, was ihn nicht überraschte. Zwar fiel durch das Fenster etwas Tageslicht herein, aber bei Weitem nicht genug für eine Arbeit, bei der man ständig Zahlen entziffern musste.

Er öffnete die Tür und trat ein. Auch wenn alles hier etwas beengter war, kam es ihm doch sehr bekannt vor. Archivkästen und Aktenordner reihten sich dicht an dicht in den Regalen, die jeden freien Meter Wandfläche einnahmen, und türmten sich in einem mannshohen Stapel in der Ecke. Ein Mann in mittleren Jahren saß hinter einem schmalen, von Papieren übersäten Schreibtisch; als Montague hereingekommen war, hatte er von seiner Arbeit aufgeschaut.

Nun erhob er sich und kam, nüchtern gekleidet, wie es sich für einen Büroangestellten gehörte, hinter dem Schreibtisch hervor. »Kann ich Ihnen weiterhelfen, Sir?«

Montague zückte eine seiner Visitenkarten und reichte sie dem Mann. »Wenn Mr. Runcorn ein paar Minuten erübrigen könnte, würde ich ihm gern ein paar Fragen zur Akte Halstead stellen.«

Der Angestellte warf einen Blick auf die Karte, und seine Augen weiteten sich. »Natürlich, Sir. Einen Moment.« Er deutete auf ein paar Stühle, die am Fenster standen. »Bitte nehmen Sie doch solange Platz, Mr. Montague. Ich werde Mr. Runcorn Bescheid sagen, dass Sie ihn zu sprechen wünschen.«

Montague nickte ihm kurz zu und setzte sich. Er nahm nicht an, dass er über Gebühr würde warten müssen. Runcorn selbst mochte noch nicht lange genug im Geschäft sein, um seinen Namen zu kennen, aber seinem Kollegen war Montague ein Begriff, und er würde seinem Chef schon entsprechend Bescheid geben.

Der Mann klopfte ans hintere Büro, trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Kurz darauf ging die Tür wieder auf, und ein jüngerer Mann, vermutlich noch keine dreißig, kam nach einem kurzen, kaum merklichen Zögern entschlossen auf ihn zu. Montagues Karte hielt er wie eine Trophäe in der Hand.

Montague erhob sich.

»Sir.« Runcorn junior blieb vor ihm stehen und strahlte ihn mit fast kindlicher Freude an. Er schaute Montague direkt in die Augen, und in seinem Blick blitzten Schalk und Kalkül zugleich auf. Dann atmete er tief durch, zügelte seine Begeisterung und neigte höflich den Kopf. »Es ist mir eine Ehre, Mr. Montague, Sie bei Runcorn & Son willkommen zu heißen. Was können wir für Sie tun?«

Montague lächelte. »Ich habe eine Frage zu dem von Ihnen verwalteten Vermögen der Halsteads. Wenn Sie einen Augenblick Zeit hätten?«

Runcorn trat beiseite und wies den Weg zu seinem Büro. »Aber gewiss.«

Er bat Montague, auf einem der beiden Stühle Platz zu nehmen, die vor dem großen, altgedienten Schreibtisch standen. Während er selbst sich dahintersetzte, meinte er mit seinem jungenhaften Grinsen: »Es war die Kanzlei meines Vaters, müssen Sie wissen. Ich bin der Sohn.«

Montague fand die Begeisterung des jungen Manns ansteckend. »So viel hatte ich schon gehört.« Als Runcorn ihn fragend anschaute, fügte er erklärend hinzu: »Von Lady Halstead.« Er zog die Vollmachtserklärung hervor. »Ehe wir weiterreden, müssten Sie sich noch das hier durchlesen.«

Runcorn wurde wieder ernst, nahm das Schreiben und studierte es; schließlich faltete er es langsam zusammen und schaute Montague über den Schreibtisch mit leicht gerunzelter Stirn an.

Montague konnte unschwer erkennen, was dem jungen Mann durch den Sinn ging, zu offen war sein Gesicht, zu unverstellt seine Miene. Sollte er noch den Hauch eines Verdachts gehegt haben, dass Runcorn mit den Unregelmäßigkeiten zu tun haben könnte, so zerstreute sich dieser rasch. »Gestatten Sie mir, Ihnen zu versichern, dass ich nicht hier bin, um Ihnen Ihre Klientin abspenstig zu machen, Mr. Runcorn.« Er streckte seine Hand nach dem Schreiben aus und steckte es wieder ein.

