Baccara Exklusiv Band 241

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  • Erscheinungstag 13.01.2024
  • Bandnummer 241
  • ISBN / Artikelnummer 0858240241
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Olivia Gates, Jules Bennett, Wendy Etherington

BACCARA EXKLUSIV BAND 241

1. KAPITEL

„Du willst, dass ich Kanza, das Monster, heirate?“

Aram Nazaryan wusste, dass er zu laut sprach, doch wer hätte ihn dafür tadeln können? Denn was Shaheen Al Shalaan da gerade von ihm verlangt hatte, spottete jeder Beschreibung.

Allerdings hätte er es kommen sehen müssen, dachte Aram. Seit drei Jahren war sein bester und einziger Freund dabei, sich in eine Glucke zu verwandeln. Je glücklicher Shaheen mit Arams jüngerer Schwester Johara wurde, desto öfter nervte er ihn damit, endlich auch zu heiraten und ebenso glücklich zu werden. Arams Leben sei gar keins, warf Shaheen ihm oft genug vor. Seit er Johara wiedergefunden und geheiratet hatte, war Shaheen zum überzeugten Familienmenschen mutiert.

Zu denken, dass Shaheen angeblich zufällig in seinem Büro vorbeigekommen war … Wie dumm konnte man eigentlich sein, fragte sich Aram.

Schon nach zehn Minuten belanglosen Gesprächs hatte Shaheen die Bombe platzen lassen und von Aram verlangt, zurück nach Zohayd zu kommen. Nach Hause. Und er hatte ihm einen Traumjob angeboten. Dafür brauche er bloß zu heiraten. Eine Prinzessin aus Zohayd.

So etwas nannte man auch Erpressung.

Aram hatte sich vehement gewehrt. Zohayd sei Shaheens Heimat, nicht seine, denn er habe französische, armenische und amerikanische Wurzeln. Und in die königliche Familie einzuheiraten, um einen Job zu bekommen? Lächerlich!

„Hat dich dein Eheglück um den Verstand gebracht, Shaheen?“, fragte Aram entgeistert. „Um keinen Preis der Welt würde ich dieses Monster heiraten.“

Shaheen blieb gelassen. „Ich habe keine Ahnung, weshalb du sie so nennst. Kanza ist alles andere als ein Monster.“

„Dann muss es zwei verschiedene Kanzas geben. Die, die ich kenne, heißt Kanza Al Ajmaan, stammt aus dem mütterlichen Zweig der Königsfamilie und hat sich die Bezeichnung Monster mehr als verdient.“

Der Blick, den Shaheen ihm zuwarf, verriet, dass er mittlerweile nicht mehr ganz sicher war, ob Aram bei Verstand war. „Es gibt nur eine Kanza“, entgegnete Shaheen, „und sie ist hinreißend.“

„Hinreißend?“ Aram verzog abfällig den Mund. „Egal. Selbst wenn sie die Traumfrau schlechthin wäre, hätte ich keine Absichten auf sie. Sie ist viel zu jung.“

„Wie bitte? Sie ist fast dreißig.“

„Was? Das kann nicht sein. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie ungefähr achtzehn.“

„Genau. Das war vor mehr als zehn Jahren.“

War das wirklich schon so lange her? Aram rechnete schnell nach. Tatsächlich. So viel Zeit war seit diesem schicksalhaften Ball vergangen, bei dem er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Danach hatte er Zohayd verlassen. „Die elf oder zwölf Jahre Altersunterschied zwischen uns sind dadurch trotzdem nicht geringer geworden“, bemerkte er.

„Ich bin acht Jahre älter als Johara. Drei oder vier Jahre mehr machen da keinen großen Unterschied“, sagte Shaheen ruhig. „Außerdem seid ihr beide mittlerweile reife Persönlichkeiten. Da ist so etwas nicht mehr wichtig.“

„Du magst ja dieser Meinung sein, aber ich …“ Aram unterbrach sich. „Oh, nein. Du wirst mich nicht dazu bringen, darüber zu reden, als sei es eine echte Option. Sie ist ein Monster, glaub mir.“

„Und ich versichere dir, dass sie nichts dergleichen ist.“

„Na gut, schauen wir uns die Sache mal genauer an.“ Aram verschränkte die Arme vor der Brust. „Kanza – jedenfalls die, die ich kenne – war eine trotzige, missgelaunte Göre, die mit ihren Blicken jeden in die Flucht schlug, der so dumm war, sich ihr zu nähern. Wenn sie mich anstarrte, dachte ich jedes Mal, gleich explodiert eine Bombe.“

Shaheen pfiff leise durch die Zähne. „Netter Vergleich. Anscheinend hat sie großen Eindruck auf dich gemacht, wenn du dich nach zehn Jahren noch so gut an sie erinnerst.“

„Das liegt nur an dem Widerwillen, den sie in mir ausgelöst hat. Dass du mir eine Vernunftehe vorschlägst, ist schon schlimm genug, aber dass du dafür ausgerechnet eine Frau auswählst, vor der es mich gruselt …“ Aram schüttelte sich.

„Dich gruselt vor ihr?“ Shaheen schien amüsiert. „Übertreibst du da nicht ein bisschen?“

„Mag sein. Sagen wir einfach, sie irritiert mich. Ich glaube, sie spinnt. Weißt du noch, wie sie damals herumlief? Mit lila gefärbtem Haar und pinkfarbenen Kontaktlinsen? Das nächste Mal trat sie wie ein Albinohase mit weißem Haar und roten Augen auf. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war ihr Haar blau, und sie war geschminkt wie ein Zombie. Mich hat es wirklich gegruselt.“

Shaheen lächelte milde. „Und was hast du außer ihren Verkleidungen noch gegen sie vorzubringen?“

„Die Art, wie sie meinen Namen gemurmelt hat. Es klang, als wolle sie mich verfluchen. Mir kam es immer so vor, als wohne in ihrem zierlichen Körper ein wilder Troll.“

Mit einem Lächeln schob Shaheen die Hände in seine Hosentaschen. „Sieht so aus, als wäre sie genau die Richtige für dich. Du brauchst nämlich höhere Mächte, die dich aus deiner Versteinerung erlösen.“

„Hör auf mit diesem Schwachsinn, Shaheen“, gab Aram zurück. „Ich bin nicht versteinert, ich bin nur erwachsen geworden.“

„Wenn es das nur wäre! Johara spürt es. Ich spüre es. Deine Eltern machen sich Vorwürfe, weil sie dich damals gezwungen haben, bei deinem Vater in Zohayd zu bleiben und deine eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen.“

„Niemand hat mich gezwungen. Ich bin bei meinem Vater geblieben, weil er nach der Trennung von meiner Mutter allein nicht überlebt hätte.“

„Und als sie sich wieder versöhnt haben, hattest du deine eigenen Wünsche und Ziele bereits geopfert. Seitdem bist du vereinsamt und versteinert.“

Aram warf Shaheen einen grimmigen Blick zu. Wie konnte er ihm klarmachen, dass er sich für seine Mutter und seinen Vater freute? Und auch für seine Schwester und Shaheen. Sie alle waren glücklich. Warum mussten sie ständig darauf herumhacken, dass er allein war? Allein und zufrieden, wenn es nach ihm ging.

„Ich habe meine Entscheidungen selbst getroffen, also braucht sich auch niemand schuldig zu fühlen. Ich bin gern allein. Also lass mich in Ruhe.“

„Sobald du meinen Vorschlag ernsthaft geprüft hast, statt ihn von vornherein abzulehnen.“

„Dein Vorschlag ist völlig unsinnig.“

„Das stimmt nicht. Was du mir über Kanza erzählt hast, ist zehn Jahre her und zählt nicht mehr.“

„Da gibt es noch mehr“, wandte Aram ein. „Wenn sie jetzt achtundzwanzig ist …“

„In ein paar Monaten wird sie neunundzwanzig.“

„Egal. Wenn sie bis jetzt nicht verheiratet ist, kann das nur daran liegen, dass potenzielle Kandidaten Reißaus genommen haben, sobald sie einen Blick in ihre Feueraugen geworfen haben.“

Shaheen sah ihn verächtlich an. „Sie war nicht verheiratet und auch nicht verlobt, aber was du da unterstellst …“

„In ihrem Alter ist eine ledige Frau in Zohayd fast schon ein Fossil.“

„Wie galant von dir, Aram. Ich dachte, du seist ein moderner Mann. Ich hätte nie gedacht, dass das Alter einer Frau eine Rolle für dich spielt, vor allem, was ihre Heiratsfähigkeit angeht.“

„Du weißt genau, dass ich keine Vorurteile habe. Alles, was ich dazu sage, ist, dass eine Frau – überdies eine Prinzessin –, die noch keinen ernsthaften Bewerber gehabt hat, offenbar irgendetwas an sich hat, was Männer abschreckt.“

„Das Gleiche könnte man von dir und den Frauen sagen.“

Aram schnaubte entnervt. „Hör zu, Shaheen, ich sage das jetzt einmal und dann nie wieder: Ich will nicht heiraten. Weder um Bürger von Zohayd und Wirtschaftsminister zu werden noch aus einem anderen Grund. Wenn du meine Hilfe brauchst, biete ich dir und Zohayd gerne meine Dienste an. Ihr könnt mich und meine Firma jederzeit engagieren.“

Da Shaheen mit etwas Ähnlichem gerechnet hatte, kam seine Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Ich brauche dich dauerhaft in Zohayd. Als Minister.“

„Und ich habe ein Unternehmen, das mich braucht.“

„Dein Imperium ist so straff und perfekt organisiert, und deine Manager sind so gut, dass du es vom Laptop aus führen kannst. Deine Effizienz ist legendär, ebenso dein Talent, hervorragende Mitarbeiter auszuwählen. Genau das braucht Zohayd.“

„Du warst auch kein Vollzeitminister“, wandte Aram ein.

