Betör mich, verführ mich!

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Dieser Auftrag wird eine Herausforderung! Eigentlich soll Firmenerbin Marlowe für ihren Vater nur prüfen, ob sich eine Investition in die Destillerie von Law Renaud lohnen könnte. Doch Laws strotzende Kraft und seine raue, ungezähmte Männlichkeit betören die sonst so kühle Controllerin derart, dass sie sich kaum auf ihre Aufgabe konzentrieren kann. Als sie wegen eines Sturms auf dem Anwesen festsitzt, wird die Versuchung übermächtig und entfacht zwischen Marlowe und Law eine Leidenschaft, die heißer brennt als Laws hochprozentiger Whiskey …


  • Erscheinungstag 14.02.2023
  • Bandnummer 2277
  • ISBN / Artikelnummer 0803232277
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

Marlowe Kane stand auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage von Fair Weather Hall. Ihr Gesicht kam ihr heiß vor, während sie den kühlen Marmor des Geländers unter ihren Fingern spürte. Bereits in ihrer Kindheit hatte sie herausgefunden, dass dies der beste Ort war, um unbemerkt die rauschenden Partys ihrer Eltern auszuspionieren. Damals war sie klein genug gewesen, um durch die Zwischenräume der geschwungenen Säulen hindurchzuspähen, in der Hoffnung, einen Blick auf einen verstohlenen Kuss werfen zu können. Oder auf ein Pärchen, das eng umschlungen tanzte.

Was sie jetzt sah, machte sie jedoch nur wütend.

Neil Campbell, ihren früheren Verlobten.

Zusammen mit der eintreffenden Gästeschar drängte er sich – Champagner schlürfend und Appetithäppchen mampfend – durch den geräumigen Korridor in Richtung des Ballsaals. Dort fand nämlich das exklusive Event des heutigen Abends statt, das ihr Vater für gegenwärtige und zukünftige Geschäftspartner veranstalten ließ. Stundenlang würden sich die Gäste dort Kaviar und Kanapees schmecken lassen, bevor man zu Scotch, Zigarren und gegenseitiger Beweihräucherung überging.

Männer unter sich, wie Marlowe einmal mehr verärgert dachte.

Weshalb dazu jedoch auch Neil dazu eingeladen worden war, nach alldem, was er ihr angetan hatte, verstand sie beim besten Willen nicht.

Inständig wünschte sie sich, mit Samuel und Mason sprechen zu können.

Ihre Zwillingsbrüder waren nur ein Jahr älter als sie und ihre selbsternannten Beschützer – wobei sich ihre Methoden erheblich voneinander unterschieden.

Samuel bevorzugte elegant und effektiv geführte Wortduelle, während Mason es nicht minder erfolgreich vorzog, die Fäuste sprechen zu lassen.

Doch steckte Samuel mitten in den Hochzeitsvorbereitungen mit seiner großen Liebe aus Highschool-Zeiten – und Mason genoss das Liebesglück mit der Assistentin seines Vaters. Aus diesem Grund glänzten die beiden Brüder am heutigen Abend durch Abwesenheit.

Marlowe lockerte den festen Griff um die kühle Balustrade und begann, die Treppe hinabzugehen.

Mit jedem Schritt erinnerte sie sich an frühere Anlässe, zu denen sie mehr oder weniger enthusiastisch diese Stufen hinuntergegangen war.

Weihnachtsmorgen. Highschool-Verabredungen. Polo-Turniere. Die Beerdigung ihrer Mutter. Die Silvesterparty vor zwei Jahren, auf der sie Neil Campbell kennengelernt hatte.

In seinem Smoking hatte er äußerst attraktiv ausgesehen. Sein dunkles Haar schimmerte sanft im Mondlicht, und die leicht geröteten hohen Wangenknochen und die Spitze seiner aristokratisch geformten Nase wiesen darauf hin, dass er sich an jenem Abend bereits eine Weile draußen aufgehalten hatte, als Marlowe auf ihn traf.