»Das, Sir, beruhigt mich einerseits, andererseits bin ich nun etwas verwirrt«, räumte Runcorn ein. »Was genau führt Sie her?«

»Lady Halstead wünscht lediglich eine zweite Meinung – sagen wir eine Art Rückversicherung –, dass es mit der Erklärung, die Sie für die Unregelmäßigkeiten auf ihrem Bankkonto finden, auch seine Richtigkeit hat. Nur darauf zielt mein Auftrag. Ich möchte zudem klarstellen, dass ich keinen finanziellen Gewinn daraus ziehen werde und ihr meine Expertise sozusagen aus rein professioneller Neugier zur Verfügung stelle.« Montague erwiderte Runcorns Blick. »Ich muss gestehen, dass mich der Auftrag sehr reizt und ich ausgesprochen gespannt bin, welche Erklärung sich letztlich für die ungewöhnlichen Eingänge auf das Konto ihrer Ladyschaft findet.«

Runcorn ließ einen Moment verstreichen, dann wiederholte er, als wolle er es sich selbst begreiflich machen: »Sie wünscht eine Rückversicherung … Nun ja, in gewisser Weise kann ich es verstehen. Ich bin noch nicht lange im Geschäft und …« Er sah Montague an. »Um ganz offen zu sprechen, Sir, würde ich Ihren Rat in dieser Angelegenheit sehr zu schätzen wissen. Ich nahm erst an, dass es Erträge einer schon vor Jahren getätigten Anlage wären, aber das scheint, so weit wir es bislang überblicken können, nicht der Fall zu sein.«

»Nein«, bestätigte Montague und zögerte, ehe er nachsetzte: »Genau das hatte mein Interesse geweckt. Ich bin schon sehr lange im Geschäft, aber ein solches Zahlungsmuster ist mir noch nie untergekommen. Es passt zu keiner mir bekannten Geldanlage, keinem gängigen Auszahlungsmodus.«

»Ganz genau«, pflichtete Runcorn ihm bei. »Pringle – Sie haben ihn eben kennengelernt, er hat auch schon für meinen Vater gearbeitet –, also Pringle und ich, wir haben uns die Köpfe zerbrochen, woher das Geld kommen könnte, haben aber weder eine Erklärung noch auch nur einen Ansatzpunkt gefunden. Bei der Bank sind die Eingänge als Bareinzahlungen vermerkt, weshalb es aussichtslos sein dürfte, sie zurückzuverfolgen, und …«, Runcorn wand sich ein wenig, »… es schien mir auch nicht geraten, die Bank darum zu bitten – nicht ohne Lady Halsteads Einwilligung oder nachdem wir alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hätten.«

Montague betrachtete den jungen Mann und nickte anerkennend. »So ist es. Die Bank sollten wir erst dann hinzuziehen, wenn unsere Nachforschungen anderweitig nichts ergeben. Kein Grund, unnötig die Pferde scheu zu machen.«

»Das haben wir uns auch gesagt.« Runcorn wirkte beruhigt. »Wir haben uns die gesamte Halstead-Akte noch einmal vorgenommen und sind sie Seite für Seite durchgegangen – sie umfasst mehr als dreißig Jahre –, um vielleicht doch einer jetzt erst gewinnbringenden Investition auf die Spur zu kommen, aber bislang sind wir nicht fündig geworden.«

Montague überlegte kurz und nickte erneut. »Das ist tatsächlich die erste und naheliegendste Frage, der Sie nachgehen sollten. Auch wenn es nicht den Anschein hat, wäre es die einfachste Erklärung. Sie hatten ganz recht, damit anzufangen.« Runcorn wirkte so erleichtert, dass Montague lächeln musste. Dann jedoch ging dem jungen Mann auf, wie viel Arbeit noch vor ihnen lag. »Allerdings«, bestätigte Montague, »das wird Zeit und Mühe kosten. Ich wäre Ihnen derweil dankbar, wenn Sie mir eine Abschrift sämtlicher Kontenblätter überlassen könnten – bis zu jenem Zeitpunkt, als zum ersten Mal eine der fraglichen Zahlungen einging. Lady Halstead hat mir bereits die der letzten sechs Monate ausgehändigt, aber ich bräuchte einen vollständigen Überblick. Darüber hinaus bräuchte ich auch eine Auflistung aller Investitionen, Anleihen und Wertpapiere.«

