2. KAPITEL
Alisha saß auf der untersten Stufe einer der beiden Treppen in ihrem Foyer und beobachtete, wie Tremaine mit dem Finger über sein Handy wischte. Sie strich leicht über das Armband, das sie immer am linken Handgelenk trug – dem Herzen am nächsten. Das antike Schmuckstück mit den vier herzförmigen Medaillons war ein echter Fund auf einer ihrer vielen Ausflüge zu Vintage-Märkten, Flohmärkten, Trödelmärkten und Auktionen gewesen. Jedes Medaillon enthielt ein Bild von jemandem, der ihr sehr am Herzen lag: Ihre Mutter Camille, ihr Stiefvater Joseph, der sie in jungen Jahren adoptiert hatte und sie wie eine leibliche Tochter liebte, und ihr biologischer Vater Lionel Jeffries, den sie nie kennengelernt hatte, den sie aber dennoch verehrte. Das letzte Medaillon war leer. Sie bewahrte es für die Liebe ihres Lebens auf – den Mann, der all ihre Bedürfnisse befriedigen und sie von ganzem Herzen lieben würde. Der Mann, der ihre Loyalität, ihren Humor und ihre Energie in sich vereinte. Der, mit dem sie eine Familie gründen würde.
„Der Richtige“, flüsterte sie und strich mit dem Daumen über das leere goldene Herz.
„Alisha.“
Sie richtete den Blick von dem Medaillon auf den sexy Privatdetektiv, dessen Anwesenheit den großen Raum schrumpfen ließ. „Ja, Mr. Knowles“, sagte sie und ließ das Medaillon los. Sie fing an zu zittern, als er näherkam und auf sie hinabsah.
Ihre Blicke trafen sich.
„Auf dem Umschlag stand der Name Ihres Bruders“, sagte Tremaine. „Wohnt er auch hier? Bekommt er seine Post üblicherweise hierher?“
Sie bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht.
Wir haben die Geschichte nicht richtig durchdacht.
„Meine Familie verbringt viel Zeit hier, vielleicht ging der Täter davon aus, dass er hier wohnt. Ich weiß es nicht, Mr.. Knowles.“ Sie hasste es, in dieser Grauzone zwischen Wahrheit und Lüge spielen zu müssen. Sie bevorzugte Ersteres.
Eliza, warum hast du die verdammte Kette dieser Leute nicht in Ruhe gelassen!
„Ist Ihnen klar, wie verdächtig das alles aussieht?“, fragte Tremaine.
„Ja“, gab Alisha zu. „Aber ich habe schon ein Dutzend Fragen beantwortet und meine Zeit ist kostbar.“
Er überprüfte etwas auf seinem Handy und nickte. „Das kann ich verstehen, denn Ihnen gehört das Antiquitätengeschäft Odds & Ends.“ Er schien die Information abzulesen.
„Ich bin auch Assistenzprofessorin für Geschichte an der Rice University“, sagte sie ihm süffisant.
Er schien überrascht.
„Nicht richtig recherchiert?“, fragte sie mit deutlichem Sarkasmus.
Er tippte mit den Daumen auf seinem Handy herum.
„Keine Sorge. Manchmal denke ich, meine Familie vergisst das auch“, verriet sie.
Tremaine sah sie an. „Beide Arbeitsplätze würden Sie zur idealen Kandidatin für den Ankauf oder Verkauf des Colliers machen.“
Alisha versteifte sich. „Warum hätte ich es dann den Behörden übergeben sollen?“
„Sagen Sie es mir.“
Sie lachte, doch es klang bitter. „Lesen Sie noch einmal Ihre Notizen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich keine Diebin bin. Sonst noch etwas?“
Tremaine biss sich auf die Unterlippe, als wollte er sich ein Lächeln verkneifen. „Ich suche nur nach der Wahrheit“, erklärte er.
