Ein Cowboy küsst selten allein

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Zane könnte sich etwas Besseres vorstellen, als ein unerfahrenes Mädchen aus der Stadt mit zum Viehtrieb zu nehmen. Was Phoebe übers Ranchleben weiß, passt locker in seinen Cowboyhut. Doch ihr Lachen ist so hinreißend, dass er seine Gefühle nicht mehr im Griff hat. Der Kuss, der darauffolgt, verrät ihm aber, dass ein überzeugter Einzelgänger wie er dieser umwerfenden Frau unbedingt aus dem Weg gehen sollte, wenn er nicht eingefangen werden möchte …

"Susan Mallery ist eine Klasse für sich"

Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag 06.03.2017
  • Bandnummer 25
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499753
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

Ein Cowboy küsst selten allein

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ivonne Senn

 

 

 

 

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MIRA® TASCHENBUCH

 

 

 

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Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Kiss Me
Copyright © 2015 by Susan Mallery Inc.
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Umschlaggestaltung: büropecher
Umschlagabbildung: Matthias Kinner/pecher & soiron
Redaktion: Mareike Müller

ISBN eBook 978-3-95649-975-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. Kapitel

Zane Nicholson war ein Mann, der schon immer auf sein Bauchgefühl vertraut hatte. Und um kurz vor zehn an diesem Morgen verriet es ihm, dass heute kein guter Tag werden würde.

Er schaute aus dem Fenster auf die grünen Hügel der Nicholson Ranch und fragte sich, ob es einfacher wäre, Farmer zu sein. Getreide neigte wenigstens nicht dazu, nachts die Zäune zu durchbrechen und wegzulaufen. Getreide wurde auch nicht mit einer Steißgeburt auf die Welt gebracht. Vielleicht sollte er in Zukunft Mais anbauen. Oder Weizen. Weizen war patriotisch. Diese bernsteinfarbenen Wellen. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Papiere vor sich und schüttelte den Kopf. Wem wollte er hier etwas vormachen? Er war Rancher in fünfter Generation. Das Einzige, was auf der Ranch aus dem Boden sprießen würde, war das Gemüse im Garten hinter den Baracken der Arbeiter.

„Hey, Boss.“

Zane hob den Blick und erblickte seinen Vorarbeiter, der im Türrahmen seines Büros stand. Frank Adelman setzte seinen Cowboyhut ab, schlug sich damit gegen den linken Oberschenkel, und ließ sich dann auf den harten Plastikstuhl vor dem Schreibtisch sinken. Ein Besuch von Frank vor dem Mittag verhieß nichts Gutes.

„Was?“, fragte Zane eher resigniert als genervt.

Die Ranch war Anfang des Jahres von der Stadt Fool’s Gold annektiert worden, was bedeutete, dass sie nun innerhalb der Stadtgrenzen lag. Eine Entscheidung, von der die Bürgermeisterin geschworen hatte, sie wäre gut für ihn. Sie hatte gesagt, alle hier draußen würden von den Dienstleistungen der Stadt profitieren, aber bisher hatte er nur einen Anstieg bei dem Papierkram feststellen können. Er sah den Vorteil nicht, auch wenn sein Bruder froh war über das schnellere Internet, das von den neu gelegten Kabeln der Stadt kam.

„In der Baracke ist ein Rohr gebrochen“, erklärte Frank. „Unter der Spüle in der Küche. Die Jungs sind alle draußen bei der Herde. Ich habe das Wasser abgestellt, doch wir werden uns heute darum kümmern müssen. Soll ich jemanden zurückrufen oder lieber einen Klempner holen?“

Zane ließ seinen Stift auf den Tisch fallen und massierte sich die Schläfen. Was er wollte, war ein wenig Kooperation vom Schicksal. Ein paar Wochen ohne eine Krise. Aber offensichtlich war das zu viel verlangt.

Er überdachte seine Optionen: Frank konnte sich nicht um das geplatzte Wasserrohr kümmern, weil er in knapp einer Stunde Käufer herumführen musste, die sich die Kälber anschauen wollten. Er selbst hatte am Nachmittag ein Treffen mit einer Wissenschaftlerin von der Universität von Fool’s Gold, was bedeutete, dass er sich nicht um die Käufer kümmern konnte. Es wäre am einfachsten, einen Klempner aus der Stadt zu rufen, doch vielleicht hatte der heute keine Zeit.

„Ruf ein paar der Jungs zurück“, meinte Zane schließlich und schüttelte den Kopf. „Heute ist Montag, oder? An Montagen ist es immer am schlimmsten.“

Frank stieß einen zustimmenden Laut aus, dann erhob er sich. Noch bevor er die Tür erreicht hatte, klingelte das Telefon. So viel dazu, heute den Papierkram noch rechtzeitig zu erledigen, dachte Zane und griff nach dem Hörer.

„Nicholson Ranch“, meldete er sich. „Hier ist Zane.“

„Hi“, sagte eine leise, freundliche Frauenstimme. „Ich rufe an, weil ich ein paar Fragen zu den Räumlichkeiten habe. Können Sie mir damit helfen?“

Zane blinzelte verwirrt. „Räumlichkeiten? Sie meinen, um Pferde unterzustellen? Das bieten wir nicht an, Ma’am. Aber Sie könnten sich mal bei dem alten Reilly Konopka erkundigen. Oder auf der Castle Ranch in der Stadt. Da sprechen Sie am besten mit Rafe.“

Die Frau lachte. „Nein. Ich meinte keine Unterbringungsmöglichkeit für meine Pferde. Ich meinte für meinen Mann und mich. Wir kommen dieses Wochenende für den Viehtrieb und haben uns gefragt, ob Sie wohl irgendwelche Wellnessangebote haben. Wir hatten in letzter Zeit sehr viel Stress. Ich denke, eine Pärchen-Massage wäre ein netter Anfang für unsere Ferien. Vielleicht eine Bindegewebsmassage. Oder diese heißen Steine. Die sind doch im Moment der letzte Schrei, oder?“

Massage? Ferien? Viehtrieb?

„Ma’am, ich habe keine Ahnung, wovon Sie da reden.“ Zane spürte, wie sich langsam ein Knoten in seinem Magen bildete. Ja, das schlechte Bauchgefühl von vorhin nahm langsam, aber sicher zu.

„Oh.“ Sie klang enttäuscht. „Auf der Website hatte nichts von einem Spa gestanden, aber ich hatte dennoch gehofft. Können Sie mir ein Hotel in Fool’s Gold empfehlen, das einen Wellnessbereich hat? Wir reisen einen Tag früher an. Ich möchte wirklich ausgeruht sein, bevor wir am Samstag zu dem Viehtrieb kommen.“

„Ma’am, können Sie mir bitte sagen, was das für ein Viehtrieb ist, zu dem Sie wollen?“

„Entschuldigen Sie bitte? Sind Sie nicht der Betreiber der Ranch?“

Er war sogar der Besitzer. Was war hier los?

„Na gut. Okay. Mein Mann und ich haben uns zu einem Viehtrieb angemeldet.“ Sie plapperte weiter, erging sich in Einzelheiten, einschließlich der Website, auf der sie ihre Ferien gefunden hatte. Während sie sprach, schaltete Zane seinen Computer ein und tippte die Internetadresse ein. Als die Seite aufpoppte, blieb ihm der Mund offen stehen. Er konnte sich kaum daran erinnern, sich verabschiedet zu haben, bevor er den Hörer auflegte.

In weniger als zwei Minuten hatte er sich durch die Seite geklickt, die alle Highlights eines Urlaubs auf einer Ranch in Nordkalifornien auflistete, zu denen auch die Teilnahme an einem Viehtrieb gehörte. Auf seiner Ranch. Es gab nur einen Menschen, der sich so etwas trauen würde – sein Bruder.

Zorn begann in ihm zu brodeln und wurde zu etwas, das Zane nicht einmal benennen konnte. Die Emotion wurde immer heftiger, bis ihm klar wurde, dass er gleich explodieren würde.

Chase hatte es schon zuvor unzählige Male vermasselt, aber verglichen mit dem hier war das alles Kinderkram gewesen. Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Zane stand auf und schritt zur Tür, dann hielt er inne. Er wollte auf etwas einschlagen, etwas zerbrechen. Wenn er jetzt zu Chase ginge, würde er viele Dinge sagen, die sie beide später bereuen würden. Er wusste, dass sein kleiner Bruder ihn als eine Mischung aus dem Teufel und dem schlimmsten Aufpasser seit Scrooge sah. Er wusste auch, dass Chase beinahe erwachsen war, und wenn er sich nicht langsam zusammenriss, würde er den Rest seines Lebens damit verbringen, Unsinn anzustellen und mit den Schuldgefühlen zu leben.

