Bianca Exklusiv Band 367

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WO MEIN HERZ ZU HAUSE IST von RAEANNE THAYNE
Peng! Ein Schneeball landet in Hopes Auto – und mit ihm die Liebe. Denn der Onkel des kleinen Schützen ist unwiderstehlich … und Hope irgendwie vertraut. Erst nach innigen Wochen mit Rafe erfährt sie, woher sie den Ex-Seal kennt – und das junge Glück wird auf die Probe gestellt.

DER WUNDERBARSTE FEHLER MEINES LEBENS von CINDY KIRK
Die vernünftige Poppy geht romantischen Gefühlen am liebsten aus dem Weg. Bis sie bei einer Party von dem umschwärmten Arzt Benedict Campbell unbemerkt unter den Mistelzweig geführt wird. Plötzlich hat sie unwiderstehliche Lust, ihn zu küssen. Ein Fehler – oder unverhofftes Glück?

ZWEI WUNDER FÜR JODIE von LILIAN DARCY
Drei wunderbare Nächte verbringt Dev mit Jodie. Dann geschieht ein Unfall. Seine Geliebte fällt ins Koma – und schenkt dennoch ihrer gemeinsamen Tochter das Leben! Als Jodie endlich zu sich kommt, kann Dev nur beten, dass auch ihre Liebe erwacht: zu der Kleinen – und zu ihm …


  • Erscheinungstag 14.10.2023
  • Bandnummer 367
  • ISBN / Artikelnummer 0852230367
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

RaeAnne Thayne, Cindy Kirk, Lilian Darcy

BIANCA EXKLUSIV BAND 367

1. KAPITEL

Obwohl Thanksgiving erst in anderthalb Wochen sein würde, schien in Pine Gulch, Idaho, Weihnachten bereits mit all seinem verschneiten Glanz eingezogen zu sein.

Hope Nichols betrachtete die kleine, aber belebte Innenstadt durch die Windschutzscheibe ihres alten Pick-ups, den sie für gerade einmal tausend Dollar am Straßenrand in Salt Lake City erstanden hatte.

Schon an diesem späten Novembernachmittag erstrahlten die Schaufenster in weihnachtlichem Glanz – sie waren mit Christbäumen, Lichterketten, Spielzeugsoldaten und der ein oder anderen Weihnachtskrippe dekoriert.

Unterwegs zum Cold Creek Canyon stellte sie fest, dass die Adventszeit auch in den Wohnvierteln ihre Spuren hinterlassen hatte. Fast jedes Haus war geschmückt, und in den Gärten standen aufblasbare Schneemänner oder sogar Weihnachtsmänner mit Rentierschlitten.

Der Kitsch störte Hope nicht, selbst wenn Heiligabend noch weit weg war. Da sie Weihnachten in den letzten fünf Jahren kaum zu Hause gewesen war, freute sie sich dieses Jahr ganz besonders darauf. Und sie hatte auch allen Grund dazu, seit die Ranch ihrer Familie das weihnachtliche Epizentrum des gesamten Umkreises war.

Es lagen schon ein paar Zentimeter Schnee – nicht viel, aber genug für eine pittoresk weiße Schicht. Sie verlieh der Stadt, an die Hope in den letzten Jahren mit immer größerer Zuneigung zurückgedacht hatte, ein vorweihnachtliches Flair.

Streng genommen war Pine Gulch zwar nicht Hopes Heimatstadt, aber sie und ihre beiden Schwestern hatten hier den Großteil ihrer Teenagerzeit verbracht, und sie liebte einfach alles an dem Städtchen: den Anblick der westlichen Ausläufer der Tetons in der Ferne, die bescheidenen Läden und die liebenswürdigen Menschen, die ihr auch jetzt zuwinkten, obwohl sie sie in dem alten blauen Pick-up bestimmt nicht erkannten.

Der Wagen war ihr schon jetzt ans Herz gewachsen. Er fuhr sich zwar nicht gerade traumhaft, hatte jedoch Allradantrieb und auch sonst alles, was man brauchte. Ihn zu kaufen war eine spontane Bauchentscheidung gewesen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich in Salt Lake City einen Wagen zu mieten, um nach ihrer Landung aus Nordafrika nach Hause zu fahren, hatte sich dann aber spontan für eine dauerhaftere Lösung entschieden. Der Truck würde Hope gut durch den Winter bringen – bis sie entschieden hätte, wie es weitergehen solle. Nach zehn Jahren Herumreisen brauchte sie mal eine Verschnaufpause.

Sie wurde immer nervöser, während sie sich auf der fünfstündigen Fahrt nach Salt Lake City immer wieder vorstellte, wie ihre Verwandten reagieren würden, wenn sie mit ihrer Reisetasche aus dem blauen Truck stieg. Tante Mary würde vermutlich in Tränen ausbrechen, ihre ältere Schwester Faith ganz schockiert sein und ihre jüngere Schwester Celeste zurückhaltend lächeln.