Alisha hörte einen Hauch von Verärgerung in seiner Stimme. „Das hat das Texas Department of Public Safety auch getan, als sie uns alle befragt haben. Und die Wahrheit, die Sie akzeptieren müssen, ist, dass die Behörte zu dem Schluss kam, dass es eine Angelegenheit zwischen den Winters und Del Rios ist, weil der Diebstahlt fast hundert Jahre zurückliegt.“
„Und die Familie Winters …“
„Meine Familie“, warf sie mit hochgezogener Augenbraue ein und warnte ihn, etwas anderes zu sagen.
Es war klar, dass sie und ihre Mutter Schwarze waren, während der Rest der Winters eine weiße Hautfarbe vorwies. Sie war noch sehr jung gewesen, als ihre Mutter ihren späteren Stiefvater und dessen vier Kinder kennengelernt hatte. Es war eine tolle Familie, in der Liebe und Loyalität vorherrschten. Obwohl sie neugierig auf ihren leiblichen Vater war, würde sie die Familie, in der sie aufgewachsen war, nie verleugnen. Sie würde alles für sie tun.
„Ich habe Ihre Legitimität nie hinterfragt“, sagte er.
„Nur meine Beteiligung an einem Diebstahl“, entgegnete sie.
Tremaine zog die Schultern hoch, als hätte er keine andere Wahl, als so zu denken.
„Sie irren sich“, sagte sie und ärgerte sich, dass sie immer wieder an den Brief denken musste.
Wieder sah er sie mit seinen dunklen Augen an. „Das hoffe ich sehr“, sagte er ernst.
Alisha holte tief Luft. Noch einen Schritt, und er stände zwischen ihren geöffneten Beinen.
Nur einen.
Der Drang, ihn an der Taille zu packen und nach vorn zu ziehen, überraschte sie.
„Die Leute könnten auch denken, eine Kunsthistorikerin und Antiquitätenhändlerin hätte Zugang zu gestohlenem Schmuck.“
Der Drang, ihn zu ohrfeigen, überraschte sie nicht.
Alisha stand auf. „Das ist in jeder Hinsicht beleidigend“, fauchte sie. „Verschwinden Sie.“
„Ich sagte, die Leute könnten es so sehen.“
Sie lehnte sich gegen das Geländer und sah ihn an. „Und was denken Sie?“
Er runzelte ein wenig die Stirn, als er ihr Gesicht musterte. Sein Blick verweilte bei ihren Augen, dann wanderte er zu ihrem Mund. Diese Bewegung lenkte sie für einen Moment von ihrer Wurt auf ihn ab.
Was denkt er von mir?
„Ich hoffe, Sie beweisen ihnen das Gegenteil“, antwortete er schließlich.
Seine Worte waren genau die Erinnerung, die sie brauchte. Die Grenze zwischen ihnen war klar gezogen. Ihre Loyalität galt ihrer Familie, seine den Del Rios, die ihn engagiert hatten. Mit einem kurzen Nicken ging Alisha an ihm vorbei durch das Foyer.
Die jahrhundertealte Fehde tobte weiter und forderte als Kollateralschaden immer wieder Opfer.
„Kann ich etwas zu trinken haben?“, fragte er hinter ihr.
Sie atmete tief aus, bevor sie sich zu ihm drehte. „Mittagessen und ein Nickerchen auch noch?“, fuhr sie ihn an.
Er unterdrückte ein Lachen, seine Augen funkelten amüsiert.
Alisha ärgerte sich, dass sie die kleinen Lachfältchen bemerkte, die ihn noch anziehender machten. Ihr Herz pochte, als sie ihn durch das Foyer in die neu renovierte Küche führte – eines der ersten Projekte, die sie abgeschlossen hatte. Sie drehte sich um und sah, wie Tremaine sich gegen die aufgearbeitete Arbeitsinsel lehnte, die mit einer glatten Quarzplatte und viel Stauraum ausgestattet war.
Verdammt.
Sein attraktives Gesicht wurde vom Sonnenlicht umrahmt, das durch die deckenhohen Fenster über dem Spülbecken fiel. Seine braune Haut schimmerte verlockend. Dieser Körper schrie förmlich danach von den Lippen einer Frau liebkost und geküsst zu werden.
Von mir.
Wenn es nur so wäre.
Sie wandte sich ab, um ihr Bedauern zu verbergen.