Bevor der Abend sich dem Ende entgegenneigte, schütteten sie einander ihre Herzen über ihre dominanten Väter aus – die alte Freunde waren, wie sich dabei herausstellte.

Diese erste Begegnung führte zu einem ersten Date und kurz darauf zu einer romantischen Beziehung, die ihre Väter aus ganzem Herzen bejahten. Kurz darauf waren sie verlobt. Damals war Neil ganz anders gewesen. Spontan. Romantisch. Abenteuerlustig. Beinahe verwegen.

Doch als ihr Vater, der Präsident des milliardenschweren Familienunternehmens Kane Foods International, den jungen Mann in seine Obhut nahm, veränderte sich etwas. Marlowe hatte ihren Verlobten nicht darum beneidet, von ihrem Vater unter die Fittiche genommen zu werden. Doch strebte sie schon ihr ganzes Leben nach dem, was Neil so freizügig angeboten wurde.

Die Anerkennung ihres Vaters.

Neil hatte es genossen, im Fokus dieses mächtigen Mannes zu stehen und schien sogar abhängig von dessen Wohlwollen und Aufmerksamkeit geworden zu sein.

Immer länger blieb er im Büro, immer schneller verlor er die Geduld, immer leidenschaftsloser wurden seine Küsse. Irgendwann hörte Marlowe auf, von einer Hochzeit mit ihm zu träumen und begann sich zu fragen, wann genau ihre Leidenschaft füreinander erloschen sein mochte.

Als dann herauskam, dass er der persönlichen Assistentin Parker Kanes hinterherspioniert und ihr verstörende Textnachrichten geschrieben hatte, hatte Neil sich selbst ins Abseits befördert und die Gunst ihres Vaters verloren. Das war vor vier Wochen gewesen,

Was sie zu ihrer ursprünglichen Frage zurückbrachte.

Warum zur Hölle war Neil heute Abend hier?

Auf der untersten Treppenstufe angekommen, hielt Marlowe nach dem zinnfarbenen Haarschopf ihres Vaters inmitten der vorbeiströmenden Gäste Ausschau.

Vergebens.

Stattdessen entdeckte sie ihn.

Groß. Breitschultrig. Der Anzug, offensichtlich nicht maßgeschneidert, stand ihm jedoch ausgesprochen gut. Sein Gesicht war sonnengebräunt, und aufmerksam musterte er Marlowe mit seinen kaffeebraunen Augen.

Sie merkte, wie ihre Wangen vor Empörung noch heißer wurden. Männer mochten es, sie anzusehen, das war sie gewohnt. Schon seit vielen Jahre ertrug sie diese übergriffigen Blicke auf Firmen-Events und Cocktailpartys.

Doch ein Mann, der es so unverschämt und unverhohlen tat, war ihr noch nie begegnet.

Dabei war er äußerlich das Gegenteil von den Männern, mit denen sie sich normalerweise abgab.

Vertrauenswürdig? Kaum.

Dieser unverkennbare Schlafzimmerblick verlieh ihm etwas Verruchtes und Verwegenes. Er verkörperte die Art Bad Boy, mit denen man auf dem Rücksitz eines Autos landete. Die Art Bad Boy, vor der Mütter ihre Töchter warnen.

Hübsch? Ganz und gar nicht – jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne.

Sein markantes Kinn, die kantigen Wangenknochen und die männliche Nase, der man ansah, dass sie schon einige Male gebrochen worden sein musste, ließen seine Gesichtszüge sogar beinahe ein wenig asymmetrisch wirken.

Attraktiv? Sein düsterer Gesichtsausdruck ließ ihn unnahbar wirken, fast so, als wollte er niemanden zu dicht an sich herankommen lassen.

Zusammengefasst ging von ihm eine eigentümlich anziehende und zugleich bedrohliche Ausstrahlung aus, die Marlowe anzog. Sie konnte ihren Blick einfach nicht von diesem Fremden abwenden.

Ihm blieb das offensichtlich nicht verborgen, und er schien es zu genießen.

Ohne den Augenkontakt mit ihr zu unterbrechen, hob er das schwere Kristallglas in seiner Hand und trank einen Schluck.

