Baccara Collection Band 477

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DAS CITY-GIRL UND DER RANCHER von CAT SHIELD

Rancher Lyle Drummond ist entsetzt: Seine Schwester hat ihn heimlich bei einer Dating-App angemeldet und eine Städterin auf die Ranch eingeladen! Eigentlich müsste er die schöne Kosmetikerin Giselle ignorieren, doch er verfällt sofort ihrem verführerischen Sex-Appeal …

... UND KÜSSE ZUM DESSERT von STACEY KENNEDY

Jessica plant das Menü für eine glamouröse Verlobungsfeier. Ein Traumjob! Hätte nicht der ebenfalls engagierte Designer Marcus Winters andere Vorstellungen. Zudem ist er nervenaufreibend arrogant. Darum sprühen bald die Funken der Wut. Oder ist das schon Leidenschaft?

BESCHÜTZE MICH UND LIEBE MICH von CYNTHIA EDEN

Er soll Jennifer beschützen, nicht verführen! Doch als Security-Boss Brody die geheimnisvolle Schönheit auf seiner Ranch vor ihrem Stalker versteckt, knistert es erregend zwischen ihnen. Eine heiße Nacht bringt nicht nur seine Mission in Gefahr, sondern auch sein Herz …


  • Erscheinungstag 02.11.2024
  • Bandnummer 477
  • ISBN / Artikelnummer 0855240477
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Cat Schield

1. KAPITEL

„Reg dich bloß nicht auf, aber …“

Lyle Drummond verspürte bei den Worten seiner Schwester urplötzlich heftige Anspannung. Was auch immer sie getan haben mochte, es musste sich um etwas wirklich Fürchterliches handeln, sonst hätte sie ihn nicht um halb sechs Uhr morgens in den Stallungen aufgestöbert.

Er beendete das Auftragen von Wundsalbe auf eine Verletzung am Sprunggelenk seines Lieblingspferdes, bevor er sich aufrichtete. „Was hast du jetzt wieder angestellt?“

Als seine Mutter bei einem tragischen Autounfall ums Leben kam, war er mit seinen zweiundzwanzig Jahren nicht darauf vorbereitet gewesen, die Verantwortung für seine damals dreizehnjährige Schwester Jessica zu übernehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie nichts weiter als seine lästige kleine Schwester gewesen, die er je nach Laune ignorieren oder verwöhnen konnte.

„Du kennst doch diese neue Dating-App, die letzten Monat eröffnet wurde?“

Lyle runzelte die Stirn. Was für ein Spiel trieb seine Schwester da? Sie wusste doch genau, dass er die App kannte. Sein bester Freund, Trey Winters hatte die Entwicklung finanziell unterstützt. Die App war das geistige Kind von Misha Law. Misha hatte die App auf der Technologiemesse in Royal vorigen Monat der Öffentlichkeit vorgestellt.

Alles war reibungslos verlaufen, bis die App Maggie Del Rio und Jericho Winters zusammenbringen wollte. Da die Familie Del Rio und die Winters seit Jahrzehnten verfeindet war, lief diese Neuigkeit wie eine Schockwelle durch die Familien und die ganze Stadt.

Trey nahm an, dass die App eine Fehlfunktion hatte, weil sie seinen Bruder und eine Del Rio als ideales Paar erklärte. Er stürmte in Mishas Firma und verlangte Antworten. Während Misha und er gemeinsam daran arbeiteten, das Problem mit den Algorithmen zu lösen, hatten sie sich unsterblich ineinander verliebt.

Genau wie Lyle hatte Trey die Frau verloren, die er geliebt hatte. Lyles Frau Chloe war ihm durch eine Krebserkrankung entrissen worden. Treys Frau hatte ihn und den gemeinsamen Sohn Dez verlassen. Während die Jahre ins Land gingen, hatte keiner der beiden Männer irgendein Interesse an einer neuen Partnerschaft gezeigt.

Doch jetzt hatte Trey sich in eine Frau verliebt, die perfekt zu ihm passte. Lyle wunderte und freute sich gleichermaßen über das Glück seines Freundes, aber die Vorstellung, dass es auch ihm so ergehen könnte, ließ ihn völlig kalt.

„Und was ist damit?“, fragte Lyle seine Schwester.

Um sie herum sattelten Rancharbeiter die Pferde, die damit beschäftigt waren, ihr Frühstück zu beenden. Die mahlenden Kaugeräusche der Pferde und die gedämpften Unterhaltungen der Arbeiter waren vertraut, konnten jedoch Lyles Anspannung nicht lösen.

Jessicas braune Augen waren unverwandt auf seine gerichtet. „Ich habe dich angemeldet.“

Lyle spürte ein plötzliches Hämmern in den Schläfen. „Bei der Dating-App?“

Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

„Das ist nicht nur eine einfache Dating-App“, stellte Jessica klar. „Da wird auch soziale und geschäftliche Vernetzung angeboten.“

„Und mit wem, denkst du, soll ich mich vernetzen?“ Lyle schraubte sorgfältig den Deckel auf die Salbendose, um sich davon abzuhalten, seine Schwester zu packen und kräftig zu schütteln.

„Mit vielen Leuten. Diese App muss man einfach haben. Sie richtet sich nicht nur an Menschen aus Texas. Und auch nicht nur an die Reichen und Schönen, sondern an alle Mitglieder der Gesellschaft.“

Lyle versuchte, die Kinnmuskulatur zu entspannen. Offenbar musste seine Schwester daran erinnert werden, dass er sich seit dem abrupten Tod seiner Frau vor fünf Jahren nicht mehr als Teil der Gesellschaft betrachtete.

„Jess?“

„Ich weiß.“ Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Aber ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass du den Rest deines Lebens allein verbringst.“

Er hingegen konnte sich nicht vorstellen, welche Frau in das Leben passen sollte, das Chloe und er für sich geschaffen hatten. Was das anbelangte, würde Jessica ihm vermutlich zustimmen. Tatsächlich gab es in Royal einige Frauen, die nur zu gern seine Frau werden wollten. Aber er hatte kein Interesse daran, Zeit aufzuwenden, um die Art von Vertrautheit zu entwickeln, die er mit seiner verstorbenen Frau geteilt hatte. Beziehungen kosteten Arbeit, und die Ranch saugte seine gesamte Energie auf wie ein Schwann.

„Jess …“

„Du verdienst es wirklich, glücklich zu sein.“

„Das kann ich nicht.“ Lyle war ein wenig schockiert über den Schmerz, der in seinem Ton mitschwang. Chloe und er hatten sechs wunderbare Jahre miteinander verbracht, bevor er sie an diese entsetzliche Krankheit verloren hatte.

Von einem solchen Verlust konnte man sich nicht erholen. Und meistens hatte Lyle auch nicht das Bedürfnis danach.

„Chloes Tod hat dich zugrunde gerichtet.“ Das Mitgefühl in ihrer Stimme befeuerte sein Unbehagen. „Aber du hast noch so viel Liebe zu geben. Verschließ dich nicht davor.“

Lyle schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte er seine Niedergeschlagenheit unter Kontrolle. „Lösch mein Konto bei dieser App.“

„Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie schwer es ist, akzeptiert zu werden und ein Konto zu eröffnen?“

Das hatte er. Trey hatte ihm berichtet, wie sorgfältig die Mitglieder ausgewählt wurden.

„Lösch mein Konto“, wiederholte er.

Er hatte weder die Zeit noch den Wunsch, sich durch Hunderte von Profilen zu arbeiten, nur um dann alle als unpassend zurückzuweisen. Er hatte die Liebe seines Lebens gehabt. Eine zweite zu finden war ein Ding der Unmöglichkeit. Sein Herz forderte nicht mehr und nicht weniger als das, was Chloe und er geteilt hatten. Wenn ihn nach flüchtiger weiblicher Gesellschaft gelüstete, war er durchaus in der Lage, eine Frau zu finden, die diesen Wunsch teilte.

„Aber für dich wurde bereits ein passendes Profil gefunden“, eröffnete ihm Jessica.

Lyle wurde es eng um die Brust. Etwas, das eine fatale Ähnlichkeit mit einer Panikattacke hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte keine neue Frau kennenlernen. Er konnte es nicht riskieren, noch einmal jemanden zu verlieren, den er liebte.

„Das spielt keine Rolle“, erklärte er. „Trey sagte, die Algorithmen wurden sabotiert. Also rangiert die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Profil passend ist, gegen null.“

„Aber bist du nicht neugierig auf diese Frau?“

„Nein.“

Er hatte sich noch nicht damit abgefunden, den Rest seines Lebens allein zu verbringen. Doch in den Jahren nach Chloes Tod hatte er nicht eine einzige Frau getroffen, die ihren Platz in seinem Herzen hätte einnehmen können.

