Bianca Exklusiv Band 363

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LASS DIE LIEBE NICHT WARTEN von VICTORIA PADE
Zwei Menschen sind eine Familie! Davon ist Jenna überzeugt, seit sie ihre Nichte adoptiert hat. Wenn es ihr jetzt noch gelingt, ihre Farm zu retten, dann wäre alles gut. Aber dafür braucht sie den attraktiven Ian Kincaid. Und der findet, dass zu einer Familie drei gehören …

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Erst zärtlich, dann widerspenstig: Mit ihrem Verhalten bringt Rylie den Anwalt Noah Prescott völlig aus dem Konzept. Doch auch wenn ihn ihr intensiver Blick im Innersten trifft, sollte er besser vorsichtig sein. Denn er hat sofort gemerkt, dass sie irgendetwas vor ihm verbirgt …

ZARTE KÜSSE IM KERZENSCHEIN von GINA WILKINS
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  • Erscheinungstag 23.06.2023
  • Bandnummer 363
  • ISBN / Artikelnummer 0852230363
  • Seitenanzahl 512

Leseprobe

Victoria Pade, Helen R. Myers, Gina Wilkins

BIANCA EXKLUSIV BAND 363

1. KAPITEL

„Oh, sieh mal! Hier hat meine Mutter also J. J.s Prinzessinnenkostüm versteckt!“, rief Jenna Bowen, als sie das kleine, mit Rüschen verzierte Kostüm ganz hinten in dem Flurschrank entdeckte, den sie gerade ausräumte.

„An das Halloween erinnere ich mich“, sagte Meg Perry-McKendrick.

Jenna kniete vor dem Schrank, während ihre beste Freundin seit Kindertagen ihr eine Mülltüte und einen Karton hinhielt, damit Jenna entscheiden konnte, was weggeworfen und was gespendet werden sollte.

Jenny hielt das Kostüm hoch.

„Damals waren wir sechzehn“, fuhr Meg fort. „Wir hatten erst seit ein paar Wochen unseren Führerschein, und unsere Eltern wollten uns an dem Abend nicht das Auto geben, weil sie Angst hatten, dass wir eines der umherziehenden Kinder überfahren. Wir konnten das nicht verstehen. Wie alt war J. J. damals? Vier?“

„Ja, vier“, bestätigte Jenna. „Und anstatt durch die Gegend zu fahren, mussten wir mit J. J. von Haus zu Haus gehen. Sie war so süß und wollte ihr Kostüm selbst dann noch tragen, als Halloween längst vorbei war. Irgendwann hatte unsere Mutter genug, weil sie es nur über Nacht waschen durfte. Eines Morgens hat sie J. J. erzählt, dass die Waschmaschine das Kostüm gefressen hat. Ich dachte immer, sie hat es weggeworfen, aber offenbar hat sie es nur versteckt.“

„Bestimmt hatte sie Angst, dass J. J. sich strikt weigern würde, etwas anderes zu tragen. Deshalb hat sie es aufgehoben“, erwiderte Meg.

„J. J. ist daraufhin den ganzen Tag im Schlafanzug herumgelaufen“, erzählte Jenna.

„Sie war sehr willensstark“, erinnerte sich Meg. „Sollen wir das Kostüm für Abby aufheben? Meinst du, sie wird auch mal eine Prinzessin sein wollen?“

„Ich muss alles wegwerfen, was Abby und ich nicht unbedingt brauchen. Außerdem ist es so oft gewaschen worden, dass es schon ganz dünn ist.“

Meg nahm ihr das Kostüm ab und stopfte es in den Müllbeutel.

Jenna kroch in den Schrank und griff nach einem Stapel alter Pullover. „Das sind die von meiner Mutter. Die können in die Altkleidersammlung“, sagte sie und half Meg, die sehr großen, sehr weiten Pullover zusammenzulegen.

„Abby sieht genauso aus wie J. J. als Baby, nicht wahr?“

„Ja, wie aus dem Gesicht geschnitten.“

J. J. stand für Joanna Janeane. Ihre Mutter hatte sie spät und ungeplant bekommen. Abby war J. J.s fünfzehn Monate alte Tochter.

Das Baby schlief in Jennas Zimmer im oberen Stockwerk des alten Farmhauses, in dem vier Generationen der Bowens gelebt hatten. Jennas Großvater hatte es gebaut und ihrem Vater zusammen mit der kleinen Farm vererbt. Sie und Meg waren bei J. J.s Geburt beide zwölf gewesen, hatten oft genug auf ihre kleine Schwester aufgepasst und wussten daher genau, wie J. J. als Baby ausgesehen hatte.

„J. J. war ein wunderschönes Baby“, sagte Jenna und wehrte sich gegen die Trauer, die sie jedes Mal befiel, wenn sie an ihre Schwester dachte.

„Ja, das war sie.“

„Aber bisher scheint Abby nicht ganz so trotzig zu sein.“

„Mmh. Hoffen wir für dich, dass Tia sie nicht ansteckt“, antwortete Meg lachend.

„Trotzdem freue ich mich darauf, mit dir zusammen zwei kleine Mädchen großzuziehen. Ich hätte nie gedacht, dass es mal dazu kommt.“

Seit ihrer Heirat war Meg die Stiefmutter der dreijährigen Tia McKendrick. Jenna war nach ihrer Scheidung und dem Tod ihrer jüngeren Schwester und beider Eltern nach Northbridge, ihre kleine Heimatstadt in Montana, zurückgekehrt und hatte ihre Nichte adoptiert. Bei aller Trauer war sie erleichtert, wieder zu Hause zu sein, Abby bei sich zu haben und in der Nähe ihrer besten Freundin zu leben.

„Hast du dich schon entschieden, ob du eine Wohnung an der Main Street mietest oder das Gästehaus der alten Mrs. Wilkes übernimmst, falls wir die Farm nicht halten können?“, fragte Meg.

„Dann nehme ich das Gästehaus“, antwortete Jenna. „Es ist zwar winzig, aber es hat zwei Schlafzimmer und einen kleinen Garten, in dem Abby spielen kann. Außerdem überlässt Mrs. Wilkes es mir sehr günstig. Dafür schaue ich jeden Tag nach ihr, messe ihren Blutdruck und achte darauf, dass sie ihre Medikamente …“

„Du willst nicht nur im Krankenhaus arbeiten, noch dazu im Schichtdienst, sondern auch zu Hause Krankenschwester spielen?“

„Das macht mir nichts aus. Die niedrige Miete erlaubt es mir, ein paar Schulden abzutragen und für ein eigenes Zuhause zu sparen. Mrs. Wilkes liebt Abby, und Abby liebt sie. Ich glaube, sie erinnert Abby an meine Mutter. Es ist für alle die beste Lösung und wird schon funktionieren“, schloss Jenna und versuchte, zuversichtlich zu klingen.

Aber Meg kannte Jenna und ihre Situation gut genug, um zu ahnen, wie sie sich wirklich fühlte. „Vielleicht kommen ja genug Spenden zusammen, und du kannst die rückständigen Steuern bezahlen oder wenigstens bei der Auktion mitbieten“, sagte sie und versuchte, ihrer Freundin etwas Hoffnung zu machen.

„Ja, vielleicht“, sagte Jenna und quittierte Megs Optimismus mit einem matten Lächeln, obwohl sie beide wussten, wie unwahrscheinlich das war. Sonst würden sie jetzt nicht zusammenpacken.

Den Bowen Farm Fund hatte ein alter Freund ihres Vaters eingerichtet, um Geld für die Rettung der Farm zu sammeln. Aber dazu brauchten sie vierzigtausend Dollar, und wenn sie diese Summe nicht aufbrachten, würde jeder Spender sein Geld zurückerhalten. Bisher war nicht annähernd genug zusammengekommen.

„Oder …“, begann Meg.

„Nein“, unterbrach Jenna sie scharf, denn sie wusste, was ihre Freundin sagen wollte.

Meg sprach es trotzdem aus. „Oder du verkaufst an die Kincaid Corporation und kannst nicht nur die Steuerschulden begleichen, sondern auch ein Haus mit drei Schlafzimmern kaufen.“

Jenna schüttelte den Kopf. „Ich habe auch so schon genug Schuldgefühle. Ich will den Letzten Willen meines Vaters respektieren.“

Meg antwortete nicht. Stattdessen blickte sie über Jennas Kopf hinweg zum Wohnzimmerfenster, als hätte sie dahinter etwas bemerkt. „Da wir gerade vom Teufel sprechen … na ja, nicht, dass ich Ian Kincaid für den Teufel halte … im Gegenteil, er ist echt toll.“

Jenna drehte sich um, schaute ebenfalls hinaus und sah die örtliche Maklerin Marsha Pinkell. Und einen Mann.

Seltsamerweise war es das erste Mal, dass sie Ian Kincaid zu Gesicht bekam.

Obwohl er und sein Zwillingsbruder in Northbridge geboren worden waren, hatte er eine komplizierte Beziehung zu der Kleinstadt. Ian war der Bruder von Chase Mackey, dem Geschäftspartner von Megs Ehemann bei Mackey and McKendrick Furniture Designs.

