Julia Kiss Band 1

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Wie erkennt man Mr. Perfect? Mit dem Männertest! Ob Jolanthes neuer Nachbar David den besteht? Kaum hat sie sich auf ein prickelndes Liebesabenteuer mit ihm eingelassen, trifft er sich plötzlich mit anderen Frauen. Ist sie einem Heiratsschwindler ins Netz gegangen?

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  • Erscheinungstag 02.06.2017
  • Bandnummer 0001
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709822
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elaine Winter, Nina Bergen, Mia Jacobs

JULIA kiss BAND 1

1. KAPITEL

Wie meistens, wenn sie abends ausgehen wollte, war Jolanthe ein wenig zu spät dran und dennoch wild entschlossen, pünktlich zu sein. Nach einem letzten Blick in den Spiegel schlüpfte sie hastig in ihre Jacke, griff nach Tasche und Schlüsselbund, kurvte schwungvoll um einen der noch nicht ausgepackten Umzugskartons im Flur und trat aufatmend hinaus ins Treppenhaus. Immerhin hatte sie noch mindestens zehn Minuten Zeit für den Weg ins „Casanova“.

Erst als sie bereits die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, bemerkte Jolanthe die weinende Frau. Die hübsche, zierliche Blondine lehnte neben der gegenüberliegenden Wohnungstür an der Wand und schluchzte leise vor sich hin. Über ihre Wangen liefen Sturzbäche von Tränen, gegen die ihre Fingerspitzen und auch der Handrücken, der gelegentlich zum Einsatz kam, nicht viel ausrichten konnten.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, erkundigte Jolanthe sich unsicher.

Die blonde Frau schüttelte den Kopf und weinte noch heftiger.

„Wohnen Sie hier? Haben Sie vielleicht Ihren Schlüssel ver…“ Jolanthe stockte. Keine erwachsene Frau heulte sich die Augen aus dem Kopf, nur weil sie ihren Schlüssel verloren hatte.

„Es geht um einen Mann, nicht wahr?“ Mitfühlend betrachtete Jolanthe die traurige Frau.

Dieses Mal war ein Nicken die Antwort.

Natürlich! Mit einem tiefen Seufzer kramte Jolanthe ein Päckchen Papiertaschentücher aus den Tiefen ihrer Handtasche und reichte es der Frau.

„Die Männer sind es nicht wert, glauben Sie mir! Jedenfalls die meisten von ihnen nicht.“ Obwohl sie sich selber darüber wunderte, war Jolanthe mit ihren achtundzwanzig Jahren und trotz einiger übler Erfahrungen noch nicht bereit, die Hoffnung auf die große Liebe völlig aufzugeben. Vielleicht geschah ja eines Tages ein Wunder und plötzlich stand vor ihr – der Mann, der weder egozentrisch noch unsensibel und schon gar nicht lieblos war, sondern von allem genau das Gegenteil und noch ein bisschen mehr.

In diesem Moment öffnete sich die Wohnungstür neben der Blondine, und ein Mann betrat die Bildfläche. Sobald die Frau ihn sah, schluchzte sie noch einmal herzzerreißend auf und zog dann mit zitternden Fingern ein Taschentuch aus dem Päckchen, um sich vorsichtig die Augen abzutupfen.

Jolanthe schnappte nach Luft. Jetzt versuchte diese arme, irregeleitete Frau auch noch, dem Mann, der offenbar schuld an ihrem Elend war, den Anblick ihrer Tränen zu ersparen!

„Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben!“, fuhr sie den Kerl an, der es nicht einmal für nötig hielt, eine schuldbewusste Miene zu zeigen.

„Es ist gut, dass sie weint, das wirkt befreiend“, sagte er und lächelte Jolanthe freundlich an, während er der blonden Frau die Hand auf den Rücken legte und sie sachte in Richtung Treppe schob.

Jolanthe öffnete den Mund, bekam aber vor lauter Empörung keinen Ton heraus. Dieser Mann war ein Monster, und dabei sah er wirklich nett aus mit seinen dunkelblonden, ein wenig zerzausten Haaren und den brombeerfarbenen Augen. Wie sehr ein Lächeln doch täuschen konnte!

Als er mit der armen Frau die Treppe erreicht hatte, beugte er sich aus seiner Höhe von mindestens einsneunzig zu ihr hinunter, flüsterte ihr ein paar Worte zu und trat einen Schritt zurück, während sie tapfer nach dem Treppengeländer griff. Noch einmal wandte ihm die Blondine ihr verweintes Gesicht zu, lächelte ihn dankbar an und begann langsam die Treppen hinunterzusteigen, während sie immer noch leise vor sich hin schluchzte.

„Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass Sie die Ärmste in diesem Zustand einfach gehen lassen!“ Endlich hatte Jolanthe sich so weit gefasst, dass sie in der Lage war, einen Satz zu bilden.

„Sie wohnt ganz in der Nähe. Es ist gut für sie, wenn sie in ihrer vertrauten Umgebung ist. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist wirklich alles in Ordnung.“ Der Mann, bei dem es sich wohl leider um ihren Wohnungsnachbarn handelte, streifte Jolanthe fast schüchtern mit seinem Blick, sah wieder weg, fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar, das daraufhin noch wirrer in seine Stirn fiel, und lächelte sie so strahlend an, dass es für einen Moment in dem eher schlecht beleuchteten Treppenhaus deutlich heller zu werden schien.

Jolanthe fühlte sich in allem bestätigt, was sie bisher in ihrem Leben gelernt und erfahren hatte. Männer waren nun einmal so: Sie übernahmen niemals die Verantwortung für das, was sie anrichteten, und wollten schon gar nicht die Tränen sehen, die ihretwegen flossen. Lieber flirteten sie auf Teufel komm raus mit der nächsten Frau, die ihren Weg kreuzte, um sie ebenso hastig abzuservieren, sobald sie ihnen lästig wurde.

„Gar nichts ist in Ordnung!“, fauchte sie den Mann mit den Brombeeraugen an, der daraufhin sichtlich zusammenzuckte. „Aber das interessiert Sie natürlich nicht im Geringsten. Dafür sind Sie ja ein Mann, nicht wahr?“

Für kurze Zeit herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann versuchte dieser Kerl es doch tatsächlich wieder mit seinem Lächeln, das man unter anderen Umständen als entwaffnend hätte bezeichnen müssen. Zum Glück wusste Jolanthe aber längst, dass allerhöchste Vorsicht geboten war, und wandte rasch den Blick ab.

„Ich finde, wir sollten diesen Fall nicht weiter diskutieren. Das wäre indiskret“, sagte er mit jener warmen, ruhigen Stimme, die sie an das Märchen vom Kreide fressenden Wolf und den sieben Geißlein erinnerte und auf die sie natürlich ebenso wenig hereinfiel wie auf sein falsches Lächeln.

„Indiskret? Aha!“ Jolanthe legte alle Ironie, derer sie fähig war, in ihre Stimme und in ihren Blick.

Er tat natürlich, als wüsste er nicht einmal, wie man das Wort Ironie schreibt, und nickte nur ernst. Dann kam er mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

„Sie sind meine neue Nachbarin, nicht wahr?“

Jolanthe nickte steif und verkniff sich ein „Leider“.

„Ich freue mich. Vor Ihnen lebte ein sehr, sagen wir, griesgrämiger und vor allem lärmempfindlicher älterer Herr in Ihrer Wohnung. Er fühlte sich von allem und jedem gestört. Selbst ganz leise Musik ließ ihn regelmäßig schimpfend vor meiner Tür auftauchen.“

„Wer weiß, ob ich Ihren Musikgeschmack teile“, sagte Jolanthe, ohne auch nur den Anflug eines Lächelns zu zeigen, und übersah krampfhaft seine ausgestreckte Hand, was aber nur funktionierte, weil sie in seine Augen starrte, die unversehens noch dunkler geworden waren, während er sie prüfend betrachtete.

„Ich denke, wir werden uns gut verstehen“, entschied er dann ausgesprochen selbstherrlich, wie sie fand. „Mein Name ist David. Da wir beide weder alt noch griesgrämig sind, finde ich, wir sollten uns ruhig duzen.“

Jolanthe verdrehte die Augen. Jetzt wurde er auch noch plump vertraulich! Dass sie selber nicht viel von Förmlichkeiten hielt und eigentlich all ihre Kollegen und Bekannten duzte, vergaß sie in diesem Moment vorsichtshalber.

„Sie können doch überhaupt nicht wissen, ob wir uns verstehen werden! Ich habe da jedenfalls so meine Zweifel“, teilte sie ihrem Wohnungsnachbarn streng mit und marschierte an ihm vorbei in Richtung Treppe.

Bevor sie den Fuß auf die oberste Stufe setzte, drehte sie sich noch einmal um. „Möglicherweise stört mich Ihre Musik tatsächlich nicht, ich halte es aber für wenig wahrscheinlich, dass es mich auf Dauer begeistert, wenn Sie weinende Frauen aus Ihrer Wohnung bugsieren und hinaus auf die Straße scheuchen.“

„Sie weinen nicht alle“, teilte er ihr lächelnd mit. „Jolanthe ist übrigens ein schöner Name. Er passt zu deinen, äh, Ihren Augen.“ Er seufzte leise, wahrscheinlich um deutlich zu machen, dass er ihre Ziererei wegen des Duzens lästig fand. Leider kam Jolanthe sich deshalb sofort ziemlich zickig vor. Und sie hasste Zicken!

„Ich habe dir meinen Namen gar nicht genannt.“ Sie sah ihn starr an und presste die Lippen aufeinander. Wenn er sich einbildete, sie würde ihn fragen, was er mit seiner komischen Bemerkung über ihren Namen und ihre Augen sagen wollte, hatte er sich getäuscht.

Sein Blick ging in Richtung des kleinen Messingschilds, das sie an ihrer Tür angebracht hatte. „Ich war neugierig.“

„Das ist dein Problem“, erklärte sie ihm, warf hoheitsvoll den Kopf in den Nacken und stöckelte auf ihren hohen Absätzen die Treppe hinunter.

Hinter sich hörte sie einen Knall und einen unterdrückten Aufschrei, als wäre ihr Nachbar mit Schwung gegen seine Wohnungstür gerannt. Was ihm nur allzu recht geschehen wäre.

Wegen des Zwischenfalls im Treppenhaus betrat Jolanthe das „Casanova“ eine geschlagene Viertelstunde zu spät. Dennoch war Sina noch nicht da. Miriam hingegen, die immer überpünktlich war, hatte bereits ein leeres Weinglas vor sich stehen.