„Sie ist sehr hübsch“, stieß seine Schwester hervor, zückte ihr Handy und hielt es ihm vor die Nase.

Wider besseres Wissen schaute Lyle auf das Display und erblickte ein herzförmiges Gesicht, umrahmt von kastanienbraunem Haar und mit Augen versehen, in denen ein übermütiges Funkeln stand. Ein bezauberndes Lächeln umspielte sinnliche Lippen, und sein Pulsschlag beschleunigte sich.

Er kam nicht dazu, seine Reaktion unter Kontrolle zu bringen, bevor Jessica über das Display wischte und das nächste Bild zum Vorschein brachte. Ein Blick auf einen schlanken weiblichen Körper in einem knallroten Bikini genügte, um Lyle in Erregung zu versetzen. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, und er widerstand dem Bedürfnis, sich über die feuchte Stirn zu wischen. Rasch wandte er den Blick ab.

„Hübsch. Na und?“

Auch wenn er sich noch so sehr von der Frau angezogen fühlte, die die Dating-App für ihn ausgesucht hatte, Lyle zog es doch vor, Frauen auf die altmodische Art kennenzulernen. So, wie er und Chloe sich getroffen hatten. Echt und persönlich. Jemanden nur nach seiner äußeren Erscheinung zu beurteilen, entsprach nicht seiner Vorstellung von Romantik.

„Ich finde, das Foto von ihr im roten Bikini ist ein echter Hingucker“, insistierte Jessica. „Wer würde sie nicht kennenlernen wollen?“

„Ich bin nicht interessiert.“ Das war eine glatte Lüge. Seine Hormone waren in Wallung geraten und schienen gerade eine Party zu feiern. Offenbar musste sein Körper etwas Dampf ablassen. Es war lange her, seit er zum letzten Mal …

„Wirklich nicht?“ Jessica musterte ihn gründlich. „Du siehst nämlich aus, als wärst du sehr angetan.“

Mit finsterer Miene schob er ihre Hand und damit das Telefon beiseite. „Lösch mein Konto.“

Jessica ließ sich von seiner schlechten Laune nicht beeindrucken. „Ich gebe dir ein paar Tage, um darüber nachzudenken.“

Lyle beschloss, dass es an der Zeit war, eine Gegenattacke zu starten. „Warum konzentrierst du dich nicht auf dein eigenes Liebesleben, anstatt dir über meins den Kopf zu zerbrechen?“

Diese Bemerkung erzielte die erhoffte Wirkung. Jessica senkte unbehaglich den Blick. „Ich konzentriere mich im Moment nur auf meine Karriere.“ Sie war eine talentierte Köchin und hatte erfolgreich eine renommierte Kochschule in Austin, Texas absolviert. Derzeit befand sie sich auf der Suche nach ihrem Traumjob. „Außerdem habe ich zu viel mit dem Campingunternehmen zu tun, um mich zu verabreden.“

Weder sie noch Lyle scheuten harte Arbeit. Das hatte ihnen ihre liebevolle, arbeitsame und alleinerziehende Mutter mit auf den Weg gegeben. Da sie der Arbeiterschicht entstammte, war es für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen, die Ärmel hochzukrempeln und sich die Hände schmutzig zu machen. Vor einigen Jahren hatte Jessica auf der Ranch eine Firma für Luxus-Camping gegründet und viel Arbeit und Energie hineingesteckt. Das Unternehmen gedieh hervorragend und durch den erzielten Gewinn hatte sie sich die teure Kochschule leisten können.

„Und ich muss eine Ranch führen“, sagte Lyle. „Ich schätze, wir haben beide keine Zeit für Verabredungen. Außerdem, wer wäre so verrückt, einer App mit falschen Algorithmen zu vertrauen?“

„Ich“, verkündete Jessica. „Ich habe das Feature für das soziale Netzwerk benutzt und jemanden kennengelernt, der für die nächsten zwei Wochen die Wohnung mit mir tauscht.“

„Hast du vollkommen den Verstand verloren?“, fragte Lyle entsetzt.

„Sieh mal, ich weiß, wie sehr du das Leben auf der Ranch magst. Aber ich habe die Nase voll von Rindern, Pferden und Dreck. Ich möchte auch mal ein hübsches, aber unpraktisches Kleid mit Sandalen tragen, ohne Angst haben zu müssen, dass es schmutzig wird. Ich will Einkaufsbummel machen und in schicken Restaurants essen. Die Frau, mit der ich tausche, hat ein Apartment in der Innenstadt von Dallas.“

„Wer ist das?“, fragte Lyle argwöhnisch. Das Letzte, was er wollte, war eine Fremde, die eine Viertelmeile von ihm entfernt wohnte. „Was weißt du über sie?“

„Sie ist eine Unternehmerin genau wie ich.“

„Was sonst noch?“

„Sie heißt Giselle Saito. Sie führt ihre eigene Kosmetikfirma. Sie bezeichnet sich selbst als Workaholic. Ihr zwei habt also viel gemeinsam.“ Jessica merkte, dass ihr Bruder alles andere als angetan von ihrem Vorhaben war und seufzte. „Warum musst du nur so misstrauisch sein? Jeder, der ein Konto bei der App hat, wird sicherheitsüberprüft. Sie ist bestimmt keine Serienmörderin.“

„Du hättest das mit mir besprechen müssen. Bevor du jemanden, den du gar kennst, auf die Ranch einlädst.“

„Oh, bitte.“ Jessica verdrehte die Augen. „Mit meinen Campingkunden hattest du noch nie Probleme. Und das sind ausnahmslos Fremde.“

„Das ist etwas anderes. Du bist hier und hast die Leute die ganze Zeit im Auge. Wenn du in Dallas bist, wer sorgt dann dafür, dass dieser Frau nichts zustößt?“

„Was sollte ihr denn hier zustoßen?“, fragte Jessica unbeeindruckt.

Das Leben auf der Ranch war voller Gefahren. Besonders für einen ahnungslosen Neuling. Sie konnte von einer Rinderherde niedergetrampelt werden. Oder in ein Getreidesilo stürzen und ersticken. Von einem Traktor überfahren werden. Einen allergischen Schock durch einen Insektenstich erleiden. In Lyles Kopf überschlugen sich die möglichen Unglücksfälle.

„Weiß sie etwas über das Leben auf einer Ranch?“

„Nein. Sie ist ein Großstadtmensch durch und durch.“ Jessica lächelte ihn treuherzig an. „Wenn du so besorgt um sie bist, kannst du ja ein Auge auf sie haben.“

„Ich habe keine Zeit, den Babysitter zu spielen.“

„Dann beauftrage einen der Arbeiter damit, sie herumzuführen. Sie ist sehr erpicht darauf, einen echten Cowboy kennenzulernen. Und hier gibt es ja genug davon.“ Jessica deutete auf einen vorbeigehenden Arbeiter. „Wie wäre es mit Jacob? Ich wette, es würde ihm gefallen, ihr alles zu zeigen.“

Bei der Erwähnung seines Namens bedachte der gutaussehende Mann Jessica mit einem schiefen Lächeln. Lyle warf seinem Vorarbeiter einen kritischen Blick zu. Jacob war ein guter Arbeiter, hatte aber einen schillernden Ruf als Schürzenjäger. Lyle wollte auf keinen Fall, dass Jessicas Gast auch nur in seine Nähe kam.

„Soll das ein Scherz sein?“ Lyle deutete mit dem Kinn auf die offene Stalltür und schickte Jacob damit seiner Wege. „Dies ist die arbeitsreichste Zeit. Wir müssen das Vieh zusammentreiben, um die Kälber zu wiegen und zu impfen. Ganz zu schweigen vom Tagesgeschäft wie Zaunreparaturen und Heuernte.“

„Dann gib ihr etwas zu tun.“

„Kommt nicht infrage. Sag ihr, sie soll sich aus dem Ranchbetrieb heraushalten. Solange sie in deinem Haus wohnt, will ich sie möglichst nicht zu Gesicht bekommen. Ist das klar?“

Jessica warf das Haar zurück und wandte sich zum Gehen. „Glasklar.“

„Gut.“ Er beobachtete, wie Jessica aus dem Stall stapfte. „Und lösch mein Konto“, rief er ihr hinterher.

„Meinetwegen“, gab sie wütend zurück.