Dreißig Jahre zuvor hatte ein Verkehrsunfall am Rand von Northbridge Chase, Shannon, die Zwillinge Ian und Hutch und eine Halbschwester zu Waisenkindern gemacht. Die Halbschwester war zu ihrem leiblichen Vater gekommen, Chase zu einer Pflegefamilie, Shannon und die Zwillinge waren von zwei Ehepaaren adoptiert worden, die wenig später Northbridge verlassen hatten.

Nur die Halbschwester war alt genug, um sich daran zu erinnern, dass sie Brüder und eine Schwester hatte. Damit ihr Kind bei einem Blutsverwandten aufwachsen konnte, hatte sie nach ihren Geschwistern gesucht und Chase gefunden. Chase wiederum hatte Shannon aufgespürt, und zusammen hatten sie Hutchs und Ians Aufenthaltsort ermittelt.

Hutch war noch nicht aufgetaucht, aber Jenna hatte von Meg erfahren, dass Ian kurz nach Jahresbeginn mehrmals in Northbridge gewesen war, um Chase und Shannon kennenzulernen.

Das geschah zu der Zeit, als Jennas Vater gestorben war und Jenna die Farm zum Verkauf anbieten musste, um eine Zwangsversteigerung durch die Steuerbehörde zu verhindern.

Seit Januar hatte Ian Kincaid sich zusammen mit der Maklerin die Farm einige Male angesehen, um sie eventuell zu kaufen, aber Jenna war nie zu Hause gewesen und ihm auch nie in der Stadt über den Weg gelaufen.

Jenna hatte sich neben der Schichtarbeit im Krankenhaus um ihren Vater gekümmert. Danach hatte sie sich nur seinen Tod, sondern auch das finanzielle Chaos verkraften müssen, das er hinterlassen hatte. Außerdem hatte sie das Sorgerecht für Abby übernommen und das komplizierte und langwierige Adoptionsverfahren bewältigt. Bisher hatte sie kaum Zeit zum Luftholen gehabt.

Trotzdem war es seltsam, dass sie dem Mann, über den ganz Northbridge sprach und diskutierte, noch nie begegnet war. Dem Mann, der ihre Farm kaufen wollte. Dem Mann, an den sie ihr Erbe auf gar keinen Fall verlieren wollte.

Dem Mann, der jetzt an ihrer Gartenpforte stand. Mit seinen eins neunzig und der athletischen Figur ähnelte er Chase Mackey, war allerdings etwas größer und sah noch besser aus.

„Wow“, entfuhr es ihr.

Meg lachte. „Ich weiß“, sagte sie. Eine Erklärung war vollkommen überflüssig.

Da er nicht durchs Wohnzimmerfenster sah, sondern das Haus betrachtete, merkte er nicht, dass er beobachtet wurde. Mehr als das, denn Jenna musterte ihn ausgiebig.

Anzughose, Button-down-Hemd und Sakko konnten nicht verbergen, dass er breite Schultern, einen straffen Bauch, schmale Hüften und lange Beine hatte.

Und oberhalb der breiten Schultern?

Die Ähnlichkeit mit Chase Mackey war nicht zu übersehen. Allerdings war sein Kinn kantiger. Die Unterlippe war etwas voller als die obere, das hellbraune Haar so wellig wie Chases, auch wenn er es kürzer trug. Und die Augen …

Oh, was für Augen!

Chase Mackeys waren himmelblau.

Das Blau in Ian Kincaids Augen glich dem eines Himmels, der sich in einem zugefrorenen Teich spiegelte …

„Wow“, hörte Jenna sich zum zweiten Mal murmeln, als ihr bewusst wurde, wie atemberaubend der Mann aussah.

Meg lachte wieder. „Hallo? Jenna Bowen? Soll ich dir kaltes Wasser über den Kopf gießen?“

„Nein. Du hast recht, er ist und bleibt der Feind“, erwiderte Jenna blinzelnd.

„Er ist weder der Feind noch der Teufel, sondern einfach nur ein toller Typ, der …“

„… der die Farm meines Vaters übernehmen und in ein Trainingszentrum für Footballspieler verwandeln will.“

„Du hast gesagt, dass du dich damit abgefunden hast.“

„Ich versuche es“, verbesserte Jenna. Aber das bedeutete nicht, dass sie sich von dem Mann den Kopf verdrehen ließ.

„Warum gehen wir nicht hinaus, damit ich euch miteinander bekannt machen kann?“, schlug Meg vor.

Warum fragte sich Jenna auf einmal, wie sie aussah? Weshalb war es wichtig, ob ihr langes, braunes Haar noch zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden oder die Mascara an ihren grünbraunen Augen verschmiert war? Wieso störte es sie plötzlich, dass sie ausgebeulte Jeans und ein viel zu weites T-Shirt trug?

Es sollte ihr eigentlich nichts ausmachen.

Aber das tat es trotzdem.

„Ich sehe schrecklich aus“, sagte sie, als hätte sich Megs Vorschlag damit erledigt.

„Nein, tust du nicht. Du siehst gut aus“, widersprach ihre Freundin.

Aber irgendwie war gut nicht genug für die erste Begegnung mit einem Mann, der ihr Herz schneller schlagen ließ.

„Komm schon“, drängte ihre Freundin. „Tia und Abby lieben ihn und …“

„Abby kennt ihn?“

„Ja, natürlich. Er hat seinen Bruder oft besucht, wenn ich gerade ihr Babysitter war.“

Obwohl Meg auf Abby aufpasste, während Jenna arbeitete, und Ian Kincaid bei seinen Besuchen in der Wohnung über der Garage übernachtete, war Jenna ihm noch nie begegnet.

„Tia und Abby sind bis über beide Ohren in ihn verliebt“, fuhr Meg fort. „Tia malt ihm Bilder, macht ihm schöne Augen und folgt ihm wie ein Hündchen. Abby streckt die Arme nach ihm aus, sobald sie ihn sieht, und will von ihm getragen werden. Sie nennt ihn Onk und umarmt und küsst ihn ohne jede Vorwarnung. Es ist so süß!“

Er verzaubert mit seinem Aussehen also nicht nur große, sondern auch kleine Mädchen, dachte Jenna. „Stimmt das? Mag Abby ihn wirklich?“

„Sie himmelt ihn an. Und er ist immer freundlich zu ihr. Und zu Tia auch. Ich weiß, dir gefällt nicht, dass er die Farm in etwas anderes umwandeln will, aber eigentlich ist er kein übler Kerl. Du solltest ihn kennenlernen.“

Offenbar blieb ihr keine andere Wahl.

Die Maklerin schaute durchs Wohnzimmerfenster und winkte Jenna und Meg zu. Dann sagte sie etwas zu Ian Kincaid, woraufhin er fröhlich lachte, und die beiden gingen zur Haustür. Die Maklerin klopfte kurz, bevor sie die Köpfe hereinstreckten.

„Hi! Ich führe Mr. Kincaid herum, weil er noch ein paar Fragen hat!“, rief Marsha Pinkell. „Dürfen wir reinkommen?“

Nein, dachte Jenna, sprach es aber nicht aus. Schließlich konnte sie der Maklerin, die sie mit dem Verkauf der Farm beauftragt hatte, schlecht den Zutritt verweigern. „Natürlich.“

„Hallo, Ian“, begrüßte Meg den Mann lächelnd.

„Hallo, Meg“, erwiderte er ebenso umgänglich. „Logan hat mir gesagt, dass ich dich vielleicht hier treffe.“

„Das ist Jenna“, sagte sie. „Jenna Bowen. Meine beste Freundin und nicht nur Abbys Tante, sondern auch ihre neue Mom.“

„Und die Eigentümerin dieser Farm. Ich kenne den Namen“, fügte Ian Kincaid hinzu und sah Jenna an. „Ich weiß, dass Ihr Vater vor gar nicht so langer Zeit gestorben ist. Das tut mir wirklich sehr leid.“

„Danke“, antwortete Jenna unwillkürlich und wehrte sich gegen die Wirkung, die sein durchdringender Blick auf sie hatte. Seine eisblauen Augen strahlten sie an, und wieder wünschte sie, sie hätte etwas anderes angezogen und sich mehr Zeit für ihr Haar genommen.

„Marsha hat mir erzählt, dass Sie – zu Ehren Ihres Vaters – darauf bestehen, dass die Farm als landwirtschaftlicher Betrieb erhalten wird“, fuhr er fort.