„Gut, dass du endlich kommst!“, begrüßte sie die Freundin aufgeregt. „Wir müssen uns unbedingt noch absprechen, welche Themen wir heute Abend auf keinen Fall erwähnen dürfen.“

„Das ist doch im Grunde ganz klar.“ Nachdem sie Miriam einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte, ließ Jolanthe sich auf die gepolsterte Bank fallen, von der aus sie fast den ganzen Raum überblicken konnte. „Der Name Bernd wird keinesfalls über meine Lippen kommen.“

„Selbstverständlich nicht!“ Miriam machte eine ungeduldige Handbewegung. „Wir dürfen aber auch nicht von Bratkartoffeln reden.“

„Bratkartoffeln?“ Höchst irritiert ließ Jolanthe die Speisekarte sinken, die sie jedes Mal aufs Neue studierte, obwohl sie ohnehin immer das Gleiche bestellte.

„Er hat einmal für sie gekocht. Bratkartoffeln mit Leberkäse. Wusstest du das nicht?“

„Nein, das wusste ich nicht. Bratkartoffeln?“ Jolanthe schüttelte sich so heftig, dass ihr das dunkelbraune Haar in die Augen fiel. „Wie entsetzlich unromantisch! Sina kann wirklich froh sein, dass sie den Kerl los ist.“

„Na ja, Bratkartoffeln sind immer noch besser als nichts. Wann hat für dich denn zuletzt ein Mann gekocht?“

Grübelnd legte Jolanthe die Stirn in Falten. „Ich glaube … Ich weiß nicht …“

„Na siehst du!“, triumphierte Miriam und senkte nach einem Blick auf ihre Armbanduhr sofort wieder die Stimme. „Wir sollten also unter allen Umständen die Erwähnung von Bratkartoffeln vermeiden.“

Ergeben nickte Jolanthe. Fettige Kartoffelscheiben gehörten sowieso nicht zu ihren bevorzugten Gesprächsthemen. „Da kommt sie übrigens.“

Sie hatte Sina an der Garderobe entdeckt, wo sie gerade ihren Mantel auszog.

„Und Kuba“, flüsterte Miriam hastig.

„Wieso Kuba?“ Jolanthe runzelte die Stirn.

„Sie wollten doch im Herbst gemeinsam nach Kuba fliegen.“

Ein letztes Mal nickten die beiden Freundinnen einander zu, während sich ihnen die Dritte im Bunde quer durch das Lokal näherte.

Jolanthe, Miriam und Sina waren seit über fünfzehn Jahren, seit ihrer gemeinsamen Zeit im Reitverein, enge Freundinnen. Mittlerweile hatten sie alle das Reiten aufgegeben, aber dafür trafen sie sich an jedem Mittwochabend im „Casanova“, einem schicken Restaurant mit Bar.

An diesem Freitagabend handelte es sich um eine außerplanmäßige Krisensitzung, die Sina einberufen hatte. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass Bernd, der Mann, den sie noch in der vergangenen Woche als die große Liebe ihres Lebens bezeichnet hatte, neben ihr noch zwei andere Frauen reihum mit seiner Zuneigung beglückt hatte.

„Er ist ein Schuft und keine einzige Träne wert“, begrüßte Miriam die Freundin, als diese endlich den Tisch erreichte.

„Vergiss ihn! Sofort! Dieser Kerl sollte keine einzige deiner Gehirnzellen beschäftigen, nicht eine einzige!“ Jolanthe reichte Sina ein Papiertaschentuch, das diese dankbar annahm. Wie gut, dass sie an diesem Abend einen größeren Taschentuchvorrat bei sich hatte!

Erst nachdem Sina sich die Augen abgetupft und die Nase geputzt hatte, ließ sie sich auf der Polsterbank nieder.

„Ihr habt ja so recht!“, seufzte sie und griff gierig nach der Karte. „Ich brauche heute das kalorienreichste Gericht, das die Küche hier hergibt!“

„Wenn es hilft.“ Verständnisvoll sah Jolanthe zu, wie Sina in der Speisekarte blätterte und leise vor sich hin murmelte, während sie die Namen der angebotenen Gerichte las.

„Er hatte seine guten Seiten“, schluchzte Sina eine Stunde später, nachdem sie ihren Teller geleert, die Sahnesauce mit einem Stück Weißbrot aufgetunkt und ein üppiges Dessert bestellt hatte. „Wenn ich allein daran denke, wie er für mich gekocht hat!“

„Das sollte selbstverständlich sein“, stellte Jolanthe streng fest. „Wie oft hast du denn für ihn gekocht, wenn er bei dir war?“

„Ich weiß nicht. Sehr oft. Aber Männer sind da nun mal anders. Die meisten können doch gar nicht kochen.“ Ungeduldig griff Sina nach dem Dessertlöffel und stürzte sich auf ihre Karamellcreme mit Sahnehäubchen.

„Ich finde aber, wir haben einen Mann verdient, der kochen kann. Schließlich können wir auch kochen, jedenfalls einigermaßen.“ Jolanthe nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas und sah Sina neidlos dabei zu, wie sie die Creme verschlang. Süßes mochte Jolanthe nicht besonders, stattdessen wurde sie bei Salzgebäck und kleinen, delikaten Häppchen schwach.

„Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, wir haben einen Mann verdient, der nach dem Kochen die Küche blitzblank hinterlässt“, warf Miriam ein.

„Das hat er auch nicht gemacht“, bemerkte Sina mit vollem Mund. „Er hat nicht mal beim Geschirrabtrocknen geholfen.“

„Demnächst sollten wir viel strengere Maßstäbe anlegen, bevor wir uns mit einem Mann einlassen.“ Nachdenklich schob Jolanthe ihr Glas auf dem weißen Tischtuch hin und her.

„Wenn man frisch verliebt ist, ist man bereit, beide Augen zuzudrücken. Und wenn man dann endlich die Augen wieder aufmacht, stellt man fest, dass man schon wieder auf einen untreuen, unsensiblen Klotz hereingefallen ist. Es ist immer dasselbe Spiel.“ Miriam stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Er konnte wenigstens kochen. Also zumindest Bratkartoffeln“, warf Sina ein und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie sich über den Rest ihres Desserts hermachte.

„Du magst doch eigentlich gar keine … äh … fetttriefenden Speisen.“ Jolanthe grinste über den Tisch hinweg Miriam an, denn schließlich hatten sie abgesprochen, das Wort Bratkartoffeln nicht in den Mund zu nehmen.

„Stimmt nun auch wieder!“ Zum Erstaunen ihrer beiden Freundinnen klang Sina plötzlich höchst vernünftig. Das Dessert hatte offenbar seine Wirkung getan.

„Es gibt einen Weg, wie wir uns vor künftigen Enttäuschungen schützen können“, sagte Jolanthe nach kurzem Überlegen. „Im Grunde ist es ganz einfach: Wir müssen die Männer testen, bevor wir uns auf sie einlassen.“

„Aber ich habe doch eben gesagt, dass das nicht klappen kann, weil man nicht ganz zurechnungsfähig ist, wenn man sich verliebt.“ Ungeduldig wedelte Miriam mit ihrer Serviette durch die Luft, weil der Kellner sie nicht beachtete.

„Dazu haben wir doch Freundinnen!“ Triumphierend sah Jolanthe sich am Tisch um. „Demnächst läuft es so: Jede von uns macht eine Liste der Eigenschaften, die ein Mann mitbringen sollte, mit dem sie eine Beziehung in Erwägung zieht. Und dann erfinden wir Testaufgaben, die er bestehen muss, um zu beweisen, dass er über genau diese Eigenschaften verfügt. Was bei Eignungstests im Berufsleben klappt, funktioniert auch bei Männern.“ Jolanthe arbeitete in der Personalabteilung eines großen Unternehmens.

„Wir können die Männer doch keine Fragebögen ausfüllen lassen! Außerdem würden sie sowieso alle lügen, selbst wenn es schriftlich wäre. Bernd zumindest kann lügen wie gedruckt.“ Sina suchte vergeblich nach einem frischen Taschentuch und nahm ihre Serviette zur Hilfe, um sich erneut die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.

„Wer redet denn von Fragebögen? Es gibt auch andere Möglichkeiten. Neulich in der Firma haben wir zum Beispiel in dem Zimmer, in dem die Bewerber warteten, immer wieder das Telefon klingeln lassen. Von demjenigen, der schließlich dranging, wussten wir schon mal, dass er die Initiative ergreifen kann.“ Jolanthe nickte nachdrücklich.

„Wie willst du denn die Männer dazu bringen, einen solchen Test mitzumachen? Da ergreifen die doch gleich die Flucht.“ Nachdem sie dem schwarz gelockten Aushilfskellner, der ihr ein frisches Glas Weißwein gebracht hatte, interessiert hinterhergesehen hatte, nippte Miriam genüsslich an ihrem kühlen Getränk.

„Wer sagt denn, dass die Männer etwas von dem Test wissen müssen?“ Jolanthe sah fragend in die Runde.

„Ja, aber …“

„Wie soll das denn gehen?“

„Genau wie die Sache mit dem Telefon. Die Bewerber wussten doch auch nicht, dass das ein Test war.“ Mit geheimnisvoll gesenkter Stimme fuhr Jolanthe fort: „Sobald eine von uns einen Kandidaten ins Auge gefasst hat, planen wir mit dem hoffnungsvollen Bewerber in aller Freundschaft ein gemeinsames Wochenende. Es ist schließlich ganz normal, dass wir die neue Liebe unseren Freundinnen vorstellen. Und von genau diesen Freundinnen wird er dann in Situationen gebracht, in denen wir feststellen können, ob er sich auf die gewünschte Art und Weise verhält. Er wird nicht die geringste Ahnung haben, was überhaupt vorgeht.“

Schlagartig schien Sina ihren Kummer vergessen zu haben. Mit leuchtenden Augen beugte sie sich vor. „Wir testen, ob er treu ist, ob er rücksichtsvoll ist, ob er … also meiner muss Tiere lieben. Das mit dem Test ist eine tolle Idee!“

„Nicht wahr?“ Jolanthe konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen. „Hat eine von euch was zu schreiben mit? Dann machen wir schon mal eine provisorische Liste, wie die Männer sein müssen, die unsere Liebe verdienen.“

Als Jolanthe an diesem Abend nach Hause zurückkehrte, war es bereits nach Mitternacht. Sie hatte Mühe, in der Nähe des Hauses einen Parkplatz zu finden. Nachdem sie endlich ihren Mini in eine winzige Lücke bugsiert hatte, atmete sie erleichtert auf.

Trotz der späten Stunde traf sie vor der Haustür auf Frau Briegel, die ältere Dame, die im Erdgeschoss links wohnte und die zu den wenigen Mietern gehörte, welche Jolanthe seit ihrem Einzug vor zwei Tagen bereits kennen gelernt hatte.

„Das ist aber nett, Sie zu treffen!“, freute sich Frau Briegel, schüttelte enthusiastisch ihre ohnehin schon etwas wirre Dauerwelle und fuchtelte wild mit ihrem Hausschlüssel herum.

„Ja, heute ist es etwas später geworden.“ Jolanthe griff hastig nach dem Ellbogen ihrer älteren Nachbarin und hielt sie auf diese Weise davon ab, kopfüber in das Rosenbeet neben der Haustür zu fallen.