Erleichtert ließ er die Schultern sinken. Er wollte sich nicht verabreden. Er wollte sich nicht verlieben und Gefahr laufen, dass ihm noch einmal das Herz gebrochen wurde. Trotzdem konnte er die Einsamkeit, die er hin und wieder verspürte, nicht gänzlich ignorieren.

Allein zu sein war manchmal nicht leicht.

Aber einen Menschen zu verlieren, den er liebte, war eine schreckliche Erfahrung, die er nicht noch einmal machen wollte.

Giselle Saito setzte die Sonnenbrille auf, als sie ihr Cabrio aus der Tiefgarage ihres Wohnhauses im historischen Viertel von Dallas in die helle Sonne lenkte. Vor drei Jahren hatte sie das Apartment im zwölften Stock gekauft. Damals war sie überzeugt davon, dass es sich um ihre Traumwohnung handelte. Das traf zum damaligen Zeitpunkt sogar zu. Besonders, wenn sie es mit der Wohnung verglich, in der sie gelebt hatte, bevor ihre Firma für ökologisch und ohne Tierversuche produzierte Kosmetik Erfolg hatte.

Die drei Jahre waren schnell vergangen, und mittlerweile zweifelte sie wegen der überfüllten Straßen und den fehlenden Grünflächen ihre Entscheidung an. Vielleicht sollte sie in einen Vorort umziehen, in ein schönes Haus mit einem großen Garten. Ihr florierendes Unternehmen saugte jedoch ihre gesamte Energie auf. Daher wusste Giselle nicht recht, ob sie die Zeit und die Arbeit aufbringen konnte, die ein Haus mit Garten erforderte.

Als sie die Auffahrt zur Interstate entlangfuhr, klingelte ihr Handy. Sie benutzte die Freisprechanlage, um den Anruf ihrer Schwester entgegenzunehmen.

„Hallo“, meldete sie sich, während sie sich in den Verkehr einfädelte. „Was gibt es?“

„Ich habe Neuigkeiten“, erklärte Gabby in ihrem üblichen dramatischen Tonfall. „Lass uns zusammen zu Mittag essen.“

„Ich kann nicht.“ Offenbar hatte ihre Zwillingschwester Giselle Urlaubspläne vergessen.

„Und wie sieht es abends aus?“

Giselle seufzte. „Ich fahre gerade aus der Stadt. Ich mache zwei Wochen Urlaub.“ Sie widerstand der Versuchung, ihre Schwester daran zu erinnern, dass sie ihr das bereits erzählt hatte. Wenn sie ein Trinkspiel daraus machen und jedes Mal einen Schnaps trinken würde, wenn sie Gabby an etwas erinnern musste, bräuchte sie noch vor Ablauf des Jahres eine neue Leber.

„Oh, wohin fährst du denn?“, fragte Gabby erstaunt.

Giselle hatte ihr bereits erklärt, dass sie für zwei Wochen die Wohnung mit einer Frau tauschen wollte, die sie auf einer App kennengelernt hatte.

„Auf eine Ranch“, antwortete Giselle mit überstrapazierter Geduld.

„Auf eine Ranch?“ Gabby tat so, als würde sie zum ersten Mal davon hören. „Und was wirst du dort machen? Ich meine, sie werden wohl kaum von dir erwarten, dass du reitest und Vieh zusammentreibst, oder?“

„Natürlich nicht.“ Insgeheim hoffte Giselle jedoch, ein wenig vom Leben auf einer Ranch mitzubekommen. „Ich will nur einfach eine Zeit lang raus aus der Stadt und den Sternenhimmel sehen. Jessica, der das Haus gehört, in dem ich wohne, betreibt eine Firma für Luxus-Camping, und sie sagte …“

„Was für eine Firma?“, fragte Gabby verständnislos. „Wie kann Zelten luxuriös sein?“

„Man schläft in Zelten, aber in richtigen Betten mit normalem Bettzeug. Die Mahlzeiten werden von Servicekräften zubereitet, und man hat überhaupt keine Arbeit“, wiederholte Giselle, was Jessica ihr erzählt hatte.

„Das hört sich furchtbar an.“

Das war eine typische Reaktion für Gabby. Ihre Vorstellung vom einfachen Leben gipfelte in der Übernachtung in einem Hotel, das nur drei Sterne hatte. Giselle hingegen betrachtete ihren Urlaub als ein aufregendes Abenteuer. Ihre Vorstellung von Camping, dem Leben auf einer Ranch und Cowboys stammte aus dem Fernsehen. Daher bezweifelte sie, dass diese Vorstellung der Realität entsprach.

„Ich glaube, es wird Spaß machen.“

„Wie du meinst. Also wirst du die nächsten zwei Wochen nicht arbeiten?“

„Du kennst mich doch. Natürlich werde ich arbeiten.“ Seit der Gründung vor zehn Jahren hatte Giselle ihre gesamte Energie in ihre Firma gesteckt. „Ich bin dabei, eine Produktpalette für Herrenkosmetik auf den Markt zu bringen, und es gibt noch sehr viel zu tun. Ich dachte, ich könnte mir dir Cowboys auf der Ranch genauer betrachten. Vielleicht ist jemand dabei, der als Model taugt.“

„Hast du nicht schon jemanden gefunden? Diesen Kerl, mit dem du ausgehst? Theo oder so?“

Giselle umklammerte das Lenkrad, als die Erinnerung an eine große Demütigung sie heimsuchte. „Sein Name ist Thad. Und wir haben uns getrennt.“

„Er war ohnehin zu jung für dich“, sagte Gabby mit der Überlegenheit einer älteren Schwester. Um genau zu sein, drei Minuten älter. „Ich wusste gleich, dass das nicht hält.“

Giselle fand es sehr schmeichelhaft, als der attraktive Sechsundzwanzigjährige sie um eine Verabredung gebeten hatte. Damals wäre es ihr nicht im Traum eingefallen, dass er mehr daran interessiert war, das Werbegesicht für ihre Kosmetikprodukte zu werden als an ihr. Sie investierte sechs Monate Zeit, Energie und Geduld in die Beziehung, bis sie herausfand, dass Thad einzig und allein daran gelegen war, seine Karriere voranzutreiben. Sie war nicht mehr gewesen als ein Mittel zum Zweck.

„Du solltest dich bei dieser neuen Dating-App anmelden“, riet Gabby. „Die Männer dort sind attraktiv, erfolgreich und reich. Viel begehrenswerter als dieser hübsche Junge mit Ambitionen zum Model.“

„Daran bin ich im Moment nicht interessiert.“ Und vor allem nicht daran, mir noch einmal das Herz brechen zu lassen, fügte Giselle im Stillen hinzu.

„Schön. Dann bleibt mehr für mich.“

„Du bist ihnen bestimmt sehr willkommen“, erwiderte Giselle. Sie wünschte ihrer Schwester aufrichtig Glück. Nicht dass Gabby Glück nötig hatte. Wenn es um Romanzen ging, konnte sie eine wahre Femme fatale sein. Eins von vielen Dingen, in denen sie sich von ihrer Zwillingsschwester unterschied.

Erst als sie das Telefonat beendeten, fiel Giselle auf, dass Gabby ihre Neuigkeiten nicht preisgegeben hatte. Sie war schon dabei, die Nummer ihrer Schwester zu wählen, als ein weiterer Anruf einging. Auf dem Display erschien Jessica Drummonds Name. Giselles Herz machte vor Aufregung einen Satz.

„Ich bin auf dem Weg nach Royal“, sagte Giselle nach der Begrüßung.

„Und ich bin auf dem Weg nach Dallas“, gab Jessica zurück. Ihr Lächeln war förmlich in ihrer Stimme zu hören.

Seit ihrer Begegnung in der App vor drei Wochen hatten sie sich durch etliche Chats ziemlich gut kennengelernt.

„Ich hoffe, dir gefällt meine Wohnung.“ Giselle hatte ihr Apartment großzügig mit Lebensmitteln, alkoholischen Getränken und allerhand netten Kleinigkeiten ausgestattet. „Ich habe dir eine ganze Reihe von Kosmetikartikeln aus meiner Firma dagelassen. Und im Schrank des Gästezimmers hängen Kleider, die meine Schwester designt hat. Du kannst dich gern bedienen. Ich hoffe, du verwöhnst dich selbst in den nächsten zwei Wochen.“

„Ich komme mir ganz schrecklich vor“, gestand Jessica. „Ich habe nur das Haus geputzt und dir ein paar Mahlzeiten in der Tiefkühltruhe hinterlassen. Oh, und meinen grantigen Bruder.“ Jessica lachte schuldbewusst. „Allerdings solltest du dich besser von ihm fernhalten.“

„Das hört sich merkwürdig an. Warum ist er grantig?“ Nach Jessicas Beschreibung stellte Giselle sich einen ständig schmuddeligen Mann mit finsterem Blick in Jeans und T-Shirt vor. Soweit sie verstanden hatte, war er ein Workaholic, dem einzig und allein seine Ranch am Herzen lag.