Reue. Dieses Wort reichte, damit Zane sich beruhigte. Seitdem er in Chases Alter gewesen war, hatte er selber mit ihr gelebt. Sie war ein Gefühl, das einen Mann langsam von innen heraus auffraß. Sie weckte in ihm den Wunsch, bis ans Ende der Welt zu laufen, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber so einfach war das leider nicht. Was geschehen war, konnte nicht rückgängig gemacht werden. Er wollte nicht, dass sein Bruder das Gleiche erlebte.

Seitdem Chase ein Kleinkind gewesen war, das ihm auf der Ranch gefolgt war und jede seiner Bewegungen nachgemacht hatte, hatte Zane ihn so sehr geliebt, dass es manchmal schmerzte. Er hatte sich damals geschworen, auf den Jungen aufzupassen, ihn zu beschützen – auch vor sich selbst.

Anstatt zu Chase zu marschieren, kehrte er also an seinen Schreibtisch zurück und überlegte, was nun am besten zu tun wäre. Er war entschlossen, seinem Bruder eine Lektion in Verantwortung zu erteilen, damit er zu einem Mann heranwuchs, der sich selber respektierte. Einem Mann, der nicht mit dem Geist der Schuldgefühle leben müsste.

„Ich habe beschlossen, Sie nicht ins Gefängnis zu stecken, Ms. Kitzke“, sagte Richterin Haverston und schaute ernst über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. „Ich glaube, Sie hatten die besten Absichten.“ Sie hielt inne. „Sie wissen, was man über den Weg zur Hölle sagt?“

„Ja, Euer Ehren.“

„Ich werde keine Geldbuße verhängen. Die Anzahlung wird zurückerstattet.“ Sie schaute auf die Papiere auf ihrem großen Schreibtisch und tippte mit dem Finger darauf. „Ich denke, die Sitzung ist geschlossen.“

Phoebe Kitzke blieb stehen, während alle anderen in dem kleinen Gerichtssaal in Los Angeles angewiesen wurden, sich zu erheben. Richterin Haverston verschwand durch die Tür, die zu ihrem Büro führte – oder wie auch immer man das bei Richtern nannte. Das legale Geheimversteck, dachte Phoebe auf der Suche nach ein wenig Humor, doch sie empfand nichts außer nachklingendem Schrecken. Hoffentlich würde die Erleichterung bald folgen.

Nicht ins Gefängnis zu müssen, ist gut, erinnerte sie sich. Sie hatte ausreichend Teenagerfilme über Gefängnisse gesehen, als sie damals zu Highschoolzeiten beim Babysitten lange wach geblieben war. Sie wusste, was dort passieren konnte. Es war wesentlich besser, sich auf der richtigen Seite des Gesetzes zu halten.

Phoebe schüttelte die Hand des Firmenanwalts und dankte ihm für seine Hilfe. Danach drehte sie sich um und entdeckte, dass ihre Chefin, April Keller, auf sie wartete. April war größer als Phoebe – wer war das nicht – und genau die sonnengeküsste Blondine, für die Kalifornien so berühmt war. Phoebe hatte sich mit ihrer kleinen, kurvigen Figur und den dunklen Haaren und Augen in L. A. immer etwas fehl am Platz gefühlt.

„Geht es dir gut?“, fragte April.

Phoebe zuckte die Achseln. „Ich bin froh, dass ich nicht ins Gefängnis muss. Ich habe nicht den Background, um dort erfolgreich zu überleben. Was den Rest angeht, fühle ich mich immer noch wie betäubt.“

Laut seufzte April. „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich und klang gleichzeitig unglücklich und erleichtert. „Alles. Du hast mich wirklich gerettet.“

Diese Unterhaltung wollte Phoebe nicht führen. Wenn sie zu sehr darüber nachdachte, was geschehen war, würde sie sauer werden und Dinge sagen, die eine wichtige Beziehung zerstören würden.

„Was ist mit meinem Job?“, fragte sie stattdessen. „Habe ich den auch gerettet?“

April presste die Lippen zusammen und wich ihrem Blick aus.

„Super.“ Phoebe drängte sich an ihr vorbei zum Ausgang. „Lass mich raten, ich bin gefeuert.“

„Suspendiert.“

April folgte ihr auf den Flur hinaus, der nur so vor Menschen wimmelte, die ihren juristischen Geschäften nachgingen. Phoebe hoffte, dass die Unschuldigen unter ihnen mehr Glück hatten als sie. An einem ramponierten Schwarzen Brett blieb sie stehen und schaute ihre Chefin an.

„Für wie lange?“, erkundigte sie sich.

„Einen Monat.“ April berührte ihren Arm. „Hör mal, ich mache das wieder gut. Das schwöre ich. Ich bezahle dein Gehalt aus eigener Tasche.“

Tief atmete Phoebe ein. „Ich bin ohne Gehalt suspendiert worden?“

April nickte.

Perfekt. Einfach perfekt. Phoebe trat zurück und straffte die Schultern. „Ich schätze, wir sehen uns in einem Monat“, sagte sie und ging zur Tür.

April eilte ihr hinterher. „Phoebe, warte. Mir ist klar, du bist wütend auf mich. Und dazu hast du auch jedes Recht.“

Phoebe blieb stehen. „Ehrlich gesagt bin ich nicht wütend auf dich, sondern auf mich.“

Tränen stiegen April in die Augen. „Wenn du mir nicht geholfen hättest … Wer weiß, was dann passiert wäre.“

„Ich weiß. Ich bin froh, dass es dir gut geht.“ Sie sah betont auf ihre Uhr. „Hör mal, ich muss los.“

„Okay, aber ruf mich in ein paar Tagen an, ja? Du kannst mich so lange anschreien, wie du willst. Ich habe es verdient.“

Phoebe nickte und schritt zum Fahrstuhl, der nach unten in die Tiefgarage fuhr. Sie versuchte, sich zu sagen, dass sie, im Großen und Ganzen betrachtet, eine gute Tat vollbracht hatte. Kosmisch betrachtet hatte sie gerade ihre Chancen auf Ruhm und Erfolg im nächsten Leben erhöht, indem sie jemandem in Not geholfen hatte. Wenn es denn ein nächstes Leben gab. Falls nicht, war sie gerade suspendiert worden – ohne Bezahlung – von einem Job, den sie liebte, für etwas, das nicht ihr Fehler hätte sein sollen, es aber war.

Bis jetzt war es nicht der beste Montag ihres Lebens.

„Phoebe?“

Die Stimme kam von hinter ihr, aber sie erkannte sie. Erkannte sie sofort und wusste, dass ihr Montag noch schlimmer werden würde. Sie atmete tief ein und drehte sich um. Jeff Edwards stand in dem schmuddeligen Flur. Der gleiche Jeff, den sie einst geliebt hatte, mit dem sie verlobt gewesen war, bei dem sie beinahe eingezogen wäre … bis sie ihn mit einer achtzehnjährigen Praktikantin im Bett erwischt hatte, um die sie sich im Rahmen eines Arbeitsprogramms für Kinder aus Pflegefamilien kümmern sollte.

Der hochgewachsene, gut aussehende, erfolgreiche Jeff Edwards, der es gewagt hatte, alle seine DVDs zurückzufordern, nachdem sie die Beziehung beendet hatte. Jeff Edwards vom California Bureau of Real Estate, der kalifornischen Maklervereinigung.

„Du hast es echt verbockt.“ Er hielt einen offiziell aussehenden Briefumschlag in den Händen. „Der Vorstand überlegt, dir deine Lizenz zu entziehen.“

Sie starrte ihn an und blinzelte ein paar Mal, weil sie nicht fassen konnte, dass das hier wirklich geschah. Es war, wie in einen Autounfall verwickelt zu sein, wenn sich alles wie in Slow Motion abspielte. Ihr blieb weder Zeit, den Lauf der Dinge aufzuhalten, noch gab es eine Möglichkeit, den Aufprall abzuwehren.

In einer perfekten Welt würde ihr ein bissiger, gewitzter Kommentar einfallen, um Jeff auf seinen Platz zu weisen. Doch da ihre Welt sowieso völlig ins Trudeln geraten war, nahm sie ihm ohne ein Wort den Umschlag aus den Händen. In diesem Moment hatte das Schicksal zum ersten Mal an diesem Tag ein Einsehen mit ihr und die Türen des Fahrstuhls glitten auf. Sie trat so würdevoll ein, wie es ihr nur möglich war. Ihr einziger winziger Sieg war der schockierte Ausdruck auf Jeffs Miene, als die Türen sich sanft schlossen und ihn allein und Selbstgespräche führend auf dem Korridor zurückließen.