„Ich hoffe, Sie hatten einen so schönen Abend wie ich.“ Vertrauensvoll ließ Frau Briegel sich gegen Jolanthes Schulter sinken. „Agnes, meine gute, alte Freundin Agnes, hatte Geburtstag. Es war eine sehr schöne Feier! Agnes macht die beste Eierlikörtorte überhaupt. Und dann ihr Kirschlikördessert! Das ist einfach ein Gedicht!“

Das heftige Schmatzen, mit dem Frau Briegel sich an die Genüsse des Abends erinnerte, ließ Jolanthe argwöhnen, dass es neben den erwähnten alkoholgetränkten Speisen auch das eine oder andere Gläschen Likör extra gegeben hatte.

„Es ist immer wieder schön, mit Freundinnen zusammen zu sein, nicht wahr?“ Unauffällig schob Jolanthe Frau Briegel in Richtung Haustür und nahm ihr den Schlüssel aus der Hand, um aufzuschließen.

„Es war aber auch ein Herr dabei.“ Frau Briegel kicherte neckisch. „Ein neuer Nachbar von Agnes. Ich glaube, Agnes war ziemlich eifersüchtig, weil er mir so oft zugeprostet hat.“

Darauf wusste Jolanthe nichts zu sagen. Sich gegenseitig den Mann auszuspannen war zwischen ihr und ihren Freundinnen tabu.

„Sie haben auf Ihrer Etage doch auch einen sehr netten Nachbarn.“ Geheimnisvoll senkte Frau Briegel die Stimme. „Einen gut aussehenden noch dazu. Er ist noch zu haben, soweit ich weiß, aber für mich natürlich etwas zu jung.“

Jolanthe verkniff sich die Bemerkung, dass sie darauf verzichten konnte, die Nächste zu sein, die dieser angeblich so nette David aus seiner Wohnung bugsierte, damit sie sich woanders in Ruhe ausweinen konnte.

„Haben Sie denn zurzeit einen Freund?“, erkundigte sich Frau Briegel neugierig, nachdem Jolanthe sie fürsorglich ins Haus geführt hatte.

„Zurzeit nicht. Aber ich komme gut allein zurecht.“

„Keine Frau kommt gut allein zurecht, schon gar nicht in Ihrem Alter!“ Die Löckchen auf Frau Briegels Kopf tanzten wild durcheinander, als sie bekümmert den Kopf schüttelte. „Wer hängt Ihnen denn jetzt nach Ihrem Umzug die Bilder und die Lampen auf? Auf einen Handwerker können Sie ewig warten. Der kommt wegen solcher Kleinigkeiten gar nicht erst.“

„Das mache ich selber. Ich gehe zwar nicht gern mit Elektrizität um, aber zum Lampenaufhängen kann ich ja die Sicherung herausdrehen.“ Jolanthe versuchte, Frau Briegel unauffällig in die Nähe ihrer Wohnungstür zu schieben, die ältere Frau schien jedoch nicht sonderlich erpicht darauf zu sein, das interessante Gespräch zu beenden.

„So was muss ein Mann machen!“, ereiferte sie sich. „Ich werde mir demnächst eine neue Lampe kaufen, und dann werde ich den netten Herrn Jacob, den ich heute kennen gelernt habe, bitten, sie mir aufzuhängen. Das machen wir jetzt auch bei Ihrem netten, hübschen Nachbarn so!“

Erstaunlich flink marschierte Frau Briegel zur Treppe und war schon bis zum ersten Absatz gekommen, bevor Jolanthe überhaupt begriff, was sie vorhatte.

„Auf keinen Fall, Frau Briegel!“, rief sie entsetzt. „Es ist schon viel zu spät, und außerdem kann ich nicht von irgendeinem fremden Mann verlangen, dass er für mich arbeitet.“

Frau Briegel hatte beinahe schon den zweiten Treppenabsatz erklommen. „Er muss das ja nicht heute Nacht machen. Aber ich werde ihm schon mal sagen, dass es unhöflich von ihm wäre, Ihnen nicht zu helfen. Hicks.“ Selbst ein plötzlich einsetzender Schluckauf hielt Frau Briegel nicht davon ab, in rekordverdächtigem Tempo aufwärts zu streben.

„Es ist nach Mitternacht!“ Jolanthe setzte sich hastig in Bewegung, um die offenbar zu allem entschlossene Frau aufzuhalten.

„Er ist immer ganz lange auf. Da brennt oft um zwei Uhr nachts noch Licht. Wir wollen ja nur kurz mit ihm sprechen.“

„Ich will überhaupt nicht mit ihm sprechen. Frau Briegel, bitte!“ Voller Entsetzen nahm Jolanthe zwei Stufen auf einmal, um die viel ältere Frau einzuholen.

„Ihr jungen Frauen seid einfach viel zu emanzipiert. So klappt das nicht mit der Liebe.“ Frau Briegel schlug auf Jolanthes Hand, die sich von hinten auf ihren Arm gelegt hatte. Es war klar, dass sie nicht gewillt war, sich von ihrer Mission abbringen zu lassen.

„Wirklich … Das geht doch nicht …“ Noch einmal versuchte Jolanthe, ihre Nachbarin festzuhalten, und wieder setzte diese sich energisch zur Wehr.

Inzwischen hatte Frau Briegel Davids Tür erreicht und legte entschlossen den Finger auf den Klingelknopf.

Jolanthe zog kurzfristig in Erwägung, sich einfach in ihre eigene Wohnung zurückzuziehen, verwarf den Gedanken aber wieder, weil David dann womöglich glauben würde, sie sei mit Frau Briegels Aktion einverstanden.

Offensichtlich war David tatsächlich noch wach gewesen, denn er öffnete nach kurzer Zeit. Er trug die schwarzen Jeans und das blaue Hemd, die Jolanthe schon am frühen Abend an ihm gesehen hatte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich in seinen Augen die Farben von Hemd und Hose zu jenem faszinierenden Schwarzblau zu mischen schienen, das an reife Brombeeren erinnerte. Dieser eitle Kerl wählte offenbar seine Kleidung mit großer Sorgfalt aus.

„Guten Abend, Frau Briegel“, sagte David freundlich und lächelte Jolanthe über den Kopf der alten Frau hinweg warm an.

„Ich habe nichts damit zu tun“, erklärte Jolanthe hastig. „Frau Briegel und ich sind uns unten an der Haustür begegnet. Und sie …“

„Lassen Sie mich das mal machen, Kindchen!“, unterbrach Frau Briegel sie energisch und immer noch mit ihrem Schluckauf kämpfend. „Ich sagte doch bereits, dass ihr jungen Frauen nichts davon versteht, wie man einen netten Mann auf sich aufmerksam macht.“

„Ich will ihn aber gar nicht auf mich aufmerksam machen!“ Jolanthes Augen schossen Blitze in Davids Richtung, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

„Ich bin schon längst auf meine schöne neue Nachbarin aufmerksam geworden, Frau Briegel“, gestand David sanft und streifte Jolanthe mit einem jener Blicke, die sie so sehr irritierten, dass sie jedes Mal schnell woanders hinsehen musste.

„Das ist gut!“, lobte Frau Briegel ihn hicksend. „Dann werden Sie ihr sicher gerne ein wenig bei der Einrichtung ihrer Wohnung zur Hand gehen. Bilder und Lampen müssen aufgehängt werden, es gibt so manches schwere Stück zu tragen. Das ist eine gute Gelegenheit, einander näher zu kommen!“

„Ich kann meine Lampen selbst aufhängen“, rief Jolanthe so laut, dass ihre Stimme durchs Treppenhaus hallte.

„Ich sagte, Sie sollen ruhig sein, Kindchen“, schimpfte Frau Briegel über die Schulter. „So kann das einfach nicht funktionieren.“

„Es soll ja auch nicht funktionieren“, erklärte Jolanthe an David gewandt.

„Aber Sie sagten doch, dass Sie keinen Freund haben. Und wenn eine gute Partie gleich nebenan wohnt, darf man sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen“, bemerkte Frau Briegel streng.

Spätestens an dieser Stelle der Unterhaltung begann Jolanthe nach einem Mauseloch Ausschau zu halten, in dem sie eiligst zu verschwinden gedachte. In Ermangelung eines solchen Verstecks erklärte sie hastig: „Frau Briegel war auf einer Geburtstagsfeier. Es gab sehr viel Eierlikör.“

„Ich bin nicht betrunken, falls Sie das damit sagen wollen.“ Frau Briegel warf Jolanthe einen beleidigten Blick zu.

„Natürlich nicht, Frau Briegel.“ Freundlich legte David eine Hand auf die Schulter der alten Frau, was diese sich mit sichtlichem Behagen gefallen ließ. „Trotzdem werde ich jetzt dafür sorgen, dass Sie sicher nach unten in Ihre Wohnung kommen. Und selbstverständlich werde ich mich morgen um die Lampen und Bilder und alles, was es sonst noch in Jolanthes Wohnung zu tun gibt, kümmern.“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, protestierte Jolanthe. Weil ihr klar wurde, wie unfreundlich sich das anhören musste, fügte sie etwas kleinlaut hinzu: „Das kann ich auf keinen Fall annehmen.“

„Sicher kannst du das. Du musst sogar, denn Frau Briegel wird wahrscheinlich nie mehr mit mir sprechen, wenn ich dir nicht deine Lampen aufhänge, und das kannst du nicht verantworten.“ David war mit Frau Briegel bereits an der Treppe. Er hatte ja Routine darin, Frauen von seiner Wohnungstür zu entfernen.

„Genau so ist es!“, stimmte Frau Briegel eifrig zu und lehnte sich beim Betreten der obersten Stufe eng an Davids Schulter.

Jolanthe öffnete den Mund zu weiteren Protesten, David und Frau Briegel unterhielten sich jedoch längst über die schöne Geburtstagsfeier, die Frau Briegel besucht hatte, und kümmerten sich nicht weiter um sie.

Seufzend öffnete Jolanthe ihre eigene Wohnungstür und beschloss dabei, dass sie David einfach nicht hereinlassen würde, falls er tatsächlich bei ihr auftauchte. Schließlich konnte er sie nicht zwingen, seine Hilfe anzunehmen.

Dass eine pechschwarze Katze durch die offen stehende Tür Davids Wohnung verließ und lautlos hinter ihr herschlich, bemerkte Jolanthe nicht.

2. KAPITEL

„C. G.?“ David öffnete die Tür zum Küchenbalkon und sah nach, ob sich sein schwarzer Kater hinter einem der Blumenkübel versteckt oder ein weiteres Mal versucht hatte, an der prächtigen Tomatenpflanze hochzuklettern. Doch selbst dort draußen, wo sich C. G. mit Vorliebe aufhielt, wann immer es ihm gelang, ungesehen hinauszuschlüpfen, war er nicht zu finden.