Unwillkürlich stellte sie sich vor, dass er nicht die bernsteinfarbene Flüssigkeit, sondern sie schmeckte.

Mit so viel gelassener Überheblichkeit, die sie in diesem Moment aufbringen konnte, streckte Marlowe das Kinn vor und riss den Blick von ihm los, bevor sie die letzte Treppenstufe hinabstieg und sich unter die Gäste mischte.

Dankbar nahm sie das Glas Champagner an, das ihr von einem Kellner auf einem Silbertablett angeboten wurde, und genoss die perlende Erfrischung.

„Nach dir habe ich gesucht“, sagte eine vertraute Stimme hinter ihr, und unwillkürlich zuckte Marlowe zusammen.

„Hallo, Neil.“ Die Finger fest um den Glasstiel geschlossen, drehte sie sich langsam zu ihrem Ex-Verlobten um.

Wie immer sah er hervorragend aus in seinem Anzug, der dunkelblau, gut geschnitten und zweifellos sündhaft teuer gewesen war. Doch im Gegensatz zu dem Mann, den Marlowe kurz zuvor noch betrachtet hatte, wirkte ihr Ex irgendwie zu gestylt mit seinen gezupften Augenbrauen, dem glänzenden Haar und einem Hemd, das so weiß war, dass es einen fast zum Blinzeln brachte.

„Überrascht es dich, mich hier zu sehen?“, erkundigte er sich amüsiert und trank einen Schluck Martini, wobei er eine kaum merkliche Grimasse schnitt.

Schon lange hegte Marlowe den stillen Verdacht, dass er Martinigläser lieber hielt, als aus ihnen zu trinken.

Überrascht ist nicht unbedingt das Wort, das ich wählen würde“, entgegnete sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Champagner in ihrem Glas zu.

„Da du ja nicht mehr auf meine Anrufe reagierst, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen, um mit dir zu sprechen.“ Er lächelte und entblößte dabei eine Reihe perfekt geformter und darüber hinaus blendend weißer Zähne.

„Und deswegen platzt du in ein Firmenkundenevent?“ Marlowe begann zu gehen und zwang Neil so dazu, ihr zu folgen, wenn er weiterreden wollte.

„Wer spricht denn hier von platzen? Ich bin auf Einladung meines Vaters hier und begleite ihn.“

Henry Campbell, geboren in London, furchtbar vornehm und Seniorpartner von Campbell Capital hatte sich mit Händen und Füßen gegen Marlowes Bestrebungen gesträubt, die Verlobung aufzulösen. Nach wie vor schien er weder im Geringsten an seinen Fähigkeiten als Investmentbanker noch an seiner Ehrbarkeit zu zweifeln.

„Dann solltest du ihm vielleicht auch Gesellschaft leisten“, schlug Marlowe vor und sah bedeutungsvoll zur Bar, an der sich Henry Campbell bei Anlässen wie diesen meist aufhielt.

Neil trat ihr in den Weg. „Ich muss mit dir sprechen.“

„Nein“, widersprach Marlowe und drängte sich an ihm vorbei. „Das musst du nicht.“

„Marlowe, bitte.“

Überrascht stellte sie fest, dass er so verzweifelt wie nie zuvor klang.

„Nur fünf Minuten von deiner Zeit“, bat Neil ernst. „Das ist alles, worum ich dich bitte.“

Zögernd sah sie unauffällig zu der Stelle, an der sie eben noch den geheimnisvollen Fremden entdeckt hatte. Zu ihrer Enttäuschung war er nicht mehr da. „In Ordnung“, gab sie schließlich nach.

Rasch führte Neil sie durch den Hauptkorridor zum Speisesaal, öffnete die Balkontür und schloss sie sorgfältig wieder, nachdem sie beide ins Freie getreten waren.

Marlowe stützte sich mit den Unterarmen auf der rauen Oberfläche der Ziegelmauer ab. Den Champagnerkelch in den Händen, betrachtete sie versonnen den Garten unter ihnen. Ihr Großvater hatte Fair Weather Hall Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbaut. Ein dichter Waldbestand säumte die riesigen Grünflächen des Anwesens und schirmte es so gegen die Außenwelt ab.