„Weil mein Vater mich nach seiner Abdankung unterstützt hat. Aber er will Verantwortung abgeben, in Rente gehen. Und selbst mit seiner Hilfe ist es mir nur sehr unvollkommen gelungen, meine Familie, mein eigenes Unternehmen und das Ministerium unter einen Hut zu bringen. Jetzt bekommen wir das zweite Kind, und ich will mich mehr um die Familie kümmern. Außerdem engagiert sich Johara stärker in humanitären Projekten, und ich möchte sie dabei unterstützen. Wenn ich Minister bleibe, kann ich das nicht.“

„Ich soll also mein eigenes Leben opfern, damit du deine Ziele verfolgen kannst?“, fragte Aram sarkastisch.

„Du sollst überhaupt nichts opfern. Deine Firma ist top, und du wirst der beste Wirtschaftsminister sein, den Zohayd je hatte. Gib doch zu, dass es dir Spaß machen würde. Du bist für den Job wie geschaffen. Und zudem kannst du eine Familie gründen. Danach hast du dich doch immer gesehnt.“

Ja, damals, mit sechzehn Jahren. Zu jener Zeit hatte Aram davon geträumt, mit achtzehn zu heiraten, ein halbes Dutzend Kinder zu bekommen, ein Haus zu bauen und Wurzeln zu schlagen.

Jetzt war er vierzig, allein und völlig wurzellos.

Wie hatte das passieren können?

Doch das war eine rhetorische Frage. Denn er wusste es genau.

„Was ich mir erträumt habe und was mir angemessen ist, das sind zwei völlig verschiedene Schuhe, Shaheen. Ich habe begriffen, dass es für mich besser ist, nicht zu heiraten und keine Familie zu gründen. Wahrscheinlich kannst du dir das in deinem perfekten Nest nicht vorstellen, aber es gibt eben Menschen, die kein Nest wollen. Überall auf der Welt zerbrechen Familien. Glücklich sind die wenigsten. Mir ist es recht so, wie es ist.“

Shaheen legte ihm die Hände auf die Schultern. „Ehe ich Johara wiedergefunden habe, dachte ich genau wie du. Und jetzt schau, wie sich alles verändert hat. Weil Johara eben die Richtige für mich ist.“

Aram unterdrückte einen bissigen Kommentar, der nur dazu geführt hätte, diese sinnlose Diskussion zu verlängern. Er konnte Shaheen nicht sagen, dass es dessen Hochzeit mit Johara gewesen war, die ihm jede Hoffnung auf eigenes Glück geraubt hatte.

Was seine kleine Schwester und seinen Freund verband – Vertrauen, Freundschaft, Leidenschaft –, davon hatte er immer geträumt. Jetzt, wo er Menschen kannte, die in diesem Einklang lebten, war ihm klar, dass er sich genau das gleiche Glück ersehnte. Aber die Hoffnung, dass sich dieser Traum irgendwann erfüllen würde, hatte er längst aufgegeben.

Da Aram nichts mehr erwiderte, beeilte sich Shaheen zu erklären: „Du musst ja nicht morgen oder übermorgen heiraten. Ich möchte nur, dass du darüber nachdenkst.“

„Nicht nötig. Ich bin zufrieden mit meinem Leben.“ Damit drehte Aram sich um und wollte gehen, doch Shaheen hielt ihn zurück.

„Was ist denn noch?“, fragte Aram grob.

„Du siehst nicht gut aus.“

Das entsprach der Wahrheit. Aram leugnete es ja auch gar nicht. Wahrscheinlich lag es daran, dass er in Kürze vierzig wurde. Das zehrte an einem Mann.

„Danke, Shaheen, deine Komplimente sind immer so zartfühlend.“

„Ich sage nur, was ich sehe. Du hast so viel gearbeitet, dass du kurz vor einem Burn-out stehst. Übrigens bin ich sehr zartfühlend, wenn ich meine Worte mit denen vergleiche, die Amjad benutzt hat, als er dich getroffen hat.“

Amjad, der König von Zohayd, war Shaheens ältester Bruder. Aus einem wilden Prinzen war ein außergewöhnlicher König geworden – mit dem Aram nicht immer gut auskam.

„Ich war dabei, als er bemerkte, ich sähe aus wie etwas, das die Katze gefressen und wieder ausgespuckt hat“, erwiderte Aram schroff. „Aber danke, dass du diese königliche Nervensäge erwähnst. Ich hatte schon nicht mehr an ihn gedacht, als ich deinen Vorschlag abgelehnt habe. Doch selbst wenn ich ernsthaft in Erwägung gezogen hätte, dein Überraschungspaket aus Heirat und Topjob auszupacken, hätte ich es dir nun umgehend zurückgeschickt, denn sonst müsste ich ja mit Amjad zusammenarbeiten. Glaubst du wirklich, ich wäre so verrückt, Minister in seinem Kabinett zu werden?“

Shaheen grinste. „Du würdest mit mir zusammenarbeiten, nicht mit ihm.“

„Das stimmt doch gar nicht. Gib es endlich auf.“

Doch Shaheen fing von vorne an. „Was Kanza betrifft …“

Eine Erinnerung flammte in Aram auf. Warum war ihm das eigentlich nicht gleich eingefallen? „Genau. Was Kanza betrifft und vor allem ihre ältere Schwester: Hast du Kanza, das Monster, für mich ausgewählt, weil sie die Halbschwester der Hexe Maysoon ist?“

„Ich hatte gehofft, du hättest sie vergessen. Aber vermutlich war das Wunschdenken“, bemerkte Shaheen trocken. „Maysoon war … sagen wir, etwas zu temperamentvoll.“

„Sie war eine Furie“, korrigierte Aram. „Am liebsten hätte sie mich in meine Einzelteile zerlegt.“

Und sie war der Grund gewesen, weshalb er Zohayd und seinen Vater verlassen hatte. Weshalb er seinen Traum, ein echtes Zuhause zu finden, hatte aufgeben müssen.

„Kanza ist das genaue Gegenteil“, gab Shaheen zu bedenken.

„Stimmt. Maysoon war eine atemberaubende, aber psychisch instabile Furie. Kanza war bloß eine abstoßende Missgeburt.“

„Du solltest deine Worte vorsichtiger wählen. Im Übrigen bin ich ganz anderer Meinung. Sicher, Kanza ist keine von diesen eleganten, smarten Frauen, aber ich mag ihr natürliches Wesen viel mehr. Und selbst wenn du es nicht als Vorzug siehst, wird sie eine passende Frau für dich abgeben.“

Aram zog spöttisch eine Braue hoch. „Wirklich?“

„Absolut. Sie würde dir Halt geben, im Gegensatz zu diesen anspruchsvollen, unsteten Frauen, mit denen du dich sonst abgibst.“

„Auf diese Weise bringst du mich nicht dazu, deinen Vorschlag zu überdenken, Shaheen. Selbst wenn ich heiraten wollte, würde ich keinen naiven Trampel, wie du sie beschreibst, an mich ketten.“

„An dich ketten? Weißt du, Aram, du bist zwar ab und zu mindestens genauso unmöglich wie Amjad, aber niemand wird leugnen, dass du einer der begehrtesten Junggesellen der Welt bist. Wahrscheinlich würde sich Kanza nur zu gern an dich ketten, wie du das nennst.“

„Kann sein. Sehr wahrscheinlich sogar. Trotzdem …“

„Also, denk wenigstens über meinen Vorschlag nach.“

„Nein, Shaheen. Das ist mein letztes Wort.“

Endlich schien Shaheen zu begreifen, dass es ihm ernst war, doch Aram vermutete, dass die Sache damit noch lange nicht abgetan sein würde. Er packte seinen Freund am Arm und zog ihn zur Tür. „Geh heim, Shaheen. Gib Johara und Gharam einen Kuss von mir.“

Doch Shaheen zögerte. „Versprich mir, mein Angebot so sachlich zu prüfen, wie du eine geschäftliche Angelegenheit prüfen würdest, ehe du eine Entscheidung fällst.“

Aram stöhnte genervt. „Ich habe meine Entscheidung getroffen, Shaheen. Hör endlich auf damit.“

Ehe Shaheen schließlich ging, gönnte er dem Freund ein bedeutungsvolles Lächeln. Es signalisierte, dass er keineswegs aufhören würde, für seine Idee zu werben.

