Mein Nachbar, seine Tochter und ich

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Groß und charmant? Michelle ist skeptisch, als ihr neuer Nachbar mit ihr flirtet - zurecht! Denn Gabe Davis zieht mit seiner Tochter ein, und gegen Single-Daddys ist die Ärztin komplett immun - aber Mr Right erobert ihr Herz schneller, als sie eine Diagnose stellen kann …


  • Erscheinungstag 05.04.2021
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506342
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Er hat dich wirklich gefragt, ob du dazu bereit bist?“ Lexi Delacourt lachte glockenhell auf.

„Ja klar.“ Alle Blicke waren auf Dr. Michelle Kerns gerichtet. Der Roman, den sie im Lesezirkel gerade besprachen, war plötzlich kein Thema mehr.

Als eine der Frauen sich darüber entrüstet hatte, dass der Held sein Pferd mit der Peitsche traktierte, war Michelle ihr Verflossener eingefallen: Larry, ein Pharmazievertreter aus Idaho, mit dem sie ein paarmal ausgegangen war. Bis sie feststellte, dass er eine Schwäche für Peitschen hatte, genauer gesagt: Er stand darauf, ausgepeitscht zu werden.

„Und was hast du ihm geantwortet?“, fragte Karen Fisher mit großen Augen. Dafür, dass sie fünf Kinder bekommen hatte, war die Krankenschwester manchmal etwas naiv, was die Männerwelt anbetraf.

„Erst mal musste ich schlucken.“ Michelle sah sich unauffällig im Café um, ob auch niemand von den Nachbartischen zuhörte. „Dann habe ich ihm gesagt, dass ich auf so was nicht stehe, und ihm den Laufpass gegeben.“

„Du hast aber auch immer ein Glück mit den Männern“, seufzte Lexi. „Hast du jemals einen normalen Kerl aufgetan?“

Seit zwei Jahren wohnte Michelle in Jackson Hole, und alle zwei Wochen traf sie sich mit ihren Freundinnen vom Lesezirkel. Bei dieser Gelegenheit wurde natürlich auch viel Privates ausgetauscht.

So wussten die Freundinnen von Michelles erstem Schwarm in der Highschool, der sich als schwul herausgestellt hatte. Und dass sie sich im College in einen Kommilitonen verliebt hatte, der verheiratet war – was er ihr allerdings verschwiegen hatte. Und dann hatte es einen in Saint Louis gegeben, der sich als Stalker erwiesen hatte. „Es gab schon ein paar Normale, zum Beispiel meinen Exmann Ed.“

„Ach, verheiratet warst du auch schon?“ Karen sah ihre Freundin Lexi an. „Hast du das gewusst?“ Lexi schüttelte den Kopf.

„Hab ich euch das noch nicht erzählt? Das war auch in meiner Zeit in Saint Louis. Die Ehe hat nur zwei Jahre gehalten.“ Obwohl seit der Scheidung drei Jahre vergangen waren, überkam Michelle noch immer ein Gefühl von Versagen, wenn sie daran dachte.

„Das war sicher schwer für dich.“ Betsy Harcourt berührte Michelles Hand. „Was ist denn schiefgegangen? Oder findest du die Frage zu indiskret?“

„Ed war Witwer und hatte zwei halbwüchsige Töchter.“ Michelle versuchte, gleichmütig zu klingen. „Die Mädchen und ich wurden nicht warm miteinander, und Ed hat schlussendlich zu ihnen gehalten. Es war von Anfang an eine schwierige Situation.“

Nur ungern dachte sie an diese dunkle Zeit in ihrem Leben zurück. Bei der Hochzeit war sie überzeugt gewesen, dass es für immer sei. Ihre Eltern waren damals schon achtunddreißig Jahre verheiratet, und niemand in ihrer Familie war geschieden.

Trotzdem hatte Michelle die Hoffnung nicht aufgegeben. Nur würde sie beim nächsten Mal vorsichtiger sein. Um Männer mit halbwüchsigen Töchtern würde sie auf jeden Fall einen Riesenbogen machen.

„Wir finden schon noch einen anständigen Mann für dich.“ July Wahl blickte in die Runde, und die anderen nickten zustimmend.