Wenigstens die Kinder würden sich freuen, auch wenn Louisa und Barrett sich – wie die anderen bestimmt auch – noch nicht vom Tod ihres Vaters Travis erholt hatten. Faiths Ehemann war vor vier Monaten bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Hope war natürlich zu seiner Beerdigung gekommen, hatte seitdem aber nur oberflächlichen Kontakt zu ihrer Familie gehabt.

Es wurde Zeit, nach Hause zurückzukehren, höchste Zeit sogar. Seit Travis’ Tod wurde Hope irgendwie das Gefühl nicht los, dass ihre Familie sie brauchte, obwohl alle immer wieder das Gegenteil beteuerten. Die Adventszeit auf der Christmas Ranch war immer sehr stressig. Da wurde jede Hand gebraucht. Auch die der rastlosen Wander…

Peng!

Irgendetwas knallte mit der Lautstärke eines Gewehrschusses gegen das Beifahrerfenster ihres Trucks und zersplitterte die Fensterscheibe. Instinktiv trat Hope auf die Bremse, ging in Deckung und stieß einen Fluch aus, den ihr ihre marokkanischen Schüler beigebracht hatten.

Was zum …?

Wer würde hier auf sie schießen? Für einen Moment war sie starr vor Schreck und fühlte sich genau wie ein verängstigtes dreizehnjähriges Mädchen. Sie hatte nicht oft Flashbacks, aber wenn, dann überwältigten sie sie mit voller Wucht.

Tief Luft holend versuchte sie, ihrer Panik Herr zu werden. Sie befand sich in Pine Gulch. Hier gab es weder Heckenschützen noch Rebellen. Niemand schoss hier in der Gegend herum.

Sie hob den Blick zum Fenster, wo sich an Stelle der Scheibe nur noch ein gähnendes Loch befand. Auf dem Boden des Wagens lag zersplittertes Glas, in dem ein kleines Häufchen Schnee schmolz – nebst einem ziemlich großen Stein.

Kein Gewehrschuss also, sondern nur ein ziemlich übler Streich. Vorsichtig hob sie den Kopf und blickte nach draußen. Zuerst sah sie nichts, doch dann blieb ihr Blick an etwas hängen, das sich am Straßenrand bewegte.

Ein kleiner Junge stand dort. Er sah erschrocken und ziemlich schuldbewusst aus.

Hope fuhr an den Straßenrand, sprang aus dem Wagen und ging auf ihn zu.

Der Junge starrte sie aus aufgerissenen Augen an, bevor er herumwirbelte und über den schneebedeckten Garten auf ein Haus zurannte. In diesem Augenblick kam ein Mann mit zwei Schneeschaufeln um die Ecke.

„Du hast Glück, Junge“, rief er. „Ich habe für uns beide Schaufeln gefunden.“

Er verstummte, als sich der Junge hinter ihm versteckte, um ihn als Schutzschild zu benutzen – so, als befürchte er, dass Hope ebenfalls mit Steinen gespickte Schneebälle nach ihm werfen würde.

„Hey! Komm sofort zurück, junger Mann!“, sagte sie mit ihrer strengsten Leg-dich-bloß-nicht-mit-mir-an-Lehrerinnen-Stimme.

Der Mann runzelte irritiert die Stirn und legte die Schaufeln auf den Bürgersteig. „Entschuldigen Sie mal, Lady. Was ist Ihr Problem?“

Hope sagte sich, dass ihr Herz nur wegen der zerbrochenen Fensterscheibe so heftig klopfte. Dass es nichts mit diesem großen muskulösen umwerfenden Mann mit dem kurzen dunklen Haar und den faszinierenden braunen Augen vor ihr zu tun hatte. Sein unfreundlicher Gesichtsausdruck ließ ihn sogar noch männlicher wirken – und einschüchternder.

Aber sie war schon mit viel schlimmeren Tyrannen als diesem Kleinstadt-Cowboy mit seinem schlecht erzogenen Kind fertiggeworden.

Sie zeigte auf ihren Pick-up, dessen Motor noch lief. „Ihr Sohn hier ist mein Problem – oder vielmehr der Stein, den er gerade in mein Fenster geworfen hat. Er hätte mich dabei ernsthaft verletzen können. Es ist ein Wunder, dass ich nicht von der Straße abgekommen bin.“

„Ich bin nicht sein Sohn“, widersprach der Junge.

War es ein Wunder, dass Hope sofort an eine Entführung dachte, vor allem nach ihrem plötzlichen Flashback? „Nicht?“

„Ich bin sein Onkel“, erklärte der umwerfende Mann und warf einen frustrierten Blick auf den Jungen. „Sind Sie sicher? Sie müssen sich irren. Joey würde nie mit Steinen auf einen fahrenden Wagen werfen – schon gar nicht auf ein unbekanntes Fahrzeug.“

Wem wollte er etwas vormachen, ihr oder sich selbst? „Dann erklären Sie mir mal bitte, warum mein Fenster jetzt kaputt ist und warum Joey genau in dem Moment weglief, als ich ausstieg.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Joey, sag der freundlichen Lady, dass du nichts gegen ihr Fenster geschleudert hast!“

Der Junge erwiderte Hopes Blick trotzig, schaute dann jedoch betreten zu Boden. „Es war kein Stein“, sagte er und fügte kaum hörbar hinzu: „Es war ’n Schneeball.“

„Ein Schneeball mit einem Stein darin“, korrigierte Hope ihn streng.