„Ist das nicht wunderschön?“ Ein paar Schritte von ihr entfernt war Neil stehengeblieben und sah hingerissen in den Sternenhimmel, als wären sie hier für ein romantisches Techtelmechtel.

„Weswegen wolltest du mich sprechen?“, fragte sie unbeirrt.

„Unseretwegen. Weswegen denn sonst?“

Sie seufzte. „Neil, es gibt kein uns mehr.“

Jetzt kam er auf sie zu und sah auf ihre Hand. „Wenn das stimmt, warum trägst du dann immer noch den Ring?“

Shit.

Marlowe war so überrascht gewesen, Neil heute Abend hier anzutreffen, dass sie an den Ring gar nicht mehr gedacht hatte. Sie trug ihn immer noch zu gesellschaftlichen Anlässen, um sich unerwünschte Annäherungsversuche vom Hals zu halten.

„Hier“, sagte sie und stellte das Glas beiseite, um den Ring abzustreifen und Neil hinzuhalten. „Du kannst ihn zurückhaben.“

Doch Neil strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich möchte nicht den Ring zurück, sondern dich.“

Sie zuckte zurück und schüttelte angewidert den Kopf. „Wie kannst du es wagen, auch nur daran zu denken? Nach all dem, was du getan hast?“

„Du willst also auf alles, was wir hatten, verzichten? Und das nur, weil ich die Assistentin deines Vaters mit ein paar anonymen Textnachrichten vor Mason gewarnt habe?“ Er lachte.

„Und du hast sie bis zu ihrem Haus verfolgt und beobachtet“, erinnerte ihn Marlowe.

Neil leerte sein Glas und stellte es auf einem Blumentopf. „Ich sage ja nicht, dass es richtig war, was ich getan habe. Ich habe nur versucht, auf jemanden aufzupassen, der sich in einer verletzlichen Position befindet.“

Nur mit Mühe unterdrückte Marlowe den beinahe überwältigenden Drang, die Augen zu verdrehen. „Falls es dich interessiert – ich bin durchaus vertraut mit dieser Art der Manipulation und des Schönredens. Mich führst du also nicht so leicht hinters Licht. Das solltest du bedenken, falls du beabsichtigst, mich zurückzugewinnen.“

Mit verschränkten Armen lehnte er sich neben Marlowe gegen die Balustrade. „Bist nicht eigentlich du diejenige gewesen, die sich anfänglich Sorgen wegen Mason gemacht hat?“

Das traf zu – zumindest teilweise. Sie hatte schon seit jeher einen besseren Draht zu Mason gehabt als zu Samuel. Als ihr Bruder immer öfter auf der Arbeit mit sorgfältig überdeckten blauen Flecken aufgetaucht war, war sie wirklich besorgt gewesen. Dieses Gefühl hatte sich verstärkt, als Mason einige größere Abbuchungen von seinem Girokonto vornahm, die sie nicht zuordnen konnte.

„Das gibt dir aber noch lange nicht das Recht, Auskünfte über unsere Privatfinanzen einzuholen oder Charlotte vor Mason zu warnen.“

„Das weiß ich doch.“ Beruhigend legte er eine Hand auf ihr Handgelenk. „Das war wirklich sehr töricht von mir. Ich habe mich da einfach zu sehr hineingesteigert.“

Wieder bot sie ihm den Ring an. „Ich auch.“

Frustriert sah er sie an. „Marlowe, das war doch immer unser Traum. Eine Familiendynastie. Die Kanes und die Campbells gemeinsam.“

„Davon hast zumindest du immer geträumt“, entgegnete sie. Für eine Weile hatte sie Neil sogar zugehört, wenn er von ihrer Traumhochzeit, den Reisen und ihren möglichen Kindern geredet hatte.

All das sollte Wirklichkeit werden, sobald er mithilfe ihres Vaters eine angemessene Position bei Kane Foods innehatte.