„Danke für das Angebot, aber im Moment fühle ich mich ohne Mann sehr wohl.“ Während sie das sagte, spürte sie Erleichterung. „Ich habe ja Sasha.“

„Sasha?“, fragte Karen mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Das ist ihr Hund“, erklärte Lexi.

„Ihr alle wisst, wie sehr ich meinen Puffy liebe. Aber würdest du deinen Sasha wirklich einem solchen Mann vorziehen?“ Betsy deutete aus dem Fenster auf einen großen, dunkelhaarigen Mann, der gerade seine Einkäufe in einem roten Geländewagen verstaute.

Gesetzt den Fall, Michelle wäre wirklich interessiert, was nicht der Fall war: Bei dem Mann würde sie zweimal hingucken. Sie mochte große Männer. Vielleicht war es ein romantisches Klischee, aber es gefiel ihr, zu einem Mann aufzublicken. Da sie selbst recht groß war, gab es nicht allzu viele Männer, bei denen sie das konnte. „Sieht ganz gut aus. Zumindest von hinten.“

„Kennt den jemand von euch?“, fragte Karen.

„Ist doch ganz egal.“ Michelle trank von ihrem Latte macchiato und widerstand der Versuchung, einen weiteren Blick zu riskieren. „Ich hab meinen Sasha.“

„Der Hund darf dir so lange Gesellschaft leisten, bis wir jemand für dich gefunden haben.“ Betsys graublaue Augen blitzten schelmisch.

„Leicht wird das nicht.“ Lexis schöner Mund formte sich zu einem breiten Lächeln. „Ich meine, Michelle ist ziemlich anspruchsvoll.“ Sie hielt die Hand hoch und zählte an den Fingern ab. „Heterosexuell, Single, keine abartigen sexuellen Neigungen, kein Stalker. Mädels, das wird schwierig.“

Michelle fuhr in die Einfahrt ihres Reihenhauses am Stadtrand von Jackson Hole. Sie musste lächeln, als sie an die Unterhaltung im Café dachte. Ihre Freundinnen vom Lesezirkel waren alle glücklich verheiratet und daher wild entschlossen, auch sie unter die Haube zu bringen.

Doch es war Michelle ernst mit dem, was sie gesagt hatte. Im Moment war es ihr einfach zu anstrengend, sich auf einen Mann einzulassen. Sie hatte Larry wirklich gern gehabt. Er war klug und unterhaltsam und sah blendend aus, und vielleicht hätte sie es sich überlegt, wäre da nicht die Sache mit der Peitsche gewesen.

Sie hatte den Fehler gemacht, das Ganze langsam angehen zu lassen. Wäre sie gleich zu Anfang mit ihm ins Bett gegangen, hätte sie sofort gemerkt, was mit ihm los war, und nicht erst nach zwei Monaten. Beim nächsten Mann würde sie sich überlegen, ob sie ihre altmodischen Moralvorstellungen nicht lieber über Bord werfen sollte.

Aber im Moment war das kein Thema. Sie liebte ihre Hündin Sasha und ihre Arbeit in der Geburtsklinik, und sie hatte genügend Freunde, um sich nicht einsam zu fühlen.

Als sie ihr Auto in die Garage fuhr, bemerkte sie einen roten Wagen, der in die Einfahrt zum Nachbarhaus bog. Das waren sicher die neuen Besitzer.

Gerüchteweise hatte sie gehört, dass ein junges Paar von außerhalb das Reihenhaus neben ihr gekauft hatte. Michelle konnte nur hoffen, dass es ruhige Bewohner waren, denn die Arbeit in der Klinik war sehr anstrengend, und sie wurde häufig auch nachts zu Notfällen gerufen. Daher brauchte sie dringend ihren Schlaf.

Vielleicht sollte sie das gleich erwähnen, wenn die neuen Nachbarn sich vorstellten … Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Wie alt war sie eigentlich? Achtzig oder gerade mal Anfang dreißig? Demnächst würde sie sich womöglich bereits beschweren, wenn Kinder durch ihre Blumenbeete liefen. Sofern sie Blumenbeete hätte. Und sofern es in dieser Yuppiegegend überhaupt Kinder gäbe, die darin herumlaufen könnten.