„Er arbeitet zu viel. Das macht ihn ziemlich unverträglich. Ich habe versucht, ihn dazu zu bewegen, auch mal an etwas anderes zu denken als an die Ranch. Aber daran ist er nicht im Geringsten interessiert.“

Giselle empfand Mitgefühl bei Jessicas frustriertem Ausbruch. Sie hatte schließlich selbst eine Schwester, die nicht gerade einfach war. „Es scheint, als würde er genauso wenig auf deinen Rat hören wie meine Schwester auf meinen.“

„Die beiden haben Glück, dass sie so großartige Geschwister haben. Aber sie wissen uns überhaupt nicht zu schätzen.“

Giselle lächelte in sich hinein. Ihre anfangs spontan gefasste Zuneigung zu Jessica bestätigte sich einmal mehr. „Genau.“

„Um Lyle brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er ist so beschäftigt mit der Ranch, dass du ihn kaum zu Gesicht bekommen wirst. Das ist auch besser so, das kannst du mir glauben. Er verdient niemanden, der so lustig und nett ist wie du.“

Bei dieser Bemerkung wurde Giselle warm ums Herz. Eigentlich war Gabby diejenige, die besser mit anderen Menschen zurechtkam. Ihre Zwillingsschwester fand schnell Freunde und liebte es, im Rampenlicht zu stehen. Giselle hingegen hielt sich lieber im Hintergrund. Und sie stellte die Arbeit immer über ihr Privatleben. Deshalb hatte sie schon in der Highschool einen Videoblog über Kosmetik begonnen, der Tausende von Followern hatte.

„Vielen Dank für deine freundlichen Worte“, erwiderte Giselle und fragte sich, ob wohl die Hoffnung bestand, dass aus diesem Wohnungstausch eine echte Freundschaft wurde. „Ich wünsche dir viel Spaß in meinem Apartment. Und wenn du etwas brauchst, lass es mich bitte wissen.“

„Danke. Ich wünsche dir auch eine schöne Zeit auf der Ranch. Und wenn du etwas brauchst, musst du nur Rosie fragen. Sie ist Lyles Haushälterin. Ich habe ihre Telefonnummer an der Kühlschranktür befestigt.“

Nachdem Giselle sich nochmals bedankt und verabschiedet hatte, beendete sie das Gespräch. Sie folgte den Anweisungen des Navigationsgeräts, und auf dem Weg durch das hübsche Städtchen Royal und dann weiter auf einer Straße, die zur Royal Cattle Company Ranch führte, verstärkte sich ihr Gefühl von Ehrfurcht und Dankbarkeit. Sie hatte ihr ganzes Leben in der Stadt verbracht, und die weite unberührte Landschaft war wie eine Offenbarung. Weideland erstreckte sich, soweit das Augen reichte. Giselle kam zu dem Schluss, dass sie vermutlich in den nächsten zwei Wochen mehr Rinder als Menschen zu sehen bekommen würde.

Bevor die Entscheidung für dieses Abenteuer gefallen war, hatte sie sich oft gefragt, wie ihr das Landleben wohl gefallen würde. Jetzt, da sie die Schönheit der Landschaft in sich aufnahm, war sie absolut gefesselt davon. Außerdem löste sich ihre Anspannung mit jeder Meile, die sie zurücklegte. Zum ersten Mal seit vielen Jahre fiel das Gewicht der Verantwortung von ihren Schultern. Giselle wusste, dass sie sich ihre Ängste und Sorgen selbst auferlegt hatte. In den letzten zehn Jahren hatte sie sich viel abverlangt, und es war kein Ende in Sicht. Es schien gar nicht mehr so erstrebenswert, sein eigener Chef zu sein. Ich habe meinen Von-neun-bis-fünf-Job gekündigt, damit ich rund um die Uhr arbeiten kann. Und das sieben Tage die Woche.

Selbst jetzt, da ihr Unternehmen florierte, fiel es ihr schwer, es langsamer angehen zu lassen. Ein Teil von ihr befürchtete, alles käme dann zu einem abrupten Stillstand ohne die Chance, wieder in Schwung zu geraten.

Giselle kehrte in die Gegenwart zurück, als das Navigationsgerät ankündigte, dass sie zwei Meilen weiter abbiegen musste. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich vor Aufregung. Sie konnte es kaum abwarten, einen ersten Blick auf die Ranch zu werfen. Als sie sich der Abzweigung näherte, erblickte sie ein geöffnetes schmiedeeisernes Tor, das den Namenszug der Royal Cattle Company trug. Giselle nahm den Fuß vom Gaspedal und trat leicht auf die Bremse.

Sie passierte das Tor und fuhr eine gut instand gehaltene Straße entlang. Die Ausmaße der Ranch wurden ihr bewusst, nachdem sie ungefähr eine Meile zurückgelegt hatte, bevor die ersten Gebäude in Sicht kamen. Nach einer Kurve erblickte sie über einen Hügel hinweg ihr Ziel. Ein großes zweistöckiges Wohnhaus. Während sie den Wagen ausrollen ließ, konnte sie den Blick nicht von dem aus Ziegelsteinen erbauten Haus wenden. Es war so groß, dass ihr Apartment ungefähr viermal hineingepasst hätte. Dies würde also für die nächsten zwei Wochen ihr Zuhause sein.

Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und brachte den Wagen auf der kreisförmigen Auffahrt vor dem Haus zum Stehen. Nachdem sie ausgestiegen war, ging sie auf die Eingangstür zu. Auf der weitläufigen Veranda standen ein halbes Dutzend Schaukelstühle, und es gab nicht nur eine, sondern gleich zwei Schaukeln. Giselle stellte sich vor, wie sie in der Abenddämmerung auf einer der Schaukeln saß und den sich verdunkelnden Himmel betrachtete.

Bevor sie einen Fuß auf die Stufen der Verandatreppe setzte, drehte sie sich um und nahm den Anblick der hügeligen Landschaft mit Weiden und Baumgruppen in sich auf.

Sie hörte das Zirpen der Grillen und den Wind, der mit leisem Rauschen durch die Bäume wehte. Keine Polizeisirenen. Kein Verkehrslärm. Sie füllte ihre Lungen mit der frischen sauberen Luft, die nach Heu und den Rosen in dem Garten zu ihrer Rechten duftete.

Schließlich betrat sie die Veranda und breitete die Arme aus, als wollte sie die ganze Welt umarmen. Vielleicht war dies doch kein Abenteuer. Jessicas Haus kam ihr vor wie eine luxuriöse Unterkunft und nicht wie das einfache Ranchhaus, das sie erwartet hatte.

In freudiger Erwartung ging sie zu ihrem Cabriolet zurück, um ihre beiden Rollkoffer zu holen und die Stufen hinaufzuschleppen. Als sie atemlos vor der Eingangstür stand, kam ihr der Verdacht, dass sie möglicherweise viel zu viel eingepackt hatte.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, in den nächsten zwei Wochen viele Fotos zu machen und sie auf ihren Konten in den sozialen Medien zu posten. Während der Fahrt hatte sie jedoch ihre Meinung geändert. Sie wollte die Zeit nutzen, um die Werbekampagne für ihre Herrenkosmetik zu planen. Die Gelegenheit, Cowboys in ihrem Element zu beobachten, kehrte bestimmt nicht so bald wieder.

Wie Jessica sagte, hatte die Eingangstür kein Schlüsselloch, sondern ein digitales Codeschloss. Giselle zückte ihr Handy und durchforstete ihre Textnachrichten, bis sie den vierstelligen Code fand, den Jessica ihr übermittelt hatte. Sie gab die Zahlen ein und öffnete die Tür.

Das weitläufige Foyer verschlug ihr fast den Atem. Nachdem sie ihre Koffer über die Schwelle gerollt hatte, schloss sie die Tür und schaute sich in ihrem neuen Zuhause um.

Als sie den großen Wohnbereich betrat, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Die hohe Decke wurde von Holzbalken gestützt, und Licht flutete durch die riesigen Fenster an beiden Seiten des Raumes. Vor einem gemauerten Kamin standen ein komfortables Sofa und mehrere Sessel.