Resigniert schloss Aram die Tür hinter Shaheen, dann ließ er die Schultern sinken, ging hinüber zum Sofa und warf sich in die Polster. Auch die nächste Nacht würde er hier im Büro verbringen. Es gab keinen Grund, nach Hause zu fahren. Denn er hatte ja gar kein Zuhause.

Doch als er sich ausstreckte und die Augen schloss, wanderten seine Gedanken zurück zu seinem Gespräch mit Shaheen. Zwar hatte er sich vehement gegen den Vorschlag seines Freundes gewehrt, doch er konnte nicht leugnen, dass die Idee verführerisch war. Bisher war es ihm immer nur darum gegangen, nach Zohayd zurückzukehren. Als Familienmitglied. Ohne Aufgabe. Doch nun bot sich ihm ein unglaublich reizvoller Job, und plötzlich konnte sich Aram vorstellen, eine Zukunft in Zohayd zu haben.

Schon lange beschäftigte er sich mit der wirtschaftlichen Situation des Königreiches. Einst hatte er vorgehabt, diesem Land zu dienen, doch es war anders gekommen. Als hätte Shaheen es geahnt, bot er ihm jetzt genau den Posten an, auf dem er sein Talent und seine Kenntnisse am besten einsetzen konnte.

Leider gab es einen Haken bei der Sache. Um Zohayd dienen zu dürfen, müsste er heiraten.

Andererseits war eine Vernunftehe für ihn vielleicht die einzige Möglichkeit, überhaupt so etwas wie eine Beziehung zu führen, überlegte Aram. Und da eine Liebesheirat nicht infrage kam, war Shaheens Kandidatin möglicherweise doch die Richtige.

Kanza stammte aus königlicher Familie, allerdings aus einem entfernteren Zweig, und ihr Familienvermögen war wesentlich geringer als sein eigenes. Durch eine Heirat mit Kanza würde er zum Königshaus gehören, und sie bekam dafür einen Milliardär. Man würde sich gegenseitig respektieren und aus dem Weg gehen. Eigentlich perfekt, oder?

Wie er schließlich ins Bad gelangt war, wusste Aram nicht mehr. Doch plötzlich stand er vor dem riesigen Spiegel, blickte sich forschend darin an – und fand seine Gedanken auf einmal lächerlich. Wie gut Shaheen sein Spiel gespielt hatte. So gut, dass er für einen Moment fast darauf hereingefallen wäre.

Doch es war unmöglich: Zohayd, seine Familie, das Wirtschaftsministerium – es waren alles unerfüllbare Träume.

Nur Träume – nicht mehr und nicht weniger.

Oh, Wunder, dachte Aram. Shaheen war nicht mehr auf seinen Vorschlag zurückgekommen. Stattdessen hatte er Aram zu einer Party eingeladen, die er und Johara heute Abend in ihrem New Yorker Penthouse steigen ließen. Doch Aram hatte abgesagt.

Während er ins Hotel fuhr, in dem er sozusagen lebte, dachte er darüber nach, weshalb Shaheen das Angebot, das ihm doch offenbar so wichtig gewesen war, nicht wiederholt hatte. Und noch mehr interessierte ihn, weshalb er selbst deswegen fast enttäuscht war.

Sein Handy klingelte. Es war seine Schwester Johara.

„Sag nicht, du arbeitest noch, Aram“, sagte sie mit ihrer warmen, vertrauten Stimme.

Er seufzte innerlich. Bestimmt ging es um die Party, und er wollte ihr gegenüber nicht schlicht und brutal Nein sagen. Es war ihm schon immer schwergefallen, seiner kleinen Schwester irgendetwas abzuschlagen. Seit ihrer Geburt war er, wie man in Zohayd sagte, ein khaatem f’esba’ ha – ein Ring an ihrem Finger gewesen. Glücklicherweise war sie ein Engel, sonst hätte sie ihn wahrscheinlich gnadenlos ausgenutzt.

Jetzt konnte er nur hoffen, dass sie ihre Macht über ihn nicht ausspielte, denn wenn sie ihn erneut bat, zu ihrer Party zu kommen, würde er nicht die Kraft aufbringen, noch einmal abzusagen. Doch es ging ihm viel zu miserabel, um es ertragen zu können, sie und Shaheen in all ihrem Glück hautnah zu erleben.

Lächelnd, weil Joharas Stimme ihn immer zum Lächeln brachte, antwortete er: „Ich bin auf dem Weg ins Hotel, Sweetheart. Bist du bereit für deine Gäste?“

„Oh, ja. Sag mal, bist du schon dort? Falls ja, ist es egal. Dann denke ich mir etwas anderes aus.“

„Worum geht es denn, Johara?“

Sie seufzte entschuldigend. „Um eine wichtige Akte, die mir einer meiner Gäste gegeben hat, damit ich sie studiere und wir auf der Party darüber sprechen können. Dummerweise habe ich sie in meinem Büro vergessen, und jetzt kann ich hier nicht mehr weg. Daher wollte ich fragen, ob du die Akte holen und mir bringen könntest.“ Sie zögerte. „Es tut mir leid, dass ich dich damit belästige, und ich werde auch nicht darauf bestehen, dass du auf der Party bleibst. Aber ich kann sonst niemandem den Zugangscode zu meinen Aktenschränken anvertrauen.“

„Du weißt, dass du mich jederzeit um einen Gefallen bitten kannst.“

„Außer darum, heute auf meiner Party zu erscheinen“, erwiderte sie mit einem Lächeln in der Stimme, und als er sich schon eine neue Ausrede zurechtlegte, fuhr sie schnell fort: „Shaheen hat mir gesagt, dass du erschöpft wirkst, also verstehe ich gut, dass du lieber schlafen gehst. Außerdem hätte ich vermutlich sowieso kaum Zeit, mich mit dir zu unterhalten. Wir haben zig Leute eingeladen, und ich muss als Gastgeberin ständig rumflitzen.“

Erleichtert, dass sie nicht auf seinem Kommen bestand, fragte er: „Also, wonach genau soll ich suchen?“

Zwanzig Minuten später ging Aram den Flur der Chefetage in Shaheens New Yorker Wolkenkratzer hinunter, wo sich auch der Hauptsitz von Joharas Designfirma befand. Seltsamerweise stand die Tür zum Sekretariat offen. Wahrscheinlich ein Versehen, dachte Aram. Doch als er hineinging, stellte er fest, dass auch die Tür zu Joharas Büro offen war. Ehe er noch dazu kam, sich darüber Gedanken zu machen, hörte er laute Geräusche.

Aram erstarrte. Sein Körper spannte sich. Wieder dieser Lärm. Als ob Metallschubladen aufgerissen und zugeknallt würden. Jemand war offensichtlich dabei, Joharas Büro zu durchwühlen.

Ein Dieb!

Unsinn, sagte er sich. Kein Fremder kam am Sicherheitsdienst vorbei. Also musste es jemand sein, den die Security kannte. Vielleicht war eine Mitarbeiterin auf der Suche nach der Akte, die Johara vergessen hatte? Doch woher kannte sie den Zugangscode? Brach also gerade jemand die Aktenschränke auf?

Unmöglich. Johara konnte ihren Angestellten vertrauen, da war Aram sicher.

Handelte es sich vielleicht um einen Mitarbeiter von Shaheen, der sich Informationen verschaffen wollte, zu denen Johara Zugang besaß?

Das konnte immerhin sein. Er musste den Sicherheitsdienst informieren … Halt. Zuerst musste er sich vergewissern, dass tatsächlich etwas Illegales vor sich ging, sonst entstünde viel Chaos wegen nichts.

Aram schlich lautlos zur Tür, obwohl der Einbrecher durch den Lärm nicht einmal eine Elefantenherde hätte kommen hören. Vorsichtig spähte er ins Büro und machte sich auf eine handgreifliche Konfrontation gefasst. Doch was er sah, ließ ihn erstarren.

Es war eine Frau. Jung, zierlich, mit der wildesten dunkelbraunen Lockenmähne, die er je gesehen hatte. Wie ein Wirbelwind schoss diese Person in Joharas Büro hin und her. Sie schien überhaupt keine Furcht vor Entdeckung zu haben.

Ohne nachzudenken, betrat Aram das Büro. „Würden Sie mir vielleicht sagen, was Sie hier verloren haben?“

Die junge Frau machte einen entsetzten Satz. Sie erinnerte Aram an eine Comicfigur, und beinahe hätte er laut gelacht. Verrückt. Als sie sich zu ihm umdrehte, lächelte er unwillkürlich. Auf eine Weise, wie er wohl schon lange nicht mehr gelächelt hatte. Es kam ihm vor, als würde sich der Moment wie in Zeitlupe ausdehnen, obwohl alles ganz schnell ging.

„Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Mir wurde gesagt, dass vier Hände und zwei Paar Augen besser darin sind, etwas Verlorenes wiederzufinden“, hörte er sich sagen. „Ganz zu schweigen von zwei Köpfen.“

Sie sah ihn aus großen, erschrockenen Augen an. Das zierliche Wesen trug eine schwarze Hose und ein schwarzes Top und war definitiv nicht bewaffnet. Und doch, ohne dass Aram wusste, was in diesem Augenblick genau geschah, fühlte er sich, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt.

Gleich darauf funkelte sie ihn aus schwarzen Augen an und sagte mit ihrer rauchigen Stimme: „Ich hätte wissen müssen, dass eine gewisse Gefahr besteht, Sie hier anzutreffen. Was machen Sie im Büro Ihrer Schwester, wenn sie doch gar nicht hier ist? Ist denn kein Mensch vor Aram, dem Piraten, sicher?“

2. KAPITEL

Aram starrte den Eindringling an. So zierlich diese Person auch aussah, so stark war doch die Energie, die von ihr ausging. Sie wirkte wie eine Naturgewalt.

Und sie schien ihn zu kennen. Oder sie wusste zumindest, wer er war.

Seinen Spitznamen „Der Pirat“ hatten die Medien ihm verpasst, und er wurde von enttäuschten Geliebten und frustrierten Wettbewerbern weitergetragen.

Nun schien die kleine Wildkatze hier vor ihm zu erwarten, dass er auf ihren Angriff die passende Antwort parat hatte. Das elektrisierte ihn.

„Ich bin also ‚Der Pirat‘. Und was sind Sie? ‚Der Tornado‘? ‚Der Hurrikan‘? Jedenfalls haben Sie hier in Joharas Büro gewütet, als seien Sie ein Wirbelsturm. Oder sind Sie einfach nur eine Einbrecherin?“

Mit einer Kopfbewegung warf die Fremde ihre dunklen Locken über die Schulter.

„Wollen Sie da ewig in der Tür stehen und mir den Fluchtweg abschneiden, oder helfen Sie mir beim Raubzug?“ Ihre raue Stimme stand in einem seltsamen Kontrast zu ihrer elfenhaften Figur und dem zarten Gesicht mit den großen, funkelnden Augen.

Aram grinste. „Wieso sollte ich jemandem beim Plündern helfen, den ich nicht kenne? Was ist, wenn Sie mit der Beute stiften gehen und mich die Polizei schnappt? Dann kann ich Sie nicht einmal anschwärzen.“

Einen Moment lang sah sie ihn durchdringend an. „Verstehe“, sagte sie schließlich. „Tut mir leid. Wahrscheinlich bin ich durch Ihr plötzliches Auftauchen etwas durcheinander gewesen. Jetzt ticke ich wieder richtig.“

Stirnrunzelnd fragte er sich, was sie wohl damit meinte. Oder war er es, der den Faden verloren hatte? Seit Wochen spürte er, dass sich ein Zusammenbruch nicht vermeiden ließe, wenn er so weitermachte wie bisher. War dies der Moment? Aber warum gerade jetzt, wo er endlich jemanden getroffen hatte, der ihn aus seiner inneren Starre herausriss?

Er räusperte sich. „Können Sie das näher erläutern?“

„Ich hatte nur vergessen, wie Sie zu Ihrem Spitznamen gekommen sind, und dass Sie alles tun, um ihn sich zu verdienen.“

Immer noch verstand er nicht ganz, worauf sie hinauswollte. „Danke, dass Sie als kriminelles Superhirn meinen Charakter so klar analysieren. Das hilft mir bestimmt, ein besserer Mensch zu werden.“

„Ich helfe, wo ich kann“, entgegnete sie spöttisch. „Was mich betrifft, erinnere ich mich daran, dass Sie es gewöhnt sind, Ihre Mitmenschen wie Waren zu behandeln, die man wegwerfen kann, wenn man sie nicht mehr braucht. Danach vergessen Sie schlicht, dass diese Menschen überhaupt existiert haben. Ihnen zu raten, ein besserer Mensch zu werden, ist verlorene Liebesmühe. Sie sind und bleiben ein grausamer Pirat.“

Das Bild, das sie von ihm malte, war jenes, das die Medien verbreiteten, und es traf oberflächlich gesehen auch zu. Er hatte sich nie bemüht, es zu korrigieren, denn es verlieh ihm Macht und Unabhängigkeit. Niemand wagte es, sich mit ihm anzulegen.

Was jedoch stimmte, war, dass er die meisten Menschen, die ihm begegneten, sofort wieder vergaß. Er erinnerte sich nur an wirklich außergewöhnliche Begegnungen, und auch denen maß er keine tiefere Bedeutung bei.

Doch etwas irritierte ihn. Er hatte wissen wollen, wer sie war, und daraufhin hatte sie diese Tirade über seinen Charakter losgelassen. Warf sie ihm etwa vor, dass er sich eigentlich an sie erinnern müsste?

Nein, das konnte nicht sein. Wie hätte er diese Augen vergessen können. Ihr Blick konnte einen Mann mühelos in den Staub zwingen. Dieser kleine Wildfang war außerdem schlagfertig und witzig. In Windeseile hatte sie ihm verbale Hiebe verpasst, die trafen. Und er hatte jeden Moment genossen.

Verrückt, wenn er bedachte, dass die meisten Frauen sofort zu schnurrenden Kätzchen wurden, sobald sie in seine Nähe kamen. Macht und Geld wirkten immer. Und deshalb fand er es so erfrischend, ein weibliches Wesen zu treffen, das offensichtlich nicht im Geringsten beeindruckt von ihm war.

Mit einer ironischen Verbeugung bemerkte er: „Ihre genaue Analyse meines schlechten Charakters ehrt mich, und Ihre Boshaftigkeit wärmt mein steinernes Herz.“

„Ach, Sie haben ein Herz? Ich dachte, Sie und Ihre Artgenossen könnten auf dieses überflüssige Organ verzichten.“

„Irgendwo habe ich noch einen verkümmerten Rest“, erwiderte Aram grinsend.

„So wie ein Blinddarm?“ Sie lachte rau. „Den kann man rausnehmen, dann funktioniert der Körper besser. Warum haben Sie das Ding nicht längst entfernen lassen? Es muss Ihnen doch furchtbare Schmerzen bereiten.“

Magisch angezogen ging er auf sie zu, um herauszufinden, warum ihn diese junge Frau so faszinierte. Sie rührte sich nicht, während er näher kam, funkelte ihn nur aus ihren Wildkatzenaugen an. Dicht vor ihr blieb er stehen. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als er, wenn nicht mehr, und trotzdem hatte er das Gefühl, als begegne sie ihm auf Augenhöhe.

„Keine Sorge“, antwortete er schließlich. „Ich brauche keine Operation. Mein Herz ist schon lange geschrumpft und versteinert. Aber danke für Ihr Interesse und Ihren Rat.“

Gespannt wartete er auf ihre Retourkutsche, doch stattdessen blitzte sie ihn nur wütend an und nahm dann übergangslos ihre Suche wieder auf.

Ihm war klar, dass sie nicht hinter Joharas Rücken hier war, auch wenn sie gerade noch so getan hatte, als wäre sie eine Diebin. Er beobachtete, wie sie in genau jenen Aktenschränken wühlte, die auch er hätte durchsuchen sollen.

Und plötzlich begriff er, wen er vor sich hatte.

Es war Kanza.

Kanza Al Ajmaan.

Sprachlos verfolgte er, wie sie Akten herauszog, sie auf Joharas Schreibtisch knallte und in einer atemberaubenden Geschwindigkeit durchblätterte, ehe sie weitersuchte. Wieder erinnerte sie Aram an eine Comicfigur. Er wusste nicht einmal, wie er sie eigentlich erkannt hatte. Ihre letzte Begegnung lag zehn Jahre zurück, und sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie ihm vorwarf, Leute, die nicht wichtig für ihn waren, einfach zu vergessen.

Alles, woran er sich erinnern konnte, war der aggressive Teenager, der seltsame Verkleidungen liebte. Trotzdem hatte das Mädchen für ihn immer eine irgendwie archaische Ausstrahlung gehabt, als besitze sie eine Verbindung zu etwas Ursprünglichem, das viel älter war als sie selbst.

Jetzt, zehn Jahre später, wirkte sie immer noch sehr jung und gleichzeitig erfüllt von jener magischen, erdverbundenen Kraft. Doch hier endete der Vergleich auch schon, denn ihre Vorliebe für grelle Haarfarben, bunte Kontaktlinsen und den punkigen Stil war offensichtlich verflogen. Die Kanza von heute trug schlichte, schwarze Kleidung, dazu weiße Sneakers und nicht die Spur von Make-up. Ihr Körper wirkte schmal, fast jungenhaft. Das Auffallendste an ihr waren ihre wilden dunkelbraunen Locken und ihre riesigen schwarzen Augen.