„Die Küche ist fantastisch.“ Er klang wirklich beeindruckt. „Modernisiert, ohne den Charakter zu verlieren.“
Sie war nervös, als sie dem doppeltürigen Kühlschrank eine Flasche Wasser entnahm und sich in der hellen, weißen Küche mit der hohen Decke und blauen Farbtupfern umsah. „Meiner Großmutter würde es gefallen. Ich habe als Kind viele Wochenenden hier verbracht, und sie hat mir viel über die Geschichte des Hauses erzählt. Ich glaube, das hat meine Liebe zu Geschichte und zu Antiquitäten geweckt“, sagte sie mit einem leichten Lächeln. „Ich glaube, sie wusste, dass ich das Haus lieben würde wie keines meiner Geschwister. Und das tue ich.“
Das Haus war riesig, mit zwei Flügeln und einem wunderschön beleuchteten Foyer in der Mitte. Über sechshundert Quadratmeter. Fünf Schlafzimmer. Sechs Badezimmer, zwei Gästetoiletten. Keller. Dachboden. Arbeitszimmer. Esszimmer. Spielzimmer. Wohnzimmer an das sich ein achteckiger, verglaster Wintergarten anschloss.
Es war Alishas Lieblingsraum, um zu lesen, zu faulenzen oder Arbeiten zu korrigieren – und ihr nächstes Renovierungsprojekt, wenn die Arbeiten im Gästeflügel abgeschlossen waren.
„Ein Werk der Liebe.“
Der Klang seiner Stimme, die Wärme und das Verständnis darin, ließen sie erschauern.
„Ja.“ Sie ging zu ihm und reichte ihm das Wasser. „Reine Liebe.“
Er sah ihr in die Augen. „Es ist schwer vorstellbar, dass jemand, der so reine Liebe ausdrücken kann, keine Integrität hat.“
Sein Atem streifte ihr Gesicht. Er war frisch. Und kühl. Sie konnte sich vorstellen, wie er die Lippen schürzte und gegen ihre Haut blies, während er sie von den Grübchen direkt über ihrem Po aufwärts über ihre Wirbelsäule bis zum Nacken leckte.
„Sagen Sie mir die Wahrheit“, drängte er.
Sie versteifte sich.
Stell mir keine Fragen. Ich werde dich nicht anlügen.
Dieser Satz ging ihr durch den Kopf. Die Erinnerung an Elizas Brief, den sie verheimlichen wollten, verfolgte sie.
„Wenn Sie dann mit dem Schnüffeln fertig sind“, sagte sie.
Er lächelte sie an. „Ich ermittle“, korrigierte er.
„Egal, wie Sie es nennen, es kommt aufs Gleiche raus“, sagte sie über die Schulter, als sie sich umdrehte, um ihn aus der Küche hinaus ins Foyer zu führen.
Schweigend folgte er ihr. Am Ende des Flurs blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Die Wände des Flurs schienen sich enger um sie zu schließen, als sie zu ihm aufblickte und er auf sie hinab. Das Bewusstsein – die Anziehungskraft – die sie spürte, verstärkte sich.
Und sie wurde erwidert.
Das Feuer in seinen Augen verriet es.
Alisha trat einen Schritt zurück und stieß mit ihrem drallen Po an die Wand, was bedeutete, dass sie nicht in der Lage war, Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Ihr ganzer Körper fühlte sich lebendig und elektrisiert an. So etwas hatte sie noch nie empfunden.
Nie.
Alisha leckte sich über die trockenen Lippen, trat aus dem Flur ins Foyer und kämpfte gegen den Drang an, ihre Hand gegen ihr heftig pochendes Herz zu pressen. Schnell durchquerte sie den Raum und öffnete die Tür. Der kalte Wind, der ihr entgegenblies, war willkommen. Sie atmete tief ein, in der Hoffnung, das heiße Verlangen zu kühlen. Nach ihm. Diesem Fremden. Dem Mann, der mit dem Feind ihrer geliebten Familie unter einer Decke steckte. Dem Ermittler, der sie einer Lüge bezichtigte.
Verräterin.