Doch der Hochzeitstermin war in immer weitere Ferne gerückt und hatte Marlowes Hoffnungen allmählich zunichte gemacht. Erst jetzt, als sie unmittelbar Zeugin der Hochzeitsvorbereitungen ihres Bruders wurde, erkannte sie, wie dumm es gewesen war, sich immer wieder vertrösten zu lassen.

„Nun nimm ihn schon“, drängte sie und streckte Neil auffordernd den Ring entgegen.

Er betrachtete das mit Diamanten umrandete Schmuckstück, das sternengleich auf ihrer ausgestreckten Handfläche funkelte. Der hoffnungsvolle Ausdruck in seinem Blick war plötzlich verschwunden, und kalt sah er Marlowe an. „Wie wäre es dann wenigstens mit einem Kuss zum Abschied?“

Erst jetzt erkannte Marlowe bestürzt, dass sie allein auf dieser Seite des Hauses waren. Während die Gäste im Speisesaal dinierten, konnte sie sich hier oben die Lunge aus dem Leib brüllen, ohne dass sie jemand hörte.

„Nein, Neil.“ Sie trat einen Schritt zurück.

„Weißt du nicht mehr, wie sehr dich das hier immer angemacht hat?“ Grob fasste er in ihr Haar und zog unsanft daran.

Marlowe stieß sich mit beiden Händen gegen seine Brust ab. „Neil, ich habe Nein …“

Der Kuss war nur kurz, jedoch von brutaler Härte. Schmerzhaft spürte sie seine Zähne an ihren Lippen aufschlagen, doch dann schrie Neil unvermittelt auf und wurde zurückgerissen.

Mit wild klopfendem Herzen betastete sie ihre Lippen und befürchtete beinahe, dort ihr Blut zu spüren. Als sie sich vergewissert hatte, dass dies nicht der Fall sah, blickte sie auf und erkannte den Grund für Neils Schmerzensschrei und sein abruptes Zurückweichen.

Er.

Der Mann, der sie angestarrt hatte.

Hier auf dem Balkon. Er hatte Neil an der Brust seines nun nicht mehr so tadellos sitzenden Hemdes gepackt und beugte sich mit erhobener Faust drohend über ihn. „Sie hat Nein gesagt“, sagte er mit leiser, leicht heiserer Stimme. „Verstehen Sie, was dieses Wort bedeutet?“ Dann hob er Marlowes ehemaligen Verlobten scheinbar mühelos ein Stück am Hemdkragen hoch, sodass nur noch die Spitzen seiner spiegelblank polierten Schuhe den Boden berührten.

„Ja“, stieß Neil mit panisch klingender Stimme aus. Er befürchtete wohl, jeden Moment über die Brüstung geworfen zu werden.

„Gut.“ Der Fremde lockerte seinen Griff ein wenig. „Gehen Sie jetzt freiwillig, oder soll ich Ihren adretten Arsch vom Balkon werfen?“

„Ich gehe ja schon.“ Neils Stimme war mittlerweile nur noch ein furchtsames Quietschen.

Erst jetzt lockerte der Mann den Griff. Neil machte einige Schritte, bevor er sein altes Selbstbewusstsein wiedererlangte. Nachdem er einen letzten bedeutsamen Blick in Marlowes Richtung geworfen hatte, verließ er den Balkon durch die Glastüren.

„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sich der Unbekannte und musterte Marlowe besorgt.

Mit zittrigen Händen strich sie ihr Haar glatt. „Ja.“

Der Mann quittierte ihre Antwort mit einem Stirnrunzeln. „Wirklich?“

Ein warmer Windhauch wehte den betörenden Duft von Rosen und Regen zu ihnen herüber. Wie überaus unpassend für diesen Moment.

„Ja, doch.“ Sie drehte sich um, um ihr Champagnerglas in die Hand zu nehmen. „Da Sie offensichtlich nicht zu den Geschäftsfreunden meines Vaters gehören, nehme ich an, dass Ihre Anwesenheit einem anderen Grund geschuldet ist, als mich zu stalken.“

Am liebsten hätte sie sich sofort auf die Zunge gebissen, denn in Situationen, in denen sie gedemütigt wurde, waren ihr ihre spitzen Bemerkungen schon öfter zum Verhängnis geworden.