Chase tippte fieberhaft auf seiner Tastatur, seine Finger bewegten sich im Rhythmus des hämmernden Basses des Songs, den er über seine Kopfhörer hörte. In einem kleinen Fenster in der unteren Ecke des Bildschirms flackerte eine Montage an Bildern im gleichen perfekten Rhythmus der Musik auf. Er ignorierte die meisten davon – bis auf die Bikinifotos aus der Sports Illustrated, die er sich letzte Woche heruntergeladen hatte. Diese sehr hübschen Ladies erhielten seine volle Aufmerksamkeit. Als das Programm anfing, Bilder von Rockbands, Autos und Außerirdischen zu zeigen, richtete er seinen Blick wieder auf das Chatfenster in der Mitte des Monitors und auf die Nachricht, die dort auf ihn wartete.

Roboterkatze hat Maus nicht angegriffen, ist aber auf eine draufgefallen.

Chase las den Satz zwei Mal, fluchte, holte dann ein abgegriffenes Notizbuch heraus und fing an, durch die Seiten zu blättern.

Hat er irgendein Interesse gezeigt?, tippte er. Kannst du bestätigen, dass die Sensoren funktionieren?

Denn im letzten Test hatten die Sensoren einwandfrei gearbeitet. Zumindest hatten sie Bewegungen wahrgenommen. Doch verstand der Roboter, was er da sah? Das war das Problem, über das Peter und er gestolpert waren. Vielleicht ist eine Roboterkatze zu ambitioniert, überlegte Chase zum bestimmt tausendsten Mal. Vielleicht hätten sie stattdessen mit der Maus anfangen sollen. Vielleicht …

Das Hämmern in seinen Kopfhörern verstummte mit einmal. Chase schaute auf und sah Zane neben seinem Schreibtisch stehen. Das Kabel, das die Kopfhörer mit dem Computer verband, baumelte zwischen den Fingern seines Bruders.

Sofort drückte Chase drei Knöpfe in schneller Reihenfolge und aktivierte das Makro, das Peter eine Nachricht schickte, dass er wegen Störungen durch einen Erwachsenen die Kommunikation zu diesem Zeitpunkt abbrechen musste. Alle seine Freunde hatten ähnliche Notfallnachrichten. Einige von ihnen waren sogar ziemlich lustig. Doch beim Anblick von Zanes wütendem Gesicht und dem Zorn, der in seinen Augen loderte, verging Chase der Wunsch zu lachen.

Er versuchte, sich zu erinnern, ob er in letzter Zeit etwas verbockt hatte. Er hatte aus Versehen ein paar Teller zerbrochen, als er gestern Abend die Küche aufgeräumt hatte, aber dafür hatte Zane ihn bereits angeschrien. Außerdem entsprach die Intensität seiner Wut nicht zwei zerbrochenen Tellern. Was bedeutete, dass er irgendetwas anderes vermasselt haben musste. Etwas Großes. Allerdings war noch nicht einmal Mittag. Außer fürs Frühstück hatte er sein Zimmer noch nicht verlassen.

Außer, Zane hatte herausgefunden, dass er …

Zane sagte nichts, sondern trat nur näher an den Tisch, beugte sich vor und tippte eine Internetadresse ein. Als er den vierten Buchstaben eingab, wusste Chase, dass er bis zum Hals in der Tinte steckte.

Er beobachtete, wie die Seite innerhalb weniger Sekunden lud. Ein Panoramabild der Stadt Fool’s Gold am Fuße der Sierra Nevada erfüllte den Monitor. Unten verlief ein Text: Besuchen Sie die wunderschöne Natur von Nordkalifornien und verleben Sie einen Urlaub wie keinen anderen.

Das Bild verschwand und wurde von einem Foto ersetzt, das Menschen auf Pferden zeigte. Das ist ein cooles Foto, dachte er und erinnerte sich daran, wie er es von einer anderen Seite kopiert hatte.

„Fang an zu reden“, stieß Zane hervor. Er richtete sich wieder auf und fixierte Chase mit seinem ernstesten Blick.

Als Chase noch klein gewesen war, hatte er das den Todesstrahlenblick genannt. Er hatte ihm immer Angst eingejagt. Aber damals war er ein Kind gewesen und hatte keine Ahnung gehabt, wie die Welt funktionierte. Damals war Zane sein Ein und Alles gewesen, der beste Teil seiner Welt. Doch dann hatte er irgendwann lernen müssen, dass sein Bruder umgekehrt in ihm nur einen Versager sah, der ihm immer in die Quere kam.

„Nun?“

Chase stand von seinem Stuhl auf und ging zu seinem Bett. Auch wenn der Todesstrahlenblick ihn nicht länger in die Flucht schlug, war es ihm lieber, etwas Distanz zwischen sich und Zane zu bringen.

„Das ist doch keine große Sache“, meinte Chase gespielt gelassen. „Peter Moreno und ich haben eine Website für unseren Computerkurs entwickelt. Mr. Hendrix hat uns eine Eins dafür gegeben. Er meinte, eines Tages wären wir besser im Programmieren als er.“

Zane zog sich den Stuhl heran, den Chase gerade geräumt hatte, und setzte sich. Nachdem er sich die Augen gerieben hatte, schüttelte er langsam den Kopf.

„Ja. Du hast eine Eins in Computerwissenschaften und Physik und Mathe und allen anderen Fächern, die dich interessieren. Die Drei in Englisch und die Vier in Geschichte ignorieren wir.“

Chase ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Mein Gott, mussten sie das alles noch mal durchkauen? Niemand am MIT würde sich dafür interessieren, wenn er nicht gut in Geschichte war. So ein College war das nicht. Natürlich, wenn es nach Zane ginge, würde Chase niemals das MIT besuchen. Stattdessen würde er sein Leben damit verbringen, Kuhscheiße zu schaufeln und Ziegen zu füttern.

„Ich habe vor einer halben Stunde einen Anruf erhalten“, verkündete Zane.

Seine kontrollierte Stimme sorgte dafür, dass Chase sich langsam aufsetzte. Noch Furcht einflößender als sein Todesstrahlenblick war diese ruhige Stimme. Sie bedeutete, dass Zane sich bemühte, sein Temperament im Zaum zu halten, bevor er explodierte und alles zwischen hier und Sacramento vernichtete.

„Eine Frau wollte wissen, ob sie eine Massage kriegen könnte, bevor sie auf den Viehtrieb geht.“

„Oh. Das.“

„Ja, das. Warum erzählst du mir nicht davon?“

Chase schluckte und erinnerte sich, was Peter und er getan hatten. Es war ein Scherz gewesen, der aus dem Ruder gelaufen war. Er warf Zane einen Blick zu und bemerkte, dass ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. Kein wirklich gutes Zeichen.

„Keine Panik“, erwiderte er schnell. „Ich habe alles im Griff.“

„Erzähl mir von deinen Plänen, Chase.“

Zane sah aus wie ein Mann, der sein Temperament mit ganzer Kraft zügeln musste. Chase war nicht sicher, wie lange sein Bruder das durchhalten konnte. Also fing er an, so schnell zu sprechen, wie er nur konnte.

„Wie gesagt, es war ein Schulprojekt. Wir musste eine Website entwerfen und sie den anderen vorstellen.“

„Im Intranet der Schule“, stieß Zane durch zusammengebissene Zähne aus. „Aber du hast sie auf einen Server gestellt, sodass jeder sie sich anschauen kann.“

„Äh, das war ein Unfall. Reese Hendrix hat das als Witz gemacht.“

Zanes Hände ballten sich zu Fäusten. „Ein Witz? Ihr habt einen Viehtrieb beworben. Ihr habt Reservierungen bestätigt. Ihr habt Geld angenommen.“

„Nur ganz kurz“, protestierte Chase. „Hör mal, ich weiß, was ich tue.“

Sein Bruder erhob sich und lief zum Fenster. „Also tauchen hier am Samstag Leute auf, die erwarten, an einem sechstägigen Viehtrieb teilzunehmen? War das der Plan?“

„Nein. Mach dir keine Sorgen. Ich habe mich darum gekümmert. Es war ein Fehler. Als das Geld einging, wussten Peter und ich nicht, was wir tun sollten.“ Okay, später waren sie darauf gekommen, dass es smart gewesen wäre, das Geld mit einem Entschuldigungsbrief zurückzuschicken, aber zu dem Zeitpunkt war ihnen das nicht eingefallen.