Der Junge hob wieder den Blick und sah seinen Onkel flehentlich an. „Es war ’n Unfall. Ich wollte das nicht, wirklich nicht, Onkel Rafe.“

„Joey …“ Der Mann klang so resigniert, dass Hope sich unwillkürlich fragte, was mit den beiden los war. Wo steckten die Eltern des Jungen?

„Es war ’n Unfall“, beharrte der Kleine. Er klang, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.

Ein Unfall“, verbesserte Hope ihn.

„Na gut.“

„Korrektes Englisch zu sprechen ist wichtig, wenn du deinen Standpunkt vertreten willst.“ Sie wusste, dass sie gerade total oberlehrerhaft klang, aber sechs Jahre beim Friedenskorps und danach als Englischlehrerin hatten halt ihre Spuren hinterlassen.

„Na gut, es war ein Unfall“, sagte der Junge mit so übertriebener Betonung, dass sie ein Lächeln unterdrücken musste.

„Schon besser, aber ich weiß noch immer nicht, ob ich dir glauben kann. Du hast doch bestimmt mit Absicht auf meinen Truck gezielt.“

„Ich wollte das Fenster nicht kaputt machen. Ich wollte nur die Radkappe treffen. Meine Freundin Samantha und ich spielen ’n Spiel. Für jede Radkappe gibt es fünf Punkte.“

„Meine Freundin Samantha und ich spielen ein Spiel“, korrigierte Hope ihn automatisch. Leider wurde der Onkel des Kleinen jetzt ernsthaft wütend … und wirkte noch größer, rauer und gefährlicher.

Hope fühlte sich plötzlich sehr klein und schwach.

„Unterlassen wir doch bitte die Englischlektionen, Lady, und konzentrieren uns auf Ihre Fensterscheibe.“

Hope wurde zunehmend nervös. Lag es an dem Militärhaarschnitt des Mannes, seinen Muskeln oder seinem guten Aussehen? Sie verdrängte ihre Unsicherheit und zwang sich dazu, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

„Sorry, das ist wie eine Art Reflex. Ich höre auch sofort auf damit. Ich habe in den letzten Jahren Englisch in Nordafrika unterrichtet und war davor beim Friedenskorps. Ich bin gerade erst nach Pine Gulch zurückgekehrt, um meine Familie zu besuchen. Sie wohnt im Cold Creek Canyon und …“

Sie verstummte. Wie kam sie darauf, dass ihn das interessieren könnte? Sie räusperte sich verlegen. „Richtig, das Fenster. Das war ganz schön leichtsinnig von dir, junger Mann. Sag deiner Freundin Samantha, dass es eine sehr schlechte Angewohnheit ist, mit Schneebällen nach Autos zu werfen, ob mit oder ohne Stein. Die Fahrer könnten einen Schreck kriegen und von der Fahrbahn abkommen und sich verletzen – und vielleicht sogar euch.“

Der Junge sah sie trotzig an, sagte jedoch nichts, bis sein Onkel ihm einen kleinen Stoß versetzte.

„Sag der netten Lady, dass es dir leidtut.“

„Ich finde sie aber nicht nett“, widersprach der Kleine.

Hope unterdrückte wieder ein Lächeln … bis sie dem Blick des Mannes begegnete. Er sah alles andere als belustigt aus. Humorloser Idiot!

„Darum geht es nicht.“ Der Mann sah seinen Neffen streng an. „Entschuldige dich bei ihr!“

Joey senkte den Blick für einen Moment zum schneebedeckten Boden unter seinen Füßen und hob ihn dann wieder zu Hope. „Tut mir leid, dass ich Ihr Fenster und nicht Ihre Radkappe getroffen habe“, murmelte er widerstrebend. „Wir kriegen keine Punkte für Fenster.“

Die Entschuldigung klang zwar wenig überzeugend, aber Hope beschloss, sich damit zufriedenzugeben. Sie hatte allmählich genug von der Situation und wollte nur noch nach Hause.

„Das Fenster hatte sowieso ’nen Riss“, fügte der Junge aufsässig hinzu. „Es wäre sonst vielleicht gar nicht zerbrochen.“

„Du wirst keine Schneebälle mehr auf Autos werfen!“, ermahnte der Mann den Jungen scharf. „Und du wirst auch Samantha untersagen, so etwas zu tun, okay?“

„Aber ich war beim Gewinnen! Sie wollte mir ihre neue Darth-Vader-Legofigur schenken, wenn ich gewinne, und ich ihr meine grüne Ninja-Figur, wenn sie gewinnt.“

„Tja, Pech gehabt. Die Lady hat recht, es ist viel zu gefährlich. Sieh doch nur, welchen Schaden du schon angerichtet hast!“

Der Junge sah nicht gerade erfreut aus. „Na gut“, sagte er achselzuckend.