„C. G.! Nun komm schon!“ Der Verzweiflung nahe begann David eine neue Runde durch die vier Zimmer seiner Wohnung. Der provisorische Behandlungsraum war für den Kater ebenso tabu und deshalb fast so reizvoll wie der Balkon, weshalb David dort noch einmal besonders gründlich hinter die beiden Sessel, die Couch und den Schreibtisch sah.

Schließlich musste er einsehen, dass der Kater nicht in der Wohnung war. Blieb nur die Möglichkeit, dass C. G. nachts, als David Frau Briegel die Treppe hinunter zu ihrer Wohnung begleitet hatte, in den Hausflur entwischt war. Wäre der Kater nach unten gelaufen, hätte David ihm auf dem Weg zurück nach oben begegnen müssen. Hinauf in den dritten Stock war C. G. noch nie gelaufen, weil dort ein Gift und Galle speiender Dackel mit dem irreführenden Namen Lieschen wohnte. Angesichts dieser Tatsachen gab es nur eine Möglichkeit, wohin C. G. verschwunden sein konnte.

David atmete tief durch, strich sich vor dem Garderobenspiegel das Haar aus der Stirn, riss energisch die Wohnungstür auf, knallte sich die Türkante gegen die Kniescheibe, unterdrückte einen Schmerzensschrei und humpelte entschlossen auf die gegenüberliegende Tür zu.

Nachdem er bereits geklingelt hatte, fiel ihm ein, dass es erst kurz vor zehn war. Vielleicht war Jolanthe Lux eine Langschläferin und liebte es, am Wochenende bis mittags im Bett zu liegen. Andererseits war C. G. ein verfressener Kater, der es gewohnt war, morgens gefüttert zu werden.

David legte erneut den Finger auf den Klingelknopf und ließ ihn einige Zeit dort, während er lauschend den Kopf vorbeugte. Als er aus den Tiefen der Wohnung einen lauten, hellen Aufschrei hörte, zuckte er zurück. Dann klopfte er vorsichtig an die Tür.

„Hallo? Kann ich dir irgendwie helfen?“

Stille. Sekunden später ein weiterer Schrei und gleich darauf das Geräusch nackter Fußsohlen auf dem Parkett.

David klopfte noch einmal, dieses Mal lauter. „Hallo? Jolanthe?“

Erneutes Getrappel nackter Füße, dann wurde die Tür aufgerissen, und er sah in ein bleiches Gesicht, umrahmt von zerzausten, dunkelbraunen Haaren.

„Ich … In meinem Schlafzimmer … Eine … Katze.“ Mit zitternder Hand zeigte sie den Flur entlang.

„Also ist er tatsächlich bei dir!“ David atmete auf. „Das ist mein Kater. Ich habe ihn schon überall gesucht.“

„Das ist dein Kater?“ Jolanthes Stimme war schrill vor Empörung. „Was hat das Vieh in meiner Wohnung verloren?“

Ihre rüde Art, über seinen geliebten Zimmertiger zu sprechen, ließ David beleidigt zusammenfahren. Er wurde aber sofort von ihrem Anblick abgelenkt. Sie trug ein kurzes, enges Nachthemd, unter dem sich ihre Brustspitzen deutlich abzeichneten und das ihre langen, leicht gebräunten Beine bis zur Hälfte der Schenkel freiließ.

„Es tut mir leid“, sagte er ruhig und bemühte sich, ihr ausschließlich ins Gesicht zu sehen. „C. G. ist ziemlich freiheitsliebend. Er muss gestern Abend aus meiner Wohnung entwischt sein, während ich Frau Briegel nach unten brachte.“

Die Erwähnung des nächtlichen Intermezzos im Treppenhaus ließ Jolanthe, die inzwischen wieder etwas Farbe bekommen hatte, erneut erbleichen. „Fang sofort deinen Kater ein und schaff ihn aus meiner Wohnung!“, befahl sie mit energischer Stimme und leicht zitternden Lippen.

„Sicher“, sagte er. Anstatt aber zur Tat zu schreiten, stand er einfach nur da und sah ihr in die weit aufgerissenen, tiefblauen Augen, die verwirrt zurückstarrten.

„Nun mach schon! Worauf wartest du?“ Jolanthe gelang es als Erste, ihren Blick loszureißen. Sie sprach nun ausschließlich mit seinem obersten Hemdknopf.

„Ich würde ja gern, aber du lässt mich nicht in die Wohnung.“ Es blieb David nicht verborgen, wie atemlos seine Stimme klang, obwohl er sich heftig um Gelassenheit bemühte.

„Ja, natürlich.“ Hastig machte sie ihm den Weg frei.

Er fand das verlegene Lächeln, mit dem sie zur Seite trat und gleichzeitig an ihrem kurzen Nachthemd zerrte, derart bezaubernd, dass er prompt mit der Stirn gegen den Türpfosten rannte. Obwohl der Schmerz ihm die Tränen in die Augen trieb, versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Wie es aussah, war er auch nach seinem 30. Geburtstag, den er im vergangenen Monat gefeiert hatte, den alten Fluch nicht losgeworden, angesichts einer attraktiven Frau zum vollkommenen Tollpatsch zu mutieren.

„Ich bin aufgewacht, und da saß das Vieh … also … dein Kater saß vor mir auf der Bettdecke, höchstens einen Meter von meinem Gesicht entfernt, und glotzte mich an“, erzählte Jolanthe voller Empörung, während sie ihm barfuß und mit gehörigem Sicherheitsabstand den Flur entlang folgte.

„Hast du Angst vor Katzen?“ Erstaunt hielt David vor der Tür zu Jolanthes Schlafzimmer inne. „C. G. ist ein wirklich hübsches Tier. Er ist sehr sauber und völlig gesund. Du musst dir also keine Sorge machen, weil er auf deiner Bettdecke saß.“

„C. G.? Was ist das überhaupt für ein alberner Name für eine Katze?“ Jolanthe verdrehte demonstrativ die Augen.

„Ich habe dich vorhin schreien hören, und du bist ziemlich panisch in der Wohnung herumgelaufen. Hast du so etwas wie eine Katzenphobie?“, bohrte er.

„Soll das hier eine Diskussionsveranstaltung werden, oder schaffst du jetzt endlich den Kater aus meinem Schlafzimmer?“ Ihr Fauchen ähnelte verdächtig dem einer schlecht gelaunten Katze.

„Ist ja schon gut!“ Er stieß die Tür auf und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Jolanthes Schlafzimmer gefiel ihm auf Anhieb. Besonders mochte er die hellen Holzmöbel und die zart gemusterte Bettwäsche, die perfekt zu den Vorhängen passte. Als er das zerwühlte Bett sah, in dem sie vor kurzem noch gelegen hatte, musste er tief durchatmen, wobei ihm ihr Duft, der in der Luft hing, aufreizend in die Nase drang.

„C. G.?“, lockte er, als sie ihm von hinten auffordernd den Zeigefinger in die Rippen bohrte. „Wo bist du?“

„Er ist wahrscheinlich unter dem Bett“, flüsterte sie ihm ins Ohr, ohne sich aus ihrer Deckung hinter seinem Rücken hervorzuwagen.

Folgsam ließ er sich auf den Knien nieder und erspähte tatsächlich unter dem Bett, ganz hinten an der Wand, seinen schwarzen Kater, der ihn verstimmt anfunkelte.

„Komm schon, C. G. Ich fürchte, du bist hier nicht sonderlich erwünscht.“

Der Kater rührte sich nicht.

„Nun mach doch irgendwas!“ Zur Abwechslung stupste ihn Jolanthe mit ihren nackten Zehen in die Seite. Hätte sie geahnt, welche Gefühle sie mit dieser Berührung bei ihm auslöste, hätte sie das sicherlich unterlassen.

„Hast du ein Stückchen Wurst? Er mag auch Käse“, flüsterte David, als würde das Tier ihn verstehen.

„Kannst du deinen Kater mit dem blöden Namen nicht mit deinen eigenen Lebensmitteln locken?“

„Dann müsste ich rüber in meine Wohnung gehen.“ Aus irgendeinem Grund wusste er genau, dass ihr der Gedanke, allein mit dem Kater in ihrer Wohnung zurückzubleiben, nicht gefallen würde.

„Mag er Salami?“ Tatsächlich hörte sie sich schon viel gefügiger an.

„Lieber Leberwurst.“

„Ich esse aber keine Leberwurst, also kann ich damit nicht dienen!“

„Dann eben Salami.“

Als er hörte, wie sich Jolanthes Schritte auf dem Holzfußboden entfernten, wandte David den Kopf. Beim Anblick ihrer langen, nackten Beine musste er schwer schlucken. Hastig widmete er seine Aufmerksamkeit wieder dem Kater unter dem Bett.

Wie sich herausstellte, mochte C. G. durchaus Salami. Er näherte sich zügig der Wurstscheibe in Davids Hand, schnappte danach und ließ sich dann willig von seinem Besitzer auf den Arm nehmen. Den Kater an die Brust gedrückt, wandte David sich Jolanthe zu, die fluchtbereit in der offenen Schlafzimmertür stand.

„Möchtest du ihn mal streicheln? Er hat ein ganz weiches Fell. Ich fände es schön, wenn du dich ein wenig mit ihm anfreunden würdest. Vielleicht passiert es ja doch noch mal, dass er einfach in deine Wohnung spaziert.“

„Nein, danke. Ich befreunde mich grundsätzlich nicht mit Wesen, die über spitze Krallen verfügen.“ Ihre weichen Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Außerdem bist du für ihn verantwortlich und solltest dafür sorgen, dass er nicht in anderer Leute Wohnungen herumschleicht und unschuldige Menschen zu Tode erschreckt.“

„Du hast eine Katzenphobie, nicht wahr?“ Über den schnurrenden Kater auf seinem Arm hinweg sah er Jolanthe prüfend an.

„Ich wüsste nicht, was dich das anginge! Was heißt hier außerdem Phobie? Ich mag Katzen nicht besonders, erst recht nicht, wenn sie einfach, ohne mich zu fragen, in mein Bett steigen. Das ist doch wohl verständlich.“

„Die meisten Frauen mögen Katzen.“ David kraulte C. G. liebevoll hinter den Ohren und wünschte sich dabei, die Finger in Jolanthes zerzaustes Haar graben zu dürfen. Und zusätzlich seine Nase, seine Lippen, sein ganzes Gesicht. Ohne den Blick von seiner neuen Nachbarin zu nehmen, schmiegte er die Wange an C. G.s Kopf.

„Ich bin ich! Was andere Frauen mögen oder nicht, interessiert mich herzlich wenig.“

Diese Frau war eine Kratzbürste, wie sie im Buche stand. Sie erweckte in David den brennenden Wunsch, herauszufinden, was man tun musste, um sie sanft und anschmiegsam werden zu lassen. Denn er fühlte, dass sie unter ihrer abweisenden Oberfläche ein zärtliches, leidenschaftliches Wesen verbarg. Ihre Augen verrieten sie selbst in diesem Moment, in dem sie sich bemühte, ihn und seinen Kater feindselig anzufunkeln.