„Davon einmal abgesehen, habe ich Sie gerade vor diesem Mistkerl gerettet habe, mit dem Sie verlobt sind“, erwiderte er unbeirrt.

„Gerettet?“, fragte sie entgeistert. „Entschuldigen Sie mal. Erst ziehen Sie mich drinnen förmlich mit Ihren Blicken aus, dann folgen Sie mir, um mich ungefragt zu retten. Wissen Sie, mit den Egos selbstverliebter Milliardäre komme ich ja inzwischen ziemlich gut zurecht, aber mit selbsternannten …“ Sie suchte nach einem passenden Wort. „… Rambos habe ich nicht so viel Erfahrung.“

Sein Hemd spannte sich über seine gewaltigen Bizeps, als er die Arme vor der Brust verschränkte. „Zunächst einmal müssen Sie entweder blind sein oder unter Drogen stehen, wenn Sie nicht mehr wissen, wie Sie mich angestarrt haben. Und wollen Sie mir wirklich weismachen, ich hätte Sie mit diesem Neil allein lassen sollen?“ Er sprach den Namen so verächtlich aus, als würde es sich um eine ätzende Flüssigkeit handeln.

„Ich bin es einfach leid, von Männern in unangenehme Situationen gebracht zu werden, aus der mich andere Männer retten wollen“, erwiderte sie und ignorierte den ersten Teil seiner Aussage.

Er hatte natürlich recht. Sie hatte ihn angestarrt.

Tat es sogar immer noch. Trotz der erniedrigenden Situation fand sie es immer noch so gut wie unmöglich, den Blick von diesem Mann abzuwenden. Fasziniert bemerkte sie die kleine, silbrig schimmernde Narbe über seiner rechten Augenbraue. Das kleine Grübchen an seinem Wangenknochen. Die unverschämt langen dunklen Wimpern. Seinen muskulösen, starken Körperbau, der ihr Sicherheit gab.

An ihren nackten Armen spürte sie die Wärme seines männlichen Körpers, die den Stoff seines Anzugshemds durchdrang.

„Wissen Sie was?“, fragte er. „Ich weiß sehr gut, dass ein Raubtier seine Beute von der Gruppe trennt, bevor es zuschlägt. Ich weiß auch, dass Narzissten nur zu gerne die Verantwortung für ihr miserables Verhalten auf andere abwälzen. Ich weiß, dass jeder Mann verprügelt gehört, der seine Hand gegen eine Frau erhebt. Und ich weiß, dass keine Schönheit der Welt vertuschen kann, wenn ein Mensch sich für etwas Besseres hält, nur weil er mit einem verdammten Silberlöffel im Mund geboren wurde – den er sich im Übrigen dort hinschieben kann, wo die Sonne niemals scheint.“

Schockiert sah Marlowe ihn an und wusste nicht, was sie daraufhin erwidern sollte. Alle möglichen Erwiderungen kamen ihr mit einem Mal viel zu vorhersehbar und klischeehaft vor.

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, bückte der Mann sich und hob den Verlobungsring auf, von dem sie nicht einmal bemerkt hatte, dass sie ihn fallengelassen hatte. Er nahm ihre Hand und legte den Ring auf ihre Handfläche, bevor er mit seinen starken Fingern über ihre strich, bis sie eine Faust bildeten. Deutlich bemerkte sie die scharfen Kanten der Diamanten an ihrer Handinnenfläche. Einen Moment länger als notwendig hielt er ihre Hand auf diese Weise umklammert und sah ihr unverwandt in die Augen.

Ein ahnungsvolles Kribbeln ließ Marlowe wohlig erschaudern. Es breitete sich von ihrem Armen über ihren ganzen Körper aus, ließ jeden Nerv in ihr voller Vorfreude vibrieren und beschleunigte ihren Herzschlag.