Obwohl sie völlig anders aussah als vor zehn Jahren, hatte sie nichts von ihren mondänen Halbschwestern an sich, die ihre Weiblichkeit betonten, wo es nur ging. Und trotzdem verströmte Kanza eine flirrende Energie, die ihn betörte. Ihre Lippen, ihre langen schwarzen Wimpern, die Art, wie sie sich bewegte, ihre rauchige Stimme … Sie war nicht im gängigen Sinne hübsch, aber überaus anziehend.

Aram konnte nicht anders, als sie anzustarren, und er war froh, dass sie ihren bohrenden Blick in diesem Moment nicht auf ihn richtete, sondern fieberhaft in den Akten suchte. Wie kam es nur, dass sie jetzt und hier aufeinandertrafen? Vor zwei Wochen hatte Shaheen von ihr gesprochen, und nun …

Das konnte kein Zufall sein. Und das bedeutete … dass Johara dahintersteckte.

Und Aram begriff noch etwas: Kanza suchte dieselbe Akte, die er für Johara finden sollte. Kanza war ebenfalls ein Opfer dieser schlauen Intrige geworden.

Wie dumm war er gewesen, zu glauben, Shaheen hätte seinen Plan aufgegeben. Natürlich hatte er darüber mit seiner Frau gesprochen. Und dann hatten die beiden sich verbündet.

Doch das war Aram in diesem Moment egal. Alles, was ihn interessierte, war, ob Kanza in den Plan eingeweiht war. Hatte sie deshalb so aggressiv reagiert, als er das Büro betreten hatte? Wollte sie ihm damit signalisieren, dass sie nicht die geringsten Absichten auf ihn hatte?

Das würde die Sache für ihn allerdings nur noch interessanter machen, als sie bereits war. Shaheen lag durchaus richtig mit seiner Einschätzung, dass Aram einer der begehrtesten Junggesellen auf dem Heiratsmarkt war. Er war nicht eingebildet, aber er wusste, dass es keine Frau gab, die seinen Antrag ausschlagen würde – und sei es nur um seines Geldes und seines Status willen. Selbst sein schlechter Ruf war für Frauen reizvoll, das hatte er nur zu oft erfahren. Jede dachte, dass sie diejenige sein würde, die den Piraten zähmen konnte.

Falls Kanza tatsächlich keine Lust hatte, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie angenehm es sein konnte, einen Milliardär wie ihn zu heiraten, dann wurde die Geschichte spannend. Denn abgesehen davon, dass Aram nicht vorhatte zu heiraten, wollte er gern herausfinden, weshalb Shaheen und Johara glaubten, ausgerechnet dieses … Wesen sei die richtige Frau für ihn.

In diesem Augenblick schaute das Wesen von den Akten auf und funkelte ihn an. „Warum stehen Sie da rum und posieren? Tun Sie lieber was Nützliches, anstatt nur hübsch auszusehen.“ Als sie seinen belustigten Blick sah, legte sie nach. „Ach, mögen Sie es nicht, wenn man Sie hübsch nennt?“

Ohne seine Antwort abzuwarten, befahl sie ihm mit einer Geste, sich um die Akten zu kümmern, die sie auf dem Schreibtisch bereits gestapelt hatte, ehe sie fortfuhr, in den Schränken zu wühlen. Dabei murmelte sie: „Hübsch trifft es natürlich nicht ganz. In Zohayd gibt es dafür ein Wort: Halawah.“

Das bedeutete „süß“, und es war das Wort, mit dem man in Zohayd einen schönen Menschen bezeichnete.

„Wie kommen Sie nur auf die Dinge, die Sie da sagen?“, wollte Aram wissen.

„Die Frauen in Zohayd haben das früher über Sie gesagt. Mittlerweile haben Sie so viel halawah, dass man davon Diabetes kriegen könnte.“

Er lachte. „Danke. Bisher hat mich noch niemand ein Diabetesrisiko genannt.“

„Dabei wissen Sie doch genau, wie schön Sie sind.“

Kopfschüttelnd erwiderte er: „Keiner hat mir jemals vorgeworfen, schön zu sein.“

„Weil alle denken, Männer könnten höchstens gut aussehend, attraktiv oder im besten Fall umwerfend sein. Tut mir leid, auf Sie trifft das nicht zu. Sie sind so schön, dass es mich anwidert.“

„Es widert Sie an?“

„Absolut. Ein Mann, der kein Model ist und von seinem Aussehen lebt, sollte nicht so verboten schön sein.“

„Seltsam. Meine nächsten Verwandten sagen mir die ganze Zeit, ich sähe fix und fertig aus.“

„Es gibt Menschen, die Ihnen nahestehen? Herzliches Beileid für die Ärmsten.“

Er lächelte. „Ich gebe das gern weiter.“

„Nicht nötig. Ich sehe Johara demnächst selbst. Kein Wunder, dass sie in letzter Zeit so bedrückt wirkte. Schlimm genug, dass Sie ihr einziger Bruder sind. Aber Ihnen auch noch ständig begegnen zu müssen, wenn sie hier in New York ist …“

Da begriff er auch den Rest.

Kanza musste die neue Partnerin sein, von der Johara so begeistert erzählt hatte. Jenes Marketinggenie, das Joharas Designfirma ganz weit nach oben gebracht hatte. Bisher war kein Name gefallen, aber er zweifelte nun nicht mehr daran, dass es sich bei diesem Marketingguru um Kanza handelte.

Hatte Johara ihm den Namen bewusst verschwiegen? Dann kannte sie ihn offenbar besser als Shaheen, dessen offensive Art ihn nur dazu gebracht hatte, seinen Vorschlag rundweg abzulehnen.

Also hatte Kanza nicht die geringste Ahnung von dem Komplott. Sie wusste nicht, dass das Zusammentreffen mit ihm hier in diesem Büro ein abgekartetes Spiel gewesen war. Spontan wäre er am liebsten sofort mit dieser Erkenntnis herausgeplatzt.

Wie Kanza wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, was Johara und Shaheen ausgeheckt hatten?

Doch halt! Was passierte, wenn Kanza dann plötzlich wortkarg und verklemmt wurde? Oder schlimmer noch: wenn sie ihm signalisierte, wie nett sie sein konnte? Ihm gefiel das witzige Duell mit Worten, und er hatte keine Lust auf eine Frau, die sich ihm plötzlich als Geliebte andiente. Oder ihn vielmehr, so gut konnte er Kanza mittlerweile beurteilen, sofort zum Teufel jagte.

Daher behielt er seine Erkenntnis für sich. „Ich gebe gern zu, dass ich eine Last für Johara bin. Abgesehen davon meinte ich es ausnahmsweise ernst. Ich sehe fix und fertig aus. Mein Spiegel sagt mir das jeden Morgen.“

„Falsche Bescheidenheit steht Ihnen nicht“, gab Kanza zurück. „Aber wenn ich Sie genauer betrachte, sehe ich, was Sie meinen. Ein paar Linien und Kanten. Leider sehen Sie dadurch nur noch besser aus. Und das ist kein Kompliment.“

Aram verschränkte die Arme vor der Brust. „Hm, soweit ich es verstehe, mögen Sie mich nicht. Darf ich fragen, womit ich Ihre Ablehnung hervorgerufen habe, Kanza?“

„Hey, gebt dem armen Piraten ein Stück Schokolade. Er erinnert sich an mich! Und fragt trotzdem, warum ich ihn nicht mag? Glauben Sie wirklich, das, was Sie getan haben, sei verjährt?“

„Was habe ich denn getan?“, fragte Aram.

„Zu viel, als dass ich es hier aufzählen möchte.“

„Sie machen mich extrem neugierig. Wie lautet die Anklage?“

„Haben Sie es wirklich vergessen?“ Sie sah ihn ungläubig an, doch als er nickte, drehte sie ihm einfach den Rücken zu und beschäftigte sich wieder mit den Akten. Dabei murmelte sie: „Strengen Sie Ihr Gehirn doch einfach an. Ich werde Ihnen nicht auf die Sprünge helfen.“

„Da ich niemals etwas vergessen hätte, was ich Ihnen angetan haben könnte, muss es sich um etwas anderes handeln.“ Aram hielt inne. „Sagen Sie bloß nicht, es geht um Maysoon!“, rief er dann.

„Die Erinnerung kehrt zurück“, bemerkte Kanza ironisch. „Und das auf eine Weise, die beleidigend ist. Sie sind schon ein seltsamer Typ, Aram Nazaryan.“ Damit wandte sie sich wieder ihrer Suchaktion zu.

Immerhin wusste er jetzt, was los war. Allerdings hätte er nie gedacht, dass die geplatzte Verlobung mit ihrer Halbschwester Maysoon auch Kanza so getroffen hatte. Anscheinend hegte sie seitdem ein paar ziemlich idiotische Vorurteile gegen ihn.

Schwungvoll ließ sie eine Schublade zuknallen. „Hier ist die Akte nicht.“ Unvermittelt drehte sie sich zu ihm um. „Wieso sind Sie eigentlich hier?“

„Ich hatte gehofft, Johara noch anzutreffen.“

„Wussten Sie denn nicht, dass sie und Shaheen heute eine Party geben?“

„Tun sie das?“, fragte er und hoffte, dass sie seine Lüge nicht durchschaute.