Offensichtlich stand Jessica finanziell besser da, als sie angedeutet hatte. Nach ihrer Beschreibung hatte Giselle ein wesentlich bescheideneres Haus erwartet.

Das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür zeigte ihr an, dass sie nicht länger allein war. Nach den vielen Jahren in der Großstadt bestand ihre erste Reaktion auf einen fremden Eindringling in anschwellender Panik. Jemand hatte Jessicas Haus betreten, ohne vorher anzuklopfen.

Giselle fasste in ihre Handtasche, um ihr Pfefferspray herauszuholen. Bisher hatte sie es nie benutzen müssen, weil sie gefährliche Situationen tunlichst vermied. Sie baute darauf, dass das Überraschungsmoment für sie arbeiten würde, verbarg die kleine Dose in den Falten ihres Kleides und drehte sich zu dem Eindringling um.

Sie erwartete einen ungepflegten verschlagenen Kriminellen und war nicht vorbereitet auf den großen, halb nackten Gott, den sie erblickte. Sie war mit der vagen Vorstellung hierhergefahren, unter den Cowboys auf der Ranch vielleicht das Model für ihre neue Pflegelinie für Herren zu finden. Sie hätte jedoch im Traum nicht daran gedacht, dass der erste Kerl, den sie zu Gesicht bekam, so unverschämt gut aussehen würde.

Wie gebannt hing ihr Blick auf seinen breiten Schultern und dem gebräunten muskulösen Oberkörper. Er war absolut perfekt. Sie schürzte die Lippen zu einem tonlosen Pfiff. Ihr Mund wurde trocken, und sie brachte nur einen ungläubigen Seufzer hervor.

In der einen Hand hielt er ein kariertes Hemd, in der anderen einen schwarzen Stetson. Auf seinem Waschbrettbauch, der muskulösen Brust und den ausgeprägten Bizeps stand ein dünner Schweißfilm. Sein dunkles Haar war feucht. Er sah aus, als wäre er ins Wasser getaucht und hätte es dann mit einer nachlässigen Handbewegung abgestreift.

Während sie wie gelähmt dastand und ihn bewunderte, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Koffer im Foyer. Offenbar hatte er Giselles Anwesenheit noch nicht bemerkt. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sein Blick durch den Wohnbereich schweifte und an ihr haften blieb. Er blieb abrupt stehen und betrachtete Giselle verwirrt. Als ihre Blicke sich begegneten, schien die Zeit stillzustehen.

Bis zu diesem Moment hatte sie nicht in Betracht gezogen, dass ihr Urlaub zu einer Affäre mit einem sexy Cowboy führen könnte. Das wäre genau das Richtige, um sich Thad ein für alle Mal aus dem Kopf zu schlagen.

Mit seiner Ausstrahlung von ungezügelter männlicher Kraft war ihr Gegenüber wie eine Fantasie, die zum Leben erwacht war. Giselle verspürte einen leichten Schwindel, so eingenommen war sie von dem Fremden. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wer er sein mochte. Sie wusste nur, dass er ungebeten hier eingedrungen war.

Er könnte gefährlich sein. Dieser Gedanke schmälerte ihre Faszination jedoch keineswegs. Sie umklammerte das Pfefferspray und befahl ihren widerspenstigen Hormonen, sich zu benehmen.

„Wer sind Sie?“, fragte sie mit brüchiger Stimme.

Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wer ich bin? Die Frage sollte wohl besser lauten, wer zur Hölle Sie sind.“

Abwartend stand er da. Angriffslustig und selbstbewusst.

„Also?“, drängte er ungeduldig, als sie ihn weiterhin nur benommen ansah.

„Giselle Saito.“

„Nun, Giselle Saito, vielleicht können Sie mir jetzt erklären, was Sie in meinem Haus zu schaffen haben.“

2. KAPITEL

Lyle schäumte vor Wut, während die Frau, die nach den Worten seiner Schwester durch die Dating-App für ihn ausgesucht worden war, ihn mit unverhohlenem sexuellem Interesse anschaute. Im ersten Moment war ihm der Gedanke gekommen, ob er sie vielleicht selbst herbeigezaubert hatte. Seit Jessica ihm die Fotos von ihr gezeigt hatte, konnte er nicht aufhören, an Giselle in dem roten Bikini zu denken. Weder ihre aufregenden Kurven noch ihre aufreizende Pose hatte er vergessen können.

„Ihr Haus?“, fragte sie fassungslos.

„Ja.“

„Aber die Tür hat sich geöffnet, als ich den Code eingegeben habe, den Jessica mir mitgeteilt hat.“

„Normalerweise schließe ich tagsüber nicht ab.“

„Haben Sie keine Angst, dass jemand einbrechen könnte?“, fragte sie mit schreckgeweiteten Augen.

„Nein.“

Lyle musterte die Frau und versuchte, die Profilfotos mit der realen Person in Einklang zu bringen. Sie trug ein blaues gestuftes Rüschenkleid mit silbernem Gürtel und blaue Sandalen, deren Absätze ungefähr zehn Zentimeter zu ihrer Körpergröße hinzufügten. Außerdem lenkten sie die Aufmerksamkeit auf ihre gebräunten wohlgeformten Waden. Ihr langes Haar umspielte in weichen Wellen ihr herzförmiges Gesicht. Sie wirkte sehr feminin und schien auf einen Flirt aus zu sein.

„Warum nicht?“, hakte sie nach.

„Weil das hier meine Ranch ist.“

Diese Antwort beruhigte sie offensichtlich. Alle Anzeichen von Unsicherheit verschwanden. „Das heißt wohl, dass Sie Jessicas Bruder sind. Dann bin ich hier richtig.“

Ihr plötzliches Vertrauen irritierte ihn. Offenbar hatten sie und seine Schwester sich verschworen, um ihn zu überrumpeln. Es konnte kein Zufall sein, dass seine Schwester ihm gestern ihre Profilfotos gezeigt hatte und sie heute höchstpersönlich in seinem Wohnzimmer stand. Weder eingeladen noch angekündigt.

„Da irren Sie sich.“

„Nein, das tue ich nicht.“

„Klären Sie mich auf.“

Trotz seines Ärgers entwickelte sich ein seltsames Gefühl in ihm. Unwillkommen und verstörend. Bewunderung. Anfangs hatte sie erschrocken und ein wenig ängstlich gewirkt. Jetzt schien sie die Situation völlig im Griff zu haben.

„Ich habe vor, die nächsten zwei Wochen hier zu verbringen. Es ist alles arrangiert.“

Er war sich der Koffer in seinem Foyer durchaus bewusst. Und auch der Gefahr, die sie bedeuteten. „Ich kann mich nicht erinnern, dem zugestimmt zu haben.“

„Haben Sie nicht?“, fragte sie besorgt. „Ich dachte wirklich, es wäre alles arrangiert.“

„Hat Ihnen meine Schwester das erzählt?“

Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte. „Ja, das hat sie.“

Er beschloss, sich ahnungslos zu geben. Vielleicht konnte er sie so dazu bewegen, ihren hinterhältigen Plan preiszugeben. „Woher kennen Sie meine Schwester?“

„Wir haben uns mit der neuen Dating-App kennengelernt.“ Sie lächelte, und ein Grübchen erschien auf ihrer Wange. „Wir haben die Häuser getauscht.“

„Natürlich“, murmelte er. „Aber leider befinden Sie sich im falschen Haus.“

„Also wohnt Jessica nicht hier?“

„Nein.“

„Oh.“

„Oh?“

„Nun ja, das ist ein bisschen enttäuschend.“

Er erahnte ihre Gedanken und wurde wieder zornig. Zweifellos hatte sie vorgehabt, in seinem Haus herumzustolzieren, viel nackte Haut zu zeigen und zu hoffen, dass er von Begierde überwältigt wurde. Und angesichts seiner Reaktion auf die Profilfotos wäre das vielleicht sogar geschehen.

In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er Dutzende Male an die sexy Wölbung ihrer Brüste und die aufregenden Kurven ihrer Hüften denken müssen. Diese Frau war außerordentlich hübsch und wusste genau, welchen Eindruck sie auf Männer machte.

Er schüttelte unwillig den Kopf. „Das glaube ich gern.“

Giselle wirkte völlig unbeeindruckt von seiner finsteren Miene. „Wo wohnt sie denn?“

„Ihr Haus steht eine halbe Meile von hier entfernt an der Zufahrtsstraße.“

„Oh. In Ordnung. Vielen Dank.“ Sie machte Anstalten zu gehen, hielt aber nach ein paar Schritten inne. „Die Verwechslung tut mir leid.“

„Schon gut.“

Sie zögerte immer noch. Bestimmt hatte sie nicht damit gerechnet, so rüde zurückgewiesen zu werden, und suchte nach einem Trick, um die Unterhaltung aufrechtzuerhalten.