„Wir bezahlen natürlich die neue Fensterscheibe. Lassen Sie sie reparieren und schicken Sie mir die Rechnung. Ich heiße Rafe Santiago. Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass ich nur für ein paar Wochen hier sein werde.“

Der Name kam Hope irgendwie bekannt vor. Waren sie einander schon mal begegnet? Seine dunklen Augen erinnerten sie ebenfalls an jemanden, aber an wen?

„Mach ich.“ Sie streckte ihm eine Hand entgegen, um das Kriegsbeil zu begraben. „Ich bin Hope Nichols. Sie finden mich auf der Star N Ranch im Cold Creek Canyon.“

Seine Augen blitzten bei ihren Worten kurz auf. „Nichols?“, fragte er scharf.

„Ja.“

Vielleicht kannte er ja ihre Schwestern, obwohl sie sich das nicht vorstellen konnte.

„Darf ich reingehen?“, jammerte Joey. „Ich habe Schnee in den Stiefeln, und meine Füße sind eiskalt.“

„Ja, geh nur. Aber tritt dir den Schnee auf der Veranda ab, nicht drinnen.“

Joey rannte davon, und Rafe Santiago – warum kam der Name ihr nur so bekannt vor? – drehte sich wieder zu Hope um.

„Ich muss mich für meinen Neffen entschuldigen“, sagte er hölzern. „Er hatte es in den letzten Wochen nicht leicht.“

Hope fragte sich, was mit dem Kleinen los war, aber da Rafe Santiago ihr keine weiteren Erklärungen gab, behielt sie ihre Neugier für sich. „Ich hoffe, ich war nicht zu streng mit ihm.“

„Seine momentane Situation ist keine Entschuldigung für sein Verhalten. Ich werde mit ihm und seiner Freundin über diesen albernen Wettbewerb reden und dafür sorgen, dass so etwas nicht mehr passiert.“ Der Mann öffnete den Mund, als wolle er noch etwas sagen, doch er schwieg.

Als das Schweigen zwischen ihnen immer unangenehmer wurde, räusperte Hope sich verlegen. „Also, ich muss jetzt weiterfahren. Meine Familie wartet schon auf mich. Ich melde mich bei Ihnen, Mr. Santiago.“

„Rafe“, korrigierte er sie schroff.

Ist er immer so unfreundlich oder nur zu mir?

„Okay, Rafe. Es war nett, Sie kennenzulernen, auch unter diesen Umständen.“

Hope eilte zurück zu ihrem Truck und stieg ein. Als sie weiterfuhr, wurde sie das seltsame Gefühl nicht los, dass gerade etwas Bedeutsames passiert war.

Rafe sah den Rücklichtern ihres Wagens im frühen Abendlicht hinterher, bis sie hinter der nächsten Kurve verschwanden. Selbst dann rührte er sich noch nicht vom Fleck. Er stand noch immer unter Schock von dieser Zufallsbegegnung.

Hope Nichols also. Verdammt noch mal.

Er überdachte seine Worte. Er durfte nicht fluchen, noch nicht mal in Gedanken. Joey konnte beim besten Willen nicht noch mehr schlechte Angewohnheiten gebrauchen, und was Rafe nicht einmal mehr dachte, konnte er auch nicht aussprechen.

Das war zumindest die Theorie, aber nach zwanzig Jahren bei der Navy, siebzehn davon als SEAL, fiel ihm das schwerer als gedacht.

Leider blieb ihm keine andere Wahl. Ob es ihm gefiel oder nicht – und es gefiel ihm verdammt noch mal nicht –, er war jetzt für Joey verantwortlich.

Hope Nichols. Was für ein Zufall.

Er wusste zwar, dass sie und ihre Schwestern vor siebzehn Jahren nach Pine Gulch zu einem Onkel und dessen Frau gezogen waren, hätte jedoch nicht damit gerechnet, ihr hier zu begegnen. Damals war er froh gewesen, dass jemand sie aufgenommen hatte.

Danach.

Das hatte seine Schuldgefühle zumindest etwas erträglicher gemacht.

Ein paar Monate später hatte er von der Ältesten einen Brief bekommen. Das Mädchen konnte damals gerade einmal vierzehn oder fünfzehn gewesen sein, doch ihr Brief hatte sich wie der einer älteren, gut erzogenen Dame gelesen.

Rafe hatte sich die Worte damals gut eingeprägt.

Lieber Special Warfare Operator Santiago,

danke dafür, dass Sie mitgeholfen haben, uns von Juan Pablo und seinen Rebellen zu befreien. Sie und die anderen Männer Ihrer Navy-SEAL-Einheit haben Ihr Leben für uns aufs Spiel gesetzt. Ohne Sie wären wir noch immer in diesem schrecklichen Lager gefangen. Sie sind für uns echte amerikanische Helden. Meine Schwestern und ich werden nie vergessen, was Sie für uns getan haben.

Hochachtungsvoll, Faith Marie Nichols

Der sorgfältig formulierte Brief war auf eine so rührende Art schrecklich gewesen, dass Rafe ihn jahrelang in seiner Brieftasche aufbewahrt hatte, um nicht zu vergessen, dass man sich als Navy SEAL keinen Fehler erlauben konnte.