„Peter und ich arbeiten an unserem Roboter und wir brauchten Teile. Peter hat seinen Teil dazugegeben, aber du wolltest mir kein Geld leihen oder mich für Arbeiten bezahlen.“

„Du hast das Geld von Fremden für eurer Projekt benutzt?“, stieß Zane hervor und drehte sich zu ihm um. „Das nennt man Diebstahl. Die gesamte Website ist Betrug, und ich bin sicher, dass man auch von arglistiger Täuschung sprechen könnte.“

Chase sprang auf die Füße. „Ich habe nicht gestohlen. Ich würde niemals stehlen oder diese anderen Dinge machen.“

„Wo ist das Geld dann?“

„Gleich hier.“ Chase ging zu seinem Computer und fing an, etwas einzutippen. „Peter und ich haben ein wenig Day-Trading betrieben. Wir dachten, wir borgen uns das Geld einfach für eine Weile. Nachdem wir ein paar Deals getätigt haben, geben wir das Geld zurück und behalten den Gewinn. Was eine super Idee war, bis wir am vierten Tag beinahe alles verloren hätten.“

Zane gab ein undefinierbares Geräusch von sich. Chase tippte weiter und loggte sich in seinen Brokeraccount.

„Ich weiß, was du denkst. Dass wir es vermasselt haben, richtig? Aber dann haben wir die Touristen auf dem Festival zum Vierten Juli über eine Tech-Firma sprechen hören, die eine neue Art des Motherboards vorstellen wollte und deren Aktien durch die Decke schießen sollten. Also haben wir von dem Geld, das wir übrig hatten, so viele Aktien erworben, wie wir konnten. Die Ankündigung der Firma ist heute um siebzehn Uhr. Danach verkaufen wir die Aktien und schicken die Anzahlungen zurück. Ich dachte, wir sagen den Leuten, dass die Ranch abgebrannt ist oder so, damit sie nicht herkommen.“

Er riskierte einen Blick zu seinem Bruder. „Also habe ich alles im Griff. Ich habe sogar schon den Brief formuliert, mit dem wir alle bitten, nicht anzureisen, und dass wir ihnen die Anzahlung per Overnight-Post zurückschicken. Ziemlich gut, oder?“

Zanes Miene blieb unlesbar. „Du hast ihr Geld gestohlen, es beim Day-Trading verloren, versuchst jetzt, es über einen Insiderhandel zurückzugewinnen und willst den Leuten weniger als eine Woche vor Beginn ihrer Ferien absagen. Und das hältst du für ziemlich gut?“

Seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Chase hatte das Gefühl, dass Zane versuchte, sich unter Kontrolle zu halten, aber das gelang ihm nicht sonderlich gut.

„Diese Leute erwarten einen Urlaub. Sie haben sich von der Arbeit freigenommen, Flugtickets gekauft. Willst du, dass ich dir einen Eindruck darüber verschaffe, auf wie viel sie dich verklagen könnten?“

„Nicht wirklich“, murmelte er.

In dem Moment poppte sein Brokeraccount auf. Er scrollte zum Wert seines Depots hinunter und wäre beinahe ohnmächtig geworden, als er sah, dass es weniger als zwei Dollar betrug.

„Nein!“, schrie er. Panisch klickte er auf den Aktiencode der Firma, um nach aktuellen Meldungen zu suchen. Eine große Schlagzeile blinkte auf seinem Computer auf.

Firmenchef verhaftet wegen Diebstahls von firmeneigenen Informationen eines Wettbewerbers.

Er spürte mehr, dass sein Bruder näher kam, als dass er es hörte. Zane berührte den Monitor. „Mit deinem Plan scheint es ein Problem zu geben.“

Chase hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Das hier war schlimm. Wirklich schlimm. Vermutlich das Schlimmste, das er je angestellt hatte. Ihm war übel. Er konnte nicht denken. Die Leute würden für den Viehtrieb hierherkommen. Er verfügte nicht über das Geld, um sie auszuzahlen, und wenn Zane ihm nicht half, würde er vermutlich verhaftet werden. Oder Schlimmeres.

„Ich hab es echt verkackt“, sagte er mehr zu sich als zu seinem Bruder.

„Sieht so aus.“

Hitze stieg Chase in die Wangen. Er starrte auf den Boden, musterte das zerkratzte Holz unter seinen Füßen und die Macken an seinen Cowboystiefeln.

„Sorry.“

„Sorry?“ Zane fluchte laut. „Du hast in der Vergangenheit schon viele Dummheiten abgezogen, doch so weit bist du noch nie gegangen. Ich hätte das nicht von dir erwartet.“ Er ballte die Hände, als wolle er sich davon abhalten, auf irgendetwas einzuschlagen … oder auf irgendjemanden. „Ich erwarte so etwas nie von dir. Nach all dieser Zeit sollte man meinen, ich hätte es gelernt.“

Keine Strafe, nicht einmal eine Tracht Prügel, konnten schlimmer schmerzen als diese Worte. Sie sorgten dafür, dass Chase sich klein und verängstigt fühlte. Seine Kehle zog sich zusammen, genau wie seine Brust. Zum ersten Mal seit Jahren fürchtete er, zu weinen.

„Und nun?“, fragte Chase.

Zane marschierte zur Tür. „Gute Frage. Hast du einen Plan B?“

Chase schüttelte den Kopf. „Ich schätze …“ Seine Stimme brach und er musste sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte. „Ich schätze, ich muss mir Geld leihen, damit ich diese Leute ausbezahlen kann.“

Zane schwieg sehr lange. Als er endlich sprach, wusste Chase, dass es schlimm werden würde.

„Ein Darlehen wäre zu einfach“, meinte Zane. „Ich werde Raoul und Pia anrufen und ihnen erzählen, was du und Peter getan haben. Dann werde ich mir überlegen, was ich mit dir machen soll. Hierfür reicht keine einfache Strafe. Ich werde dir eine Lektion erteilen, die du nie mehr vergessen wirst.“

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Chase schaute ihm hinterher. Zum ersten Mal in seinem Leben fragte er sich, ob Zane ihn wegschicken würde. Er versuchte, sich einzureden, dass das gar nicht so schlimm wäre. Er hasste die Ranch. Er wollte woanders hinziehen, um sich mit Computern und Lasern und anderem coolen Zeug zu beschäftigen. Nicht mit der Aufzucht von Rindern.

Aber es war eine Sache, auszuziehen. Von seinem einzigen noch lebenden Verwandten rausgeworfen zu werden, war etwas ganz anderes. Er sank aufs Bett zurück und fühlte sich allein und verängstigt und wesentlich jünger als siebzehn.

2. Kapitel

Zwei Stunden nach ihrer Anhörung vor Gericht hatte Phoebe ihren Schreibtisch ausgeräumt und ihre offenen Fälle auf Aprils Tisch gelegt. Danach hatte sie sich einen großen Vorrat an Schokolade und Bonbons bei See’s gekauft und war zum Century-City-Hochhaus gefahren, in dem ihre beste Freundin Maya Farlow als Produktionerin für einen Nachrichtensender arbeitete.

Sie lächelte der Assistentin zu, die in der großen Eingangshalle hinter einem Tisch saß. Dann ging sie weiter und betrat leise das winzige Büro mit den bodentiefen Fenstern.

Maya telefonierte, bedeutete ihr jedoch, sich zu setzen. Doch Phoebe trat lieber zuerst ans Fenster und genoss die Aussicht. Im Westen lag der Pazifik, im Osten die kaum sichtbaren Hochhäuser der Innenstadt von Los Angeles. Irgendwo im Norden befand sich das San Fernando Valley – ein Vorortmekka, über das sich alle gerne lustig machten, das Phoebe aber gerne von Zeit zu Zeit besuchte. Der Juni-Dunst war verschwunden und hatte einen strahlend blauen Himmel freigegeben, den es so nur in Südkalifornien gab. New York mochte die Stadt sein, die niemals schlief, aber L. A. war einfach hip und cool und ein wenig frech.

„Zane“, sagte Maya mit angespannter Stimme. „Er ist jung. Er hat etwas Dummes getan, aber …“

Zane. Was bedeutete, Maya telefonierte mit ihrem Stiefbruder. Nach allem, was Phoebe wusste, war die Beziehung zwischen den beiden nie sonderlich leicht gewesen.