Er räusperte sich. „Ich bringe C. G. dann mal nach drüben.“

„Lass dich nicht aufhalten.“ Sie trat so weit zur Seite, wie es die Breite des Flurs zuließ, und sah mit zusammengekniffenen Augen zu, wie er das Tier zur Wohnungstür trug.

„Ich gebe dir eine halbe Stunde zum Duschen und Anziehen, dann komme ich mit einem Frühstück. Als Entschädigung für den Schrecken, den C. G. dir eingejagt hat. Werkzeug bringe ich auch gleich mit, und nach dem Frühstück hänge ich dann wie versprochen die Lampen und Bilder auf.“ Er tat, als würde er ihren lautstarken Protest nicht hören, und zog sanft ihre Wohnungstür hinter sich ins Schloss.

Zurück blieb eine sprachlose Jolanthe. Als könnte David sie noch sehen, zerrte sie ihr Nachthemd nach unten, sodass es wenigstens die Hälfte ihrer Schenkel bedeckte, und machte sich auf den Weg ins Bad.

Hier starrte sie einige Minuten verwirrt in den Spiegel, bevor sie das Nachthemd von den Schultern gleiten ließ und die Dusche aufdrehte. Genau in diesem Moment läutete im Flur das Telefon. Jolanthe zögerte, drehte dann aber das Wasser wieder ab, um das Gespräch anzunehmen. Vielleicht war es ja David, der das gemeinsame Frühstück absagen und vielleicht sogar gnädig darauf verzichten wollte, ihre Lampen aufzuhängen.

Es war nicht David, sondern Miriam, die sofort ohne Punkt und Komma losredete. „Eigentlich hätte ich es euch gestern Abend schon sagen sollen, aber nachdem ich in der vergangenen Nacht auch noch von ihm geträumt habe, muss ich wohl damit herausrücken. Wir hatten in meinem Traum Sex miteinander, und es war einfach göttlich. Falls es in Wirklichkeit zwischen uns auch so wird, spricht zumindest dieser Punkt eindeutig für ihn.“

„Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Miriam!“, unterbrach Jolanthe den Wortschwall der Freundin. „Ich muss zugeben, dass ich dir nicht ganz folgen kann.“

„Unser Projekt. Ich möchte unseren neu gegründeten Club der Männertesterinnen in Anspruch nehmen.“

„Ach so!“ Nach der Konfrontation mit David und seinem Kater schien der gestrige Abend für Jolanthe in weiter Ferne zu liegen.

„Es geht um Heinrich. Ich möchte, dass er getestet wird.“

„Heinrich?“

„Ich weiß, ich weiß, der Name ist nicht gerade berauschend, aber der Mann ist es dafür umso mehr. Er stammt aus einer alten Fabrikantenfamilie, und der älteste Sohn bekommt in dieser Familie schon seit Generationen den Namen Heinrich. Dieser Name hindert ihn aber nicht daran, den süßesten Hintern und ein Lächeln zu haben, das mich jedes Mal aus den Schuhen haut.“

„Aber stell dir mal vor, das wird so richtig was mit euch, dann musst du vielleicht eines Tages ‚Heinrich, Heinrich‘ über den Spielplatz rufen!“

Miriam lachte. „Bis jetzt ist noch nichts zwischen uns passiert, woraus ein Sohn namens Heinrich oder eine Hildegard hätte entstehen können.“

„Hildegard?“ Jolanthe verdrehte die Augen. Das wurde ja immer schlimmer!

„Die älteste Tochter heißt in seiner Familie nun mal Hildegard.“

„Jedem, wie er mag!“ Spontan beschloss Jolanthe, dass Namen Privat- und Geschmackssache waren. „Wenn es so eilig ist, können wir meinetwegen unseren Test nächstes Wochenende machen. Wir müssen nur noch Sina fragen, ob sie auch Zeit hat. Und natürlich deinen Heinrich. Hast du eine Idee, welcher Ort geeignet wäre?“

„Heinrichs Familie hat eine Hütte in den Bergen. Jedenfalls nennen sie es Hütte, obwohl es wohl eher ein ziemlich großes Haus ist. Er sprach von sechs Schlafzimmern. Für das kommende Wochenende hat er mich dorthin eingeladen. Ich werde ihn einfach fragen, ob ich meine beiden besten Freundinnen mitbringen kann.“

Jolanthe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Das wird ihn sicher begeistern.“

„Irgendwie bringe ich es ihm schon bei. Es ist ja genug Platz dort, und eigentlich ist es doch logisch, wenn ich möchte, dass meine Freundinnen den Mann kennen lernen, in den ich mich verliebt habe.“

Jolanthe betrachtete sich im Garderobenspiegel. „Du bist verliebt?“

„Heftig.“

„Eigentlich ist verlieben erst erlaubt, nachdem wir ihn getestet haben. Vorher ist er sozusagen nur ein Kandidat, in den du dich unter Umständen verlieben könntest.“ Angesichts ihrer wirren Haare und ihres ungeschminkten Gesichts fragte sich Jolanthe, weshalb um alles in der Welt David sie so interessiert angesehen hatte.

„Als ob man Gefühle einfach so ein- oder ausschalten könnte! Falls der Test zu furchtbar ausfällt, kann ich mich immer noch gegen eine Beziehung entscheiden. Wahrscheinlich vergeht die Verliebtheit sowieso von allein, wenn ich durch den Test sein wahres Gesicht erkenne.“

Miriam schwieg nachdenklich. „Hoffe ich jedenfalls“, fügte sie schließlich hinzu.

Dann erzählte sie Jolanthe ausführlich, wie, wann und wo sie Heinrich kennen gelernt hatte, was sie bisher gemeinsam unternommen hatten und wie wunderbar sie diesen Mann fand.

Miriam war gerade dabei, in allen Einzelheiten einen Spaziergang durch den Park zu beschreiben, in dessen Verlauf Heinrich erstens ihre Hand genommen und zweitens angesichts der vielen Hunde seine Tierliebe bewiesen hatte, als es an Jolanthes Wohnungstür klingelte.

„Das ist David“, flüsterte Jolanthe hektisch in den Hörer. „Er will mit mir frühstücken und anschließend meine Lampen aufhängen.“

„Dein gut aussehender Nachbar?“, quietschte Miriam am anderen Ende der Leitung begeistert. „Sollen wir den auch gleich testen?“

„Kein Gedanke! Der Mann ist eine einzige Katastrophe. Wie kommst du überhaupt darauf, dass er gut aussieht?“ Unruhig sah Jolanthe zur Tür. Natürlich hatte sie nicht die Absicht, David noch einmal hereinzulassen, aber sie musste ihm zumindest sagen, dass sie sowohl allein frühstücken als auch eigenhändig ihre Lampen aufhängen würde.

„Ich komme darauf, dass er gut aussieht, weil du das gestern Abend gesagt hast. Also jedenfalls hast du ihn beschrieben, und das klang ziemlich nach Sahneschnitte.“ Miriam gluckste vor sich hin.

„Quatsch! Außerdem spielt es überhaupt keine Rolle, wie er aussieht, weil er für mich nicht mal infrage käme, wenn er der letzte Mann auf Erden wäre. – Ich muss jetzt Schluss machen“, sagte Jolanthe hastig, als es erneut klingelte. „Über nächstes Wochenende sprechen wir noch.“

„Jolanthe?“ Offenbar hatte David sie durch die Wohnungstür reden hören. Er klopfte sachte an.

„Ja?“ Sie hatte keine Ahnung, ob sie so viel Zeit am Telefon vertrödelt hatte oder ob er viel zu früh gekommen war. Das spielte auch keine Rolle, weil sie ihm sowieso nicht öffnen würde.

„Was ist?“, fragte sie streng.

„Frühstück ist da“, antwortete er fröhlich.

„Ich habe keinen Hunger!“ Sie starrte drohend in Richtung Tür, als könnte sie ihn auf diese Weise in die Flucht jagen.

„Frisch gekochter Kaffee, warme Croissants und zwei verschiedene Sorten frische Brötchen, Kirsch-Vanille-Marmelade, Käse und Schinken, Erdbeeren.“ Offenbar ging er davon aus, dass seine Aufzählung genügen würde, um sie schwach zu machen.

Jolanthe stand hinter der Tür und versuchte sich verzweifelt einzureden, dass ein alter Brotkanten und ein kläglicher Rest Himbeermarmelade schließlich auch ihren Hunger stillen würden. Der Kater mit dem komischen Namen hatte ihre letzte Scheibe Salami vertilgt.

Sie hätte ziemlich viel darum gegeben, genügend Charakter zu besitzen, um ein paar lächerlichen Lebensmitteln zu widerstehen, obwohl sie seit mehr als zwölf Stunden nichts gegessen hatte. Bevor es ihr aber gelang, so etwas wie Selbstdisziplin zusammenzukratzen, machte ihre Hand sich selbstständig und drückte ganz von selbst die Klinke herunter. Durch einen kleinen Spalt konnte sie bereits den köstlichen Kaffeeduft riechen, als ihr plötzlich einfiel, dass sie splitterfasernackt war. Hastig knallte sie die Tür wieder zu.

„Ich bin noch nicht fertig“, rief sie, entsetzt über ihre Gier, die sie fast dazu gebracht hätte, sich nackt auf ein paar lächerliche Brötchen und ein bisschen Kaffee zu stürzen.

„Du musst dich nicht schminken oder dir die Haare föhnen!“, antwortete David. „Dann wird nur der Kaffee kalt.“

„Es geht nicht ums Schminken. Ich bin …“ Sie konnte ihm unmöglich sagen, dass sie die ganze Zeit nackt hinter der Tür gestanden und mit ihm geredet hatte!

„Nun mach schon auf. Ich wette, du siehst wunderschön aus.“

Mit beiden Armen umschlang Jolanthe ihren Körper. Dieser Mann trieb sie in den Wahnsinn! Sie stürzte zur Garderobe und wühlte mit fliegenden Händen zwischen ihren zahlreichen Jacken und Mänteln, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Eilig schlüpfte sie in den langen, dunklen Wollmantel, schloss sämtliche Knöpfe und stellte vorsichtshalber auch noch den Kragen hoch.

„Wolltest du ausgehen?“, erkundigte David sich verdutzt, als sie endlich die Tür öffnete. „Wir haben draußen mindestens 20 Grad und hellen Sonnenschein.“

„Mir war ein wenig kühl.“ Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust.

„Wo wollen wir frühstücken?“ David deutete auf den Picknickkorb zu seinen Füßen. Auf seiner anderen Seite hatte er einen Werkzeugkoffer abgestellt. „Wie wäre es mit dem Balkon? Zu kühl dürfte es dir in dem dicken Mantel draußen ja nicht werden.“

Stumm trat Jolanthe zur Seite, denn ihr blieb ja praktisch nichts anderes übrig. Vor allem nicht, weil ihr jetzt neben dem Kaffeeduft auch noch der wunderbare Geruch frischer Brötchen in die Nase stieg. Wie hatte er es nur in der kurzen Zeit geschafft, auch noch Brötchen zu holen?