Hope – die nervige Englischlehrerin mit dem uralten Pick-up – war die mittlere Schwester gewesen, mit langen blonden Haaren und verängstigten blauen Augen, soweit er sich erinnerte. Sie hatte verzweifelt geschrien, als ihr Vater erschossen worden war. Das Echo ihrer herzzerreißenden Schreie hatte ihn noch jahrelang verfolgt.

Er atmete tief durch. Und jetzt war sie hier, nur ein paar Meilen von ihm entfernt. Und er musste sie noch mindestens einmal wiedersehen.

Ob sie ihn erkannt hatte? Rafe war sich da nicht sicher. Sie hatte ihn zwar ein paarmal ganz seltsam angesehen, aber nichts gesagt.

Warum hatte er sich ihr gegenüber eigentlich nicht zu erkennen gegeben und ihr die alte Geschichte erklärt?

Rafe wusste es nicht. Irgendwie war ihm die Gelegenheit unpassend vorgekommen. Man sagte nicht einfach zu jemandem: „Hey, ich weiß, das ist ein schräger Zufall, aber ich war an dem Tag dabei, als Ihre Familie aus den Händen von Terroristen befreit wurde. Ach, und übrigens, es war unter anderem meine Unerfahrenheit, die den Tod Ihres Vaters verschuldet hat. Tut mir leid, genau wie das mit Ihrer zerbrochenen Fensterscheibe.“

Er seufzte schwer. Warum hatte das Schicksal ihn ausgerechnet in die Nähe der Nichols-Schwestern geführt? Als seine Schwester Cami ihn weinend angerufen und ihm erzählt hatte, dass sie verhaftet und Joey vom Jugendamt übernommen worden sei, hatte er sofort beschlossen, seinem Neffen zu helfen, ganz egal, wie. Dass sie ausgerechnet in der Stadt verhaftet worden war, wo die Nichols-Schwestern nach jener Tragödie an Weihnachten vor siebzehn Jahren Unterschlupf gefunden hatten, war ihm erst bewusst geworden, als er vor zwei Wochen in die Stadt gekommen war.

Als Rafe in den beiden darauffolgenden Wochen damit beschäftigt gewesen war, seinem Neffen ein geregeltes Leben zu bieten, hatte er sich häufiger gefragt, ob die Schwestern noch hier wohnten. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sie zu besuchen – aber jetzt war ihm diese Entscheidung aus der Hand genommen worden.

Rafe war nach wie vor entsetzt, was aus seiner Schwester geworden war. Sie war von der Klassenbesten auf der Highschool in ein Leben voller Drogen und Kriminalität abgerutscht. Er hatte sein Bestes gegeben, ihr zu helfen, indem er gleich mit achtzehn zur Navy gegangen war und der Tante, die Cami damals widerstrebend bei sich aufgenommen hatte, Geld geschickt hatte. Genützt hatte das alles nichts.

Was Cami anging, hatte er offensichtlich versagt. Jetzt blieb ihm nur noch eins übrig: es bei ihrem Sohn besser zu machen.

Er öffnete die Tür des Hauses, das er vorübergehend gemietet hatte, damit er sich um Joey kümmern konnte, bis Cami in ein paar Wochen verurteilt würde. Joey saß auf der Bank in der Diele wie ein Häufchen Elend. Er hatte noch immer seine Jacke und seine Stiefel an, als wartete er auf eine Strafe.

Rafe wurde bei seinem Anblick von Mitgefühl überwältigt.

„Ich wollte das Fenster der gemeinen Lady nicht kaputt machen“, sagte der Junge mit dünner Stimme.

Rafe wusste, dass der Junge die Konsequenzen seines Fehlverhaltens spüren musste, um zu lernen, dass sein Handeln Folgen für das Leben anderer Menschen hatte. Trotzdem hätte Rafe in solchen Augenblicken manchmal gern sämtliche Erziehungsratgeber vergessen und seinen Neffen einfach nur in die Arme genommen. „Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast, aber du siehst ja, was passiert ist. Du hast Mist gebaut, Junge.“

Die Ironie seiner Worte war Rafe nur allzu schmerzlich bewusst. Joeys Tun hatte Hope Nichols ein Autofenster gekostet – etwas, das sich ohne Weiteres ersetzen ließ. Rafes Entscheidungen hingegen hatten seinerzeit viel weitreichendere Auswirkungen gehabt.

Wenn seine Reflexe damals besser gewesen wären, hätte er den schießwütigen Rebellen unschädlich gemacht, ehe der den tödlichen Schuss auf Hope Nichols’ Vater abgeben konnte.

„Muss ich das Fenster bezahlen?“, fragte Joey kleinlaut. „Ich habe nur acht Dollar. Ist es teurer?“

„Das werden wir sehen. Vielleicht bezahle ich es, und du arbeitest es bei mir ab.“

Der Junge sah aus dem Fenster. „Ich kann ja Schnee schippen“, sagte er hoffnungsvoll.