„Wann soll das losgehen?“ Maya notierte sich etwas auf einem Post-it-Zettel. „Okay. Ich werde da sein. Nein, ich komme. Heute kann ich hier nicht weg, aber ich werde da sein. Geh es nur leicht mit ihm an …“

Sie hielt inne, weil Zane offensichtlich mitten im Satz aufgelegt hatte. Sie zog eine Grimasse.

„Zimmer mit Ausblick“, sagte Phoebe und setzte sich ihrer Freundin gegenüber. „Ich habe dein neues Büro noch gar nicht gesehen. Herzlichen Glückwunsch.“

Maya lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und grinste. „Danke, aber ich hoffe, dass ich nicht lange hierbleiben werde. Bei Network wird demnächst ein Posten frei. Vor der Kamera und mit echten Nachrichten, nicht dieser Hollywood-Klatsch und -Tratsch. Wenn ich noch eine Story über die neue Frisur einer Schauspielerin machen muss …“ Ihr Lächeln schwand, als sie Phoebe musterte. „Sag mir, was vor Gericht passiert ist. Ich habe keinen panischen Anruf erhalten, also gehe ich davon aus, dass es dir gut geht? Ich habe immer noch ein wenig Geld, falls du eine Kaution benötigst.“

Phoebe wusste, dass ihre Freundin das ernst meinte. Maya wäre immer für sie da, egal, was käme.

„Keine Gefängnisstrafe, keine Geldstrafe.“ Sie seufzte leise. „Die Anzahlung muss zurückerstattet werden. Ich bin für einen Monat unbezahlt suspendiert, auch wenn April sagt, dass sie mich aus eigener Tasche bezahlen will.“

„Das sollte sie auch.“ Maya fluchte. „Lass mich raten. April hat sich das alles angeschaut und nicht ein einziges Wort an die Richterin gerichtet.“

Phoebe nickte. „Ich bin so eine Idiotin. Ich dachte tatsächlich, sie würde etwas sagen.“

„Du meinst, so was wie die Wahrheit?“

„Das wäre nett gewesen.“

„Wie enttäuscht bist du?“

Phoebe lächelte reumütig. „In meinem Auto habe ich ein halbes Pfund Butterscotch-Karamellen von See’s. Außerdem habe ich vor, auf dem Heimweg am Supermarkt anzuhalten und mir eine Flasche Wein zu kaufen.“

„Alkohol und Zucker. Das ist ziemlich schlimm.“

„Das ist Kriminellste, was ich je in meinem Leben getan habe.“ Phoebe stützte ihre Ellbogen auf die Knie und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. „Ich weiß es doch besser. Das macht mich daran so wahnsinnig. Was ist das nur in mir, das mir immer sagt, ich müsse mir meinen Platz in der Welt erst verdienen? Wie oft muss ich mir noch die Finger verbrennen, bevor ich damit aufhören kann, anderen Leuten zu helfen? Jedes Mal, wenn ich das tue, handle ich mir Schwierigkeiten ein.“ Sie dachte an ihr unerwartetes Treffen mit Jeff vor dem Gerichtssaal.

„Oh, und der Maklerverband überlegt, mir die Lizenz zu entziehen. Jeff ist vorbeigekommen, um mir die Information persönlich zu übergeben.“

„Hast du ihm in die Eier getreten?“

„Daran hab ich in dem Moment gar nicht gedacht. Mist.“ Sie sah Maya an. „Warum bin ich so ein Trottel?“

„Du bist ein guter Mensch, der anderen gerne hilft. Also was willst du jetzt machen?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe einen Monat frei. Wenn der Vorstand meine Lizenz einzieht …“

Sie wusste nicht, was dann passieren würde, und sie wollte auch nicht darüber nachdenken. Nach dem College hatte sie keine Ahnung gehabt, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Dann war sie irgendwie in den Maklerberuf gestolpert und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl gehabt, einen Platz gefunden zu haben, an den sie gehörte. Sie liebte es, den Leuten passende Häuser zu zeigen, ihnen zu einer guten Finanzierung zu verhelfen und zu sehen, wie ihre Gesichter strahlten, wenn sie in ihr neues Heim einzogen. Das war ihr Leben.

„April ist eine Schlampe“, sagte Maya.

Phoebe seufzte. „Sie ist eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, von denen eines eine chronische Krankheit hat.“

„Du suchst Entschuldigungen.“

„Ich sage die Wahrheit. Sie hat recht. Wenn sie noch mehr Tage freigenommen hätte, um bei Beth zu bleiben, hätte sie gefeuert werden können. Also hat sie mich gebeten, die Papiere für die Bauers auszufüllen. Mein Fehler war, dass ich auf sie gehört habe. Ich wusste, dass die Papiere falsch waren.“

Phoebe hatte sich mit ihrer Chefin gestritten, und eine frustrierte April hatte sie schließlich angebrüllt, einfach zu tun, was man ihr aufgetragen hatte, und die blöden Formulare einzureichen. Was Phoebe gemacht hatte, obwohl sie es besser wusste. Aber durch eine Serie von unglücklichen Umständen war aus etwas, was eigentlich nur ein Fehler gewesen war, ein Prozess mit anschließender Ermittlung geworden – und die Konsequenzen daraus hatten zu dem heutigen Gerichtstermin geführt. Anstatt die Wahrheit zu sagen, hatte April sie die Schuld auf sich nehmen lassen und erklärt, dass Phoebe es sich leisten konnte, weil sie nicht drei Kinder hatte. Phoebe war kein Argument eingefallen, um das zu widerlegen.

„Ich hätte nicht gedacht, dass der Maklerverband sich bei einem Fall von vertauschten Papieren einmischt“, sagte Maya.

Phoebe dachte an den Brief in ihrer Handtasche. Den Brief, den sie gelesen hatte, während sie vier Mandelpralinen und einen doppelten Latte macchiato von Starbucks zu sich genommen hatte.

„Das tut er auch nicht. Doch die Bauers waren Aprils Kunden, und ich habe den Papierkram erledigt. Sie werfen mir vor, ich hätte versucht, mir Aprils Ruhm und die Provision zu erschleichen.“

Maya schaute sie mitfühlend an. „Was du nicht getan hast.“

„Aber wer wird mir glauben?“

„April kennt die Wahrheit.“

„Aber April wird es nicht riskieren, sie zu erzählen.“

„Was passiert jetzt? Du könntest sie vor Gericht zerren. Ich würde dir helfen.“

„Danke, aber ich suche nach einer anderen Möglichkeit.“ Auch wenn sie nicht sagen konnte, nach was für einer. „Ich schätze, ich habe einen Monat, um einen neuen Job zu finden.“ Oder, je nachdem, was mit ihrer Lizenz geschah, auch einen ganz anderen Beruf. „Ich liebe es, Häuser zu verkaufen. Ich will nicht damit aufhören.“

Maya schüttelte den Kopf. „Nein, du liebst es, Menschen zu retten. Du bist die einzige Maklerin in Beverly Hills, die ich kenne, die sich auf erschwingliche Häuser für finanziell herausgeforderte junge Familien spezialisiert hat. Du könntest Unmengen an Geld mit Hollywoodstars und Unternehmensführern machen, aber stattdessen arbeitest du für frisch Verheiratete und alleinerziehende Mütter mit einem Budget, das nicht mal eine Familie an Nagetieren durchfüttern würde.“

Phoebe überlegte, zu widersprechen, aber sie wusste, dass ihre Freundin recht hatte.

„Ich weiß, wie es ist, sich nach einem Zuhause zu sehnen“, sagte sie. Dieses Gefühl begleitete sie schon fast ihr ganzes Leben lang. Eines Tages, versprach sie sich, eines Tages würde sie es finden und niemals wieder loslassen.

„Außerdem“, fügte Phoebe hinzu und grinste, „habe ich ja einen Filmstar als Klienten. Aber Jonny Blaze will kein Haus hier in L. A. kaufen. Er sucht nach einem Ferienparadies mit ausreichend Platz für einen Hubschrauberlandeplatz.“

„Könntest du wenigstens mit ihm schlafen, um dich abzulenken?“

Zum ersten Mal an diesem Tag musste Phoebe lachen. „Ich wünschte es, aber der Mann hat mir die Haare zerzaust und gesagt, ich sähe aus wie seine jüngere Schwester.“

„Das ist ätzend.“

„Wem sagst du das.“ Phoebe erhob sich. „Ich höre da eine Tafel Schokolade meinen Namen rufen und du musst die Reichen und Berühmten stalken. Ich mach mich mal wieder auf den Weg.“

„Auf keinen Fall.“ Maya stand auf, ging um ihren Tisch herum und umarmte Phoebe. „Ich lass dich jetzt nicht allein. Komm, gehen wir zum Mexikaner essen.“

„Bist du sicher, dass du die Zeit dafür hast?“

„Für dich? Immer.“

Maya musste noch ein paar Kleinigkeiten in der Firma erledigen, also wählte Phoebe mit Absicht den langsamsten Weg zu ihrem Lieblingsmexikaner. Da sie es hasste, allein in einer Bar zu warten, setzte sie sich stattdessen ins Foyer und beobachtete die Paare und Familien, die das beliebte Restaurant betraten. Ab und zu kam ein Mann allein. Sie wandte dann jedes Mal den Blick ab. Der letzte Mann, den sie in der Bar eines Restaurants kennengelernt hatte, hatte nicht nur versucht, sich bei der zweiten Verabredung fünftausend Dollar von ihr zu leihen, sondern hatte auch gelogen, als er erklärte, er wäre nicht verheiratet. Sie war immer noch aufgewühlt von der drohenden Gefängnisstrafe, der sie entgangen war, und den Sorgen um ihre Maklerlizenz – das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine lausige Beziehung.