„Haben Sie das etwa auch vergessen?“, gab sie zurück.

„Wieso glauben Sie, ich hätte es vergessen? Es könnte doch sein, dass ich nicht eingeladen bin.“

„Unsinn.“

„Na gut. Sagen wir, ich hätte die Einladung erhalten, sie aber ungelesen in den Papierkorb befördert.“

„Klar, warum nicht?“

Aram lachte. „Sie wollen unbedingt das Schlechteste von mir glauben, nicht wahr?“

„Sie machen es mir nicht schwer.“

Unglaublich, wie viel Vergnügen ihm dieser Schlagabtausch mit Kanza bereitete. „So, wie Sie auf mir rumhacken, könnte man annehmen, Maysoon sei Ihre Lieblingsschwester, und Sie beide seien ein Herz und eine Seele.“

Wütend funkelte Kanza ihn an. „Mir ist es egal, ob Sie gemein zu einer Fremden oder zu meiner Schwester sind. Das Ergebnis bleibt das Gleiche.“

„Heißt das, familiäre Bindungen spielen für Sie keine Rolle? Na gut. Aber was habe ich denn eigentlich Ihrer Meinung nach so Böses getan?“

Sie lachte höhnisch. „Nächster Versuch, bitte.“

„Ich tue mein Bestes.“

„El’ab be’eed.“

Das bedeutete: Scheren Sie sich zum Teufel.

Doch das kam nicht infrage. „Möchten Sie nicht wenigstens die Anklage verlesen und mich über meine Rechte aufklären?“, forderte Aram sie auf.

„Nein.“ Sie griff sich ihr Handy. „Ich habe Ihr Urteil schon vor langer Zeit gesprochen.“

„Komme ich nach zehn Jahren nicht wenigstens auf Bewährung frei?“

„Nein, Sie haben lebenslänglich.“

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Sie sind ein kleines, gemeines Ding.“

„Und Sie sind ein großes, gemeines Ding.“

Er brach in lautes Gelächter aus und ging zurück zum Schreibtisch. „Vielleicht sollten wir unsere Suche beenden und das Chaos beseitigen.“

„Das ist Ihr Job“, sagte sie und wählte eine Nummer.

„Ich glaube, nicht einmal Johara wüsste, wie man diese ganzen Akten wieder ordnungsgemäß einsortiert“, gab er zu bedenken.

Kanza maß ihn mit einem vernichtenden Blick und sprach dann ins Telefon. „Hallo, Jo, ich kann die Akte beim besten Willen nicht finden. Ich habe jeden Winkel durchsucht.“

„Wir haben jeden Winkel durchsucht“, mischte sich Aram laut genug ein, dass Johara ihn hören konnte.

Kanza blitzte ihn zornig an, und sein Puls beschleunigte sich. Er war sicher, dass Johara seine Stimme gehört hatte, doch im Verlauf des Telefonats schien sie sich nichts anmerken zu lassen. Wie schlau von ihr. Anscheinend hatte er seine kleine Schwester unterschätzt.

„Wieso ist es okay?“, wollte Kanza von Johara jetzt wissen. „Es ist überhaupt nicht okay. Du brauchst die Akte, und wenn sie hier ist, finde ich sie auch. Du musst mir nur eine bessere Beschreibung geben. Vielleicht habe ich sie schon ein halbes Dutzend Mal in den Händen gehabt und nicht begriffen, dass es die richtige ist.“

Johara schien etwas zu erklären, denn Kanza schwieg eine Weile. Aram war mittlerweile sicher, dass diese ominöse Akte überhaupt nicht existierte.

Als Kanza das Gespräch beendet hatte, rief sie: „Ich fasse es nicht! Johara ist gar nicht mehr sicher, ob sich die Akte überhaupt hier im Büro befindet. Sie sagt, es läge an den Schwangerschaftshormonen.“

Aram verriet sich nicht einen Moment. „Nicht schlimm, oder? Abgesehen von der Unordnung, die wir angerichtet haben.“

„Wir? Hier gibt es kein wir“, entgegnete Kanza scharf. „Ich gehe jetzt und beende diese unangenehme Begegnung mit Ihnen.“

„Wollen Sie nicht ein bisschen aufräumen, ehe sie die Biege machen?“, erkundigte sich Aram.

„Johara hat darauf bestanden, dass ich alles so lasse, wie es ist, und auf die Party komme.“

Also war Kanza eingeladen. Natürlich, was sonst? Obwohl die Klamotten, die sie trug, eher nach Freizeit aussahen. Wahrscheinlich war es Joharas und Shaheens ursprünglicher Plan gewesen, dass Kanza und er sich auf der Party begegneten, überlegte Aram. Nachdem er abgesagt hatte, hatten sie sich etwas anderes ausdenken müssen.

Kanza nahm eine rote Jacke vom Bürosofa, zog sie an und hängte sich eine kleine Laptoptasche um. Dann ging sie zügig Richtung Tür.

Doch Aram war schneller und blockierte den Ausgang. Kanza war so überrascht, dass sie gegen ihn prallte. Als sie verblüfft zu ihm aufsah, entdeckte er in ihren dunklen Augen einen Ausdruck, der ihn überraschte. Kanza wirkte plötzlich verletzbar. Als ob ihre Widerspenstigkeit und ihre Angriffslust überdecken sollten, dass sie in Wirklichkeit zart und sensibel war.

War es Einbildung, oder hatte es etwas mit der körperlichen Nähe zu ihm zu tun?

Sekunden später überkam Aram jedoch das Gefühl, sich das Ganze nur eingebildet zu haben. „Was halten Sie davon, wenn wir dieses Büro gemeinsam verlassen? Ich könnte Sie im Auto mitnehmen.“

„Glauben Sie etwa, ich sei zu Fuß hierhergekommen?“, fauchte sie.

„Eine Elfe wie Sie könnte auch geschwebt sein.“

„Dann entschwebe ich jetzt umgehend wieder.“

„Warum sparen Sie Ihre mystischen Energien nicht ein wenig auf und fahren mit mir?“

„Hören Sie auf, den Gentleman zu spielen. Das passt nicht zu Ihnen.“

„Ich habe bloß entschieden, ebenfalls auf die Party zu gehen. Nutzen Sie mein Angebot. Mein Wagen steht in der Tiefgarage.“

„Meiner auch“, gab sie zurück und schlüpfte an ihm vorbei.

Aram folgte ihr mit langen Schritten und überholte sie noch vor Erreichen des Fahrstuhls. Kanza ignorierte ihn und las auf ihrem Smartphone E-Mails. Selbst als Aram nach ihr den Lift betrat und mit ihr nach unten fuhr, sagte sie kein Wort. Erst, als sie die Tiefgarage durchquerte und merkte, dass er ihr folgte, drehte sie sich heftig um.

„Was ist denn noch?“

„Ich wollte Sie nur sicher zu Ihrem Wagen geleiten.“

Sie maß ihn mit einem abfälligen Blick, ehe sie ihn stehen ließ und zu einem roten Ford Escape hinüberging. Rot war offensichtlich ihre Lieblingsfarbe.

Sekunden später schlug sie die Fahrertür zu, ließ den Motor aufheulen und fuhr los. Aram sah die roten Rücklichter aufleuchten, als sie vor der Garagenausfahrt kurz bremste, ehe sie mit quietschenden Reifen davonbrauste.

Bewundernd grinste er und fühlte sich plötzlich so lebendig wie nie zuvor. Sie hatte es getan. Etwas, das vor ihr noch nie eine Frau getan hatte.

Sie hatte ihn abblitzen lassen.

Großartig.

Jetzt hatte er gar keine Wahl: Er musste sofort die Verfolgung aufnehmen.

3. KAPITEL

Kanza widerstand nur mit Mühe der Versuchung, das Gaspedal voll durchzutreten.

Diese Ratte wagte es tatsächlich, ihr zu folgen.

Dabei fühlte sie sich gerade eher wie eine Maus, die um ihr Leben rannte, während eine majestätische, total gelangweilte Katze sich einen Spaß daraus machte, sie zu jagen.

Ein Blick in den Rückspiegel bewies ihr, dass Aram immer noch hinter ihr war. Er hielt einen Abstand von etwa drei Wagenlängen. Irgendwie war Kanza klar, dass es ihm nicht darum ging, sie einzuholen. Er wollte ihr bloß zeigen, dass er der Stärkere war.

Am liebsten wäre sie in die Eisen gestiegen, um ihn dazu zu zwingen, scharf zu bremsen, wenn er sie nicht rammen wollte. Dann würde sie aussteigen, zu ihm rübergehen, ihn aus dem Auto zerren und … Und was dann? Beißen, schlagen, kratzen? Oder ihm die Schlüssel und das Handy abnehmen und ihn sich selbst überlassen, damit er zusehen konnte, wie er weiterkam?