Zielstrebig trug David den Picknickkorb und seinen Werkzeugkoffer in Richtung Küche. Jolanthe folgte ihm, oder vielmehr dem Duft, der aus seinem Korb aufstieg, gierig. Sie vergaß sogar, mit sich zu hadern, weil sie den Feind nur wegen ein bisschen Kaffee und ein paar Brötchen widerstandslos in ihre Wohnung gelassen hatte.

Angesichts ihres kahlen Balkons, auf dem es so kurz nach ihrem Einzug weder Pflanzen noch Möbel gab, wurde David in seinem Elan gebremst. Aber nur für wenige Sekunden.

„Hast du eine Decke?“

„Eine Decke?“, erkundigte sie sich mit viel zu hoher Stimme. Das Wort Decke hörte sich aus dem Mund dieses Mannes aufregend und gefährlich an. Als wollte er sofort mit ihr unter selbige schlüpfen.

„Sozusagen eine Picknickdecke.“ Harmlos lächelte er sie an. „Notfalls könnten wir auch deinen Mantel auf dem Boden ausbreiten. Der Balkon ist sauber …“

„Untersteh dich!“ Mit schweißnassen Fingern umklammerte Jolanthe die oberen Knöpfe ihres Mantels. „Ich hole eine Decke!“ Immerhin würde sie auf diese Weise Gelegenheit haben, sich schnell etwas Vernünftiges anzuziehen.

„Nicht nötig. Wir nehmen die hier.“ Dummerweise hatte er den Stapel Wolldecken entdeckt, der in einer Ecke der Küche auf einem bereits halb leer geräumten Umzugskarton lag. Jolanthe hatte die Decken benutzt, um zerbrechliche Gegenstände für den Transport darin einzuwickeln.

Wenig später hatte er nicht nur eine der Decken auf den Holzdielen des Balkons ausgebreitet und daneben die Palme gestellt, die eigentlich dem kleinen Essplatz in der Küche eine südliche Atmosphäre verleihen sollte, sondern er hatte auch mit flinken Händen auf der Decke das Frühstück ausgebreitet. Anschließend deutete er einladend auf eines der Stuhlkissen, das er aus der Küche geholt und ebenfalls auf den Balkonboden gelegt hatte. „Bitte!“

Es war nicht gerade einfach, sich auf dem Boden niederzulassen, ohne ihre nackten Beine oder womöglich noch mehr zu zeigen. Als sie es geschafft hatte, atmete sie erleichtert auf.

„Sollen wir als Erstes auf gute Nachbarschaft anstoßen?“

Verdutzt starrte Jolanthe die beschlagene Sektflasche an, die David plötzlich in der Hand hielt.

„Ich dachte, wir machen zur Feier des Tages ein Sektfrühstück, nachdem es ja ohnehin schon fast Mittag ist.“ Er lächelte sie an – das hatte er mittlerweile zu einer lästigen Gewohnheit gemacht – und holte auch noch zwei Sektkelche aus dem Korb.

„Ich weiß nicht …“ Hilfe suchend sah sie hinauf in den blauen Sommerhimmel. Sie war es einfach nicht gewohnt, an einem x-beliebigen Samstagvormittag äußerst mangelhaft bekleidet zusammen mit einem fast fremden und viel zu attraktiven Mann Sekt zu trinken.

Bevor sie es schaffte, einen vollständigen Satz zusammenzubringen, hielt sie bereits ein gefülltes Sektglas in der Hand.

„Auf ein friedliches, spannendes und entspanntes Nebeneinander und Miteinander.“ Sein Glas klang zart gegen ihres. Während er trank, sah er sie unverwandt an.

„Ja“, stieß sie hervor, obwohl sie eigentlich etwas ganz anderes hätte sagen müssen. Zum Beispiel, dass es aus bestimmten Gründen so etwas wie ein Miteinander keinesfalls geben würde. Doch seltsamerweise verblasste das warnende Bild der weinenden Blondine mit jeder Minute mehr vor ihrem inneren Auge.

Anstatt also ein paar energische und wohl durchdachte Bemerkungen zu machen, atmete Jolanthe tief durch, lächelte David an und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.

„Auf eine wunderbare Nachbarschaft“, hörte sie sich zu ihrem eigenen Entsetzen sagen.

Allerdings war sie nicht so entsetzt, dass ihr der Appetit vergangen wäre. Sie griff herzhaft zu, trank genüsslich von dem starken Kaffee, leerte nebenbei ihr Sektglas und spürte erst, nachdem sie ein Croissant mit köstlicher Konfitüre, ein Schinkenbrötchen und eine Hand voll Erdbeeren vertilgt hatte, dass sie unter dem dicken Mantel schweißgebadet war. Die Sonne schien ihr auf den Rücken, und der Schweiß lief in Strömen an ihrem Rückgrat herab. Die Haare klebten ihr im Nacken, und auch zwischen ihren Brüsten rannen kleine Bäche abwärts.

„Willst du nicht doch lieber den Mantel ausziehen? Du siehst ziemlich erhitzt aus.“ David musterte sie aufmerksam.

„Nein. Es ist angenehm so.“ Sie stellte den Kragen noch ein bisschen steiler auf und bemühte sich, nicht zu blinzeln, als ihr ein kleiner Schweißtropfen ins linke Auge fiel.

„Noch ein Kaffee? Oder lieber ein Glas Sekt?“, bot er ihr an.

Sie wählte den Sekt, der wenigstens kühl war, und stürzte das halbe Glas auf einmal herunter. Dann entschloss sie sich, den obersten Mantelknopf zu öffnen und den dicken Stoff bis zu den Knien zurückzuschlagen, sodass sie Luft an ihren Beinen spüren konnte.

Obwohl David eine unbewegte Miene zur Schau trug, entging ihr nicht, dass sein Blick von ihren Fesseln aufwärts zu ihren Knien glitt. Es fühlte sich an wie eine Berührung, eine sehr intime Berührung, zumal sie das Gefühl hatte, als würde dieser Blick bis tief in die Dunkelheit unter ihrem Mantel reichen. Die Innenseiten ihrer Schenkel kribbelten, während sich auch dort feine Schweißperlen wie zarte Finger einen Weg über ihre Haut suchten.

„Du glühst, als hättest du Fieber, Jolanthe. Allerdings … dieser Mantel …“ Er streckte den Arm aus und legte wie eine besorgte Mutter die Fingerspitzen auf ihre Stirn.

„Es geht mir wunderbar!“ Sie zuckte vor der Berührung seiner kühlen Finger zurück, die seltsamerweise ein Brennen auf ihrer erhitzten Haut hinterließen.

„Du bist eine merkwürdige Frau.“ David griff nach einer Erdbeere und schob sie ihr zwischen die Lippen.

Wie sie wohl in diesem Moment alles akzeptiert hätte, was irgendwie kühl und feucht war, nahm Jolanthe die Frucht dankbar an, zerdrückte sie mit der Zunge und schluckte den süßen Saft.

„Darf ich?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, beugte David sich vor, strich mit der Spitze seines Zeigefingers sachte über ihren Mundwinkel, tupfte eine Fruchtfaser auf, die sich dort verfangen hatte, und ließ sie zwischen seinen Lippen verschwinden.

Jolanthe stockte der Atem, und ihr Schweiß rann noch heftiger. Sie sprang von der Decke auf. „Ich muss unbedingt … Es ist Zeit …“ Halbe Sätze vor sich hin stotternd, rettete sie sich in die Küche, wo sie unschlüssig direkt hinter der Balkontür stehen blieb, weil sie sich plötzlich wie ein albernes, kleines Mädchen vorkam.

Ohne Eile erhob David sich ebenfalls und folgte ihr. „Du hast recht. Es wird Zeit, dass wir uns um die Bilder und Lampen kümmern.“

Seine Gelassenheit schien nicht so groß zu sein, wie er vorgab. Jedenfalls stolperte er über die Schwelle, geriet ins Taumeln, fiel in Jolanthes Richtung, klammerte sich an ihrem Mantel fest und riss sie mit sich zu Boden.

Einen Moment lang lagen sie beide wie betäubt da, er auf ihr, ihrer beider Arme und Beine ineinander verschlungen.

„Hast du dir wehgetan?“, stieß er schließlich hervor.

„Das kann ich erst feststellen, wenn du nicht mehr mit deinem ganzen Gewicht auf mir liegst.“ Um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen, das nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war, schielte sie krampfhaft an ihrer Nase abwärts.

„Ich kann nicht aufstehen.“ Tatsächlich unternahm er nicht die leiseste Anstrengung, sich von der Stelle zu rühren.

„Und wieso nicht? Hast du dir was gebrochen?“ Nun wagte sie doch einen Blick in seine Augen. Er sah nicht aus wie jemand, der schlimme Schmerzen litt.

„Was ist also los?“ Sie zappelte ein bisschen unter ihm herum, hielt aber gleich wieder still, weil es ihr den Atem nahm, sein Gewicht auf ihrem Körper zu spüren.

Er räusperte sich. „Vielleicht möchtest du erst mal deinen Mantel in Ordnung bringen, bevor ich aufstehe und du sozusagen … äh … nackt daliegst.“

Auf diese Mitteilung hin brachte Jolanthe kein Wort heraus. Sie schob ihre zitternden Hände zwischen ihren und Davids Körper und versuchte, den schweren Mantelstoff, der tatsächlich bis weit über ihre Taille nach oben gerutscht war, über ihre Blößen zu ziehen. Dabei konnte sie nicht vermeiden, auch David zu berühren, und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, dass er als Mann sehr angetan von der Situation war.

„Ich verbiete dir …“, verlieh sie ihrer rechtschaffenen Empörung Ausdruck und wusste nicht weiter.

„Was verbietest du mir?“, erkundigte er sich und vollführte eine Art Liegestütz über ihrem Körper, damit sie das mit dem Mantel besser regeln konnte.

„Du genießt das auch noch!“ Ächzend zerrte Jolanthe an dem Stoff, der immer noch nicht da war, wo er hingehörte.

„Das stimmt nicht. Ich bin allerdings auch nur ein Mann, und es gibt gewisse körperliche Reaktionen, die sozusagen automatisch … nun ja … jedenfalls wenn eine gewisse Anziehung besteht …“ Er musste sich schon wieder räuspern.

„Müssen wir das wirklich ausdiskutieren?“, endete er in schwachem Ton.

Immerhin konnte Jolanthe aus dem Augenwinkel erkennen, dass sein rechtes Ohr knallrot leuchtete.

„Nein, müssen wir nicht.“ Endlich war der Mantel da, wo sie ihn haben wollte. „Steh jetzt endlich auf!“

Als sie sich kurz darauf wieder aufrecht gegenüberstanden, beide immer noch atemlos, fand Jolanthe es einigermaßen schwierig, David ins Gesicht zu sehen, und auch er hatte offenbar gewisse Schwierigkeiten, sie anzuschauen.