Wobei eine gute Beziehung gar nicht so schlecht wäre, überlegte sie sehnsüchtig. Sie suchte nicht nach Perfektion – nur nach einem netten Mann, der sie liebte, der Kinder wollte und ein normales Leben mit Familie, Ferien und Elternabenden. Eine eigene Familie. Unglücklicherweise schien sie kein Händchen für normale, stabile Männer zu haben. Sie zog eher Verlierer wie Jeff den Untreuen an oder verheiratete Männer, die Geld wollten. Anstatt nach einem Mann zu suchen, der in ihrem Universum offensichtlich nicht existierte, sollte sie vielleicht darüber nachdenken, sich einen Hund anzuschaffen.

Bevor sie sich für eine Rasse oder Größe entscheiden konnte, ging die Eingangstür auf und Maya stürmte herein. Sie war sowohl stylish als auch elegant in ihrem schwarzen Anzug, der ihre Kurven und ihre blonden Haare betonte. Phoebe war vorhin so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen, dass ihr das Outfit gar nicht aufgefallen war.

„Neu?“, fragte sie und stand lächelnd auf. „Sieht umwerfend aus.“

Maya grinste und wirbelte einmal herum, damit sie den Anzug von hinten sehen konnte. „Der war nicht mal im Schlussverkauf, aber ich konnte nicht anders. Es war Liebe auf den ersten Blick. Das ist der Anzug, den ich für mein Bewerbungsgespräch bei Network gekauft habe. Und ich habe noch einen grünen, der perfekt zu meinen Augen passt, für die Probeaufnahmen vor der Kamera.“

„Du wirst das Bewerbungsgespräch rocken“, sagte Phoebe. „Und dabei großartig aussehen.“

„Du bist so süß. Danke.“

Phoebe beneidete ihre Freundin nicht um ihre tolle Garderobe. Sie selber kaufte in Outletcentern oder im Schlussverkauf bei Macy’s ein. Abgesehen von Actionhelden wie Jonny Blaze wollten ihre Klienten nicht den Eindruck haben, ihr hart verdientes Geld diene zur Unterstützung einer Designergarderobe, und das war ihr nur recht.

„Ich bin am Verhungern“, sagte Maya. „Und du brauchst eine Margarita.“

Sie folgten der Hostess durch ein Labyrinth aus Holztischen, die mit Getränken, Nachos und übergroßen Tellern voller Fajitas, Enchiladas und Tacos beladen waren. Der Geruch von brutzelndem Rindfleisch und Hühnchen ließ Phoebe das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Die Kellnerin kam an ihren Tisch, und sie bestellten Margaritas und – ohne einen Blick auf die Speisekarte zu werfen – das Menü Nummer drei. Der Hilfskellner stellte ihnen schon einmal Nachos und Salsa auf den Tisch.

Phoebe betrachtete die Nachos und rechnete im Kopf die Kalorien zusammen. Nicht, dass es wichtig wäre. Nach ihrer zweiten Margarita würde sie ihren Ernährungsplan sowieso aus dem Fenster werfen und alles herunterschlingen, was sich in Reichweite befand. Morgen würde sie dann versuchen, die Kalorien auf dem Stepper abzutrainieren – mit minimalem Erfolg –, und den Lunch ausfallen lassen. Sie kämpfte seit drei Jahren mit den gleichen zehn Pfund. Bislang gewannen diese immer.

„Ich habe etwas zu verkünden.“ Phoebe nippte an ihrem Drink. „Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich jedes Mal in Schwierigkeiten gerate, wenn ich jemandem helfe. Ich weiß nicht, warum, aber es passiert. Also werde ich von heute an niemals wieder irgendjemandem helfen. Nie. Egal, was kommt.“

Maya riss die Augen auf. „Wow. Das ist beeindruckend. Ich glaube es nicht eine Sekunde lang, aber es ist trotzdem beeindruckend.“

Phoebe lachte. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es glaube. Aber ich werde es versuchen.“

„Würde es dir etwas ausmachen, das noch ein wenig zu verschieben? Denn ich habe eine ziemlich große Bitte an dich. Aber ich glaube, dass es gut für dich ist, also Win-win und so. Du hast einen Monat frei, und ehrlich gesagt, wenn jemand mal Urlaub braucht, dann du.“

Phoebe runzelte die Stirn. „Das ist im Moment finanziell wirklich nicht drin.“

„Deshalb ist es ja so perfekt. Ehrlich gesagt, rede ich auch mehr von einer riesigen Ablenkung als von einem Urlaub.“

„Was für eine Ablenkung?“

Maya sah sie schelmisch an. „Die Art von Ablenkung, in der ein rauer, gut aussehender Cowboy eine Rolle spielt.“

Phoebe kaute auf ihrem Nacho und beäugte ihre Freundin. „Du bist niemand, der Leute verkuppelt“, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte. „Ich habe mehr als einmal gehört, wie du dich darüber aufgeregt hast.“

Maya lachte. „Da hast du recht. Aber das hier ist kein Verkuppelungsversuch. Ich biete nur den Anblick eines attraktiven Mannes, nicht die Chance auf eine Beziehung.“ Sie wurde ernst und zog die Nase kraus. „Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob Zane überhaupt in der Lage ist, eine Beziehung zu führen. Seine Leidenschaften scheinen sich darauf zu beschränken, seine Ranch zu führen und perfekt zu sein.“

„Zane? Dein Exstiefbruder?“ Der, mit dem Maya vorhin telefoniert hatte?

„Genau der.“ Sie nahm sich einen Nacho, aß ihn aber nicht. „Kurz bevor du ins Büro gekommen bist, habe ich einen panischen Anruf von Chase erhalten.“

„Deinem anderen Exstiefbruder.“

„Richtig. Er ist Zanes Halbbruder und siebzehn. Ein total süßer Junge, ein Computergenie und eine konstante Enttäuschung für Zane. Natürlich ist jeder, der seinem perfekten Ideal nicht entspricht, eine Enttäuschung. Zane hätte beinahe einen Herzinfarkt erlitten, als ich aufgetaucht bin, nachdem sein Vater meine Exshowgirl-Mutter geheiratet hat.“

Phoebe nickte. Sie kannte zwar die Einzelheiten von Mayas wenigen Jahren auf der Nicholson Ranch nicht – sie hatten einander erst später kennengelernt –, aber Bruchstücke hatte sie davon schon gehört.