Tremaine ging an ihr vorbei zur Haustür.
Alisha ballte eine Hand zur Faust und presste sie an ihre Brust, um nicht nach ihm zu greifen. Ihn zu berühren. Ihn am Gehen zu hindern. Ihn an sich zu ziehen.
Verräterin. Verräterin. Verräterin.
Wenn es um ihre Familie ging, war sie loyal.
Aber ich bin auch eine Frau und nicht blind.
Der Mann war umwerfend. Er hätte Model oder Schauspieler sein können.
Der Mann war fit. Er achtete auf seine Figur.
Der Mann war charmant. Er könnte mit einem Lächeln einer Nonne das Höschen ausziehen.
Der Mann bedeutete Ärger. Großen Ärger.
Er griff in seine Lederjacke und zog eine dunkelbraune Visitenkarte hervor. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was hilfreich sein könnte, rufen Sie mich bitte an.“
Sie merkte schnell, dass sich die Karte wie Wildleder anfühlte, als sie mit dem Daumen darüberstrich. So weich, wie sie sich seine Haut vorstellte. Vorsichtig, Alisha. Ganz vorsichtig. „Ich bezweifle sehr, dass wir noch etwas zu besprechen haben.“ Sie wollte ihm die Karte zurückgeben.
Er hob die Hände. „Mein Bauchgefühl sagt mir etwas anderes, und ich vertraue immer meinem Bauch.“ Er drehte sich um und ging die Treppe hinunter zu seinem Pick-up.
Nachdem er eingestiegen und mit einem letzten Blick auf sie weggefahren war, strich Alisha über die Karte und hielt sie sich an die Nase, um seinen Duft einzuatmen, der ihr noch anhaftete.
„Sie haben zwei Wochen Zeit, mir einen aus dieser mit uns verfeindeten Familie zu servieren, Knowles. Keinen Tag mehr.“
Tremaine stand an der Balkontür seiner Suite in dem Boutique-Hotel, in dem er während seines Aufenthalts in Royal, Texas, wohnte. Die Worte, die der Patriarch der Familie Del Rio vor ein paar Tagen zu ihm gesprochen hatte, waren unvergesslich. Fernando Del Rio III war ein respekteinflößender Mann, und Tremaine wusste, dass der Mann alle Verbindungen zu ihm abbrechen würde, wenn er sein Versprechen, herauszufinden, warum das Collier plötzlich wieder aufgetaucht war, nicht einhielt.
Er trank einen Schluck Kaffee und blickte hinaus in die Gärten, die immer noch wunderschön waren, obwohl viele Blumen schon verblüht waren. Die renovierte Villa bot mehr Komfort und Behaglichkeit als die großen Hotels in der Stadt, die er als zu protzig empfand. Dieses Haus war überschaubar, hatte nur fünf geschmackvoll eingerichtete Suiten und versprach eine gute Südstaatenküche, die er später am Abend probieren wollte.
Hier konnte er in Ruhe nachdenken. Eine Strategie entwickeln. Den Fall lösen.
Und herausfinden, was Alisha und der Rest der Familie Winters verbargen.
Vielleicht wissen sie länger von den gestohlenen Juwelen, als sie sagen?
Tremaine runzelte die Stirn.
Aber was hätte das gebracht? Sie hätten das Collier auch einfach behalten und nichts sagen können. Nie.
Er trank noch einen Schluck von dem schwarzen Gebräu.
Hatten sie das Schmuckstücks erworben und es aus Bosheit oder Rache den Del Rios vorenthalten? Aber auch dann hätten sie es einfach behalten und nichts sagen können.
Er trat von der Balkontür zurück und holte seinen Laptop. Darauf befanden sich die Dateien mit allen Informationen, die er über das Prachtstück hatte finden können. Die Geschichte seiner Herstellung. Artikel über seine Kostbarkeit. Fotos von in Auftrag gegebenen Porträts, auf denen die Vorfahren der Del Rios das Schmuckstück trugen. Zeitungsartikel über den Diebstahl. Und viele weitere über das plötzliche Auftauchen des Colliers.