Immer wieder vergewisserte sie sich im Rückspiegel, dass er ihr tatsächlich bis zu Johara und Shaheen folgte. Als sie zwanzig Minuten später in deren Tiefgarage parkte, atmete sie tief durch und machte sich auf eine unangenehme Begegnung gefasst.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Aram sein Auto drei Plätze entfernt von ihrem abgestellt hatte. Ohne ihn weiter zu beachten, marschierte Kanza zum Lift, doch dann stöhnte sie entnervt auf. Sie hatte die Geschenke im Auto vergessen, darunter ein Set mit arabischen Spielzeugpferden, das sie Gharam versprochen hatte.

Fluchend kehrte sie um und begegnete dabei Aram, der amüsiert beobachtete, wie sie den Kofferraum öffnete, um die Päckchen herauszuholen. Es war ihr unendlich peinlich. Sofort, nachdem sie den Kofferraum wieder zugeknallt hatte, fiel ihr ein, dass sie noch ihre weißen Sneakers trug. Oh nein, wie sehr konnte man sich denn noch zum Narren machen?

Seufzend öffnete sie den Kofferraum erneut und wechselte die Schuhe, auch wenn ihre schwarzen Pumps mit den Zweizentimeterabsätzen kaum für die schicke Party ihrer Freunde geeignet waren.

Gleich darauf stand sie wieder am Fahrstuhl, wo Aram auf sie gewartet hatte. Unter einen Arm hatte sie sich die Päckchen geklemmt, und sie tat so, als würde sie auf dem Smartphone Mails checken. Zu ihrer Überraschung bot Aram ihr nicht an, die Geschenke zu tragen. Er stieg noch nicht einmal zu ihr in den Lift, sondern wartete, bis sich die Türen hinter ihr geschlossen hatten. Die ganze Zeit umspielte ein seltsames Lächeln seine Lippen.

Als Johara sie oben empfing, waren Kanzas Nerven zum Zerreißen gespannt. Nur so war es zu erklären, dass sie das Gefühl hatte, ihre Freundin sei irgendwie enttäuscht. Dabei wusste sie doch bereits, dass Kanza die Akte nicht gefunden hatte.

Dann wurde sie von Shaheen und Gharam begrüßt, und es galt, die Geschenke auszupacken. Als es klingelte, eilte Johara davon. Kanza war sicher, dass es sich bei dem neuen Gast um Aram handeln musste. Trotzdem bekam sie Herzklopfen.

Ya Ullah – warum ließ sie es zu, dass dieser Mistkerl mit ihren Gefühlen spielte?

Um nicht völlig die Nerven zu verlieren, konzentrierte sie sich auf Shaheen und Gharam, doch kurze Zeit später entschuldigte sich Shaheen und nahm seine kleine Tochter mit, um seinen besten Freund zu begrüßen. Fast hätte Kanza ihm gesagt, dass Aram nur gekommen war, um sie zu ärgern, und nicht, um seine Schwester und deren Familie zu besuchen. Zu gern hätte sie gewusst, womit sich Aram die Freundschaft eines so netten, umgänglichen, anständigen Menschen wie Shaheen verdient hatte.

Stattdessen zwang sie sich, hinüber in den Salon zu gehen und sich unter die anderen Gäste zu mischen. Alles war besser, als noch einmal in die Nähe von Aram Nazaryan zu gelangen.

Überrascht stellte sie fest, dass er ihre Nähe keineswegs suchte. Er beobachtete sie ständig, aber er ließ sie in Ruhe. Endlich entspannte sie sich ein wenig. Wahrscheinlich war sein Interesse an ihr bereits wieder erloschen.

Irgendwann kam Johara zu ihr und bat sie, mit ins Wohnzimmer zu kommen und ihr zu helfen, das Spielzeug-Pferdegestüt, das sie Gharam geschenkt hatte, wieder abzuräumen, da die Kleine inzwischen dabei sei, alles auseinanderzunehmen. Mit ihren zweieinhalb Jahren sah Gharam ihrem Onkel Aram bereits unglaublich ähnlich, fiel Kanza plötzlich auf.

Als sie mit dem Aufräumen fast fertig war, spürte sie plötzlich, dass noch jemand im Zimmer war. Natürlich – es war Aram. Seine tiefe, samtweiche Stimme bewirkte, dass sich ihr Puls beschleunigte, und sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, was er gerade gesagt hatte.

„Ich bitte um die Wiederaufnahme meines Verfahrens.“

Da sie nicht reagierte und sich auch nicht zu ihm umdrehte, kam Aram nun zu ihr, und obwohl er mehrere Meter von ihr entfernt war, hatte sie das Gefühl, der Raum sei kleiner und enger geworden.

Jedes Mal, wenn sie ihn sah, schockierte es sie, wie unglaublich schön er war. Sie war siebzehn Jahre alt gewesen, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, und schon damals war sie fasziniert von ihm gewesen. Aram war nicht nur schön, er wirkte auch ungezähmt, sexy, dunkel und geheimnisvoll, wie ein Pirat aus dem Märchen.

Unglaublich, dass er Joharas Bruder war. Beide waren atemberaubend schön, aber während Johara engelhaft blond war, mit dunklen Augen und heller Haut, war Aram ihr genaues Gegenteil. Nachdem Kanza beide Eltern kennengelernt hatte, wusste sie, dass diese ihren Kindern nur das Beste vererbt hatten.

Aram hatte tiefblaue Augen, blauer noch als die seiner französischen Mutter. Auch seine hohe Gestalt hatte er von seiner Mutter, während seine Hautfarbe etwas heller war als die seines armenisch-amerikanischen Vaters. Von diesem stammten ganz offensichtlich das rabenschwarze, dichte Haar und der muskulöse Körperbau.

Wie konnte ein Mensch nur so männlich-dynamisch und gleichzeitig so elegant und kultiviert aussehen? Die Mischung war unbeschreiblich aufregend. Anziehend. Verführerisch.

Als er jetzt lässig seine Hände in die Hosentaschen schob, spannte sich sein cremefarbenes Hemd über der muskulösen Brust. Lächelnd erläuterte er seine vorige Bitte. „Ich erkläre hiermit, dass die Anklage gegen mich nicht gerechtfertigt ist.“

Endlich fand Kanza ihre Stimme wieder. „Ich behaupte dagegen, dass Ihre Verbrechen bisher nicht nur ungesühnt sind, sondern Ihnen auch in widerwärtiger Weise zum Vorteil gereicht haben.“

„Wie kommen Sie darauf, meine erfolgreiche Karriere mit meinen angeblichen Missetaten in Verbindung zu bringen?“

„Weil Ihre Mittel dieselben waren, ganz einfach.“

„Das können Sie nicht beweisen. Weil es nämlich nicht stimmt.“

„Was wollen Sie eigentlich? Freispruch aus Mangel an Beweisen oder einen Freispruch erster Klasse, weil es keine Missetaten gegeben hat?“

„Von einem Freispruch erster Klasse wage ich gar nicht zu träumen. Alles, was ich verlange, ist, dass Sie mein Plädoyer anhören, da ich bisher noch keine Gelegenheit hatte, meine Sicht der Dinge darzulegen.“

„Wieso sollte ich Sie anhören, wenn Sie Ihren Opfern dasselbe stets verweigert haben?“

In seine Augen trat ein amüsiertes Funkeln. „Mit Opfer meinen Sie Maysoon, nehme ich an.“

„Unter anderem, da ich ihren Fall aus nächster Nähe mitbekommen habe. Über die anderen maße ich mir kein Urteil an, da ich diese Geschichten nur aus zweiter Hand kenne.“

Er wirkte überrascht. „Sehr klug von Ihnen.“ Als er ihren erbosten Blick sah, fügte er hinzu: „Nein, ich meine es ernst. Normalerweise ist es so, dass eine persönliche Abneigung dazu führt, alles an der anderen Person zu verurteilen, ohne die Hintergründe zu kennen. Das ist unfair.“

„Mich zu loben, hilft Ihnen auch nicht weiter“, gab Kanza zurück.

„Sie wollen mein Plädoyer nicht hören?“

„Nein. Denn Sie verdienen keinen Freispruch, weder erster noch letzter Klasse.“ Er wollte etwas erwidern, doch sie hob abwehrend die Hand. „Meinen Sie nicht, dass Sie den Spaß, den Sie sich erlauben, jetzt weit genug getrieben haben?“

„Welchen Spaß“, fragte er verblüfft.

„Hören Sie auf damit“, fauchte sie.

„Womit? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Helfen Sie mir.“

„Ihnen helfen? Das Einzige, was Ihnen hilft, ist ein gezielter Schlag auf Ihre perfekte Nase, aber dazu sehe ich mich leider außerstande.“

Aram brach in lautes Gelächter aus, was Kanza Gelegenheit verschaffte, seine blendend weißen Zähne zu bewundern.