„Ich habe zu tun. Also …“ Er deutete auf die geöffnete Eingangstür hinter ihm.

„Natürlich. Ich werde Ihnen nicht länger im Weg sein.“

Die Art, wie sie ihre Koffer nahm und mühsam durch die Tür und die Stufen hinunterschleppte, erweckte ein Schuldgefühl wegen seines Benehmens in ihm.

Der Schreck, Giselle Saito in seinem Haus vorzufinden, war keine Entschuldigung für seine Unhöflichkeit. Niemand hätte ihm je vorwerfen können, ungehobelt zu sein. Bis heute.

„Also, das war eine erbärmliche Vorstellung“ erklang hinter ihm eine vertraute weibliche Stimme.

Lyle drehte sich zu der besten Freundin seiner Mutter um. Rosie Masters warf ihm ein sauberes Hemd entgegen. Er fing es auf und setzte zu einer wortreichen Rechtfertigung an. Doch angesichts der offenkundigen Missbilligung in den Augen der älteren Frau überlegte er es sich anders.

Ihre Beziehung gestaltete sich recht kompliziert. Seit Tallulah Drummonds tragischem Autounfall vor siebzehn Jahren war Rosie sowohl Haushälterin als auch Ersatzmutter für ihn. Lyle würde ihr für immer dankbar sein, denn die Freundin seiner Mutter hatte alles stehen und liegen lassen, um ihm den Haushalt zu führen und sich um seine jüngere Schwester zu kümmern. Nach dem plötzlichen Verlust seiner Mutter und dann seiner Frau war Rosie für ihn zu einem Fels in der Brandung geworden.

Er schlüpfte in das frische Hemd. „Ich glaube, du verstehst nicht …“

„Habe ich vielleicht etwas verpasst?“, unterbrach Rosie ihn. „Es hat sich angehört, als ob sie sich verlaufen hätte. Und anstatt höflich und gastfreundlich zu sein, hast du dich benommen, als ob sie ein unerwünschter Eindringling wäre.“

„Sie und Jessica …“

„Haben für zwei Wochen die Häuser getauscht. Ja, ich weiß.“

Lyle wurde bewusst, dass sie das gesamte Gespräch mit angehört hatte, ohne ihm zu Hilfe zu kommen. Er biss die Zähne zusammen.

„Das bedeutet“, fuhr Rosie ungerührt fort, „dass sie ein Gast auf der Ranch ist und als solcher behandelt werden sollte.“

„Sie ist kein Gast“, erwiderte Lyle trotzig.

Warum sollte er sich schuldig fühlen? Nur weil er eine Fremde in seinem Haus vorgefunden hatte?

„Wie würdest du sie denn bezeichnen?“

„Sie ist ein Eindringling.“

„Ein was?“

„Ein Eindringling. Sie hat hier nichts zu suchen.“

Rosie machte große Augen. „Mir scheint, dass Jessica jedes Recht hat, mit ihrem Haus zu tun, was ihr gefällt.“

„Na schön.“ Lyle wurde klar, dass er diese Auseinandersetzung nicht gewinnen konnte, und schob das Kinn vor. „Aber ich mag es nun einmal nicht, manipuliert zu werden.“

„Wie kommst du denn darauf?“

Eigentlich hatte er nicht die Absicht, sich zu erklären, aber ihre Miene verriet ihm, dass sie den ganzen Tag auf seine Antwort warten würde.

„Jessica hat für mich ein Konto auf dieser neuen Dating-App eingerichtet. Und diese Frau …“, er deutete auf die Eingangstür, „… war die passende Person für mich.“

Rosie musterte ihn so eindringlich, als würde sie mehr erwarten. Als er nichts hinzufügte, stieß sie ungeduldig den Atem aus. „Und?“

„Das ist ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?“

„Wessen Schuld ist das?“

Lyle blickte seine Haushälterin irritiert an. „Jessicas. Das ist doch offensichtlich.“

„Denkst du das wirklich? Könnte es nicht sein, dass deine Sturheit der Grund für Jessicas Bemühungen ist? Mir scheint, sie will nichts weiter, als dich mit einer Frau bekanntzumachen, die perfekt zu dir passt.“

Er war nicht glücklich darüber, dass sein Pulsschlag sich bei dieser Bemerkung beschleunigte. „Das tut sie nicht.“

„Und woher willst du das wissen?“ Rosie schüttelte missbilligend den Kopf. „Jessica hat mir erzählt, dass sie sehr erfolgreich ist. Und zudem intelligent und sehr schön. Was gibt es daran nicht zu mögen?“

Nicht eine Sache, wenn Giselle Saito all das war, was Rosie beschrieb. „Zunächst einmal ist sie ein Stadtmensch.“

„Du willst sie ja auch nicht einstellen, um Rinder zu treiben. Was für eine Rolle sollte es spielen, dass sie keine Ahnung davon hat, wie eine Ranch zu führen ist?“

„Es spielt eine Rolle.“

Chloe war nicht nur seine Frau gewesen. Sie war auch seine Partnerin, was die Ranch anbelangte. Oft schien es so, als könnte sie seine Gedanken lesen.

„Oh, Lyle.“ Rosie warf ihm einen bestürzten Blick zu. „Deine Schwester will doch nur, dass du glücklich bist. Sie macht sich Sorgen, dass du eines Tages aufwachen und bereuen könntest, niemanden zu haben, mit dem du dein Leben teilst.“

„Sie sollte sich eher Sorgen um ihr eigenes Liebesleben machen und mich in Ruhe lassen.“

„Ich glaube, deine Schwester ist durchaus in der Lage, beides zu tun. Im Gegensatz zu dir, der sich scheinbar nur auf diese Ranch konzentrieren kann, führt Jessica ihr eigenes Geschäft, verfolgt ihre Karriere als Köchin und hat zudem ein reges gesellschaftliches Leben. Wann hast du das letzte Mal etwas unternommen, was nichts mit der Ranch zu hatte? Chloe würde nicht wollen, dass du dich selbst so isolierst.“

Die ruhigen Worte seiner Haushälterin trafen Lyle bis ins Mark. Seine verstorbene Frau würde es tatsächlich nicht gutheißen, dass er keine neue Beziehung eingegangen war. Ebenso wenig würde sie verstehen, dass seine Furcht vor einem erneuten Verlust das Bedürfnis nach einer Partnerin fürs Leben überschattete.

„Deine fehlende Erwiderung nehme ich als Eingeständnis, dass ich recht habe und du das weißt“, sagte Rosie mitfühlend. „Vielleicht solltest du dich darüber freuen, dass die App so gut funktioniert hat. Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn du die Gesellschaft einer Frau wie Giselle Saito einfach genießen würdest.“

Es gefiel Lyle überhaupt nicht, wie vernünftig sich das anhörte. „Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.“

„Na schön“, stieß Rosie enttäuscht hervor. „Ich weiß auch nicht, warum ich dachte, dich zur Vernunft bringen zu können. Aber es gibt keine Rechtfertigung für deine Unhöflichkeit. Du solltest dich zumindest bei ihr entschuldigen.“

„Also gut, ich werde nachher zu Jessicas Haus fahren.“

„Wunderbar.“ Rosie nickte zufrieden. „Warum lädst du sie nicht zum Abendessen ein?“

Obwohl er sich körperlich zu ihr hingezogen fühlte, war Giselle Saito nicht sein Typ. Ihr Profil enthüllte eine Person, die gern unter Menschen war. Zweifellos war sie eine Partylöwin, mochte es, sich schick zu machen und sich unter die Menge zu mischen. Er selbst konnte dem nicht viel abgewinnen. Er zog intime Abendessen und geistreiche Unterhaltungen vor.

„Bestimmt hat Jessica ihr einen gut gefüllten Kühlschrank hinterlassen.“

„Dann ist es ein glücklicher Zufall, dass ich heute Morgen gebacken habe. Zumindest kann ich ihr ein paar leckere Kleinigkeiten zusammenpacken, die du bei ihr abliefern wirst.“

„Ja, tu das“, sagte Lyle und ging in Richtung seines Schlafzimmers. „Ich bringe es ihr.“

„Und du entschuldigst dich“, rief Rosie ihm hinterher.

„Ja, ich entschuldige mich. Bei dem Eindringling“, brummte er und hoffte, dass dies die letzte Begegnung mit Giselle Saito wäre.