Die plötzliche Aufregung um das Collier hatte es ihm erleichtert, bei der Pariser Polizei Einsicht in die Originalakten des Falles zu bekommen. Es brachte nicht viel. Er hätte nach Frankreich reisen können, aber seit dem Diebstahl war so viel Zeit vergangen, dass er nicht wusste, ob es sich lohnen würde. Er glaubte, dass ein Besuch im Museum ihm Aufschluss darüber geben würde, wie der Diebstahl überhaupt möglich gewesen war, deshalb kaufte er die Baupläne, aber vor vierzig Jahren war ein größerer Umbau vorgenommen worden.
Eine weitere Sackgasse.
Tremaine atmete schwer aus, als er zwei Fotos des mit Brillanten, Rubinen und Smaragden besetzten Colliers vergrößerte. Das erste war vor dem Raub entstanden, das zweite nach dem Auftauchen auf dem Anwesen der Winters. In den fast hundert Jahren, die dazwischen lagen, hatte sich an dem Stück nichts verändert. Kein Stein fehlte. Keine Beschädigung.
„Von Paris, Frankreich, nach Royal, Texas“, sagte er und starrte ins Leere.
Dachte nach. Analysierte. Stellte Hypothesen auf.
Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Warum?
Er hatte schon früh in seinem Leben und dann noch einmal in seiner Laufbahn als Polizist gelernt, dass diese Fragen für die Lösung viele Lebensprobleme und Kriminalfälle entscheidend waren. Wer hat es gestohlen? Wer hat geholfen? Was war der Gewinn? Wann war es in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt? Wo war es fast hundert Jahre versteckt worden? Wie war es auf das Anwesen der Winters gelangt? Steckte einer von ihnen hinter dem ursprünglichen Diebstahl?
Und warum? Die vielleicht wichtigste Frage, um die Wahrheit ans Licht zu bringen – warum wurde es gestohlen?
„Vor einem Jahrhundert“, sagte er und nahm den Laptop mit in die Sitzecke. Er ließ sich auf einen der zwei gegenüberstehenden Zweisitzer fallen. „Was war damals im Vergleich zu heute?“
Tremaine ging seine Akten noch einmal durch. Und noch einmal. Er überprüfte die Listen mit den Namen der Personen, die er befragen und überwachen wollte. Ihm fehlte nur noch eine Sache. Er nahm sein Diensthandy in die Hand.
Keine verpassten Anrufe.
Es kam ihm dumm vor, dass er darauf gehofft hatte, Alisha würde sich melden.
Er räusperte sich und rief die Nummer seiner Assistentin auf, die in Austin die Stellung hielt, während er verreist war.
„Knowles Threat Solutions.“
„Golden. Wie läuft’s?“ Er lehnte sich zurück.
„Alles genauso gut wie vor Ihrer Abreise.“
„Und trotzdem habe ich noch nicht die Hintergrundberichte bekommen, um die ich gebeten hatte.“
„Ups. Ich wurde durch TikTok abgelenkt“, gab sie kichernd zu. „Da war dieser super tolle Typ, der frischen Tee gemacht hat, und ich musste mir das einfach ansehen. Das Universum wollte nicht, dass ich das große Glücksgefühl verpasse, das mir der Anblick dieses Mannes beim Teekochen verschafft hat.“
Tremaine unterdrückte ein Lächeln, als er sich die junge Frau vorstellte, zierlich, aber voller Energie und Lebensfreude. Sie war die erste Bewerberin auf die Stelle seiner Assistentin gewesen, und obwohl sie kaum Büroerfahrung vorwies, hatte Tremaine sie eingestellt, weil ihre Fröhlichkeit – ihre Lebensfreude – ansteckend war. Das hatte ihm gefallen. Goldens Gerede über die Führung ihrer Engel, das Spielen von Musik in verschiedenen Solfeggio-Frequenzen, um die Chakren zu aktivieren, ihre regelmäßigen Arbeitspausen zum Meditieren und ihr völliges Eintauchen in jede Emotion – selbst in jene seltenen Anfälle von Traurigkeit – waren für ihn eine größere Herausforderung. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass die Präsenz der Frau – sie nannte es ihre Aura – beruhigend wirkte. So sehr er auch vorgab, sich über Goldens Spiritualität lustig zu machen, so gab es viele Momente, in denen sie Dinge einfach wusste.