Als er sie losließ, kam sie sich unerklärlicherweise schlagartig verloren vor und begann, trotz des warmen Spätsommerabends, zu frösteln.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

Seine verführerisch heisere Stimme ging ihr auch dann nicht aus dem Kopf, nachdem er sie schon längst auf dem Balkon allein gelassen hatte.

Marlowe wusste nicht, was sie mehr überraschte.

Dass sie diesem Mann gestattet hatte, das letzte Wort zu haben, oder dass sie mehr von ihm hören wollte.

Mehr von ihm haben wollte.

2. KAPITEL

Marlowe Kane.

Laurent „Law“ Renaud saß an dem Schreibtisch auf dem Heuboden, der zu ihrem vorübergehenden Büro geworden war, seitdem sein Bruder und er die alten Scheune in das erste Gebäude der 4 Thieves Destillery umbauten. Auf dem Bildschirm seines Laptops wurden die Fotoergebnisse von Laurents Google-Suche gezeigt.

Marlowe in einem Hosenanzug mit ihrem Vater und ihren Brüdern im Hauptbüro von Kane Foods. Marlowe in einem schwarzen Designerkleid bei einer Benefizveranstaltung der Krebsforschung. Marlowe bäuchlings auf dem Sonnendeck einer Yacht, die Träger ihres Bikinioberteils nach unten gezogen – zweifellos das Foto eines Paparazzos, als Marlowe mit einem schwerreichen europäischen Medienmogul liiert gewesen war, wie Law wenig begeistert las.

Jedoch hatte es ihm dieses Bild von allen am meisten angetan, und lange betrachtete er es. Er stellte sich vor, wie er über ihren perfekt geformten Rücken und über ihre Schultern strich, die selbst dann angespannt waren, wenn Marlowe sich eigentlich entspannen sollte.

Ein schriller Pfiff erklang, und hastig klappte Law den Laptop zu. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass sein Bruder Remy mit dem zufriedenen Gesichtsausdruck einer satten Katze auf der Leiter emporgekommen war und einen Stapel Bestellformulare in der Hand hielt.

„Na, wer ist denn das Opfer deines Cyberstalkings, das du da gerade vor mir verbergen willst?“, fragte Remy und legte die Zettel mit den Bestellungen auf Laws Schreibtisch.

Als dritter von Charles „Zap“ Renauds vier Söhnen hatte Remy das kohlrabenschwarze Haar und die stechend grauen Augen des Vaters geerbt. Er war nicht ganz so groß wie Law, jedoch genauso muskulös und kräftig und zog bevorzugt Jeans und T-Shirts an.

„Niemand Wichtiges“, erwiderte Law verstimmt.

„Dann macht es dir ja auch nichts aus, wenn ich nachsehe.“ Remy beugte sich vor und öffnete den Laptop. Anerkennend zog er die Augenbrauen beim Anblick von Marlowe hoch.

Wieder verspürte Law dieses Verlangen in sich erwachen, das er schon empfunden hatte, als er sie in Fair Weather Hall zum ersten Mal gesehen hatte.

Diese hohen Wangenknochen. Die erhabene Art, wie sie auf die Welt herabblickte. Die blassblauen Augen, die ihn an Polareis denken ließen. Das platinblonde, sanft schimmernde kinnlange Haar. Die sinnlichen Rundungen ihres Körpers, an die sich das silberglänzende Material ihres Kleides schmiegte.

Sie war ihm an jenem Abend wie eine Walküre vorgekommen, eine Göttin des Kampfes.

Wie erstarrt hatte Law sie angesehen und den Blick nicht von ihr abwenden können. Die Art, wie sie seinen Blick herausfordernd erwiderte, hatte sein Verlangen nur noch mehr entfacht.

„Nicht gerade dein Typ, oder?“, meinte Remy und deutete auf den Bildschirm. „Aber sie hat was von einer Eiskönigin – schön und unnahbar und … Verdammt!“ Sein Bruder machte einen Schritt zurück, als hätte er sich verbrannt. „Sie ist ja eine Kane!“

„Ja“, erwiderte Law.