„Du solltest jetzt lieber gehen“, sagte sie schließlich.

„Aber die Lampen …“

„Vielleicht später irgendwann. Jetzt muss ich unter die Dusche.“

„Ich räume den Balkon auf, und dann bin ich weg. Du kannst ruhig schon ins Bad gehen.“ Er betrachtete interessiert die Luft direkt hinter ihrem Kopf.

Ohne ein weiteres Wort flüchtete Jolanthe ins Bad, schloss hinter sich ab und wartete, immer noch mit ihrem dicken Mantel bekleidet, bis sie hörte, wie David die Wohnungstür ins Schloss zog. Der Gedanke, nackt unter der Dusche zu stehen, während er sich noch in der Wohnung aufhielt, war ihr irgendwie unheimlich.

3. KAPITEL

Jolanthe war extra früh aufgestanden, um Sina abzuholen und gemeinsam mit ihr pünktlich zur vereinbarten Zeit bei der Berghütte einzutreffen, wo die drei Männertesterinnen zum ersten Mal in Aktion treten wollten. Miriam und das ahnungslose Testopfer Heinrich würden in trauter Zweisamkeit in Heinrichs Nobelkarosse anreisen.

Um den obligatorischen letzten Blick in den Spiegel zu werfen, bevor sie das Haus verließ, knipste Jolanthe im Flur das Licht an. Die Deckenlampe flackerte mehrmals unschlüssig auf, erweckte den Anschein, sie würde komplett den Dienst verweigern, und entschloss sich dann doch zu leuchten. Wie immer musste Jolanthe angesichts dieser Lichtspiele an ihren Wohnungsnachbarn denken.

Sie hatte David letztlich nicht daran hindern können, fast den ganzen vergangenen Samstagnachmittag lang Bilder und Lampen aufzuhängen. Mit dem Ergebnis, dass sie drei Mal ihren Erste-Hilfe-Kasten hervorholen musste, um diverse Wunden zu versorgen, die er sich dabei zugefügt hatte. Außerdem hingen mehrere Bilder und ein Regal schief an der Wand, die Flurlampe flackerte, und die Beleuchtung in der Küche ließ sich überhaupt nur bei jedem dritten oder vierten Versuch einschalten. Dennoch hatte Jolanthe der freundlichen Frau Briegel, als sie ihr am letzten Dienstag im Treppenhaus begegnet war, bestätigt, dass David nicht nur gut aussehend und nett war, sondern auch ein geschickter Heimwerker. Diese kleine Notlüge hatte sie gewählt, weil die sehr reale Gefahr bestand, dass Frau Briegel andernfalls schnurstracks die Treppe hinaufeilen, an Davids Wohnungstür klingeln und ihn auffordern würde, umgehend alle technischen und sonstigen Probleme in Jolanthes Wohnung zu beheben. Genau das wollte Jolanthe aber sich und Davids ohnehin arg malträtiertem Daumen ersparen.

Sie knipste das Licht wieder aus, was immerhin auf Anhieb funktionierte, griff nach ihrem kleinen Koffer, zog sich einen leichten Anorak über und verließ die Wohnung.

„Entschuldigen Sie bitte. Wissen Sie, ob Herr Dammerau zu Hause ist?“

Der Mann, der sie unvermittelt vor ihrer Wohnungstür ansprach, war etwa dreißig, sah ziemlich gut und sehr übernächtigt aus.

Jolanthe musterte ihn skeptisch. Wenn es sich um einen Freund Davids handelte, war höchste Vorsicht geboten. „Ich habe keinen engeren Kontakt zu Herrn Dammerau“, erklärte sie streng. „Wieso sollte ich also wissen, ob er in seiner Wohnung ist? Es interessiert mich schlicht nicht.“

„Entschuldigen Sie“, wiederholte der Mann und wich einen halben Schritt zurück. „Ich muss ihn dringend sprechen.“

„Sie kennen ihn nicht näher?“ Jolanthe betrachtete das blasse Gesicht und die leicht geröteten Augen ihres Gegenübers.

„Erst seit etwa zwei Wochen. Seit dieses Problem aufgetaucht ist … Ich möchte lieber nicht darüber reden.“

Plötzlich hatte Jolanthe eine Eingebung. „Geht es um Ihre Frau? Eine sehr hübsche, blonde Frau?“

Verblüfft starrte der Fremde sie an. „Ja. Sie ist blond und sehr hübsch. Aber woher wissen Sie …?“

Jolanthe hob die Schultern. „Zufall. Ich habe sie gesehen.“

Das blasse Gesicht des Mannes rötete sich, während er sie ungläubig ansah. „Mit ihm?“

„Tut mir leid“, meinte Jolanthe nun, sich entschuldigen zu müssen, obwohl sie nichts für den schlechten Charakter ihres Nachbarn konnte.

„Guten Morgen, Herr Schmiedke“, erklang in diesem Moment Davids Stimme hinter ihr. Er stand in seiner offenen Wohnungstür, um die Lippen sein übliches irritierendes Lächeln.

„Guten Morgen, Jolanthe“, fügte er hinzu und ließ seine Augen auf jene Weise strahlen, die jeder Frau, die weniger über ihn wusste als sie, sofort den Boden unter den Füßen weggezogen hätte.

Jolanthe jedoch ignorierte einfach das leichte Kribbeln in ihrer Magengrube. Das plötzliche Zittern ihrer Knie hing wahrscheinlich damit zusammen, dass sie zum Frühstück nur zwei Tassen starken Kaffee und eine Scheibe Toast gehabt hatte.

„Morgen“, murmelte sie. „Besuch für dich.“

„Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten, Herr Schmiedke. Ich war noch unter der Dusche.“ Immer noch lächelnd, streckte David seinem Besucher die Hand hin.

Jolanthe war froh, dass sie für einen Händedruck zu weit entfernt stand. Leider stand sie aber immerhin so dicht vor David, dass sie sah, wie sich die feuchten Härchen an seinen Schläfen kringelten. Als sich ein kleiner Wassertropfen daraus löste und langsam über seine Wange lief, musste sie heftig schlucken.

„Kein Problem“, murmelte Herr Schmiedke, schüttelte David brav die Hand und ließ sich willenlos von ihm in die Wohnung führen.

Bevor er die Tür schloss, wandte David sich noch einmal zu Jolanthe um. „Ich wünsche dir einen schönen Tag.“

Sie schnappte heftig nach Luft und biss sich auf die Unterlippe, während sie sich fragte, ob dieser Herr Schmiedke tatsächlich der völlig gebrochene Ehemann der hübschen, blonden Frau war, die David neulich weinend fortgeschickt hatte. Konnte David tatsächlich so kaltblütig sein, harmlos lächelnd den gehörnten Ehemann zu einem Gespräch in seiner Wohnung zu empfangen? Am liebsten hätte sie ihn gefragt, nur ging sie das eigentlich nichts an. Obwohl sie es hilfreich gefunden hätte, mehr über die üblen Wesenszüge ihres Wohnungsnachbarn zu erfahren. Es musste nämlich dringend aufhören, dass sie einen trockenen Mund bekam, nur weil er vom Duschen feuchte Haare hatte.

Sobald Davids Wohnungstür ins Schloss gefallen war, warf Jolanthe den Kopf in den Nacken, griff nach ihrem Koffer und lief die Treppe hinunter.

Sina stand bereits wartend vor der Haustür, als Jolanthe ihren Mini schwungvoll um die Ecke steuerte.

„Drei Reisetaschen?“ Entgeistert musterte Jolanthe den Gepäckhaufen der Freundin.

„Na ja, ich dachte, wenn wir ihn in Versuchung führen wollen, brauchen wir so einiges an Munition.“ Sina hievte eine der großen Taschen auf den Rücksitz, während Jolanthe die beiden anderen neben ihr eigenes, vergleichsweise bescheidenes Gepäck in den Kofferraum stopfte.

Obwohl sie pünktlich losgefahren waren, erreichten sie die Hütte fast eine Stunde nach der vereinbarten Ankunftszeit und nur mit Hilfe zahlreicher Handyanrufe bei Miriam.

„Du solltest dir wirklich ein Navigationssystem zulegen, Jolanthe.“ Miriam, die zur Begrüßung ihrer Freundinnen aus dem Haus geeilt war, strahlte die beiden fröhlich an.

„Ich dachte, Sina hilft mir herzufinden.“ Bekanntermaßen verfügte Jolanthe nicht über einen sonderlich ausgeprägten Orientierungssinn.

„Wie soll ich das denn machen, wenn du nicht mal eine Straßenkarte mitnimmst? Ich kann doch nicht hellsehen.“ Kopfschüttelnd zerrte Sina ihre Taschen aus dem Auto.

„Ist er drinnen?“, erkundigte sie sich dann flüsternd bei Miriam.

Diese nickte heftig. „Gut, dass ihr endlich gekommen seid! Fast wäre ich vor der Zeit schwach geworden. Er ist so ein Sahnestückchen!“

„Ob er das wirklich ist, wollen wir erst einmal feststellen“, bremste Jolanthe die verliebte Miriam und schloss ihren Wagen ab.

Miriam griff nach einer von Sinas Taschen und trug sie die Freitreppe hinauf, die zum Hauseingang führte. „Das hier ist also die bescheidene Berghütte der Familie Riemers.“ Mit der freien Hand machte sie eine weit ausholende Geste. „Kommt, ich stelle euch Heinrich vor.“

Sie stellten das Gepäck im Eingangsbereich ab, dann eilte Miriam vor ihren beiden Freundinnen in ein großes Zimmer, das mit schweren Eichenmöbeln und tiefen Ledersesseln ausgestattet war. An der Wand hing ein modernes Gemälde, das offensichtlich ein Original war, aber überhaupt nicht zur übrigen Einrichtung und schon gar nicht zum Hirschgeweih in der gegenüberliegenden Ecke passte. Durch die Fenster hatte man einen weiten Blick auf die wolkenverhangenen Berge.

Der Mann, der sich bei ihrem Eintreten aus einem der Sessel erhob, war eher unscheinbar. Mittelgroß, mittelblond, mittelmäßig attraktiv, aber er begrüßte sie freundlich, bot ihnen etwas zu trinken an und fragte sie nach ihrer Fahrt. Insgesamt war er so harmlos und nett, dass er Jolanthe fast ein wenig leid tat, wenn sie daran dachte, was ihm an diesem Wochenende noch bevorstand.

„Treue und Humor. Das ist mir bei einem Mann auf jeden Fall sehr wichtig.“ Mit gerunzelter Stirn hockte Miriam auf dem Fensterbrett des Gästezimmers, in dem Jolanthe für das Wochenende untergebracht war. Auch Sina, die das Zimmer nebenan bewohnte, war da. Sie saß in einem der hübschen, kleinen Sessel, während Jolanthe noch damit beschäftigt war, ihre Kleidung in den Schrank zu räumen. Gemeinsam gingen sie erneut die Liste der Eigenschaften durch, die Miriam vom Mann ihrer Träume erwartete.