Runcorn nickte; Lady Halsteads Vollmacht erlaubte es Montague, solche Auskünfte zu erbitten, und Runcorn, sie zu erteilen. »Die Kontoabschrift können wir Ihnen gleich mitgeben – Pringle müsste noch eine haben. Ebenso eine Übersicht über die laufenden Anlagen, die derzeit Erträge bringen – mit denen hatten wir angefangen. Aber eine vollständige Übersicht zusammenzustellen, dürfte ein paar Tage in Anspruch nehmen.« Er sah Montague an. »Um sicherzugehen, dass wir alles berücksichtigt haben, müssten wir wirklich die ganzen dreißig Jahre zurückgehen.«

»Auf ein paar Tage kommt es nicht an«, versicherte Montague ihm und stand auf. »Ich weiß, wie langwierig so etwas ist. Zumal Sie ja auch noch andere Klienten haben.«

»Sie sagen es.« Runcorn kam hinter dem Schreibtisch hervor und öffnete die Tür. »Wir arbeiten hier gerade Tag und Nacht. Niemand hätte damit gerechnet, dass die Sache so viel Zeit in Anspruch nehmen würde.«

Montague trat wieder ins Vorzimmer, wo er nun ganz offiziell Mr. Pringle vorgestellt wurde, der sich, nachdem Runcorn ihn kurz instruiert hatte, als erstaunlich effizient erwies. Er suchte die benötigten Kontenblätter heraus und legte ihm die Auflistung aller laufenden Investitionen vor.

Mit Blick auf den Berg Unterlagen vor sich auf dem Schreibtisch meinte Pringle: »Eine vollständige Zusammenstellung aller jemals getätigten Anlagen bräuchte noch ein paar Tage.«

Montague nickte. »Damit hatte ich gerechnet. Gründlichkeit hat hier absoluten Vorrang vor Schnelligkeit. Wir müssen sichergehen, dass wir nichts übersehen haben, kein noch so kleines Detail. Das sollte uns die paar Tage mehr wert sein. Eine unvollständige Liste hilft uns nicht weiter.«

Pringle verbeugte sich. »Ganz recht, Sir. Ich werde mein Bestes geben.«

Nach dem ersten Eindruck, den er von Pringles Sorgfalt erhalten hatte, war Montague mehr als zuversichtlich, dass das genügen sollte – und das sagte er auch.

Sowohl Pringle als auch der junge Runcorn strahlten noch immer übers ganze Gesicht, als Montague die Geschäftsräume von Runcorn & Son bereits schon wieder verlassen hatte und sich voller Elan auf den Weg machte, um mit seinen eigenen Nachforschungen zu beginnen.

Allerdings kam er erst am späten Nachmittag dazu, sich erneut dem Rätsel um Lady Halsteads Konto zu widmen. Bei seiner Rückkehr in die Kanzlei war Montague von anderweitigen Verpflichtungen beansprucht worden, von Klienten, die ihn sprechen wollten, von Firmen, die vorstellig wurden, weil sie Kapital brauchten.

Sein Unternehmen lebte vom Tagesgeschäft, weshalb er Lady Halstead und ihre mysteriösen Kontobewegungen erst einmal hatte hintanstellen müssen.

Doch dann, als die Dämmerung sich langsam herabsenkte, konnte er sich endlich den schmalen Ordner mit den Kontenblättern und der vorläufigen Liste der Geldanlagen ihrer Ladyschaft vornehmen.

Zwei Stunden später, just als Slocum an seine Tür klopfte, um sich zu verabschieden, war er am Ende der mühseligen Aufgabe angelangt, sämtliche Zahlungseingänge mit den Erträgen diverser Investments abzugleichen, und er musste Lady Halstead recht geben: Etwas sehr Seltsames ging auf ihrem Konto vor.

Nachdem er Slocum einen schönen Abend gewünscht hatte, lehnte Montague sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Papiere. Er begann mit den Fingern auf den Armlehnen zu trommeln und merkte, wie jene Erklärung immer deutlicher Gestalt annahm, die er zwar nie ganz außer Acht gelassen, aber dann doch zu abwegig gefunden hatte.