„Wie auch immer, Chase hat Mist gebaut … mal wieder. Er scheint das zu seinem Hobby zu machen. Aber so sehr es mir auch widerstrebt, dieses Mal muss ich Zane recht geben. Er hat mich direkt nach Chase angerufen.“ Maya nahm einen Schluck von ihrer Margarita. „Chase und ein Freund haben für ein Schulprojekt eine Website entwickelt. Darin haben sie Ferien auf der Ranch einschließlich Teilnahme an einem Viehtrieb angeboten. Irgendwie ist dieses Schulprojekt im Internet gelandete. Frag mich nicht, wie. Zane veranstaltet im Frühjahr tatsächlich immer einen Viehtrieb. Keine Ahnung, warum, vermutlich, um die Verbindung zu seinen Wurzeln nicht zu verlieren oder so. Dabei nimmt er nur eine Handvoll Cowboys mit – meistens diejenigen, die nicht mehr als zwei Worte am Stück sagen. Er würde niemals Chase oder – Gott bewahre – einen Touristen mitnehmen. Eher würde er sich nackt auf einen Ameisenhaufen legen.“

Phoebe sah das potenzielle Problem. „Und nun haben sich tatsächlich Leute für den Viehtrieb angemeldet?“

„Du hast es erfasst. Schlimmer noch – Chase und sein Freund haben Geld eingesammelt. Fünfhundert Dollar pro Kopf. Chase hat das Geld genommen und mit Aktien spekuliert.“

„Mit Aktien? Ist er wahnsinnig geworden?“

„Er ist siebzehn und hält sich für unsterblich. Du erinnerst dich, wie das war. Er hat alles verloren, weil irgendeine Firma untergegangen ist. Ich habe das nicht genau verstanden, aber auf jeden Fall weigert sich sein Bruder, ihn rauszupauken. Zane meint, Chase müsse ein für alle Mal lernen, dass seine Taten Konsequenzen haben.“

„Warte mal, damit ich das richtig verstehe: Du sagst, Chase hat Karten für einen nicht stattfindenden Viehtrieb verkauft und die Leute haben ihm Geld dafür geschickt?“

Die beiden Frauen schauten einander einen Moment lang schweigend an. Phoebe spürte, dass es um ihre Mundwinkel zuckte. Als sie die kleinen Fältchen in Mayas Augenwinkeln sah, konnte sie nicht mehr an sich halten. Gemeinsam kicherten sie so laut los, dass sie die Aufmerksamkeit der Leute an den Nebentischen auf sich zogen, was sie nur noch mehr zum Lachen brachte.

„Wer macht denn so was?“, fragte Phoebe, als sie wieder sprechen konnte.

„Ich weiß! Es ist schrecklich und unglaublich lustig. Er ist ein Genie mit einer sehr schwachen Moral.“ Maya wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist schlimm. Böse! Hör auf, zu lachen. Ich weiß, es ist falsch, aber es ist auch so lustig. Das ist der Teil, den Zane nicht versteht. Eines Tages, wenn Chase ein berühmter Erfinder ist, wird das eine prima Geschichte ergeben.“

Die Kellnerin brachte ihr Essen und Maya wartete, bis sie wieder allein waren, bevor sie fortfuhr.

„Zane und ich haben bestimmt eine halbe Stunde gesprochen. Die Leute erwarten einen Urlaub, und Chase hat mit ihrem Geld gespielt. Wir haben alles besprochen, von ihn auf die Militärakademie zu schicken bis zu ein paar Tagen im Gefängnis. Ehrlich gesagt war es interessant, dass Zane meine Meinung hören wollte.“

„Und was habt ihr entschieden?“

Maya lächelte. „Etwas, womit ich nie gerechnet hätte. Am Samstagmorgen wird eine Gruppe Großstadtpflanzen den heiligen Boden der Nicholson Ranch betreten. Zane wird sie gemeinsam mit Chase zum Viehtrieb mitnehmen. Er wird dem Jungen alle Mistjobs überlassen in der Hoffnung, ihm damit eine Lektion zu erteilen.“

Phoebe dachte darüber nach. Auf der einen Seite konnte sie Zanes Frust verstehen. Auf der anderen fühlte sie aber auch mit Chase. Sie war ihr ganzes Leben lang ebenfalls von einem Fettnäpfchen ins nächste gestolpert.

„Wollte Chase, dass du ihn rettest?“

„Ja. Und ich war gezwungen, es abzulehnen. Aber als Kompromiss habe ich zugestimmt, an dem Viehtrieb teilzunehmen. Als ich Zane davon erzählt habe, war er sogar erfreut.“

„Warum?“

„Ich habe beinahe immer Chases Seite ergriffen. Ich glaube, er will, dass ich den Jungen so sehe, wie er ist – oder irgendetwas ähnlich Absurdes.“ Maya zuckte mit den Schultern und ihre grünen Augen verdunkelten sich. „Offenbar scheint Zane nicht zu verstehen, dass ich Chase bereits kenne. Ich weiß, dass er seine Fehler hat. Aber deshalb liegt mir nicht weniger an ihm. Was für Zane ein vollkommen unbekanntes Konzept ist. Wie auch immer, ich erzähle dir die Geschichte, weil ich dich einladen will, mitzukommen. Du liebst Tiere und du hast dir einen Urlaub verdient.“

„Einen Viehtrieb?“

„Warum nicht? Du sagst doch immer, dass du gerne in der Natur bist, und solange Zane nicht seinen Mund öffnet und redet, ist er ein echter Augenschmaus.“ Maya nahm sich noch einen Nacho. „Du arbeitest immer so hart. Tu mal was für dich. Du kannst meine Vielflieger-Meilen nutzen.“

Ein verlockendes Angebot, dachte Phoebe. Sie hatte noch ein paar Wochen, bis die Bewerbungsgespräche anfangen würden. Aber sie hatte auch gerade ihrem Helferkomplex abgeschworen.

„Das klingt gut, aber meine Vorstellung von der Natur besteht darin, die Blumen auf meiner Terrasse zu gießen. Ich war noch nie in der Nähe von einem Pferd. Sind die nicht riesig und riechen streng?“

„Sie riechen nicht halb so schlimm wie die Stiere, aber wir können uns im Windschatten aufhalten.“ Maya lächelte. „Ich glaube, das wird lustig. Außerdem, nach allem, was du durchgemacht hast, kannst du eine Pause gebrauchen. Auf dem Rücken eines Pferdes wirst du klarer denken können.“

Phoebe wäre in einer Million Jahren nicht auf die Idee gekommen, einen Viehtrieb mitzumachen. Aber sie hatte sich das Versprechen gegeben, etwas zu verändern. Sie würde sich neu erfinden. Und vielleicht würde dieser neuen Phoebe Kitzke ein Viehtrieb gefallen.

„Okay“, sagte sie. „Ich komme mit.“

„Du wirst es nicht bereuen“, versprach Maya ihr. „Ich habe bereits einen Flug für Freitagnachmittag gebucht. Vorher komme ich hier nicht weg, weil ich noch ein paar Videos schneiden muss. Aber ich hatte gehofft, es würde dir nichts ausmachen, schon morgen zu fliegen. Nur, um Zane abzulenken. Er ist so wütend auf Chase. Ich fürchte, sie könnten sich prügeln oder so.“

Phoebe starrte ihre Freundin an. „Du bist verrückt.“

„Ich weiß, das ist viel verlangt, aber wenn du da bist, muss Zane sich benehmen.“

„Ich werde nicht zwei Tage früher dort auftauchen. Ich kenne den Mann ja nicht einmal. Ich kann doch nicht ohne Vorwarnung einfach vor seiner Tür stehen.“

„Oh, ich werde ihn vorwarnen“, versprach Maya.

Phoebe schüttelte den Kopf. „Nein. Ich werde am Freitag mit dir zusammen fliegen. Nicht vorher.“ Außerdem war ihr Versprechen, nicht mehr zu helfen, erst eine Stunde alt. Das konnte sie nicht jetzt schon brechen.

Maya zuckte mit den Schultern. „Okay. Ist gut. Ich hätte nicht fragen sollen. Ich mache mir nur Sorgen um Chase. Er war so jung, als seine Mom gestorben ist. Zane hat ihn praktisch sich selbst überlassen. Außerdem ist er im Moment so verletzlich mit all den Teenagerproblemen – wie man mit Mädchen umgeht, auf welches College er will … Und er ist die einzige Familie, die ich habe.“

Phoebe nahm sich noch einen Nacho und versuchte, sich nicht so zu fühlen, als hätte sie gerade ein Katzenbaby getreten. Mayas Taktik war komplett durchsichtig. Sie versuchte, ihr Schuldgefühle zu machen, damit sie tat, was sie wollte. Aber das würde sie auf keinen Fall zulassen.

3. Kapitel

Phoebe landete am Mittwoch um kurz nach fünfzehn Uhr in Sacramento. Sie hatte den Großteil des Fluges von Los Angeles damit verbracht, sich und Maya zu beschimpfen. Es war doch nicht zu fassen, dass sie so leicht nachgegeben hatte. Nur zwei schwache Versuche, zu protestieren, und schon war sie eingeknickt.

Jetzt würde sie ihre Anwesenheit einem Mann erklären müssen, den sie noch nie getroffen hatte.

Sie ging zur Gepäckausgabe, um ihre beiden Koffer abzuholen. Da sie nicht wusste, wie das Wetter im Juni in den Bergen war, hatte sie ausreichend Kleidung mitgebracht, die sie übereinanderziehen konnte. Dazu mehrere Jeans und ein Paar Stiefel, das sie ganz hinten aus ihrem Schrank ausgegraben hatten. Die Stiefel waren eine Erinnerung an ihre kurze, aber intensive Liebe zu allem, was mit Western und Country zu tun hatte.