Ping.
Beim Benachrichtigungston einer eingehenden E-Mail richtete Tremaine sich auf und zog seinen Laptop näher zu sich heran. Er rief die Datei auf, die Golden ihm gerade geschickt hatte. Er sah sich die einzelnen Background-Checks der Familie Winters an. Als er zu den Informationen über Alisha Winters kam, hielt er inne und betrachtete das Führerscheinfoto.
Einfach wunderschön.
„Sie beide werden hübsche Babys haben, Mr.. Knowles“, sagte Golden.
„Häh?“ Er zwang sich, an dem Foto vorbei zu den Details über sie zu scrollen.
„Alisha Winters. Sie schauen doch gerade ihr Foto an, oder? Sie wissen, dass ich manches einfach weiß. Meine Intuition sagt mir, dass Sie beide füreinander bestimmt sind …“
„Auf Wiederhören, Golden.“ Er beendete das Telefonat und ließ das Handy auf den Sitz fallen.
Er konzentrierte sich darauf, jeden einzelnen Bericht zu lesen.
Die Eltern. Joseph und seine zweite Frau Camille. Dann die Kinder. Jericho Winters, der Architekt. Trey, der Rancher und Investor. Alisha, die Antiquitätenhändlerin und Kunsthistorikerin. Marcus, der Designer. Und Tiffany, die Chocolatière. Bei der Durchsicht von Fahrzeugpapieren, Strafregisterauszügen, Kreditauskünften und Grundbucheinträgen fiel ihm nichts Besonderes auf. Nicht, dass er geglaubt hatte, etwas zu finden. Es war ein Schuss ins Blaue, und manchmal, als Polizist und jetzt als Privatdetektiv, traf der Schuss auch ins Schwarze.
Tremaine blätterte weiter durch die Fotos der Familie Winters, bevor er begann, sie zu kopieren und in einen provisorischen Stammbaum einzufügen. „Manchmal muss man die Zielscheibe vergrößern“, sagte er zu sich selbst.
Niemand in der Familie Winters war über jeden Verdacht erhaben. Weder damals noch heute.
Tremaine nahm sein Handy, sah kurz auf die Uhr und wählte dann Prestons Nummer. Als angehender Geschäftsführer des florierenden Petrochemie-Unternehmens war Preston ein vielbeschäftigter Mann. Doch die Zeit drängte.
„Lady-Killer! Was gibt’s?“
Tremaine lachte. „Ich dachte, den Spitznamen hätten wir abgeschafft. Ich habe immer gesagt, dass ich mich häuslich niederlasse, sobald ich die richtige Frau gefunden habe.“
„Und die wäre?“
Tremaine hielt inne. „Eine, die mich vergessen lässt, dass es noch andere Frauen gibt“, antwortete er.
„Und eine, die man nie vergessen kann“, fügte Preston hinzu.
„Möchtest du mir etwas erzählen?“
Preston räusperte sich. „Wie läuft es mit dem Fall?“, fragte er und lenkte damit das Gespräch in eine andere Richtung.
Tremaine ließ es dabei bewenden. „Deswegen rufe ich an. Ich denke, es ist an der Zeit, das Feld zu erweitern.“ Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Stammbaum auf seinem Laptop.
„In welche Hinsicht?“
„Ich würde mir außer den Eltern und Kindern der Winters gern noch weitere Familienmitglieder vornehmen“, sagte er und zoomte mit Zeigefinger und Daumen das Bild von Alisha heran. „Es geht um ein jahrhundertealtes Verbrechen, und das Haus ist fast genauso lange im Besitz der Familie. Welchen Sinn macht es, dass jemand das Schmuckstück auf dem alten Anwesen der Winters abliefert? Warum nicht auf dem neuen? Warum nicht bei den Del Rios selbst?“
„Richtig“, stimmte Preston zu. „Du glaubst nicht an die Geschichte mit dem Briefschlitz?“
„Ich bin nicht sicher. Ich war bei dem Haus und habe die jetzige Besitzerin getroffen.“
„Alisha.“
„Ja.“ Schon bei der Erwähnung ihres Namens klopfte sein Herz schneller.