„Das stimmt“, bestätigte Jenna, denn sie sah keinen Grund, drum herumzureden. „Und ich weiß, dass Sie mit der Farm etwas ganz anderes vorhaben. Ihr Vater hat ein Footballteam nach Montana geholt und möchte hier ein modernes Trainingszentrum ansiedeln.“

„Die Montana Monarchs“, erklärte Ian, als hätte sie den Namen der Mannschaft nicht längst gehört. „Sie haben recht. Mein Vater ist Morgan Kincaid. Er hat immer davon geträumt, ein NFL-Team zu besitzen, jetzt hat er eins, und deshalb brauchen wir ein Trainingsgelände. Wir feilschen nicht, sondern zahlen den Preis, den Sie verlangen. Vorausgesetzt, Sie streichen die Klausel über die Erhaltung der Farm aus dem Vertrag.“

„Nein, das kommt nicht infrage, für kein Geld der Welt. Falls es zu einer Versteigerung kommen sollte, kann der Käufer mit der Farm machen, was er will, das ist mir klar. Aber solange mir noch eine Wahl bleibt, halte ich an der Bedingung fest.“

Ian war höflich und respektvoll, aber Jenna wusste, dass er ein hohes Tier im Konzern seines Vaters und einer der zukünftigen Erben war. Sie dagegen war nur eine Kleinstadtkrankenschwester, noch dazu hoch verschuldet.

„Was halten Sie davon, wenn wir Ihnen entgegenkommen und fünftausend mehr zahlen?“, fragte er.

„Jetzt feilschen Sie doch“, entgegnete sie und konnte einen spöttischen Ton nicht unterdrücken.

Dass er lächelte, ehrte ihn. „Feilschen bedeutet, dass ich den Preis zu drücken versuche. Ich dagegen biete Ihnen mehr, als Sie fordern.“

„Das können Sie gar nicht, denn an Sie verkaufe ich für kein Geld der Welt“, entgegnete Jenna. Gegen ihren Willen genoss sie den Wortwechsel mit ihm fast so sehr wie damals den Debattierklub in der Highschool.

„Wie wäre es mit zehntausend?“

Jenna lachte fröhlich. Sie hatte keine Ahnung, ob er das Angebot ernst meinte, aber es gefiel ihr, sich von ihm herausfordern zu lassen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Kein Geld der Welt“, sagte sie zum dritten Mal. „Ich muss die Farm verkaufen, aber die Klausel ist nicht verhandelbar.“

„Ich kann ziemlich überzeugend sein …“

Daran zweifelte sie nicht. Sie brauchte ihm nur in die blauen Augen mit den Lachfältchen zu schauen, und schon kam es ihr vor, als hätte er vergessen, dass sie beide nicht allein waren. „Überzeugend oder nicht, in diesem Punkt bleibe ich hart“, beharrte sie.

„Hmm … Vielleicht muss ich mir nur überlegen, wie ich Sie erweichen kann …“

„Viel Glück dabei“, erwiderte sie, als wäre sie immun gegen alles, was er sich einfallen ließ. Selbst gegen seine Flirtversuche.

Ian Kincaid lachte, aber nicht laut und siegessicher, sondern leise und so, als würden sie ein kleines Geheimnis miteinander teilen.

Obwohl sie sich dagegen wehrte, konnte Jenna sich nicht der Wirkung entziehen, die Ian Kincaid auf sie ausübte. Aber vielleicht ist genau das seine Methode, alles zu bekommen, was er will, dachte sie. Dass es ausgerechnet zwischen ihnen beiden knisterte, war eine absurde Vorstellung, aber es fühlte sich so an.

Er sah sie noch einen Moment lang an, bevor er einen Blick auf den geöffneten Kleiderschrank warf. „Wir sollten Sie und Meg nicht länger von der Arbeit abhalten“, sagte er und klang fast bedauernd.

„Ja, Meg kann nicht mehr lange bleiben, deshalb muss ich jede Minute nutzen.“

„Ich habe mich gefreut, Sie endlich kennenzulernen, Jenna“, sagte Ian Kincaid, als würde er es ernst meinen.

„Ja, ich auch.“

Es hatte einfach nur so höflich klingen sollen wie ihr Dank für seine Beileidsbekundung, aber irgendwie kam es ihr anders über die Lippen. Ganz anders sogar. So, als würde sie sich tatsächlich über seinen Besuch freuen.

Konnte das sein? Freute sie sich, den Mann kennenzulernen, der höchstwahrscheinlich schuld daran sein würde, dass sie den letzten Wunsch ihres Vaters nicht erfüllen konnte?

Unmöglich.

Jenna verstand nicht, warum Ian ihr trotzdem sympathisch war.

Doch als er sich umdrehte und mit der Maklerin das Haus verließ, sah sie ihm nach, und es fiel ihr schwer, ihn gehen zu lassen. Was um alles in der Welt war nur mit ihr los?

„Habe ich es nicht gesagt?“, flüsterte Meg. „Er ist wirklich nett, oder?“

„Nett anzusehen“, gab Jenna zu, während ihr Blick wie von selbst von seinen breiten Schultern zu den langen, muskulösen Beinen wanderte.

Ob sie es sich nun eingestand oder nicht, aber an Ian Kincaid gefiel ihr mehr als nur sein Äußeres.

So unvorstellbar es auch sein mochte, der Mann war ihr alles andere als unsympathisch …

2. KAPITEL

Am Sonntag war es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm, und Ian beschloss, das gute Wetter zu nutzen und mit der Maklerin zur Bowen-Farm zu fahren.

Sie lag nicht weit vom Zuhause der Mackeys und McKendricks entfernt, wo er immer wohnte, wenn er nach Northbridge kam. Aber obwohl die beiden Anwesen praktisch benachbart waren, fuhr er nicht direkt dorthin, sondern unternahm vorher einen Abstecher in den Ort, um mit seinem Bruder Chase, dessen Frau Hadley und dem sieben Monate alten Cody an einem Pfannkuchenfrühstück der Kirchengemeinde teilzunehmen. Shannon und ihr zukünftiger Ehemann Dag McKendrick waren auch dabei.

Dass er sich hier mit seiner Familie treffen konnte, war einer der Gründe, warum Ian Northbridge als Standort des neuen Trainingszentrums der Montana Monarchs ausgesucht hatte.

Und auch, weil Hutch und er dort geboren waren. Ihre leiblichen Eltern waren in Northbridge gestorben, und dort hatte man ihn und seinen Bruder auch adoptiert. Aber er und Hutch waren kaum zwei Monate alt gewesen, als sie mit ihren Adoptiveltern fortzogen.

Dann hatte Ian irgendwann eine E-Mail von Chase und Shannon bekommen, die ihn darüber informierte, dass Hutch und er nicht die einzigen Geschwister waren. Er hatte Kontakt zu seiner verschollenen Schwester aufgenommen und sie so oft wie möglich hier besucht.

Northbridge war ideal für ein Trainingszentrum. Die Kleinstadt lag weit genug von Billings entfernt, um keine verlockenden Ablenkungen zu bieten, aber zugleich nahe genug, um für Spieler, deren Familien, Personal, Betreuer, Trainer und die Medien erreichbar zu sein. Außerdem gefiel Ian die Vorstellung, dass er als Manager der Monarchs viel Zeit dort verbringen würde, wo Chase, Shannon und Cody lebten.

Der Konflikt zwischen ihm und seinem Adoptivvater war beigelegt, und sie standen sich wieder nahe, genau wie er und seine Adoptivschwester Lacey. Doch bei ihm und seinem Zwillingsbruder Hutch lagen die Dinge leider anders. Sie hatten sich seit fünf, fast sechs Jahren nicht mehr gesehen oder gesprochen.

Vielleicht lag Ian auch deshalb so viel daran, den engen Kontakt zu seinen wiedergefundenen Angehörigen aufrechtzuerhalten. Wenn das Trainingszentrum in Northbridge gebaut wurde, würde er sie noch häufiger besuchen können. Sein Vater war mit seiner Entscheidung einverstanden, und in Northbridge gab es gleich zwei Standorte, die infrage kamen, nämlich die Farm der Bowens und eine etwas größere Immobilie, die einige Meilen außerhalb der Stadt lag.

Die Farm der Bowens hatte nicht nur die richtige Größe, sondern kostete auch weniger. Außerdem war das Gelände flacher. Auf dem Land der McDoogals hätte erst ein großer Hügel eingeebnet werden müssen, um Platz für die Spielfelder zu schaffen. Selbst wenn Jenna Bowen Ians Angebot von gestern annahm und zehntausend Dollar mehr verlangte, wäre der Preis immer noch niedriger als bei den McDoogals, denn sie hatte ihn niedrig angesetzt, um so schnell wie möglich verkaufen zu können.

Aber Jenna Bowen wollte ihr Zuhause unbedingt als Farm erhalten, selbst wenn sie damit riskierte, ihre Steuerschulden nicht rechtzeitig begleichen zu können. In dem Falle würden die Finanzbehörden es in zehn Tagen zwangsversteigern lassen. Das bedeutete, dass die Kincaid Corporation Jennas Besitz auf jeden Fall bekommen würde, denn bei einer Auktion würde er für einen Spottpreis den Eigentümer wechseln.

Dennoch passte es nicht zu dem positiven Image, auf das die Kincaid Corporation und die Monarchs großen Wert legten, die Farm bei einer Zwangsversteigerung zu kaufen.

Die Hälfte der Einwohner von Northbridge war strikt dagegen, Haus und Land der Bowens an eine Footballmannschaft zu veräußern, und wollte den Bowens helfen, das Land an jemanden zu verkaufen, der den letzten Wunsch des Farmers respektierte.