Während sie auf die Koffer wartete, steckte sie die Kopfhörer in die Tasche. Wenn sie nicht Maya und sich selbst innerlich beschimpft hatte, hatte sie sich ihr Selbstverbesserungshörbuch angehört und an ihrer Meditation zur Zentrierung der Gedanken gearbeitet. Unglücklicherweise war sie bei Ersterem immer eingeschlafen und die dreiteilige Atmung von Letzterem hatte zu einem Hustenanfall geführt. Was wiederum ihren Sitznachbarn nicht sonderlich erfreut hatte.

Sie schaute sich um und bemerkte mehrere Männer, aber auf keinen passte die Beschreibung von Zane. Maya hatte behauptet, er sähe aus wie Adam Levine, laut People-Magazin einer der „sexiest men alive“.

Phoebe war skeptisch und mehr als nur ein wenig nervös. Worüber würde sie mit einem Cowboy, der aussah wie Adam Levine, auf der Fahrt zur Ranch reden? Sie hatte vorgehabt, sich selbst einen Wagen zu mieten, aber Maya hatte behauptet, sie würde den Weg alleine niemals finden.

Fünf Minuten später hatte Phoebe ihre Koffer vom Gepäckband gehievt und so zusammengeschlossen, dass sie sie nach draußen rollen konnte. Sie blieb weiterhin ohne Begleitung. Okay, sie würde Zane eine halbe Stunde geben. Dann würde sie sich nach einem Shuttle nach Fool’s Gold erkundigen und sich ihre nächsten Schritte überlegen. Wenn nötig, könnte sie immer noch …

Die Schiebetüren gingen auf und ein Mann betrat die Ankunftshalle. Ein großer, dunkelhaariger Mann mit unglaublich breiten Schultern, einem Cowboyhut und einem so durchdringenden Blick, dass Phoebe wusste, er könnte ihr vermutlich sagen, welche Farbe ihre Unterwäsche hatte.

Er bewegte sich mit der Haltung von jemandem, der niemals unentschlossen, verwirrt oder nicht Herr der Lage war. Er war umwerfend. Adam-Levine-mäßig umwerfend. Natürlich.

Die letzten Reste ihres Selbstbewusstseins fielen von ihr ab und zerschellten auf dem Boden. Offenbar hatten all diese Selbsthilfebücher gar nichts gebracht. Sie versuchte, sich die letzten Erdnusskrümel von ihrem gelben T-Shirt zu wischen, und wünschte sich zum millionsten Mal, groß, blond, blauäugig und umwerfend zu sein. Wobei … im Moment wäre sie schon mit einem der Attribute zufrieden.

„Phoebe Kitzke?“

Der Mann war vor ihr stehen geblieben. Er hatte eine tiefe, wunderschöne Stimme, bei der ihre Oberschenkelmuskeln anfingen, zu zittern. Aus der Nähe sah sie die verschiedenen Blautöne seiner Iris. Er lächelte nicht. Insgesamt wirkte er so weit von einem glücklichen Menschen entfernt, wie man nur sein konnte, solange man noch atmete.

„Ich bin Phoebe“, sagte sie und fürchtete, so verunsichert zu klingen, wie sie sich fühlte. Warum hatte Maya sie nicht gewarnt? Zu sagen, dass Zane Nicholson gut aussah, war etwa so zutreffend, wie zu behaupten, der Sommer in der Wüste wäre heiß.

„Zane.“

Er streckte ihr die Hand hin. Sie war nicht sicher, ob er ihre schütteln oder ihr das Gepäck abnehmen wollte. Sie entschloss sich für die guten Manieren und fand ihre Finger in seinen wieder.

Die Hitze, die sofort entstand, überraschte sie nicht. Genauso wenig wie das Gefühl, innerlich zu schmelzen. Alles in ihrem Leben lief schief – da war es nur logisch, dass ihr Körper sie auch hinterging.

Energisch riss sie ihre Aufmerksamkeit von ihren verräterischen Schenkeln los. Nur um gleich darauf zu bemerken, dass Zane große Hände hatte. Phoebe versuchte nicht, an den alten Spruch zu denken. Sie versuchte, an überhaupt nichts zu denken außer daran, dass sie Maya umbringen würde, wenn sie sie das nächste Mal sah.

„Schön, Sie kennenzulernen“, sagte sie, als er ihre Hand losließ. „Maya meinte, die Ranch läge ein ganzes Stück vom Flughafen entfernt. Also bin ich sehr dankbar, dass Sie den ganzen Weg hierher gekommen sind, um mich abzuholen.“

Sein Reaktion bestand darin, ihr Gepäck zu nehmen. Anstatt es zu rollen, trug er die Koffer nach draußen, als wögen sie nicht mehr als ein Milchkarton. Oh-oh. Sie hatte sich beinahe den Rücken ausgerenkt bei dem Versuch, sie zu Hause in den Kofferraum ihres Wagens zu heben. Auch wenn sie in der Vergangenheit kein großes Interesse an Männern mit Muskeln gehabt hatte, verstand sie auf einmal die Anziehungskraft eines gut ausgebildeten Bizeps.

Zane ging zum Parkplatz, und Phoebe folgte ihm. Er schien kein großer Redner zu sein, was die Fahrt zur Ranch unglaublich lang werden lassen könnte.

Er fuhr einen Truck, was sie nicht überraschte, ganz im Gegensatz zu der Tatsache, dass er ihr die Beifahrertür aufhielt. Als sie mit dem Fuß auf dem Metalltritt ausrutschte, packte er ihren Ellbogen und half ihr, einzusteigen. Nachdem er ihr Gepäck hinter seinem Sitz verstaut hatte, stieg er selbst ein und setzte sich neben sie.

Er überragte sie im Sitzen genauso wie im Stehen. Phoebe schnallte sich an und warf ihm dann einen kurzen Blick zu. Beim Anblick seines Profils schlug ihr Herz einen kleinen Salto. Er sah so gut aus, dass er auf eine Münze geprägt werden könnte.

Während Zane zur Ausfahrt fuhr, suchte Phoebe panisch nach einem Thema, über das sie sich unterhalten könnten. Aber ihr fiel nichts Interessantes ein. Sollte sie es riskieren, die Wahrheit zu sagen? Sie biss sich unentschlossen auf die Lippe. Weil ihr nichts Besseres einfiel, beschloss sie, direkt in das cowboyinfizierte Wasser zu springen.

„Das ist wirklich komisch, oder?“

Zane sah sie kurz an, sagte aber nichts.

Sie räusperte sich. „Dass ich hier bin. Ich meine, Sie kennen mich überhaupt nicht und trotzdem werde ich ein paar Tage auf Ihrer Ranch wohnen. Vielleicht sollten wir einander besser kennenlernen, damit die Situation nicht so unbehaglich ist.“

„Wenn Sie nicht das Gefühl haben, hierher zu gehören, warum sind Sie dann gekommen?“

Sie verbrachte gute drei Sekunden damit, das Schwindelgefühl zu genießen, das seine tiefe Stimme in ihr auslöste, bevor seine Worte zu ihr durchsickerten. Er war nicht gerade gastfreundlich.

„Tja, aus verschiedenen Gründen“, sagte sie, um Zeit zu schinden, auch wenn ihr eigentlich nur ein Grund einfiel. Sie seufzte. „Maya hat mich mit Schuldgefühlen überredet.“

„Was hat sie Ihnen erzählt? Dass ich Chase bei Wasser und trocken Brot in einem Turm eingesperrt habe?“

Phoebe zuckte zusammen. „Nicht ganz.“

„Aber nah dran.“

„Äh, vielleicht.“

Zanes Griff um das Lenkrad verstärkte sich. „Sie hatte schon immer eine Schwäche für Chase.“

„Er klingt wie ein ziemlich kluger Kerl. Darauf müssen Sie stolz sein, oder? Ich könnte mit Sicherheit keine Website entwickeln und dann Leute dazu verleiten, sich für einen Viehtrieb anzumelden.“

Zanes perfekter Mund spannte sich an. „Er hat gelogen, gestohlen und betrogen. Stolz ist eher kein Gefühl, das ich bei diesem Gedanken empfinde.“

Phoebe sackte in ihrem Sitz zusammen. „Wenn Sie es so ausdrücken“, murmelte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Landschaft vor dem Fenster.

Die Anzeichen der Zivilisation schwanden und machten einer zerklüfteten Einsamkeit Platz. Ein Meilenschild am Rande der Straße verkündete, dass Fool’s Gold zweiundvierzig Meilen entfernt war.

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