Sasha begrüßte sie überschwänglich, denn sie freute sich schon auf den Spaziergang. Rasch tauschte Michelle ihre Arbeitskleidung in Shorts und T-Shirt, klickte die Leine in das Hundehalsband und verließ mit ihrem Golden Retriever das Haus.

Als sie nach zwei Stunden zurückkam, machte ihr neuer Nachbar sich gerade vor dem Haus zu schaffen. Beim Näherkommen durchfuhr es sie wie ein Blitz. War das nicht der Mann, den sie vom Café aus beobachtet hatten? Sie hatte ihn zwar nur von hinten gesehen, aber er hatte dieselbe Statur. Sie stellte fest, dass sein Gesicht nicht weniger ansehnlich war als seine Rückenansicht. Irgendjemand hatte ihr erzählt, er hätte eine kleine Frau, die ihm an den Lippen hing.

Michelle erinnerte sich daran, wie nett die anderen Nachbarn sie bei ihrem Einzug empfangen hatten, und beschloss, es ebenso zu machen.

„Guten Tag.“ Sie blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen. „Ich bin Michelle Kerns und wohne nebenan. Willkommen in der Nachbarschaft.“

Lächelnd kam er auf sie zu und ergriff ihre ausgestreckte Hand. „Gabe Davis. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Schnell zog sie die Hand zurück, denn ein Stromschlag durchzuckte ihren Arm. Ihr neuer Nachbar war mehr als attraktiv. Mit seinem leicht gewellten dunklen Haar und den rehbraunen Augen sah er einfach unwiderstehlich aus.

„Wie hat es Sie denn von Pennsylvania hierher verschlagen?“, fragte sie.

Er räusperte sich. „Woher wissen Sie denn, woher wir kommen?“

„Ihr Autokennzeichen …“

„Na klar.“ Sein Lächeln löste ein Kribbeln in Michelles Bauch aus. Mrs Davis musste eine glückliche Frau sein.

Sie blickte zum Haus. „Ist Ihre Frau auch da?“

Seine Brauen zogen sich verwundert zusammen. „Ich bin nicht verheiratet.“

Michelles Herz machte einen kleinen Sprung. „In der Nachbarschaft hat man sich erzählt, dass ein junges Paar einzieht“, sagte sie verlegen.

„Ja, meine Tochter Finley und ich.“ Er lächelte amüsiert. „Sie ist beim Auspacken. Zumindest habe ich ihr gesagt, dass sie das machen soll. Aber wie dreizehnjährige Mädchen so sind …“

Seine Stimme verriet deutlich seine Zuneigung und seinen väterlichen Stolz.

Dreizehn. Chrissy, Eds älteste Tochter war dreizehn gewesen, als sie geheiratet hatten. Ein Kloß ballte sich in ihrem Magen zusammen.

„Ja, das sind … ungewöhnliche Jahre“, brachte sie mühsam heraus, denn er schien auf eine Reaktion zu warten.

Er lachte leise. „Kennen Sie das? Haben Sie auch Kinder?“

„Nein. Keinen Mann, keine Kinder, nur Sasha.“

Ihr Blick ging nach unten zu ihrem Hund, der neugierig mit dem Schwanz wedelte.

Gabe bückte sich und hielt dem Hund die Hand vor die Schnauze. „Hi, Sasha.“

Während der Hund Gabes Hand beschnüffelte, rotierte sein Schwanz heftiger.

„Schönes Tier. Wir hatten auch mal einen Golden Retriever.“

„Hatten?“

„Ja, leider ist er gestorben.“ Als Michelle ihn fragend ansah, fügte er hinzu: „Letztes Jahr, an Krebs.“

„Das tut mir leid.“ Sasha zu verlieren, wäre für sie eine Tragödie. „Das war sicher schwer für Sie beide.“

Gabe nickte und wandte sich wieder dem Hund zu. „Wie alt ist er?“

„Er ist eine Sie. Drei Jahre alt.“

Das goldbraune Wuschelbällchen hatte ihr damals über die Trennungsphase hinweggeholfen, und jetzt konnte sie sich ein Leben ohne Sasha nicht mehr vorstellen.