Für Ian war es eine echte Herausforderung, die Kritiker zu überzeugen, dass es ein Gewinn für die ganze Region war, die Montana Monarchs nach Northbridge zu holen. Aber er liebte Herausforderungen. Er würde ihnen zeigen, dass er ein ehrlicher und anständiger Geschäftsmann war, und ihnen klarmachen, dass auch sie von dem Trainingszentrum profitieren würden.

Bei Jenna Bowen musste er besonders behutsam vorgehen. Deshalb war es höchste Zeit gewesen, dass sie beide sich kennenlernten. Er hatte gehört, wie Meg ihrem Mann erzählte, dass Jenna sich auf der Farm aufhalten würde, und beschlossen, sich von der Maklerin dorthin begleiten zu lassen.

Aber da hatte er sie nicht zum ersten Mal gesehen. Bei seinen Besuchen in Northbridge wohnte er immer in dem Apartment über der Garage hinter dem Haus. Von dort oben hatte er hin und wieder mitbekommen, wie Jenna ihre kleine Tochter abholte.

Megs beste Freundin war eine Kleinstadtschönheit, wenn auch kein makelloser Modeltyp wie Chelsea Tanner, die Frau, mit der sein Vater ihn unbedingt verheiraten wollte. Jenna hatte nicht die kühle und unnahbare Ausstrahlung wie Chelsea, sondern wirkte natürlich und voller Wärme. Außerdem hatte sie eine Haut, die ihn an Pfirsiche mit Schlagsahne erinnerte, und jedes Mal, wenn er sie sah, musste er sich beherrschen. Zu gern hätte er gewusst, ob ihre Haut sich auch so anfühlte, wie sie aussah.

Ihr Haar war lang und wellig, ein schimmerndes Braun. Meistens trug sie es zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber manchmal auch offen und so, wie es ihm am besten gefiel. Dann umrahmte es ihr Gesicht und fiel bis über die Schultern wie ein schimmernder Wasserfall aus heißer Schokolade. Und ihre Augen erst …

Das Grün ihrer Augen glich dem Funkeln verborgener Smaragde und gab Jenna etwas Geheimnisvolles.

Ihre Nase war schmal und nicht zu lang. Sie hatte pinkfarbene Lippen, perfekte weiße Zähne und rosige Wangen, die ihr eine reizvolle Natürlichkeit verliehen. Ihre Haltung ließ vergessen, dass sie nicht besonders groß war, höchstens eins sechzig.

Und der Körper?

Kurvenreich genug, um ihn davon träumen zu lassen, wie sie unbekleidet aussehen würde …

Aber das hatte Ian nicht zu interessieren!

Arbeit, das Trainingszentrum, Chelsea Tanner und die Tanner-Brauerei als Sponsor der Monarchs – nur darauf musste er sich konzentrieren. Und auf nichts anderes. Jedenfalls sagte er sich das, als er sich an diesem Tag der Bowen-Farm näherte. Das Problem war nur, dass die Tochter des millionenschweren Brauers ihn kein bisschen reizte. Sie waren sich auf der großen Party begegnet, mit der sein Vater die NFL-Lizenz gefeiert hatte.

Für den Eigentümer des neuen Profiteams wäre es ein Geschenk des Himmels, seinen Sohn mit Chelsea Tanner zu verheiraten. Aber für Ian waren ein hübsches Gesicht, lange Beine und ein gemeinsames Interesse an Jazz nicht genug.

Was er von Jenna Bowen gesehen hatte, ließ selbst das Supermodel verblassen …

Doch auch Chelseas Vater übte Druck auf ihn aus.

Der Mann sah in Ian den Köder, der seine Tochter aus Europa weglockte. Anstatt von einem Fotoshooting zum nächsten durch die Welt zu reisen, sollte sie die Pressesprecherin der Brauerei werden und der Firma etwas Klasse verleihen. Und näher bei ihrem Vater leben.

Ian arbeitete bereits daran, Chelsea zur Rückkehr in die USA zu bewegen. Aber darüber hinaus? Was hatten sie schon für gemeinsame Interessen? Nur den Musikgeschmack.

Er bog von der Hauptstraße auf den mit Schlaglöchern übersäten Weg ab, der zum alten Farmhaus der Bowens führte. Die Strecke war nicht für Limousinen gemacht, und sein Wagen rutschte immer wieder in eine der tiefen Furchen, die die Ackerschlepper hinterlassen hatten. Aber er wollte sich einen Überblick über das Land verschaffen.

Er fuhr nicht weiter als unbedingt nötig, hielt an, ließ den Motor laufen, griff nach dem Feldstecher, den er mitgebracht hatte, und stieg aus.

Kein Zweifel, das Gelände war der ideale Standpunkt für ein Trainingszentrum. Flache Weiden und Felder, die viel Platz boten. Die kleine Scheune und das Haus würden dem modernen Verwaltungsgebäude weichen müssen, das den Eingangsbereich des Zentrums bilden sollte.

Doch als Jenna mit Abby auf dem Arm aus der Hintertür kam, sah Ian nur noch sie und vergaß für einen Moment, dass er ihr Elternhaus dem Erdboden gleichmachen wollte.

Für das Frühjahr war es ein ungewöhnlich warmer Tag, und auch Abby schien das gute Wetter ausnutzen zu wollen. Obwohl Jenna einen staubigen dunkelroten Overall trug, ging sie mit ihrer Tochter in den Garten und zeigte auf einen Vogel, der auf einem Zaunpfosten saß.

Mit den honigblonden Locken, den roten Wangen und den großen braunen Augen war Abby ein süßes Baby.

Und Jenna war ihre Tante und zugleich ihre neue Mutter …

Ian erinnerte sich daran, wie Meg ihn mit ihrer Freundin bekannt gemacht hatte, und war verwirrt. Er hatte angenommen, dass Abby Jennas leibliche Tochter war, aber die Familienverhältnisse schienen etwas komplizierter zu sein. Nichts an dem Bild, das die beiden jetzt abgaben, deutete darauf hin, dass Jenna nicht Abbys Mutter war.

Das kleine Mädchen war ein weiterer Grund, warum er seine Fantasie zügeln musste, sobald es um Jenna Bowen ging. Er mochte Abby, aber an eigene Kinder wollte er frühestens in zehn Jahren denken. Und wenn er sich reif genug für eine Familie fühlte, sollten es seine leiblichen Kinder sein.

Das war seine Bedingung.

Durchs Fernglas sah er, wie Jenna ihre Adoptivtochter auf die Wange küsste. Und dann, als hätte sie es nicht ganz richtig gemacht, nahm das kleine Mädchen Jennas Gesicht zwischen die winzigen Hände und erwiderte den Kuss viel herzhafter.

Ian musste lachen, genau wie Jenna, bevor sie sich mit der Kleinen um die eigene Achse drehte, bis auch Abby lachte.

Und plötzlich, ohne dass er es sich erklären konnte, verspürte er das dringende Bedürfnis, zum Haus zu fahren und sie zu begrüßen.

Was sprach dagegen, zwischen ihnen eine rein freundschaftliche Beziehung zu beginnen, von der sie beide profitieren konnten?

Gar nichts.

Er ließ den Feldstecher sinken und stieg in den Wagen.

Was hatte es zu bedeuten, dass er in der Eile mehr Gas als nötig gab und beim Anfahren eine Staubwolke aufwirbelte?

Auch nichts. Und dass er nicht auf den holprigen Weg achtete und keinen Gedanken an seine Stoßdämpfer verschwendete, auch nicht.

Er brauchte die Farm für sein Projekt, da war es doch logisch, dass er die Eigentümerin freundlich behandelte.

Und die Tatsache, dass die Farm, die er kaufen wollte, der äußerst attraktiven Jenna Bowen gehörte, spielte dabei überhaupt keine Rolle …

Gemessen an den Temperaturen war Jennas erster Winter in der Heimat gar nicht so schlimm gewesen. Aber da sie beide Eltern verloren hatte, war ihr das Wetter selbst bei Sonnenschein eher trübe erschienen. Umso mehr freute sie sich über den ersten richtigen Frühlingstag.

Da sie zu Schichtbeginn um drei Uhr nachmittags im Krankenhaus sein musste, wollte sie das gute Wetter ausnutzen und war mit Abby nach draußen gegangen. Als am Feldweg am Rand der Farm eine Staubwolke aufstieg, zog sie sich instinktiv zum Haus zurück.

„Anscheinend bekommen wir Gesellschaft“, sagte sie zu Abby, ohne sich ihre Nervosität anmerken zu lassen.

In den letzten zehn Jahren hatte sie an Orten gelebt, an denen man besser vorsichtig war. Da sie den Wagen, der schemenhaft aus dem Staub auftauchte, nicht kannte, wollte sie den Besucher lieber an der Hintertür empfangen, damit sie notfalls im Haus verschwinden und abschließen konnte.

Erst als der teure schwarze Importwagen näher kam, sah Jenna, dass am Steuer Ian Kincaid saß.