„Keine Sorge“, meinte er, als er sich wieder beruhigt hatte. „Ihre verbalen Attacken sind mindestens genauso effektiv. Wenn Ihre Blicke töten könnten …“

„Sie sind offenbar immun dagegen“, sagte Kanza verärgert. „Sonst lägen Sie bereits leblos auf diesem Teppich da.“

Wieder lachte er. „Da ich aber noch äußerst lebendig bin, schlage ich vor, wir gehen zurück auf die Party. Ich hole uns etwas zu trinken, und dann reden wir über Möglichkeiten, wie Sie Ihre Meinung über mich ändern könnten.“

„Damit ich Sie nicht mehr unausstehlich, sondern absolut widerlich finde?“

„Wer weiß? Vielleicht schaffe ich es ja, an Ihren Gerechtigkeitssinn zu appellieren, und Sie finden heraus, dass Sie mich ganz falsch eingeschätzt haben?“

„Oder ganz richtig“, erwiderte sie heftig.

„Schauen wir mal“, schlug er lächelnd vor.

Ihr Herz klopfte, doch sie hob kampfeslustig das Kinn. „Genau. Schauen wir mal, ob ich dabei nicht entdecke, wo sich Ihre Achillesferse versteckt.“

„Ich wüsste nicht, dass ich so etwas besitze“, erwiderte er amüsiert. „Würden Sie mich vernichten, wenn Sie wüssten, wo ich verwundbar bin?“

Sie gönnte ihm einen vernichtenden Blick, doch das wirkte bei ihm nicht, wie sie mittlerweile nur zu genau wusste. Einen Moment lang sah sie ihm forschend in die türkisblauen Augen, doch sie bereute es sofort, denn was sie darin las, verwirrte sie und machte sie zugleich wütend.

Seufzend und um Fassung bemüht, sagte sie: „Nein. Mir würde es reichen, zu wissen, dass Sie verwundbar sind. Eventuell würde ich meine Erkenntnisse dazu nutzen, Sie in die Flucht zu schlagen.“

Er grinste. „Ich flüchte nie.“

„Nicht einmal, wenn Vernichtung droht?“

„Im Gegenteil. Ich würde mich freuen, ein paar neue Erfahrungen zu machen. Nutzen Sie meine Schwachstelle aus.“

„Wow. Sie sind offenbar so stumpf geworden, dass Ihnen nur noch Gewalt irgendwelche Empfindungen verschafft.“

„Wie gut Sie mich analysieren“, gab er ironisch zurück. „Finden Sie heraus, ob es stimmt.“

Kanza war klar, dass Aram nicht aufhören würde, sie herauszufordern, bis sie nachgab und sein Gerichtsverfahren, wie er es nannte, wieder aufnahm. Wenn sie sich an einem anderen Ort befunden hätten, dann hätte sie ihn einfach stehen lassen. Doch hier, auf Joharas Party, durfte sie keinen Eklat provozieren, auch wenn sie annahm, dass er ihre Skrupel schamlos ausnutzte.

Sie konfrontierte ihn mit dieser Ansicht. „Sie gehen davon aus, dass ich hier um Joharas und Shaheens willen kein Aufsehen erregen werde, nicht wahr?“

Sein Unschuldsblick sprach Bände. „Ich dachte eher, dass Sie der Typ Frau sind, der es egal ist, was andere Leute von ihr denken.“

„Was mich persönlich betrifft, stimmt das auch. Aber wenn meine Handlungsweise Menschen in Schwierigkeiten bringt, die mir nahestehen, verhalte ich mich dementsprechend. Wenn ich jetzt gehe, werden Sie mir so auffällig folgen, dass alle Gäste neugierig werden, was los ist. Damit würde ich die Party ruinieren.“ Ein Gedanke blitzte auf. „Ich frage mich mittlerweile wirklich, ob Sie überhaupt eingeladen waren. Bestimmt haben Sie sich schon oft danebenbenommen.“

„Sehen Sie“, entgegnete er triumphierend. „Gerade haben Sie Ihre Meinung darüber geändert, was meine Einladung zu dieser Party betrifft. Vielleicht ändern Sie dann auch Ihre Meinung über mich, wenn ich eine Chance bekomme, mich zu verteidigen?“

„Meine Meinung über Sie wird mit jeder Minute schlechter, die ich in Ihrer Gesellschaft verbringe.“

„Was für ein kleines Biest Sie doch sind“, erwiderte er grinsend.

„Sie machen sich schon wieder über meine Körpergröße lustig“, beschwerte sie sich.

„Nachdem Sie mich vorhin wegen meiner beschimpft haben“, antwortete er gelassen. „Dann haben Sie sich auch noch über mein Aussehen, meinen Charakter und meine Vergangenheit ausgelassen. Wer weiß, was ich mir als Nächstes anhören muss?“

Das war der Moment, in dem sie sich mit einem entnervten Seufzer umdrehte und aus dem Zimmer stürmte.

Drei Schritte hinter ihr folgte Aram. Sie konnte sein leises Lachen hören, während sie den eleganten, hell erleuchteten Salon durchquerte. Die anderen Gäste beachteten sie kaum und fixierten stattdessen das geschmeidige Raubtier, das ihr auf den Fersen blieb.

Entsetzt merkte Kanza, dass Aram und sie nun doch eine Szene verursachten. Spontan flüchtete sie auf die Terrasse, von der aus man einen grandiosen Blick über Manhattan hatte. Unten lag der Central Park, während die Lichter der Stadt im Hintergrund wie Diamanten glitzerten. Kanza blieb am Geländer stehen, sah den Mond leuchten und fröstelte in der kühlen Septemberbrise. Doch selbst Erfrieren war ihr lieber, als allen Gästen ein Schauspiel zu bieten.

Außer ihr hatten sich nur ein paar Raucher auf die Terrasse verirrt, doch selbst die glotzten unverhohlen, als Aram zu ihr trat.

Als er sah, dass ihr kalt war, sagte er: „Darf ich Ihnen mein Jackett anbieten, oder reißen Sie mir dann wieder den Kopf ab?“

„Wieder? Ihr Kopf sitzt doch noch dort, wo er hingehört“, antwortete sie. „Wenn Sie wollen, dass das so bleibt, passen Sie besser auf, was Sie sagen.“

„Sie sind also eine jener Zicken, die lieber erfrieren als eine höfliche Geste zu akzeptieren“, bemerkte er sarkastisch.

„Und Sie sind einer von den lästigen Typen, vor denen Frauen in die Kälte flüchten müssen. Dann können Sie ihnen Ihr Jackett anbieten und so tun, als wollten Sie bloß nett sein.“

„Wenn Sie nicht nach draußen gestürmt wären, dann würde ich mich jetzt im Salon amüsieren, statt zu erfrieren“, gab er zurück.

„Warum spielen Sie dann den Supermann und bieten mir Ihr Jackett an?“

„Lassen Sie uns einfach einen Kompromiss schließen und dort hinübergehen. Da ist es nicht so zugig.“

„Bilden Sie sich bloß nicht ein, Sie seien clever“, fauchte Kanza, doch sie tat, was er vorgeschlagen hatte, und ging voraus.

„Aber nicht doch“, erwiderte Aram, und sie konnte hören, dass er lächelte. „Ich habe nur ein physikalisches Phänomen beschrieben.“

Tatsächlich ließ der Wind nach, sobald sie den anderen Teil der Terrasse erreicht hatten. Kanza war so erhitzt von der Auseinandersetzung, dass sie für die kühle Septemberluft nun fast dankbar war.

Sie drehte sich zu Aram um. „Halt. Stehen bleiben.“ Er gehorchte. „So schirmen Sie mich perfekt von jedem Luftzug ab. Dann ist Ihre Statur wenigstens zu etwas nütze.“

„Aha. Mein Jackett lehnen Sie ab, aber als Windschutz darf ich dienen?“

„Genau. Ich will hier nicht erfrieren, nur weil Sie mich in diese unmögliche Situation gebracht haben.“

„Wollen Sie behaupten, ich wäre schuld, dass Sie hier draußen sind?“

„Natürlich.“

„Und wie soll ich das zuwege gebracht haben?“

„Sie haben da drin im Salon eine Szene provoziert. Alle haben neugierig und neidisch herübergestarrt.“

„Neidisch?“

„Alle Frauen wären liebend gern an meiner Stelle gewesen“, erklärte Kanza. „Jede von denen hätte gern eine Privataudienz bei Ihnen.“ Sie seufzte genervt. „Wenn die wüssten, dass ich auf dieses Privileg nur zu gern verzichten würde.“

„Dieses Privileg ist an Ihre Person gebunden“, sagte Aram lächelnd. „Sie werden mich nicht los. Darf ich Ihnen jetzt vielleicht etwas zu trinken holen?“

„Ich finde, dass ich das tun sollte.“

Er nickte. „Klar, warum nicht.“

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Autor

Olivia Gates
<p>Olivia Gates war Sängerin, Malerin, Modedesignerin, Ehefrau, Mutter – oh und auch Ärztin. Sie ist immer noch all das, auch wenn das Singen, Designen und Malen etwas in den Hintergrund getreten ist, während ihre Fähigkeiten als Ehefrau, Mutter und Ärztin in den Vordergrund gerückt sind. Sie fragen sich jetzt bestimmt...
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