Als Gabe sich ihr wieder zuwandte und sie mit seinen warmen braunen Augen ansah, kam es ihr vor, als gäbe es eine innere Verbindung zwischen ihnen. Eine seltsame Sehnsucht überkam sie, und sie hätte sich am liebsten an ihn geschmiegt.

„Dad“, rief eine jugendliche Stimme vom Haus her. „Grandma ist am Telefon.“

Gabe drehte sich zum Haus um, wo seine Tochter an der Haustür stand, das Mobiltelefon in der Hand. „Sag ihr, ich rufe zurück.“

Mit klopfendem Herzen trat Michelle einen Schritt zurück. „Also dann, auf gute Nachbarschaft.“ Sie zog an Sashas Leine.

„Schön, dass wir uns gleich bekannt gemacht haben“, sagte Gabe.

„Ja, finde ich auch.“

Sie drehte sich um und lief ins Haus. Morgen in der Kirche würde sie ihren Freundinnen gleich sagen, dass sie den tollen Mann mit dem roten Geländewagen als möglichen Ehekandidaten streichen könnten.

Und wenn er noch so sexy, charmant und liebenswürdig war. Die Tatsache, dass er eine dreizehnjährige Tochter hatte, machte jede Beziehung zu Gabe Davis absolut indiskutabel.

2. KAPITEL

Mit trotzig vorgerecktem Kinn stand die dreizehnjährige Finley auf den Steinstufen, die zu der kleinen weißen Kirche hochführten. „Da gehe ich auf keinen Fall rein.“

Gabe atmete tief durch und versuchte, Ruhe zu bewahren. Bevor sie das Haus verlassen hatten, war er noch mit seiner Tochter übereingekommen, wie der Vormittag ablaufen sollte. Offensichtlich hatte sie ihre Meinung spontan geändert.

Nach allem, was er über Mädchen in der Pubertät gelesen hatte, war dieses Verhalten ganz normal. Dummerweise blieben ihm nur zwei Minuten, um seine Tochter an ihr Versprechen zu erinnern, denn der Gottesdienst fing gleich an.

„Für mich ist es auch nicht einfach, da reinzugehen“, sagte Gabe in ruhigem Ton. „Aber irgendwo müssen wir doch anfangen, uns in der Stadt einzuleben.“

„Guck mal, wie ich aussehe.“ Mit mürrischer Miene blickte sie an ihrem gelben ärmellosen Kleid hinunter. „Die andern Mädchen haben bestimmt alle Röcke und Blusen an.“

Aus Erfahrung wusste Gabe, dass es besser war, solche Einwände ernst zu nehmen. In diesem Alter war das Gefühlsleben großen Schwankungen unterworfen. „Vielleicht setzt du einen neuen Modetrend. Schließlich kommst du aus der Großstadt.“

Nun konnte man Philadelphia nicht gerade als Modestadt bezeichnen, aber in den Augen eines Teenagers wollte es schon was heißen, wenn man von der Ostküste kam.

Finley runzelte die Stirn, und er konnte förmlich sehen, wie sich das Rädchen in ihrem Kopf drehte. Seiner Meinung nach sah sie reizend aus, aber seine Meinung war wohl jetzt am allerwenigsten gefragt. Finley hatte volles dunkelbraunes Haar wie er selbst und blaue Augen und ein fein geschnittenes Gesicht wie ihre Mutter. In ein paar Jahren würden sich alle Männer nach ihr umdrehen.

Doch den Gedanken, dass sein kleines Mädchen irgendwann erwachsen würde, ignorierte Gabe vorerst.

Finley unterbrach seine Grübeleien. „Dann komm jetzt. Wenn wir zu spät reingehen, falle ich noch mehr auf.“ Sie lief die Stufen hoch, und Gabe folgte ihr erleichtert.

Obwohl er und Finley in Philadelphia regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst gegangen waren, war das heute eine ganz neue Erfahrung. Wie alles an der Stadt neu war. Zum Glück blieb bis zum Schulbeginn im Herbst noch etwas Zeit. Sie hatten den Umzug extra an den Anfang der Ferien gelegt, damit Finley Zeit hatte, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen.