Natürlich ist er es, dachte Jenna und verstand nicht, warum sich in ihr so etwas wie Vorfreude regte. Wenn es einen Besucher gab, der ihr unwillkommen sein sollte, dann war es Ian.

Er fuhr ums Haus herum und hielt. Sie hörte, wie er den Motor abstellte und ausstieg.

Dann bog er um die Ecke.

„Hi!“, rief er fröhlich.

Sein Lächeln gefiel ihr viel zu gut. „Hallo“, erwiderte sie so ausdruckslos wie möglich, um sich nicht anmerken zu lassen, was sein Anblick in ihr auslöste.

„Es ist ein so schöner Tag, dass ich mich noch ein bisschen umsehen wollte.“ Er zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. „Falls ich ungelegen komme, verschwinde ich wieder“, sagte er und hob beide Hände bis an die breiten Schultern.

Ian hatte große, kräftig aussehende Hände. Er trug eine braune Tweedhose und ein kakifarbenes Oberhemd, ein viel zu förmliches Outfit für einen Sonntagnachmittag in Northbridge, aber gegen ihren Willen stellte Jenna fest, dass er darin unverschämt attraktiv aussah.

„Onk!“, rief Abby und streckte die Arme nach ihm aus.

„Hi, Abby“, begrüßte er das Baby mit einem noch wärmeren Lächeln. „So nennt sie mich immer“, sagte er zu Jenna. „Abby und ich sind alte Freunde.“

„Ja, das hat Meg mir erzählt.“

„Darf ich sie nehmen?“

Da Abby ihr keine Wahl ließ und Meg ihm offenbar vertraute, machte Jenna einen Schritt von der Hintertür weg und reichte ihm das kleine Mädchen.

Sofort legte Abby wie selbstverständlich einen Arm um seinen kräftigen Hals.

„Meg hat mir auch berichtet, dass Sie großen Eindruck auf Abby und Tia gemacht haben“, sagte Jenna.

„Ich würde gern behaupten, dass alle Mädchen mich mögen, aber da würden Sie bestimmt widersprechen“, scherzte er.

Es ist schwer, ihn nicht zu mögen, dachte Jenna, behielt es jedoch für sich. „Für mich war es ein harter Winter, und ich sehne mich nach dem Sonnenschein“, sagte sie stattdessen. „Ich habe Limonade gemacht, auch wenn es dafür noch etwas früh ist. Möchten Sie ein Glas?“

„Sehr gern. Sollen wir uns auf die Veranda setzen, damit Sie den Sonnenschein noch etwas genießen können?“, schlug er vor. „Ich gehe mit Abby nach vorn, und wir treffen uns dort.“

War er einfach nur hilfsbereit oder es gewohnt, Anweisungen zu erteilen? Aber die Vorstellung, zum ersten Mal in diesem Jahr auf der Veranda Limonade zu trinken, erschien Jenna zu reizvoll, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen. „Einverstanden.“

Als sie in der Küche zwei Gläser einschenkte, hoffte sie, dass Ian Kincaid nicht hier war, um sie zum Verkauf der Farm zu überreden. Es war ein so schöner Tag, und sie wollte ihn genießen.

Falls er davon anfing, würde sie einfach erwidern, dass sie nicht darüber reden wollen. Mal sehen, ob er dann auch noch so rücksichtsvoll ist, dachte sie.

Wenn er darauf bestand, würde sie Abby und ihr Glas nehmen und ins Haus gehen. Ian Kincaid würde ihr auf keinen Fall den Tag verderben.

Auf dem Weg nach vorn sah sie durch die Haustür Abby und ihren Besucher. Er saß auf der Verandatreppe und hielt Abby mit beiden Händen fest, während er sie auf seinem ausgestreckten Bein wippen ließ. Das Baby lachte fröhlich.

„Me!“, forderte Abby, als er Jenna hörte und sich nach ihr umdrehte.

„Das heißt ‚mehr‘“, erklärte sie ihm lächelnd.

„Ja, das habe ich schon verstanden“, erwiderte er. „Halt dich fest, jetzt kommt das große Finale!“, sagte er zu Abby und wieherte wie ein Pferd, bevor er das Tempo steigerte, bis das kleine Mädchen begeistert kreischte.

Als er sein Bein langsam zur Ruhe kommen ließ, wie erschöpft schnaubte und Abby auf den Schoß nahm, protestierte ihre Tochter nicht, sondern schmiegte sich an ihn.

„Das ist also das Geheimnis?“, fragte Jenna. „Man verspricht ihr ein großes Finale, liefert ihr ein paar Soundeffekte, und sie ist zufrieden?“

„Guter Trick, oder? Ich weiß allerdings nicht, ob er bei Ihnen auch funktionieren würde“, antwortete er und nahm das Glas entgegen.

Jenna setzte sich neben ihn, achtete allerdings darauf, ihn nicht zu berühren.

Er nippte an seiner Limonade. „Für Montana war der letzte Winter eher mild. Warum war er für Sie hart?“

Also hatte er vorhin genau zugehört …

„Ich bin im Oktober nach Northbridge zurückgekehrt, nachdem meine Mutter während eines Schneesturms an einem Herzinfarkt gestorben war. Erst hier wurde mir bewusst, wie schlimm es gesundheitlich um meinen Vater stand, und ich blieb hier, um mich um ihn zu kümmern. Trotzdem ist er in der ersten Januarwoche von uns gegangen. Von seinen Steuerschulden habe ich erst nach der Beerdigung erfahren.“

„Ich wusste nicht, dass Sie kurz vor Ihrem Vater schon Ihre Mutter verloren hatten“, gestand er. „Meine Mutter starb, als ich elf war, und das war schlimm genug. Innerhalb weniger Monate beide Eltern zu verlieren – das muss schrecklich sein.“

Jenna nickte nur stumm.

„Sie sagten, Sie seien erst nach dem Tod Ihrer Mutter zurückgekommen. Haben Sie denn nicht in Northbridge gelebt?“

„Nein, damals nicht. Ich wollte es immer, aber es hat sich nicht ergeben.“

„Erzählen Sie mir von Abby“, bat Ian. „Von Meg weiß ich, dass Sie zugleich ihre Tante und ihre neue Mutter sind. Was genau bedeutet das?“

„Sie ist meine Nichte und jetzt auch meine Adoptivtochter“, erwiderte Jenna, als wäre es so einfach.

„Haben Sie einen Bruder oder eine Schwester?“

Jenna streckte die Arme nach Abby aus, aber ihre Tochter schien lieber bei Ian bleiben zu wollen. „Ich hatte eine Schwester. Wir nannten sie J. J. Sie war zwölf Jahre jünger als ich und erst sechzehn, als sie Abby bekam.“

„Oh.“

„Unsere Eltern haben sie überredet, Abby zu behalten, und versprochen, ihr zu helfen.“

„Und der Vater verschwand von der Bildfläche?“

„Der Vater ging auf eine Schule für gefährdete Jugendliche am Stadtrand. Er hatte keine eigene Familie, und deshalb lag die Verantwortung allein bei unseren Eltern.“

„Und der sechzehnjährigen J. J.“

„Richtig“, bestätigte Jenna mit einem traurigen Lächeln. „Bis Abbys Vater einen Wagen stahl und mit J. J. eine Spritztour unternahm. Abby war erst vier Monate alt …“ Sie schluckte. „J. J. und er kamen ums Leben, als der Wagen sich überschlug. Danach hatte Abby nur noch meine Eltern.“

„Die beide nicht gerade kerngesund waren.“

„Zu dem Zeitpunkt wusste niemand, dass meine Mutter ein schwaches Herz hatte. Das Emphysem hat meinen Vater geschwächt, aber er konnte noch immer auf der Farm arbeiten. Ich hätte Abby gern zu mir genommen, aber meine Situation war … schwierig. Daher haben meine Eltern sich einfach weiter um sie gekümmert.“

„Aber dann waren sie plötzlich nicht mehr da.“

„Ja. Meine Situation hatte sich inzwischen geändert, und ich wollte diesen kleinen Fratz.“ Sie beugte sich vor, um Abby zu kitzeln. „Deshalb habe ich sie adoptiert.“

„Und das macht Sie zu ihrer Tante und Adoptivmutter.“

„Richtig“, erwiderte Jenna. „Natürlich werde ich ihr irgendwann von J. J. und ihrem Vater erzählen, aber ich bin und bleibe ihre Mutter und hoffe, dass sie mich schon bald auch so nennt.“

Als wäre Abby damit einverstanden, drehte sie sich zu Jenna und ließ sich von ihr auf den Arm nehmen. Dabei streifte Jenna versehentlich mit der Hand Ians Bauch. Wie muskulös er sich unter dem Hemd anfühlte. Es gefiel ihr, die Muskeln an ihrem Handrücken zu fühlen …

Du bist Krankenschwester! Du verdienst dein Geld damit, Menschen anzufassen!

Zum Glück schien Ian Kincaid nicht zu bemerken, welche Wirkung er auf sie ausübte. „Ich sollte jetzt gehen“, sagte er. „Ich habe gesehen, was ich wollte, und Sie haben sicher noch viel zu tun.“ Er hatte die Stimme gesenkt, und Jenna kam der Verdacht, dass ihm ihre Reaktion doch nicht entgangen war.