Giselle erinnerte sich an Jessicas Warnung, sich von deren Bruder fernzuhalten. Das war tatsächlich ein guter Rat.

Was für ein ungehobelter unerträglicher Trottel.

Der Schock über ihr Zusammentreffen mit Lyle Drummond hielt noch an, während sie ihr Gepäck in den Kofferraum des Cabriolets wuchtete.

Mit zitternden Händen lenkte sie den Wagen auf die Straße, die durch die Ranch führte. Zu Beginn dieser Reise war sie so optimistisch und wagemutig gewesen. Doch nun schien es, als ob sie die falsche Abzweigung genommen hätte.

Die Distanz, die sie zwischen sich und Jessicas Bruder brachte, änderte nichts an ihrer Verstörtheit. Erst als eine Reihe von Scheunen zu ihrer Rechten in Sicht kam, nahm Giselle die grünen Weiden mit Rindern und Pferden wahr, und sie war wieder in Lage, sich an ihre anfängliche Vorfreude zu erinnern.

Es spielte keine Rolle, dass ihre unangenehme Begegnung mit Lyle nicht das Willkommen war, das sie sich erhofft hatte. Von einem großgewachsenen Rancher, der sich so ungastlich gab wie eine Wüste im Juli, ließ sie sich den Aufenthalt hier auf keinen Fall vermiesen. Sie würde Lyle Drummond einfach aus dem Weg gehen. Das konnte ja nicht weiter schwierig sein. Sie hatte so viel zu tun, um sich abzulenken. Sie würde etliche Fotos von sich und ihren Produkten machen. Zwischen den Bäumen, die das hübsche Ranchhaus umgaben, das jetzt in Sicht kam.

Sobald Giselle Jessicas Haus betreten hatten, schmolzen all ihre Vorbehalte dahin. Dies war die moderne Version eines behaglichen Landhauses. Innen war viel Holz verarbeitet worden. Es gab einen gemauerten Kamin und hohe Decken mit Holzbalken. Große Fenster ließen viel Licht herein und boten einen atemberaubenden Ausblick auf die Landschaft.

Nachdem sie einen Blick in Jessicas Schlafzimmer mit einer weiteren Feuerstelle und hohem Tonnengewölbe geworfen hatte, ging Giselle in das große, luxuriös ausgestatte Gästezimmer. Dort standen ein breites bequemes Bett und ein einladender Lesesessel neben einer Glastür, die zu einer privaten Terrasse führte. Sie hatte sogar ein eigenes Bad mit einer Klauenfuß-Badewanne.

Mit einem verhaltenen Freudenschrei ließ sie sich auf das Bett sinken und schaute sich zufrieden um. Kurz darauf stand sie wieder auf, holte ihre Koffer und begann mit dem Auspacken. Ordnung war ihr wichtig. Giselles Erfolgt beruhte auf akribischer Planung und dem Umstand, dass sie diese Planung genau einhielt. Möglicherweise hatte ihr Zielbewusstsein ihre Spontaneität eingeschränkt. Aber ihre anfangs bescheidene Firma vor ihrem dreißigsten Geburtstag in ein Millionen-Unternehmen zu verwandeln war jedes Opfer wert gewesen.

Dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie sich selbst in die Arbeit vergraben und ihr Privatleben vernachlässigt hatte. Das hatte vor allem mit ihrer Angst zu tun, ihr Herz für jemanden zu öffnen und zurückgewiesen zu werden. Sie wünschte sich oft, sie hätte Gabbys Selbstvertrauen. Ihre Schwester besaß den festen Glauben daran, dass sie liebenswert war, und ihre Umgebung reagierte dementsprechend. Giselle hingegen definierte den eigenen Wert mit etwas, das sich bemessen ließ. Finanzieller Erfolg und Follower auf den sozialen Medien bedeuteten für sie eine solide Grundlage für ihre Selbsteinschätzung.

Als sie ausgepackt und aufgeräumt hatte, war es Zeit für die Happy Hour. Daher ging sie in die Küche und überlegte, ob sie ihren ersten Tag auf der Ranch mit Rot- oder Weißwein feiern sollte. Nach der Stille in Jessicas abgelegenem Haus traf sie das Klopfen an der Eingangstür wie ein Schock. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich.

In Dallas lebte sie in einem sicherheitsüberwachten Gebäude und war nicht an Menschen gewöhnt, die einfach nur so vorbeischauten. Ihre Nachbarn waren ein Ehepaar im Ruhestand, das ständig auf Reisen war, und ein Rechtsanwalt, der bis spät in die Nacht arbeitete. Ihre Freunde besuchten sie nur dann, wenn sie eingeladen waren. Sie erinnerte sich selbst daran, dass die Ranch meilenweit von jeder Ansiedlung gelegen war und Jessicas Haus an einer Privatstraße stand. Es schien also recht unwahrscheinlich, dass ein Serienmörder an ihre Tür klopfte.

Das waren gute Argumente, aber Giselle beschloss dennoch, dass sie sich mit einer Waffe sicherer fühlen würde. Ihr Blick fiel auf eine eiserne Bratpfanne. Sie nahm sie vom Herd und war überrascht wegen des Gewichts. Dann ging sie zur Tür.

Sie brauchte beide Hände, um die Pfanne über den Kopf zu heben, und konnte daher nicht öffnen. Schließlich drückte sie das schwere Teil an die Brust und machte die Tür auf. Dann hob sie drohend die Pfanne.

Mit der Person, die auf der Schwelle stand, hatte sie nicht gerechnet. Lyle Drummond wirkte nicht gerade glücklich, hier zu sein. In der einen Hand hielt er einen Korb, die andere steckte in seiner Hosentasche. Sie musterte ihn schweigend und bemerkte, dass an seinem Kinn ein Muskel zuckte.

„Was haben Sie damit vor?“, fragte er und deutete auf die Pfanne.

„Das kommt darauf an“, erwiderte sie kühl. „Sind Sie gekommen, um mich auch aus diesem Haus zu vertreiben?“

„Wollen Sie mich mit Ihren Kochkünsten abschrecken?“

Hatte er tatsächlich Humor? Jessicas griesgrämiger Bruder? Das war geradezu ein Schock. Unvermittelt erinnerte sie sich an die eindrucksvollen Muskeln unter seinem blauen Hemd. Und sie kam nicht umhin, den würzigen Duft zu bemerken, den er verströmte. Seltsame Dinge gingen in ihr vor. Eine wilde Sekunde lang war sie fest entschlossen, ihm den Hut abzunehmen, die Finger um seine Gürtelschnalle zu schließen und ihn an sich zu ziehen.

An diesem Punkt hielt ihre Fantasie inne. Was würde sie dann mit ihm anstellen? Küss ihn, flüsterte ihr eine innere Stimme zu. Aber sie wies diese Vorstellung sofort weit von sich. Lyle war attraktiv und sexy, aber seine kratzbürstige Natur sandte eindeutige Warnsignale aus. Sie hielt sich besser von ihm fern.

„Wie es aussieht, werden Sie mir diese Pfanne nicht über den Schädel hauen.“ In seinen Mundwinkeln lauerte ein Lächeln. „Sie können sie ja kaum hochhalten.“

Da hatte er vollkommen recht. „Ich hatte vor, sie auf Ihren Fuß fallen zu lassen und dann durch die Hintertür zu fliehen. Mit gebrochenen Zehen würde Ihnen die Verfolgung schwerfallen, und ich hätte eine Chance zu entkommen.“

„Ein gut durchdachter Plan.“

„Ich bin eine alleinstehende Frau, die in der Innenstadt von Dallas wohnt. Es schadet nichts, auf alles vorbereitet zu sein.“ Giselle deutete mit dem Kinn auf den Korb in seiner Hand. „Sind Sie auf dem Weg zu einem Picknick?“

„Das ist für Sie.“ Er hob den Korb. „Rosie, meine Haushälterin war nicht sicher, wie gut bestückt Jessicas Kühlschrank ist, daher hat sie Ihnen einen Rinderbraten mit Beilagen eingepackt. Und weil sie heute Morgen gebacken hat, auch einige Kostproben davon.“

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir das vorbeizubringen.“

Giselle versuchte, nicht allzu enttäuscht darüber zu sein, dass er nur im Auftrag seiner Haushälterin hier war. Dies war kein Besuch, sondern eine Lieferung.

Sie nahm ihm den Korb ab, was sie wegen der Bratpfanne einige Mühe kostete. „Richten Sie Rosie bitte meinen Dank aus.“

„Das werde ich.“

Da er seinen Auftrag nun erledigt hatte, erwartete Giselle, dass er gehen würde. Doch er blieb wie angewurzelt stehen.