„Ich sage das ja nur ungern, aber damit wollte ich dich sowieso beauftragen. Es wird eine deiner regelmäßigen Aufgaben sein, mir zu helfen. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen, um Miss Nichols zu entschädigen.“

Wenn ihm doch auch nur etwas für sich selbst einfiele! Doch er wusste, dass er sein Versäumnis bei Hope oder ihren Schwestern niemals wiedergutmachen konnte.

2. KAPITEL

Irgendetwas stimmte absolut nicht.

Hope versuchte, sich einzureden, dass ihr noch immer die Begegnung mit Rafe Santiago und seinem so niedlichen, aber anscheinend völlig unerzogenen Neffen in den Knochen steckte. Niemand fühlt sich wohl, wenn einem erst das Autofenster zerschmettert wird und dann plötzlich ein großer, einschüchternder Mann gegenübersteht. Ihr unbehagliches Gefühl verstärkte sich jedoch, als sie auf der Star N und der ganz besonderen Christmas Ranch ankam, die sich als weihnachtliche Attraktion auf etwa sechs Hektar der Rinderfarm erstreckte.

Wo waren sie alle? Der Parkplatz vor der charmanten und rustikalen St. Nicholas Lodge war komplett leer, was um diese Zeit sehr ungewöhnlich war. Eigentlich müssten hier gerade zahlreiche Arbeiter alles für die Weihnachtssaison vorbereiten. Bis zur Eröffnung mussten normalerweise allerhand Erledigungen gemacht, Anstriche erneuert und Reparaturen durchgeführt werden.

Doch das Weihnachtsdorf sah so verlassen aus wie eine Geisterstadt. Fehlte nur noch etwas durch die Straßen wehendes Steppenkraut, um das Bild komplett zu machen.

Kalte Luft wehte durch Hopes kaputte Autoscheibe, als sie an der verödeten Christmas Ranch vorbeifuhr. Bei der Einfahrt zum Parkplatz erschrak sie und bremste scharf.

Ein weißes Banner verdeckte das Schild mit dem Gruß „Willkommen auf der Christmas Ranch, wo Ihre Weihnachtswünsche wahr werden“. Auf ihm stand in großen roten Buchstaben: Auf unbestimmte Zeit geschlossen.

Geschlossen? Auf unbestimmte Zeit?

Unmöglich! Hope war fassungslos. Ihre Schwestern hatten doch nicht etwa die Christmas Ranch geschlossen, ohne ihr etwas davon zu sagen? Dieser Weihnachtsmarkt war eine etablierte Tradition in der Gegend, ein Geschenk der Nichols-Familie an Pine Gulch und das ganze südöstliche Idaho.

Aus der ganzen Region strömten Familien herbei, um die Weihnachtsstimmung zu genießen, Schlitten zu fahren und den mit Schnee bedeckten Hügel hinunterzurodeln. Sie besuchten den Weihnachtsmann, die Rentiere im Streichelzoo, den Laden mit regionalem Kunsthandwerk und sahen sich die Riesensammlung Weihnachtskrippen aus aller Welt an, die Hopes Eltern jahrelang gesammelt hatten.

Die Christmas Ranch war ein Ort voller Magie, ein Stück Weihnachten für die ganze Gemeinde. Wie konnten ihre Schwestern und Tante Mary sie auf unbestimmte Zeit dichtmachen?

Hope war so schockiert, dass ihre Hände auf dem Lenkrad zitterten, als sie die gewundene Zufahrt zum Haupthaus entlangfuhr. Mit klopfendem Herzen parkte sie vor dem großen weißen, zweistöckigen Gebäude und stieg die Stufen zu der breiten Veranda hinauf.

Obwohl sie am liebsten dramatisch ins Haus geplatzt wäre, zwang sie sich dazu, anzuklopfen. Zunächst reagierte niemand. Sie wollte gerade lauter klopfen, als die Tür plötzlich geöffnet wurde. Doch statt Faith oder Tante Mary stand Hopes Neffe Barrett vor ihr.

Bei ihrem Anblick leuchtete sein kleines Gesicht so erfreut auf, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. Ihre lange Fahrt hierher hatte sich also doch gelohnt.

„Tante Hope! Was machst du denn hier? Ich wusste ja gar nicht, dass du kommst!“

„Ich wollte euch alle überraschen.“

Ihr Neffe schlang ihr die Arme um die Taille. Als Hope ihn an sich drückte, ging es ihr schon wieder besser – auch wenn er sie an einen anderen kleinen Jungen erinnerte, der über ihr Auftauchen längst nicht so begeistert gewesen war.

Barrett war sieben, und ihre Beziehung hatte sich vor allem per E-Mail und gelegentlichem Skypen entwickelt. Hope wurde bewusst, wie sehr ihr Umarmungen wie diese gefehlt hatten. Sie empfand plötzlich eine fast schmerzhafte Sehnsucht nach ihrer Familie und ihrem Zuhause.

„Wer ist da an der Tür, Barrett?“, hörte sie ihre Schwester aus der Küche rufen.

„Psst, ich will sie überraschen“, sagte Hope.