Er spielte mit Abbys Locken. „Bis bald, Abby.“

Abby winkte ihm zu.

„Danke für die Limonade“, sagte er zu Jenna.

„Gern geschehen.“

Ian stand auf, ging ein paar Schritte und blieb stehen. „Morgen Abend findet die große Eröffnung von Mackey and McKendrick Furniture Designs statt. Sie stellen ihre neuesten Möbelentwürfe vor. Kommen Sie auch?“

„Ja.“

Ein Lächeln huschte über sein markantes Gesicht. „Gut … das freut mich …“, erwiderte er, als dürfte er es eigentlich nicht zugeben.

Dann eilte er zum Wagen, und Jenna schaute ihm nach – und sog den Anblick des knackigsten Pos, den sie jemals erblickt hatte, in sich auf.

Bis er um die Hausecke verschwand und sie ihn nicht mehr sehen konnte.

Was sie sehr bedauerte…

Offenbar hatte Ian Kincaid ihr keineswegs den Tag verdorben.

Im Gegenteil. Sie hatte seinen kurzen Besuch genossen. Ganz zu schweigen von dem straffen Po und dem muskulösen Bauch.

Was um alles in der Welt war bloß in sie gefahren?

Nicht jetzt, befahl sie sich streng. Und schon gar nicht mit ihm.

In den vergangenen elf Monaten hatte sie eine Katastrophe nach der anderen durchlitten. Erst der Tod von Abbys Eltern. Ihre Scheidung. Der plötzliche Tod ihrer Mutter. Kurz darauf der Tod ihres Vaters. Die Steuerschulden und die drohende Zwangsversteigerung der Farm. In ihrem Leben herrschte ein heilloses Chaos.

Das musste endlich aufhören. Abby und sie brauchten dringend Ruhe und Geborgenheit. Zusammen. Nur sie beide.

Ein Mann, insbesondere jemand wie Ian Kincaid, wäre das krasse Gegenteil dessen, wonach Jenna sich sehnte.

Warum freute sie sich trotzdem darauf, ihn morgen Abend wiederzusehen?

Egal. Sie durfte es einfach nicht.

Ruhe und Geborgenheit, das brauchten Abby und sie jetzt notwendig.

Und nicht einen Mann, der ihre Haut zum Kribbeln brachte …

3. KAPITEL

„Was meinst du, Abby?“, fragte Jenna, als sie am frühen Montagabend vor dem Spiegel stand. „Zu viel?“

Abby antwortete nicht, denn sie war zu sehr damit beschäftigt, die unterste Schublade von Jennas Kommode auszuräumen.

Die Eröffnung von Mackey and McKendrick Furniture Design sollte eine zwanglose Cocktailparty sein, aber Jenna wollte dort auch nicht zu lässig gekleidet erscheinen. Zu ihren edelsten Jeans, die sie ein kleines Vermögen gekostet hatten, trug sie eine schwarze Spitzenbluse über einem trägerlosen Bandeau-Top und dazu schwarze Peeptoes mit Schleifen und High Heels. In diesem Outfit war sie nach ihrer Scheidung das erste Mal allein ausgegangen und hatte sich vor mehr oder weniger eindeutigen Angeboten kaum retten können.

Nicht, dass sie es heute darauf anlegte. Sie wollte einfach nur gut aussehen.

Weil Ian Kincaid dort sein würde und sie gefragt hatte, ob sie auch käme?

Okay, vielleicht auch deshalb. Jedenfalls ein bisschen. Aber vor allem wollte sie allen Leuten zeigen, dass sie trotz ihrer schwierigen finanziellen Situation noch immer ihre Würde und ihren Stolz besaß. Ja, ihr Vater war gestorben und hatte ihr Steuerschulden von mehr als vierzigtausend Dollar hinterlassen, die sie aus eigener Kraft nicht begleichen konnte. Ja, Ian Kincaid und die Kincaid Corporation würden ihre Farm vielleicht ersteigern und in ein Trainingszentrum für ein Footballteam verwandeln. Aber noch war sie ungebrochen. Deshalb hatte sie dieses Outfit mit den dazu passenden Schuhen gewählt.

Und vielleicht reizte sie auch die Vorstellung, dass Ian Kincaid die Augen aus dem Kopf fielen, wenn er sie so sah …

„Als ob das passieren könnte“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und zwang sich, in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Schließlich bin ich dreißig und keine zwanzig mehr, dachte sie, während sie etwas Mascara auflegte. Außerdem war sie Krankenschwester und nicht Ärztin, wie sie es sich mal erträumt hatte. Nach fast zehnjähriger Ehe hatte sie die Scheidung eingereicht, da ihr Mann sich nie von seiner Mutter lösen konnte. Seine Mutter war ihm immer wichtiger als seine Frau gewesen. Sicher, viele ihrer Patienten flirteten schamlos mit ihr, aber die meisten von ihnen befanden sich schon im Rentenalter.

Und die Männer in ihrem Alter? Natürlich schauten auch die zweimal hin, wenn Jenna einen Raum betrat, aber dabei blieb es. Obwohl sie Ted bei seiner beruflichen Odyssee nach Mexiko und durch mehrere Bundesstaaten gefolgt war, fehlte ihr auf diesem Gebiet fast jede Erfahrung. Im Grunde war sie ein schüchternes Kleinstadtmädchen geblieben, und vermutlich sah man ihr es auch an. Sie gehörte nun mal nicht zu den Frauen, auf die Männer wie Ian Kincaid standen.

Vielleicht war es ganz gut so, denn ihr Leben hatte sich lange genug um einen Mann – und seine Mutter – gedreht. Den beiden hatte Jenna alles geopfert. Ihre Träume, ihren Kinderwunsch und die Zeit, die sie lieber bei ihrer Familie hätte verbringen sollen.

Hätte sie das getan, wären ihre Eltern jetzt vielleicht noch am Leben, und sie müsste die Farm nicht verkaufen.

Sie hatte zwar nicht viel über Ian gehört, aber sie wusste, dass er für seinen Vater arbeitete. In ihren Augen bedeutete das, dass er nie Feierabend hatte. Sein Vater war zugleich sein Chef, und Ian musste immerzu und in jeder Hinsicht auf Morgan Kincaids Wünsche und Ansprüche Rücksicht nehmen. Für Ian stand sein Vater gleich doppelt an erster Stelle.

Ihrer Erfahrung nach war in einem so fremdbestimmten Leben kein Platz für eine gleichberechtigte Beziehung mit einer Frau.

Nein, so etwas würde sie niemals wieder durchmachen. Der Preis war einfach zu hoch. „Von daher ist es uns völlig egal, ob Ian Kincaid die Augen aus dem Kopf fallen“, flüsterte sie Abby zu, die sich gerade einen Strumpf über die blonden Locken zu ziehen versuchte.

Aber es wäre gut für mein Ego, dachte sie. Nach diesem Winter wäre es sogar sehr gut.

Auch wenn es nichts ändern würde. Ian Kincaid war attraktiv genug, als dass Jenna den ganzen Tag von ihm träumen konnte, aber er war auch ein Mann, von dem sie sich besser fernhielt.

Ihn zu beeindrucken, das würde ihrem Selbstwertgefühl guttun, aber danach würde sie konsequent bleiben und keinen weiteren Gedanken an den Mann verschwenden.

Jenna ließ Abby im Wohnhaus, wo drei Teenager sich um Tia und die anderen Kinder kümmerten. Als sie sich kurz darauf der großen Scheune näherte, hörte sie den Gitarristen und die Sängerin, die Meg engagiert hatte, dazu lautes Gelächter und viele, viele Stimmen.

Die Scheune lag neben der Garage, über der Ian wohnte. Die obere Hälfte war in ein Loft umgebaut worden, in dem Chase Mackey mit seiner zukünftigen Frau Hadley und Ians und Chases Neffen Cody lebte. Die untere Hälfte beherbergte im hinteren Teil die Werkstatt, vorn befand sich der Ausstellungsraum, in dem die beiden Möbeltischler die von ihnen entworfenen Stücke präsentierten.

Meg, Logan, Chase und Hadley standen am Eingang, um die Gäste zu begrüßen. Der Bürgermeister und seine Frau waren gerade eingetroffen. Jenna winkte Meg nur kurz zu und ging an der Gruppe vorbei. Da sie die meisten Leute kannte, dauerte es eine ganze Weile, bis sie die Bar ansteuern konnte. Sie begrüßte die Graysons, die neu in der Stadt waren. Logans und Hadleys Halbgeschwister waren auch gekommen, ebenso wie sämtliche Geschäftsleute von Northbridge und der komplette Stadtrat.

Der einzige Mensch, den Jenna nicht sah, war Ian Kincaid.

Und wenn schon, sagte sie sich. Die meisten Gäste kannte sie aus ihrer Kindheit und Jugend, und sie freute sich darauf, mal wieder mit ihnen zu reden.