„Wie wäre es mit Konfliktfähigkeit?“ Jolanthe öffnete eine Schublade und legte ihre Unterwäsche hinein. „Das ist ein Punkt, den wir bei Bewerbern um eine leitende Position immer testen.“

Miriam grinste. „Es geht ja sozusagen um eine leitende Stellung, obwohl ich vorhabe, in meinem Leben die Chefin zu bleiben. Heinrich sollte in der Lage sein, zu streiten und sich zu versöhnen. Was ich aber auch gut finde, sind praktische Fähigkeiten. So was wie gleichzeitig Kaffee kochen, den Tisch decken und sich mit mir unterhalten, während ich die Sahne schlage.“

„Nichts leichter, als das festzustellen!“ Mit Schwung schloss Jolanthe ihren leeren Koffer und schob ihn unter das Bett. „Das ist eine Begabung, die ich ständig bei Bewerbern testen muss. Da denke ich mir was Hübsches für Heinrich aus.“

„Aber es darf nicht zu schwierig sein“ Miriam rutschte vom Fensterbrett. „Er muss nicht perfekt sein, nur gut, also jedenfalls erträglich.“

Sina drohte Miriam scherzhaft mit dem Zeigefinger. „Nur nicht zu bescheiden und nicht zu viele Kompromisse! Wir wissen ja, was dabei herauskommt. Du bist ganz schön verknallt. Das ist doch erst nach dem Test erlaubt.“

Miriam unterdrückte einen Seufzer. „Ihr habt gut reden! Ich überlege manchmal, ob ich den Test überhaupt will.“

„Du willst ihn!“, entschied Jolanthe strikt. „Vor allem willst du nicht wieder mal in ein paar Wochen oder Monaten feststellen, dass du an einen richtigen Mistkerl geraten bist. Wir treffen uns also in einer halben Stunde zu Test Nummer eins in der Küche. Sorge bitte dafür, dass Heinrich ebenfalls da ist.“

„Ach, tatsächlich?“ Sina sah Heinrich mit weit aufgerissenen Augen an, spitzte verführerisch die Lippen und zog ihren ohnehin schon kurzen Rock noch ein Stückchen weiter nach oben, während sie sich mit vorgeschobener Hüfte an die Tischkante lehnte.

„Ja. Hier in den Bergen ziehen Gewitter sehr rasch auf, und es ist schon mehr als ein Mal passiert, dass ich bei einer Bergtour von einem Unwetter überrascht wurde. Dann heißt es Ruhe bewahren.“ Heinrich warf sich in die Brust und schielte unauffällig, wenn auch nicht unauffällig genug, auf Sinas Knie.

„Das gelingt dir sicher gut.“ Sina himmelte ihn an, was das Zeug hielt.

„Heinrich! Du wolltest dich doch um die Steaks kümmern“, ließ sich Miriam gegen jede Vereinbarung aus dem Hintergrund vernehmen.

„Ja, gleich.“ Ohne auch nur einen Blick in Richtung Pfanne zu werfen, zeigte Heinrich mit einer weit ausholenden Handbewegung durch das Küchenfenster auf die imposante Landschaft. „Ich habe hier einen Teil meiner Kindheit verbracht und natürlich einige Erfahrung, was die Bergsteigerei betrifft.“

„Aber das Fleisch sieht schon ziemlich … Aua!“ Wütend funkelte Miriam Jolanthe an, die sie kräftig in die Seite geboxt hatte.

„Nachher haben wir nichts zu essen“, wisperte Miriam als Rechtfertigung für ihr unerlaubtes Verhalten in Jolanthes Ohr.

„In der Speisekammer stehen jede Menge Konserven“, flüsterte Jolanthe zurück, während sie unauffällig ihr Handy aus der Hosentasche zog, eine Taste drückte und das Mobiltelefon wieder verschwinden ließ. Im nächsten Moment war aus der Ferne das Läuten eines Telefons zu hören.

Nur mit Mühe riss Heinrich sich aus dem Bannkreis der Bewunderung los, die ihm Sina mit großen Augen und immer wieder zurückgeworfenem Haar zuteil werden ließ. „Entschuldigung. Ich muss mal rasch ans Telefon.“

Sobald er die Küche verlassen hatte, nahm Jolanthe die Pfanne mit den mittlerweile schwarzbraunen Steaks vom Herd. „Ich glaube, das reicht erst mal. Seine Fähigkeiten, unter leicht erschwerten Bedingungen den Alltag zu bewältigen, sind jedenfalls stark verbesserungswürdig.“

Rasch stellte Miriam die Pfanne wieder zurück auf die Herdplatte. „Lass. Vielleicht kümmert er sich darum, wenn er gleich wiederkommt. Zur Not könnte man die Steaks noch essen.“

Kopfschüttelnd unterbrach Jolanthe die Verbindung zum Festnetzapparat, an dem Heinrich wohl gerade den Hörer abnahm. Wenig später trat er wieder in die Küche.

„Da hat sich scheinbar jemand verwählt.“ Bevor er fortfahren konnte, Sina von seinen Bergabenteuern zu erzählen, drückte Jolanthe ihm ein Salatbesteck in die Hand. „Könntest du mal das Dressing unter den Salat heben?“

„Heinrich, das Fleisch …“ Angesichts von Jolanthes drohender Miene wagte Miriam nur zu flüstern, und natürlich hörte Heinrich sie nicht, denn er stocherte folgsam, wenn auch nicht sehr wirkungsvoll in der Salatschüssel herum.

„Ach du liebe Güte! Jetzt habe ich doch tatsächlich die Weinflasche umgeworfen. Wie ungeschickt von mir!“, flötete Jolanthe im nächsten Moment neben dem gestressten Hausherrn. „Gibst du mir bitte ein Aufwischtuch, damit ich die Überschwemmung beseitigen kann?“

Heinrich ließ das Salatbesteck in die Schüssel fallen, würdigte die qualmende Pfanne keines Blickes und verließ eilig die Küche, wohl auf der Suche nach einem Lappen.

„Jetzt brechen wir ab!“, entschied Jolanthe energisch. „Das Fleisch ist zwar ohnehin nicht mehr zu gebrauchen, aber wir wollen ja nicht das Haus in Brand setzen.“

„Wie fandet ihr mich?“, erkundigte sich Sina. Sie hockte immer noch auf der Tischkante und wippte aufreizend mit dem linken Fuß.

„Du hast schamlos übertrieben!“ Miriam war eindeutig schlecht gelaunt.

„Du warst gut“, lobte Jolanthe gleichzeitig. „Bei Männern kann man nicht übertreiben. Je mehr du sie anhimmelst, umso toller finden sie sich und dich. Bis eine andere vorbeikommt, die sie noch heftiger bewundert, dann ist die natürlich interessanter.“

„Das ist bei Heinrich nicht so.“ Auf Miriams Stirn erschien eine senkrechte Falte. „Er ist einfach nur höflich. Schließlich ist Sina sein Gast. Was kann er dafür, wenn sie sich derart an ihn heranschmeißt? Und er gibt sich sehr viel Mühe mit dem Kochen.“

„Na ja.“ Jolanthe warf einen viel sagenden Blick in Richtung der immer noch qualmenden Pfanne. „Bei einer Bewerbung als Küchenhilfe wäre das hier das endgültige Aus.“

„Ich bin aber keine Großküche!“ Miriam klang wie ein Kind, dem man das Spielzeug wegnehmen wollte, das es gerade erst zu Weihnachten bekommen hatte.

„Du bist verliebt und deshalb leider nicht objektiv. Genau deshalb haben wir ja beschlossen, dass immer die beiden anderen von uns den infrage kommenden Mann testen.“ Sina rutschte von der Tischkante und zupfte ihren Rock zurecht.

„Ich sehe mal nach, wo Heinrich bleibt.“ Etwas überstürzt verließ Miriam die Küche.

„Es scheint nicht leicht zu sein, das Ergebnis eines Männertests zu akzeptieren. Daran müssen wir noch arbeiten.“ Jolanthe öffnete den Mülleimer und ließ die verbrannten Steaks hineinfallen.

„Aber es ist vernünftig, sich nach dem Testergebnis zu richten.“ Bekümmert sah Sina zu, wie Jolanthe zwei Dosen mit Erbseneintopf aus der Speisekammer holte. Sie liebte gutes Essen und hasste Konserven.

„Ich fürchte, Vernunft und Liebe haben nicht sehr viel miteinander zu tun.“ Als sie diesen Satz aussprach, musste Jolanthe plötzlich an ihren schrecklichen Nachbarn David denken. Hastig bückte sie sich, um einen großen Suppentopf aus dem Schrank zu nehmen.

Mitten in der Nacht wachte Jolanthe von einem ziehenden Schmerz im Unterleib auf.

Ein oder zwei Minuten lag sie ganz still da und hoffte vergeblich, sich getäuscht zu haben. Dann stand sie auf und sah in der Schublade, in die sie ihren Kleinkram gelegt hatte, nach, ob sie daran gedacht hatte, Tampons einzupacken. Natürlich nicht!

Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als eine ihrer Freundinnen zu wecken und sie zu fragen, ob sie ihr aushelfen könnten.

Sie stand bereits vor Sinas Tür, als ihr einfiel, dass es schon während ihrer gemeinsamen Reiterferien vor fünfzehn Jahren schier unmöglich gewesen war, Sina nachts zu wecken, wenn man nicht mindestens über eine Schreckschusspistole oder ein paar Chinaböller verfügte. Also ging sie weiter zu Miriams Zimmer, klopfte sachte an, lauschte einen Moment in die Stille und öffnete schließlich vorsichtig die Tür.

Das Zimmer war von weißem Mondlicht erleuchtet, das auf ein leeres Bett fiel. Überrascht starrte Jolanthe das verlassene Bett an, dann machte sie sich auf in Richtung Bad, um nachzusehen, ob sie dort fand, was sie brauchte.

Auf dem schwach beleuchteten Flur tauchte Miriam so plötzlich vor ihr auf, dass beide erschrocken zurückfuhren und im Chor „Huch!“ schrien.

„Wo kommst du denn her?“ Misstrauisch beäugte Jolanthe die Tür, durch die Miriam direkt vor ihr in den Flur getreten war. Wenn sie nicht alles täuschte, schlief Heinrich in diesem Zimmer.

„Äh.“ Hilflos fuchtelte Miriam mit der Hand durch die Luft.

„Warst du bei Heinrich? Im Bett?“ Jolanthe konnte selber hören, dass sie wie eine moralisch empörte Mutter klang, die ihre Teenagertochter auf Abwegen erwischt hatte.

Autor

Elaine Winter
Elaine Winter wurde in Hannover geboren und studierte Anglistik und Germanistik, nachdem sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau absolviert hatte. Von frühster Kindheit an hätte sie, vor die Wahl gestellt, eine Geschichte jeder Süßigkeit vorgezogen. Bevor sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben und Übersetzen zum Beruf machte, war sie im Kunsthandel, im...
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