„Verdammt!“, wiederholte sich sein Bruder, bevor er sich wieder vorbeugte und sich mit der Maus durch die Bilder scrollte, die sein Bruder den ganzen Morgen betrachtet hatte, obwohl er eigentlich hätte arbeiten sollen. „Ist sie noch Single?“

Law schlug die Hand seines Bruders beiseite. „Das geht dich nichts an.“

Im Grunde wusste er die Antwort auf diese Frage selbst nicht – auch nicht nach dem Vorfall, den er am Abend zuvor beobachtet hatte. Ihm war sofort an Marlowes Körpersprache aufgefallen, wie unbehaglich sie sich in Neils Gegenwart gefühlt hatte. Deswegen war er den beiden gefolgt und hatte sie mit sicherem Abstand durch die Balkontür beobachtet.

Nur mit großer Willensanstrengung hatte er sich davon abhalten können, den widerlichen Typen nicht einfach windelweich zu schlagen.

„Wie ist es denn gestern Abend gelaufen?“ Remy setzte sich in den Stuhl am Schreibtisch, von dem aus man einen Blick auf die Kupferkessel hinter der Holzbalustrade hatte, die Law aus dem alten Holz einer Kirche auf ihrem Grundstück gebaut hatte. Sie hatten das Anwesen erworben, nachdem sie monatelang ununterbrochen auf einer Offshore-Ölplattform gearbeitet und jeden Penny gespart hatten, um ihren Traum wahrwerden zu lassen. Das zwanzig Morgen große Grundstück war ihre erste Investition in die Gründung einer Destillerie gewesen. Sie hatten, wie bei den Renauds üblich, nichts vergeudet und alles genutzt, was sie dort vorgefunden hatten.

Ihr Vater hatte seinen vier Söhnen nämlich von Kindesbeinen eingebläut, nie etwas zu verschwenden.

Ihre Mutter hatte sie verlassen, als Law zwölf gewesen war, und es war nicht einfach für ihren Vater gewesen, die Familie allein durchzubringen. Geld war Mangelware gewesen und Essen manchmal auch, weswegen sie gelegentlich kreative Methoden angewandt hatten, um alle satt zu bekommen. Diese Kreativität hatte das Leben von Law und seinen Brüdern nicht unbedingt nur positiv beeinflusst und sogar vor dem Gefängnis nicht haltgemacht.

Allerdings war Law als jüngster seiner Geschwister stolz darauf, als Einziger von ihnen nie in Konflikt mit dem Gesetz geraten zu sein. Offiziell zumindest nicht. Vor zehn Jahren war ihr Vater gestorben, und die Destillerie schrieb inzwischen schwarze Zahlen – es schien, als sei das Glück letztendlich doch bei den Renauds eingezogen. 

Bis vor Kurzem jedenfalls war Law sich dessen sicher gewesen.

Achselzuckend streckte Law die Beine aus. „Er will jemanden hierherschicken, der ein Audit durchführt und unsere Zahlen überprüft.“

Das Gespräch mit Parker Kane war kurz und vorhersehbar gewesen. Nachdem Law den Balkon verlassen und die Nase voll von all den aufgeblasenen Snobs hatte, war er dem Patriarchen der Familie Kane über den Weg gelaufen. Dieser erinnerte Law daran, wie glücklich sich die 4 Thieves Destillery schätzen konnte, für eine Partnerschaft mit Kane Foods in Betracht gezogen zu werden.

„Haben wir ihnen nicht schon alles elektronisch übermittelt, was sie wissen wollten?“, fragte Remy angespannt.

Autor

Cynthia St Aubin
<p>Cynthia St. Aubin schrieb ihr erstes Theaterstück im Alter von acht Jahren und ließ es von ihren Brüdern für den Eintrittspreis von Kaugummipackungen aufführen. Ein Schnäppchen, wenn man bedenkt, dass sie die Verpackungen im Voraus zur Verfügung stellte. Als sie groß genug war, um die oberste Schublade der elterlichen Kommode...
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