Trotzdem hatte sie davon geträumt, dass Ian irgendwo allein in der Ecke stand, sehnsüchtig zum Eingang schaute und bei ihrem Anblick große Augen bekam.

Wie albern, dachte sie. Ich benehme mich wie ein Teenager.

Jenna nahm sich vor, an diesem Abend nicht mehr nach Ian Kincaid Ausschau zu halten. Sie würde sich trotzdem amüsieren. Da Logan, Chase und Hadley, der bei den beiden als Polsterer arbeitete, sich ganz auf die Möbelausstellung konzentriert hatten, hatte Meg sich um die Party gekümmert, und Jenna hatte ihr dabei geholfen. Und so wusste sie, wo sich die Bar, das Büfett und die kleine Bühne für die Sängerin und den Gitarristen befanden.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich einen Weg durchs Gewühl gebahnt hatte, und sie atmete verstohlen auf, als sie endlich die Bar erreichte.

Dort entdeckte sie Ian Kincaid.

Er war allein, und ihm fielen nicht die blauen Augen aus dem Kopf, als er sie sah. Aber sie wurden ein bisschen größer, und den sinnlichen Mund umspielte ein anerkennendes Lächeln, das genau die Botschaft aussandte, auf die sie insgeheim noch immer hoffte.

„So sieht keine Farmerstochter aus“, sagte er und kam ihr entgegen, als hätte er auf sie gewartet.

Sie hob das Kinn und unterdrückte ein triumphierendes Lächeln. „Wie sollen Farmerstöchter denn aussehen?“, erwiderte sie.

„Nicht so gut wie Sie“, antwortete er und musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß.

Jenna wollte sich nicht über das Kompliment freuen, tat es aber trotzdem.

„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte er.

Sie ging an ihm vorbei. „Ich nehme ein Glas Rotwein“, sagte sie zum Barkeeper.

„Zwei“, bat Ian, bevor er einen Arm auf den Tresen stützte und sich ganz auf Jenna konzentrierte.

In diesem Moment kamen drei alte Freundinnen von Jenna an die Bar, um sich etwas zu trinken zu holen. Während sie warteten, plauderten sie angeregt mit Jenna.

Ian blieb, wo er war, und da es unhöflich gewesen wäre, ihn zu ignorieren, machte Jenna ihn mit den anderen Frauen bekannt.

„Seid ihr zusammen hier?“, fragte Neily Pratt.

„Nein!“, erwiderte Jenna viel zu schnell.

Ian lächelte nur.

„Aber ihr habt euch angeregt unterhalten, als wir kamen, deshalb lassen wir euch wieder allein“, sagte Neily, bevor sie ihr Glas Rotwein nahm und mit ihren Freundinnen im Gewühl verschwand.

„Wäre es so schlimm, wenn wir zusammen wären?“, fragte Ian. „Shannon ist nämlich noch nicht hier, und alle anderen Leute, die ich kenne, sind beschäftigt, deshalb hatte ich gehofft, dass Sie mir ein bisschen Gesellschaft leisten.“

„Aus Mitleid?“, scherzte sie.

„Ich nehme, was ich kriegen kann“, antwortete er und setzte eine verzweifelte Miene auf. „Kommen Sie, wir stehen im Weg und blockieren die Bar.“ Hinter ihnen standen bereits die nächsten Gäste an. „Ich zeige Ihnen mein Lieblingsstück.“

Jenna war neugierig auf seinen Geschmack und ließ es zu, dass Ian eine Hand um ihren Ellenbogen legte und sie durch die Ausstellung führte. Es fühlte sich so gut an, dass sie an nichts anderes mehr dachte, bis sie irgendwann verblüfft feststellte, dass sie die Party weit hinter sich gelassen hatten und die Musik und das Stimmengewirr nur noch leise zu hören waren.

„Sie können mir helfen, den hier zu bewachen“, sagte Ian und zeigte auf den riesigen Schreibtisch, der inmitten der Büromöbelabteilung stand. „Damit niemand ihn zerkratzt oder ein feuchtes Glas darauf abstellt. Ich habe ihn nämlich gerade gekauft.“

„Er ist wunderschön“, sagte sie und strich mit den Fingerspitzen über die mit diskreten Schnitzereien versehene Kante.

„Von Chase persönlich angefertigt“, verkündete er.

„Er gefällt mir.“ Obwohl Jenna es ernst meinte, wanderte ihr Blick wie von selbst vom Schreibtisch zum neuen Besitzer. Er trug eine graue Nadelstreifenhose und einen schwarzen Pullover, der zweifellos aus Cashmere war. Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte, setzte sie sich hastig neben ihn auf den Schreibtisch – wobei sie darauf achtete, dass zwischen ihrer Hüfte und seiner reichlich Abstand war.

„Sie kennen fast jeden hier, was?“, fragte er nach einem Moment.

„Ich bin hier aufgewachsen“, antwortete sie.

„Mit Chase, Logan und Hadley. Die drei haben mir gute und weniger gute Geschichten darüber erzählt. Wie war es bei Ihnen? Gut, weniger gut oder beides?“

„Nur gute Geschichten. Mir gefiel es hier. Ich liebte das Leben auf der Farm und auch, dass hier jeder jeden kannte. Für mich war Northbridge wie eine einzige große Familie“, sagte Jenna und nippte an ihrem Drink.

„Warum sind Sie dann fortgegangen?“

„Auf dem hiesigen College konnte ich nicht das studieren, was ich wollte. Aber ich wollte nicht lange wegbleiben, sondern in Northbridge Kinder bekommen und aufziehen.“

„Wie lange waren Sie weg?“

„Zu lange. Zehn Jahre“, erwiderte sie und schaffte es nicht, so unbekümmert zu klingen, wie sie wollte.

„Unfreiwillig? Was hat Sie davon abgehalten?“

Die Frage hatte Jenna sich selbst eingebrockt, aber Ian brauchte nicht alles über sie zu wissen. „Wir treffen nicht immer die richtigen Entscheidungen, und manchmal zieht die Strömung einen immer weiter aufs Meer hinaus. Dann wird es schwierig, zum Ufer zurückzufinden.“

„Mit dem Ufer meinen Sie Northbridge?“

„Und meine Familie …“

„Hatten Sie sich zerstritten?“

„Nein“, sagte sie heftig, denn die Wahrheit war schon schlimm genug. Jenna wollte nicht, dass Ian ihr etwas noch Schlimmeres zutraute. „Leider habe ich es nicht geschafft, sie so oft zu besuchen, wie ich wollte. Ich war höchstens einmal im Jahr hier, manchmal seltener, sonst …“ Sie trank einen Schluck Wein.

„Sonst?“

Jenna zuckte mit den Schultern. „Wäre ich öfter hier gewesen oder vor zwei oder drei Jahren ganz zurückgekehrt, wie ich es vorhatte, hätte ich gemerkt, wie schlecht es meiner Mutter ging.“

„Hat sie es Ihnen nicht erzählt?“

„Meine Eltern wollten ihre Kinder nicht mit ihren Problemen belasten. Ich wusste nicht, dass sie ein schwaches Herz hatte und dass mein Vater nicht mehr so viel arbeiten konnte. Ich hatte auch keine Ahnung, dass er die Steuern nicht bezahlt hatte. Sonst hätte ich ihnen vielleicht helfen können.“

Ian runzelte die Stirn. „Ist es Ihnen deshalb so wichtig, dass die Farm eine Farm bleibt? Weil Sie etwas wiedergutmachen wollen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Mein Vater war mit Leib und Seele Farmer, und sein letzter Wunsch war, dass sein Lebenswerk erhalten bleibt. Und darum kämpfe ich. Wenn ich nicht an Sie verkaufe und Sie die Farm nicht ersteigern, schaffe ich es vielleicht auch.“

„Jetzt fühle ich mich schuldig!“

„Gut!“ Jenna lachte. „Heißt das etwa, Sie verzichten?“

„Ich hatte keine Ahnung, wie viel Ihnen die Farm bedeutet. Aber es ist zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Die Investoren, die Landschaftsarchitekten und die Bauunternehmer sind sich alle einig, dass Ihr Land der ideale Standort für das Trainingszentrum ist. Die Entscheidung liegt nicht mehr bei mir. Tut mir leid.“

Vielleicht war Ian nur ein überzeugender Lügner, aber Jenna hatte das Gefühl, dass er es ernst meinte.

„Selbst wenn es zu einer Versteigerung kommen sollte, haben Sie keine Garantie, dass die Farm als Farm erhalten bleibt“, fuhr er fort. „Es kann durchaus sein, dass die Monarchs das beste Gelände für ihr Trainingszentrum an jemanden verlieren, der darauf eine Wohnsiedlung oder ein Gewerbegebiet errichtet.“

Jenna klammerte sich an ihre Hoffnung. Sie tat es für ihren Vater. „Ich glaube, Sie versuchen gerade, meinen schwachen Punkt zu finden und …“

„Das ist nicht wahr“, unterbrach er sie.