„Und wie ist es gelaufen?“ Preston klang leicht besorgt.
Ich will sie wiedersehen – und nicht wegen des Falles. Tatsächlich ärgert es mich, dass ich sie durch diese Geschichte kennengelernt habe.
Aber Tremaine wollte diese Information nicht preisgeben. Oder dass er hoffte, mit seiner Vermutung, dass sie etwas verheimlichte, falsch zu liegen. „Sie hat sich über mein Auftauchen geärgert, aber sie hat ein paar Fragen beantwortet. Nichts, was auffällig wäre. Aber ich möchte alle Möglichkeiten ausloten.“
„Moment mal“, sagte Preston. „Ich muss einen Anruf entgegennehmen. Bleib in der Leitung.“
Während es in der Leitung still war, starrte Tremaine auf Alishas Foto. Das laute Klopfen seines Herzens schien in der Stille widerzuhallen. Und das erregte und frustrierte ihn gleichermaßen. Das Verlangen nach ihr verstand und akzeptierte er. Doch sein Bedürfnis, sie zu beschützen, obwohl sein Gefühl ihm sagte, dass sie ihm etwas vorenthielt, beunruhigte ihn. Er war hin- und hergerissen.
„Da bin ich wieder“, sagte Preston nach einem Moment. „Wie kann ich dir helfen?“
Verzeih mir, dass ich versucht war, dein Vertrauen in mich zu missbrauchen.
Preston war sein guter Freund und de facto sein Klient.
Tremaine räusperte sich. „Schick mir die Namen der älteren Generationen der Winters, vor allem die Namen all derer, die in dem alten Haus gelebt haben“, sagte er und fand zu seiner Professionalität zurück.
„Ich schicke dir eine Liste, sobald ich aus diesem Meeting raus bin.“
„Passt.“ Tremaine klappte seinen Laptop zu. „Ich gehe in der Zwischenzeit in die Stadt, um mit dem Sheriff zu sprechen.“
„Nathan Battle. Guter Mann. Vielleicht kannst du aus ihm etwas herausbekommen.“
„Du weißt, ich folge meinem Bauchgefühl, und man weiß nie, wohin das führt. Und Preston?“
„Ja?“
„Die eine, die du nicht vergessen kannst, ist vielleicht die, ohne die du nicht leben kannst.“ Tremaines Blick ruhte auf dem Foto von Alisha, während er sich schmerzlich an den süßen Duft ihres Parfums erinnerte.
Preston verriet nichts. Stattdessen lachte er nur und beendete dann das Gespräch.
Tremaine legte sein Handy wieder aufs Sofa, dann zog er sich aus. Nackt durchquerte er den Raum, um eine Jogginghose und ein langärmeliges Shirt anzuziehen. Er würde ins Zentrum von Royal laufen, mit Sheriff Battle sprechen und die Hauptstraße mit ihren Geschäften und Restaurants erkunden.
Nachdem Tremaine in seine Laufschuhe geschlüpft war und sein Handy eingesteckt hatte, verließ er die Suite. Das geschnitzte Honeymoon Suite Schild über der Tür ließ ihn innehalten und noch einen Blick in die Suite werfen. Das helle Dekor war wunderschön und intim. Einfach perfekt für ein Paar, das in romantische Glückseligkeit versunken war. Leidenschaft. Liebe.
Vor seinem inneren Auge entstand eine Vision, in der Alisha und er sich in der Mitte des Bettes unter der Bettdecke aneinanderschmiegten und sich zärtlich küssten. Arme und Beine ineinander verschlungen. Ihre Weichheit und seine Härte.
Er runzelte die Stirn.
Seit er ihr Haus vor ein paar Stunden verlassen hatte, schienen die Erinnerungen an sie beständig zu sein. Unkontrollierbar.
Und das war beunruhigend für einen Mann, der es liebte, die Kontrolle zu haben.