„Äh, niemand“, rief Barrett zurück. Offensichtlich war er kein besonders geschickter Lügner.

„Aber es hatte doch geklopft – komisch …“

Faiths Irritation war nicht zu überhören. Verschwörerisch legte Hope einen Finger an die Lippen und ging Richtung Küche.

Sie sah Faith an der Kücheninsel in dem Raum, der die Schaltzentrale des Hauses war. Sie trug das dunkle Haar in einem unordentlichen Pferdeschwanz und sah müde aus. Sie hatte dunkle Augenringe und tiefe Furchen neben den Mundwinkeln.

Hopes restliche Wut verpuffte. Ihre Schwester hatte so viel verloren – alles! –, und sie war nicht für sie da gewesen.

„Wer war denn jetzt an der Tür, Barrett? Etwa schon wieder UPS mit einem Paket für Tante Mary?“ Als Faith ihren Sohn kichern hörte, hob sie den Kopf von dem Gemüse, das sie gerade schnitt. Ihr klappte die Kinnlade nach unten. „Hope! Was in aller Welt …?“

Hope lächelte verkrampft. „Überraschung!“

Ihre Schwester wischte sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab und kam auf sie zu. Hope fiel auf, dass sie abgenommen hatte. Sie wirkte unglaublich zerbrechlich, so als würde ein bloßer Windstoß genügen, um sie umzupusten. Aber kein Wunder. Sie hatte erst vor vier Monaten die Liebe ihres Lebens verloren, ihren Freund seit Jugendtagen, und hatte bisher kaum Zeit gehabt, seinen Tod zu verarbeiten.

Travis Dustin war beim Zusammentreiben der Herde in den Bergen mit seinem Geländewagen verunglückt. Hope konnte selbst noch immer nicht fassen, dass er tot war. Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn noch genau vor sich.

Hope nahm ihre Schwester in die Arme und drückte sie fest an sich.

Faith schmiegte eine Wange an Hopes Gesicht. „Was für eine schöne Überraschung! Ich dachte, du wolltest nach Nepal, wenn du in Marokko fertig bist.“

„Das hatte ich auch vor, aber dann habe ich beschlossen, für ein paar Monate zu pausieren. Ich brauche mal eine Auszeit vom vielen Reisen. Ich dachte, ich kann vielleicht für eine Weile hierbleiben und euch helfen.“

„Ach. Es wäre jedenfalls schön, dich mal länger hier zu haben als nur ein paar Tage.“

„Ich könnte bis nach den Feiertagen bleiben, wenn euch das recht ist.“

Faith schien sich aufrichtig zu freuen, auch wenn ihre Freude etwas gedämpft wirkte. „Klar, das hier ist auch dein Zuhause. Du bist hier immer willkommen, das weißt du.“ Sie sah Hope forschend an. „Ich nehme an, du hast das Schild am Eingang der Christmas Ranch gesehen?“

Hope versuchte, ein bisschen von ihrer Wut von vorhin zu reaktivieren, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte ihre Schwester immer für ihren Mut, ihr liebes Wesen und ihre praktische Veranlagung geliebt und bewundert – alles Eigenschaften, die Hope nicht besaß.

„Ja, habe ich. Was hat das zu bedeuten?“

„Wir öffnen die Christmas Ranch dieses Jahr nicht“, schaltete Barrett sich ein. Er klang enttäuscht.

Hope legte ihm eine Hand auf eine Schulter und sah ihre Schwester an. „Das habe ich schon vermutet, als ich das Schild sah. Ich kann es kaum glauben. Warum hast du nichts davon gesagt?“

Faith presste die Lippen zusammen. „Das hatte ich vor. Ich hätte es dir spätestens dann gesagt, wenn du dich nach der Christmas Ranch erkundigt hättest, aber ich sah keinen Sinn darin, dich zu beunruhigen, wenn du sowieso nicht hier bist.“

Hope konnte ihrer Schwester vermutlich keinen Vorwurf machen. Ihre Familie hatte keinen Anlass, zu glauben, dass es dieses Jahr anders sein würde als in den Jahren davor, in denen sie nur ein, höchstens zwei Tage lang auf einen kurzen Besuch auf der Ranch gewesen war.

„Was ist denn los? Warum ist die Ranch gleich auf unbestimmte Zeit geschlossen?“

Faith schlug etwas kräftiger auf den Pizzateig ein, der auf dem Tisch lag. „Tante Mary und ich haben beschlossen, dieses Jahr eine Pause einzulegen, bis wir wissen, wie es weitergeht.“

Sie richtete einen bedeutungsvollen Blick auf ihren Sohn. „Da wir gerade von Mary reden – Barrett, würdest du sie bitte holen? Ich glaube, sie ist vorhin in ihr Zimmer gegangen, um zu stricken.“

„Sie macht bestimmt nur ein Nickerchen“, sagte er grinsend und verließ die Küche.

„Ein Nickerchen?“, fragte Hope, kaum dass ihr Neffe außer Hörweite war. Die Vorstellung, dass ihre vor Energie strotzende Tante zwischendurch schlief, war völlig abwegig.