Bevor sie weitersprechen konnten, tauchte Chase auf. „Da bist du ja, Ian. Ich habe dich gesucht.“ Er begrüßte Jenna und machte ihr Komplimente über ihr Aussehen. Dann drehte er sich wieder zu Ian. „Ich möchte dich ein paar Leuten vorstellen, die dich unbedingt kennenlernen wollen.“

„Gute Idee.“ Jenna stieß sich vom Schreibtisch ab. „Ich muss nach Abby schauen.“ Sie nahm ihr Weinglas und ging davon.

Den Rest des Abends hielt Jenna sich von Ian Kincaid fern, aber dennoch musste sie immerzu an ihn denken. Irgendwann hatte sie genug davon, verabschiedete sich von Meg und holte Abby. Sie schnallte das kleine Mädchen auf den Rücksitz, und als sie sich umdrehte, stand Ian hinter ihr, einen Arm lässig aufs Wagendach gelegt.

„Ich kann Sie nicht fahren lassen, ohne ein Geständnis abzulegen …“

„Das soll gut für die Seele sein“, erwiderte Jenna.

„Am Samstag war ich nur auf der Farm, weil ich Sie kennenlernen wollte“, begann er. „Ich wollte herausfinden, warum Sie auf keinen Fall an mich verkaufen wollen, und ob ich Sie vielleicht doch noch umstimmen kann.“

„Es ging also nur ums Geschäft“, sagte sie und versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

„Ja, aber …“, er schüttelte den Kopf, „daran habe ich schon nach zwei Minuten nicht mehr gedacht, weil ich gern mit Ihnen rede.“

„Okay.“

„Und heute Abend habe ich Ihre Gesellschaft wirklich genossen. Wir haben dann doch wieder über die Farm gesprochen, und ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich hätte es darauf angelegt. Jetzt weiß ich, warum Sie mir die Farm nicht verkaufen wollen, und ich respektiere ihre Gründe.“ Er machte eine kleine Pause und holte tief Luft.

„Ich schlage vor, wir vergessen einfach, was uns trennt, und hören auf, einander aus dem Weg zu gehen. Dies ist eine kleine Stadt, und wir werden einander häufig begegnen. Zum Beispiel auf Shannons und Dags Hochzeit am Sonntag. Ich würde gern wieder ein Glas Wein mit Ihnen trinken und mich unterhalten. Meinen Sie, das wäre möglich?“

„Warum nicht?“

Er lächelte erleichtert. „Dann bist du einfach nur die beste Freundin der Ehefrau des Partners meines Bruders, und ich bin …“

„Der Bruder des Partners des Ehemanns meiner besten Freundin.“

„Und auf der Hochzeit trinken wir Wein und reden und tanzen vielleicht sogar?“, fragte Ian hoffnungsvoll.

„Vielleicht.“

„Gut“, sagte er, bevor er den Arm vom Wagendach nahm und ihre Schulter leicht, fast zärtlich drückte.

Überrascht sah Jenna Ian an und stellte sich auf einmal vor, wie er sie küsste.

Was sie natürlich niemals zulassen würde.

Hastig ging sie zur Fahrertür.

Ian nahm die Hand von ihrer Schulter.

„Ich muss los, bevor Abby friert“, erklärte sie.

„Natürlich.“ Er öffnete ihr die Tür, wartete, bis sie den Motor startete, und trat zur Seite.

Jenna fuhr davon und zwang sich, nicht in den Rückspiegel zu blicken.

Jenna hatte ihre Schicht im Krankenhaus beendet, Abby bei Meg abgeholt und sich rasch umgezogen. Danach bereitete sie eine Lasagne zu, schob sie in den Ofen und machte sich an den Abwasch. Als sie gedankenverloren aus dem Küchenfenster schaute, sah sie den ehemaligen Footballstar Morgan Kincaid um die Hausecke kommen, dicht gefolgt von seinem Sohn.

Morgan Kincaid blickte nicht in ihre Richtung, aber Ian bemerkte sie und ging sofort zum offenen Fenster. „Hi“, sagte er. „Ich habe geläutet.“

„Der Müllschlucker lief. Ich habe es nicht gehört.“

„Und ich habe dir auf die Mailbox gesprochen.“

„Ich habe noch nicht aufs Handy geguckt, seit ich zu Hause bin.“

„Mein Vater hat die Farm bisher nur auf Fotos gesehen und auf dem Rückflug nach Hause einen Zwischenstopp eingelegt“, erklärte Ian. „Ich hoffe, es stört dich nicht. Wenn du damit ein Problem hast, gehen wir wieder.“

„Seht euch ruhig um.“

Morgan Kincaid trat hinter ihn. „Hallo“, sagte er über Ians Schulter.

Ian warf ihm einen Blick zu. „Dad, das ist Jenna Bowen, die Eigentümerin. Jenna, dies ist mein Vater, Morgan Kincaid.“

Die Vorstellung war höflich, aber unnötig. Jenna kannte das Gesicht des älteren Mannes aus dem Fernsehen und von den Titelseiten der Hochglanzmagazine. Schon auf dem College hatte er Aufsehen erregt, und als Profi war er gleich mehrmals zum besten Spieler der Liga gewählt worden. Nach dem Ende seiner sportlichen Karriere hatte er seinen Ruhm und sein Vermögen genutzt, um die Kincaid Corporation aufzubauen und mit Einkaufszentren, Hotels, Autohäusern, Restaurants und jetzt den Montana Monarchs eine Menge Geld zu verdienen.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Kincaid.“

„Bitte nennen Sie mich Morgan“, erwiderte Ians Vater. „Mein Sohn hat mir erzählt, warum Sie die Farm verkaufen müssen. Jetzt hat er ein schlechtes Gewissen, weil er uns davon überzeugt hat, dass Ihr Land der ideale Ort für unser Trainingszentrum ist. Ich hoffe, Sie können eine Zwangsversteigerung vermeiden. Mein Angebot gilt noch immer.“

Jenna schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“

Morgan Kincaid nickte, aber sie sah ihm an, dass ihre Weigerung für ihn nichts änderte. Er würde bekommen, was er wollte. „War nett, Sie kennenzulernen“, sagte er, bevor er ihr den Rücken zukehrte und die Besichtigung fortsetzte.

„Danke.“ Lächelnd beugte Ian sich zu ihr. „Ich weiß nicht, was du gerade kochst, aber setz mich bitte auf die Gästeliste, okay?“

„Gern“, antwortete sie, denn sie vermutete, dass er nur scherzte.

Er zwinkerte ihr zu, als wären sie beide dabei, ein Komplott zu schmieden. Dann folgte er seinem Vater und beschrieb ihm die Lage der zukünftigen Spielfelder und Gebäude.

Morgan Kincaid hörte aufmerksam zu, stellte ein paar Fragen und wechselte abrupt das Thema. „Hast du mit Chelsea gesprochen?“

Chelsea? Jenna hatte gerade das Fenster schließen wollen, aber jetzt spitzte sie die Ohren.

„Vorgestern“, antwortete Ian.

„Hast du sie angerufen?“

„Sie hat mich angerufen.“

„Gut, gut. Kommt sie früher zurück?“

„Sie ist bei einem Fotoshooting in Paris, Dad. Das ist ihr Job, und sie fliegt erst zurück, wenn sie damit fertig ist.“

„Du könntest dir ein langes Wochenende nehmen und …“

„Dazu habe ich keine Zeit.“

„Die Monarchs brauchen einen Sponsor. Eine Profilizenz und eine Brauerei sind die ideale Kombination. Ich richte euch die größte Hochzeit aus, die Montana jemals gesehen hat.“

Chelsea? Fotoshooting in Paris? Hochzeit?

„Lass es, Dad“, sagte Ian scharf. „Chelsea und ich sind gute Freunde, mehr nicht.“

„Es könnte aber mehr daraus werden“, beharrte Morgan Kincaid. „Sie ist Model und bildhübsch. Wenn sie dich aus Paris angerufen hat, muss sie dich mögen.“

Ian lachte. „Wir haben den gleichen Musikgeschmack, das ist alles.“

„Aber ein langes Wochenende in Paris … auf Firmenkosten, das wäre …“

„Nein“, unterbrach Ian ihn, als wäre das Thema damit erledigt.

Aber nicht für Jenna.

Wer immer diese Chelsea war, sein Vater hatte das Ziel, Ian mit ihr zu verkuppeln. Jenna wusste nicht, warum sie das beunruhigte, aber plötzlich wollte sie, dass die Kincaids ihre Farm verließen.

Verschwindet endlich, dachte sie und wünschte, sie wäre eine Siedlerfrau im Wilden Westen und könnte die Eindringlinge mit einer Schrotflinte verjagen.

In diesem Moment blickte Morgan Kincaid auf die Uhr. „Ich muss l...

Autor

Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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Gina Wilkins
Die vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin Gina Wilkins (auch Gina Ferris Wilkins) hat über 50 Romances geschrieben, die in 20 Sprachen übersetzt und in 100 Ländern verkauft werden! Gina stammt aus Arkansas, wo sie Zeit ihres Leben gewohnt hat. Sie verkaufte 1987 ihr erstes Manuskript an den Verlag Harlequin und schreibt seitdem...
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