Mittlerweile fragte er sich, ob das eine gute Idee gewesen war. Wie sollte sie außerhalb der Schule Freunde finden? Er hoffte nur, dass heute in der Jugendgruppe, die sich nachher traf, ein paar Mädchen in ihrem Alter dabei wären. Heute Morgen hatte sie noch klar gesagt, dass sie nur zum Gottesdienst bleiben würde. Aber vielleicht änderte sie ihre Meinung ja noch.

Wenn man in einer fremden Stadt heimisch werden wollte, musste man auf die Leute zugehen. Und der Gottesdienst war ein erster Schritt.

Genau genommen hatte er gestern bereits ein paar Männer im hiesigen Sportclub kennengelernt. Als die meinten, sie gingen heute zum Gottesdienst, hatte er beschlossen, mit Finley hinzugehen.

Da er nicht wusste, wie man sich hier zu solchen Gelegenheiten anzog, hatte er eine dunkelblaue Hose und ein weißes Hemd gewählt. Wie er beim Eintritt in die Kirche feststellte, war das genau die richtige Kleidung. Ein paar jüngere Männer trugen zwar Jeans, aber die älteren waren sogar in Anzügen und Krawatte gekommen.

Beim Anblick der vielen jungen Familien zog sich sein Herz zusammen. Er wünschte, seine Tochter könnte auch mit Vater und Mutter zusammen in die Kirche gehen. Doch seine Exfreundin Shannon hatte das Sorgerecht an ihn abgetreten, als Finley noch ein Baby war, und seitdem keinerlei Interesse an ihrer Tochter gezeigt.

Zu ihrem eigenen Schaden, wie er sich zum hundertsten Mal sagte.

Zuerst steuerte Gabe auf eine der hinteren Bänke zu, doch als ihm auffiel, dass diese offensichtlich für Familien mit kleinen Kindern vorgesehen waren, ging er weiter nach vorne. In einer der vorderen Reihen sah er eine junge Frau mit langen blonden Haaren sitzen. Er erkannte sie sofort. Es war seine Nachbarin. Michelle.

Sie schien alleine gekommen zu sein, und er überlegte kurz, ob er sich neben sie setzen sollte. Doch dann entschied er sich dagegen.

Womöglich würde es ihm wieder so gehen wie gestern vor dem Haus.

Beinahe hätte er sie geküsst, so sehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Doch das wäre beim ersten Treffen völlig unangebracht gewesen. Zumal er gar nicht wusste, ob sie Single war. Sie hatte nur gesagt, sie wäre nicht verheiratet, aber eine so schöne Frau hatte doch sicher an jedem Finger einen Verehrer.

„Gabe“, hörte er einen Mann hinter sich sagen und drehte sich auf dem Absatz um. Es war einer der Männer, mit denen er gestern Basketball gespielt hatte. Er hielt ein Kleinkind im Arm, und hinter ihm standen eine hübsche, dunkelhaarige Frau und ein Mädchen in Finleys Alter.

„Nick.“ Zum Glück war ihm der Name gerade noch eingefallen.

„Das ist meine Frau Lexi und unsere beiden Töchter Grace und Addie“, sagte Nick lächelnd.

Während sie sich gegenseitig begrüßten, traten sie beiseite, um andere Kirchgänger vorbeizulassen.

Gabe erinnerte sich an Finleys Bemerkung vor der Kirchentür. Tatsächlich trug Nicks älteste Tochter Addie einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse.

Er tat, als bemerke er den vielsagenden Blick nicht, den seine Tochter ihm zuschoss.

„Die meisten in unserem Alter sitzen beim Gottesdienst zusammen“, sagte Addie zu Finley und deutete auf die Reihe der Teenager. „Du kannst gerne mitkommen, wenn du magst.“

Finley sah ihren Vater an. „Darf ich?“

Gabe überlegte kurz. Normalerweise ließ er seine Tochter nicht gerne unbeaufsichtigt bei Kindern, die er nicht kannte. Aber in der Kirche bestand wohl keine Gefahr. „Okay.“

„Danach gehen wir alle in die Jugendgruppe“, fügte Addie hinzu. „Während unsere Eltern frühstücken.“

Er sah seiner Tochter am Gesicht an, dass sie zuerst ablehnen wollte. Bis Addie ihr bewundernd zuflüsterte: „Dein Kleid ist total cool. Die Mädchen werden bestimmt blass vor Neid.“

„Holst du mich nach der Gruppe ab?“, fragte Finley ihren Vater.