„Gibt es noch etwas?“, fragte sie.

„Ich möchte Ihnen auch sagen …“ Er presste die Lippen zusammen und sah aus, als wäre ihm gerade ein Traktor über den Fuß gefahren. „Es tut mir leid wegen vorhin.“

Giselle hob die Augenbrauen. „Sie hören sich aber nicht an, als ob es Ihnen leidtäte.“

„Wie höre ich mich dann an?“

„Wie ein zehnjähriger Junge, den man zu einer Entschuldigung gedrängt hat.“ Sie bemerkte seine erstaunte Miene und lächelte. „Also, wer hat Ihnen die Hölle heiß gemacht?“

Zu ihrer großen Freude breitete sich die Schamesröte über sein gebräuntes Gesicht aus.

„Glauben Sie nicht, ich könnte selbst auf die Idee gekommen, dass ich mich schlecht benommen habe?“

„Oh“, erwiderte sie amüsiert. „Ich bin mir sogar sicher, dass Ihnen nicht entgangen ist, wie unhöflich Sie waren. Aber ich glaube nicht, dass Ihnen das den Schlaf raubt. Deshalb war das eine ziemlich lahme Entschuldigung.“

„Es ist nicht besonders nett von Ihnen, das zu sagen.“

Giselle hob die Schultern. „Ich sage nur, wie es ist.“

An Lyles Kinn zuckte ein Muskel. „Nun ja, vielleicht habe ich überreagiert.“

Sie war noch nicht bereit, ihn vom Haken zu lassen. „Sie haben sogar völlig überreagiert.“ Sie senkte die Stimme zu einem tiefen Knurren. „Wer sind Sie, und was machen Sie in meinem Haus?“

„So habe ich mich nicht angehört“, protestierte er.

„Doch, haben Sie. Hat Jessica Ihnen nicht erzählt, dass sie das Haus mit jemandem getauscht hat?“

„Doch. Mir war nur nicht klar, dass es sich dabei um Sie handelt.“

Diese Bemerkung verwirrte sie. Wen hatte er erwartet?

„Wie auch immer, ich kann mir vorstellten, dass es ein Schock war, eine Fremde in Ihrem Wohnzimmer vorzufinden.“ Das war ihr Angebot, sich in der Mitte zu treffen.

„Wir haben hier nicht oft unerwartete Gäste.“

Sie nickte. Was war nur mit dem weiblichen Teil der Bevölkerung des Städtchens los? Die Frauen müssten sich doch eigentlich die Klinke in die Hand geben, um mit diesem Mann herumzuschäkern. „Obwohl Royal nicht weit entfernt ist. Vielleicht zwanzig Autominuten?“

„Ungefähr“, räumte Lyle ein. „Aber wenn Sie meine Schwester reden hörten, würden Sie denken, wir befänden uns am Ende der Welt.“

Giselle lachte leise. „Ja, den Eindruck hat sie mir allerdings vermittelt.“ Sie beobachtete, wie Lyles Anspannung schwand und senkte ihren Schutzschild. „Hat sie Ihnen gesagt, dass ich noch nie zuvor auf einer Ranch war?“

„Sie hat mir so gut wie nichts über Sie gesagt.“

„Ihre Schwester hat recht. Sie sind mürrisch.“

Als Reaktion erntete sie nur einen finsteren Blick.

„Und doch stehen Sie vor meiner Tür.“ Sie deutete auf den Korb. „Und bringen mir etwas zu essen und quälen sich durch eine schreckliche Entschuldigung. Das ist irgendwie charmant.“

Lyle tippte sich an die Hutkrempe. „Lassen Sie sich den Braten schmecken. Rosie ist eine verflucht gute Köchin.“

Giselle beschloss, ihm ein Friedensangebot zu unterbreiten. Außerdem wollte sie diesen Rancher trotz Jessicas Warnung und ihrem holprigen Start näher kennenlernen. „Ich war gerade dabei, eine Flasche Wein zu öffnen. Warum kommen Sie nicht herein und leisten mir Gesellschaft?“

Lyle betrachtete sie einen Moment schweigend. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich sollte Ihnen wohl von Anfang an klarmachen, dass aus uns beiden nichts werden wird.“

Giselle wurde schwindelig vor Schreck. Dieser Mann war wirklich unerträglich. Wie kam er dazu, so etwas zu sagen? Oder waren ihr vorhin die Gedanken so deutlich vom Gesicht abzulesen?

„Aber das ist nicht … ich wollte nicht …“, stammelte sie und spürte, wie sie rot wurde. „Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte nur nett sein.“

„Dann hatte Ihre Einladung nichts weiter zu bedeuten?“, fragte er skeptisch. „Sie wollen nichts von mir?“

„Nun ja, ich würde gern erfahren, was Sie hier tun“, sagte sie, während sie noch immer darum kämpfte, ihre Demütigung zu überwinden.

„Das ist eine Rinderranch. Wir betreiben eine Rinderzucht.“

„Ja, das ist mir klar. Aber was genau steckt dahinter. Das würde ich wirklich gern wissen.“

„Ich habe keine Zeit, Sie herumzuführen.“

„Das muss ja auch nicht sein. Sie könnten mir etwas zu tun geben.“

Er runzelte die Stirn. „Sie besitzen überhaupt keine Erfahrung.“

„Sie werden schnell herausfinden, dass ich in der Lage bin, Anweisungen zu folgen“, erwiderte sie unbeeindruckt.

„Nein.“

Frustriert beobachtete sie, wie er sich zum Gehen anschickte. „Ob mit oder ohne Ihre Hilfe, ich werde etwas über Viehzucht lernen.“

„Und wie soll das vor sich gehen? Indem sie herumlaufen und den Arbeitern im Wege stehen?“

Sie ignorierte seinen Sarkasmus. „Sie werden gar nicht merken, dass ich da bin.“

Er hielt inne und drehte sich zu ihr um. „Auf einer Ranch lauern viele Gefahren. Ich will nicht, dass Sie in eine riskante Situation hineinstolpern.“

„Das werde ich nicht.“

Lyle schüttelte den Kopf. „Doch, werden Sie.“

3. KAPITEL

Als Lyle sie das nächste Mal sah, stand Giselle an einem Paddockzaun. Es war ein schöner Vormittag, und wie er es am Tag zuvor vorausgesagt hatte, war sie dabei, sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Sie beugte sich über den Zaun, eine Karotte in der einen und eine Kamera in der anderen Hand. Offenbar versuchte sie, eins der Pferde zu sich zu locken, um ein Foto zu machen. In der Theorie schien das nicht weiter problematisch zu sein. Wenn es ein anderes Pferd gewesen, das sich aus der Herde gelöst hatte und auf sie zukam, wäre Lyle ungerührt seiner Wege gegangen. Aber es handelte sich um ein ganz spezielles Pferd, eine falbe Stute, deren Blick nicht auf die Leckerei, sondern auf die Person, die sie darbot, gerichtet war.

Knurrend änderte Lyle die Richtung und sah sich nach einem Arbeiter um, der nah genug war, um sie aus der Gefahrenzone zu ziehen. Doch die Blicke der Arbeiter hingen wie gebannt auf Giselle, die sich noch weiter über den Zaun beugte. Das konnte er ihnen nicht einmal zum Vorwurf machen. Ihr Outfit war unpraktisch, aber unerhört sexy.

Sie trug die lächerlichsten Cowboystiefel, die je zu Gesicht bekommen hatte. Die orangefarbenen Stiefel hatte sie mit sehr kurzen Shorts kombiniert, die, je weiter sie sich nach vorne lehnte, immer mehr von ihren schlanken wohlgeformten Beinen preisgaben.

Verdammt.

Er schätzte die Entfernung zwischen der Stute und Giselle und dann zwischen sich und Giselle ab und beschleunigte seine Schritte. Giselle war nicht bewusst, in welcher Gefahr sie sich befand. Das Pferd trabte auf sie zu, wirkte zunächst freundlich und interessiert, um dann plötzlich die Ohren anzulegen und sich geradezu auf die Frau mit der Karotte zu stürzen.

Fluchend legte Lyle die letzten Meter im Sprint zurück und schaffte es gerade noch, bevor das Pferd sie erreichte, Giselle um die Taille zu packen und vom Zaun wegzuziehen. Während er sie herumschwenkte, hörte er das Geräusch von zuschnappenden Zähnen. Giselle hielt er fest gegen sein hämmerndes Herz gepresst. Er mochte sie gerettet haben, aber das galt nicht für seinen Hut. Die übellaun...

Autor