»Geldwäsche«, stellte er fest und runzelte die Stirn. »Aber warum? Wer versucht hier, welche Vermögenswerte zu verschleiern?«

Aus rein finanzieller Sicht war die Verschleierung von Vermögenswerten das genaue Gegenteil von Unterschlagung, aber juristisch in aller Regel ebenso zweifelhaft, da Geld, das versteckt werden musste, meist nicht auf legalem Wege erwirtschaftet worden war.

»Mit anderen Worten«, dachte er laut weiter, »wenn ich diesen Vorgängen auf den Grund gehe, könnte ich sehr wohl auf kriminelle Umtriebe stoßen.«

Sollte er die Behörden verständigen?

Er überlegte, was genau er melden wollte, und schüttelte den Kopf. »Noch kann ich mir nicht sicher sein, dass es sich tatsächlich um ein Verbrechen handelt. Ich habe zumindest keinen Beweis, der in diese Richtung deuten würde.«

Indem er die Polizei einschaltete, dürfte er sich auch weder Lady Halstead noch Miss Matcham gewogen machen. Nicht dass diese Erwägung ihn davon abhalten würde, aber …

Er begann erneut, mit den Fingern zu trommeln, ungeduldiger diesmal, nachdrücklicher. »Hätte ich Beweise, wäre klar, was zu tun ist, aber so besteht immer noch die Möglichkeit, dass hinter alldem etwas ganz anderes steckt, für das sich eine völlig harmlose Erklärung finden lässt.«

Er überflog noch einmal sämtliche Unterlagen, die er vor sich hatte und erwog, welche Möglichkeiten ihm blieben. Die fraglichen Zahlungen zurückzuverfolgen, dürfte, so es denn möglich war, am schnellsten zum Ziel führen.

Zwar hatte man ihn schon bei Ermittlungen hinzugezogen, so sie den Finanzsektor tangierten, aber stets nur beratend. Er hatte noch nie von sich aus eine polizeiliche Ermittlung in Gang gebracht. Allerdings war er auf diese Weise an Kontakte gelangt, die eindeutig mehr von dem Metier verstanden als er und die sich gewiss gern bei ihm revanchieren würden, wenn er sie um den Gefallen bat.

»Aber bislang ist es ausschließlich ein finanzielles Problem«, rief er sich in Erinnerung, »und auf diesem Gebiet …« War nun einmal er der Beste. Weshalb man sich auch in allen Fragen, bei denen Geld im Spiel war, an ihn wandte.

Er atmete tief durch, setzte sich auf und schob die Unterlagen auf dem Schreibtisch zusammen. Als er sie zurück in den Halstead-Ordner legte, musste er wieder an seine Ruhelosigkeit der letzten Zeit denken, seinen Wunsch nach Abwechslung und einer neuen Herausforderung. Anscheinend hatte das Schicksal ihn erhört.

Überlege dir genau, was du dir wünschst.

Obwohl er seine Mutter verloren hatte, als er zehn war, konnte er sich noch an jedes einzelne ihrer Worte erinnern.

Andererseits war diese quälende Stimme, die Stimme der Unzufriedenheit, seit ein paar Tagen verstummt, was er als eindeutige Verbesserung wertete.

Er ließ den Halstead-Ordner auf dem Schreibtisch liegen, stand auf und löschte die Lampe. Im Licht der Straßenlaternen von Chapel Court, das durch die Fenster hereinfiel, durchquerte er den Vorraum. Als er die Tür öffnete, musste er daran denken, welch gelöste Atmosphäre unter seinen Angestellten herrschte, wenn er sie abends das Büro verlassen hörte, welche Freude auf den Feierabend.

Etwas, das er nur bei anderen beobachtet, nie aber selbst erfahren hatte.

Autor

Stephanie Laurens
Stephanie Laurens wurde in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
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Stephanie Laurens
Stephanie Laurens wurde in Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) geboren. Sie begann mit dem Schreiben, um ihrem wissenschaftlichen Alltag zu entfliehen. Bis heute hat sie mehr als 50 Romane verfasst und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesgeschichten. Die preisgekrönte New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Melbourne.
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