„Ja klar.“

Lexi deutete in eine Bankreihe. „Wollen wir uns nicht zusammensetzen?“

Gabe blickte in die angedeutete Richtung. Es waren genau die freien Plätze neben seiner Nachbarin. Unwillkürlich musste er lächeln. Selbst in der Kirche entkam er nicht der Versuchung.

Als sie vor der Bankreihe standen, forderte Nick seine Frau auf, zuerst reinzugehen, doch Lexi schüttelte den Kopf. „Gehen Sie zuerst, Gabe.“

Ihr Mann machte ein erstauntes Gesicht. „Ich dachte, du wolltest neben Michelle sitzen.“

„Oh, wir können uns später noch unterhalten“, erwiderte Lexi. „Es ist besser, wenn ich außen sitze für den Fall, dass Grace zappelig wird.“

Zu oft war Gabe in den letzten Jahren Objekt von Verkuppelungsversuchen geworden, um Lexis Absicht nicht zu bemerken. Michelle war also offensichtlich nicht in festen Händen. Im nächsten halben Jahr würde er zwar mit der Eingewöhnung in den neuen Job und Finleys Schulbeginn beschäftigt sein, doch für ein, zwei Dates könnte er sich vielleicht Zeit nehmen.

Als wäre ihm die Sitzordnung vollkommen egal, schlüpfte Gabe in die Bank neben Michelle.

Sie unterhielt sich gerade mit dem älteren Ehepaar rechts von ihr. Als sie ihm den Kopf zuwandte, weiteten sich ihre Augen. „Oh. Hallo.“

Ein bisschen mehr Wiedersehensfreude hätte er sich schon gewünscht.

„Guten Morgen“, sagte er höflich.

Gleich darauf fing die Orgel an zu spielen, und er griff nach einem Gesangbuch. Da sie sich im selben Moment auch eins nahm, berührten sich ihre Hände. Unvermittelt durchschoss ihn ein elektrisierendes Prickeln. Genau wie gestern.

Falls Michelle es auch spürte, verriet sie es mit keiner Miene.

Während der Predigt umwehte ihr Duft ihn so verführerisch, dass er Mühe hatte, sich auf die Worte des Pastors zu konzentrieren.

Es war eine Predigt, wie er sie in verschiedenen Variationen schon unzählige Male gehört hatte, und dennoch hörte er immer wieder gerne zu. Diesmal ging es darum, dass man aus Prüfungen, die man im Leben erfährt, gestärkt hervorgeht. Irgendwie war es seine und Finleys Geschichte. Ein achtzehnjähriger Junge, der sich plötzlich der Tatsache gegenüber sieht, dass er Vater wird. Der seine Fußballmannschaft und das Studium aufgeben muss, um sich um sein Kind zu kümmern, weil die junge Mutter mit dem Kind überfordert ist. Es war keine leichte Zeit, aber was wäre sein Leben ohne Finley?

Nach dem Segen wandte Nick sich an ihn. „Während die Kinder in der Sonntagsschule sind, gehen wir immer ins Café frühstücken. Kommst du mit?“

Gabe war klar, welche Bedeutung seine Antwort hatte. Wenn er jetzt ablehnte, würde er vielleicht nie wieder eingeladen.

Er sah zu Finley hinüber, die sich lachend mit Addie unterhielt. Sie brauchte er nicht zu fragen, denn offensichtlich genoss sie das Zusammensein mit den jungen Leuten.

„Ja, gern.“ Bisher hatte er nicht viel Zeit gehabt, die Stadt zu erkunden, aber so groß war Jackson nicht, dass er das Café nicht finden würde. „Wo ist denn das Café?“

„In der Innenstadt.“ Lexi lehnte sich an ihrem Mann vorbei zu ihm herüber. „Es ist nicht weit, allerdings findet man kaum einen Parkplatz“, sagte sie lächelnd. „Lassen Sie ihr Auto doch einfach hier stehen und fahren mit Michelle.“

„Michelle?“

„Hat Nick es denn nicht erwähnt? Sie kommt auch mit zum Frühstück.“

Michelle sah den verwirrten Ausdruck in Gabes Augen und Lexis verschmitztes Lächeln.

„Was ist denn los?“, fragte sie. Offensichtlich hatte sie die Unterhaltung nicht mitbekommen, weil der ältere Mann neben ihr sie ins Gespräch verwickelt hatte.

„Gabe kommt auch mit.“ Lexi konnte ihre Befriedigung kaum verbergen. „Ich habe ihm vorgeschlagen, dass er mit dir fährt, weil man so schlecht einen Parkplatz findet. Außerdem kennst du den Weg. Es macht dir doch nichts aus, oder?“

Das Café lag nur ein paar Autominuten entfernt, und einen Parkplatz würde Gabe bestimmt finden. Das wusste Lexi genauso gut wie sie. Erst jetzt begriff Michelle, weshalb ihre Freundin so zufrieden aussah.

Doch sie ließ sich nichts anmerken. Schließlich war es noch gar nicht so lange her, dass sie selbst fremd in der Stadt gewesen war.

„Sie können gern mit mir fahren“, sagte sie freundlich. „Falls Sie mögen.“

Als Gabe zustimmend lächelte, klopfte ihr Herz schneller.

Auf der Fahrt zum Café wollte Gabe alles Mögliche von ihr wissen.

Michelle erzählte, dass sie schon immer Ärztin hatte werden wollen, obwohl das Studium sehr anstrengend war. Sie erwähnte auch, dass sie geschieden war, ohne jedoch Einzelheiten zu nennen. Als sie am Café ankamen, hatte sie das Gefühl, Gabe fast ihre gesamte Lebensgeschichte erzählt zu haben, während sie von ihm kaum etwas wusste. Das Wichtigste allerdings wusste sie – dass er eine Tochter hatte.

Im Café setzte Gabe sich Michelle gegenüber. Neben ihm saßen Ryan Harcourt, ein Rechtsanwalt, und seine Frau Betsy. Ryan und Betsy erwarteten bald ihr erstes Kind.

„Wie geht’s mit dem Haus voran?“, fragte Michelle Ryan. Das junge Paar war gerade dabei, den Bungalow zu renovieren, den Betsy von ihrer Großtante geerbt hatte.

„Langsam fühlen wir uns zu Hause.“ Ryan sah seine Frau verliebt an. „Obwohl, zu Hause ist überall, wo Betsy ist.“

„Du bist süß.“ Betsy nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn zärtlich auf den Mund.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Michelle, dass Gabe einen verträumten Blick bekam. Anscheinend hatte er sich seine romantische Seele bewahrt.

„Ich nehme das Bauernfrühstück“, sagte sie, als die Bedienung kam.

Gabe machte große Augen, als er auf der Karte las, was alles dazugehörte. „Schaffen Sie denn das alles?“

„Das Frühstück ist meine Lieblingsmahlzeit“, erwiderte Michelle lächelnd. „Da bin ich dem alten Sprichwort treu: Morgens wie ein Kaiser, mittags wie ein König und abends wie ein Bettler.“

„Scheint gesund zu sein, so wie Sie aussehen.“

Sein bewundernder Blick bewies, dass sie gut daran getan hatte, sich heute Morgen im Bad etwas mehr Zeit zu nehmen. „Ich nehme das als Kompliment“, sagte sie leise lächelnd.

Es kam ihr vor, als ob Gabe noch etwas sagen wollte, doch in diesem Moment stellte Nick ihm eine Frage.

„Kommst du mit zur Toilette?“, flüsterte Lexi ihr über den Tisch hinweg zu und stand auf.

Michelle folgte ihr etwas verwundert, aber sie ahnte schon, worauf das hinauslief.

Autor

Cindy Kirk
<p>Solange sie denken kann, liebt Cindy Kirk das Lesen. Schon als kleines Mädchen in der ersten Klasse hat sie einen Preis dafür gewonnen, hundert Bücher gelesen zu haben! 1999 war es so weit: Ihr erster eigener Roman erschien bei Harlequin. Seitdem muss die Autorin ihr Lieblingshobby Lesen damit unter einen...
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