„Ja, sie schläft fast jeden Nachmittag. Vergiss nicht, sie ist in den Siebzigern und daher nicht mehr so fit wie früher – erst recht nicht seit Onkel Claudes Tod.“

„Soll das heißen, dass sie die Ranch auch schließen will?“

„Ja, und Celeste war ebenfalls dafür. Wir haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen. Uns blieb keine andere Wahl.“

„Aber die Menschen hier lieben die Christmas Ranch! Sie gehört genauso zur Tradition wie der große Tannenbaum auf dem Marktplatz oder die Eisbahn auf dem Tennisplatz hinter dem Rathaus.“

„Glaubst du, das weiß ich nicht? Das hier ist mein Zuhause, schon vergessen? Du hingegen bist seit deinem Schulabschluss kaum hier gewesen.“

Faiths Worte waren vielleicht nicht als Vorwurf gemeint, aber sie versetzten Hope trotzdem einen Stich.

„Der Betrieb der Ranch ist sehr kostspielig. Wir haben das Geld einfach nicht. Letztes Jahr musste der dämliche Traktor ersetzt werden und das Jahr davor das Dach auf der St. Nicholas Lodge. Schon allein die Haftpflichtversicherung treibt uns fast in den Ruin.“

Hope runzelte die Stirn. „Aber Travis hat die Ranch geliebt, und Onkel Claude auch! Es war sein Lebenswerk. Wie kannst du diese Tradition einfach so beenden?“

„Onkel Claude ist tot, genauso wie Tr…Travis.“ Faiths Stimme zitterte ein bisschen, als sie den Namen ihres Mannes aussprach. Hope kam sich plötzlich sehr selbstgerecht vor.

„Mary, Celeste und ich sind allein. Mary ist nicht mehr die Jüngste, und Celeste arbeitet fünfzig Stunden die Woche in der Stadtbibliothek. Das meiste bleibt also an mir hängen, und ohne Travis schaffe ich nicht mehr als die Viehwirtschaft. Wir hätten die Ernte und das Zusammentreiben der Herde nie hingekriegt, wenn Chase Brannon uns nicht geholfen hätte. Aber der hat seine eigene Ranch.“

„Ich bin ja jetzt da. Ich kann euch doch helfen!“

„Und wie lange bleibst du diesmal?“

Die Frage war berechtigt. Hope wusste für einen Moment nicht, was sie antworten sollte. „Ich habe keine festen Pläne und kann über die Feiertage bleiben. Überlass mir doch die Christmas Ranch. Dann kannst du dich auf die Star N Ranch konzentrieren, während ich für die Weihnachtsstimmung sorge.“

Sollte sie mit einer begeisterten Reaktion gerechnet haben, wurde sie enttäuscht. Faith schüttelte nur den Kopf. „Du weißt nicht, wovon du sprichst. Es geht nicht nur darum, ein Koboldkostüm zu tragen und Tickets zu verkaufen. Du warst schon seit Jahren während der Feiertage nicht mehr hier, und Claude hat das Gelände seitdem erweitert. Dir fehlt die nötige Erfahrung.“

„Ich habe als Jugendliche hier fünf Jahre lang ausgeholfen. Das waren wunderschöne Zeiten, Faith.“

Dem Gesichtsausdruck ihrer Schwester nach zu urteilen war diese da anderer Meinung. Faith hatte die Christmas Ranch nie gemocht, vermutlich weil das Weihnachtsdorf sie an die schlimmste Zeit ihres Lebens erinnerte.

Als die drei Schwestern vor vielen Jahren zu Mary und Claude auf die Star N Ranch kamen, waren sie vom Tod ihres Vaters am Weihnachtstag schwer traumatisiert gewesen. Claude hatte ihnen den Winter darauf Jobs am Erfrischungsstand gegeben. Damals hatte die Christmas Ranch nur aus dem Rentier-Streichelzoo und dem Christmas Village bestanden. Faith hatte schon damals nur sehr widerwillig mitgeholfen und immer einen Bogen um die Christmas Ranch gemacht. Kein Wunder, dass sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit alles dichtmachte.

„Also, ich habe immer sehr gern dort gearbeitet. Ich liebe die Christmas Ranch. Ich schaff das schon. Vertrau mir einfach!“

„Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst! Nächste Woche ist schon Thanksgiving. Da bleibt nicht genug Zeit, um alles vorzubereiten.“

Hope wusste selbst nicht, warum die Christmas Ranch ihr so wichtig war. Die Vorstellung, dass sie dieses Jahr geschlossen bleiben würde, war ihr unerträglich. Sie hatte sich so darauf gefreut – was ihr aber erst jetzt bewusst wurde.

Sie wollte Faith das gerade sagen, als Mary mit Barrett die Küche betrat. Sie wirkte tatsächlich noch etwas verschlafen, aber ihre Augen leuchteten bei Hopes Anblick auf. „Hope, Schätzchen! Was für eine schöne Überraschung!“

Mary breitete die Arme aus, und Hope ließ sich dankbar hineinsinken. Endlich! Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie ihre Familie vermisst hatte.

„Warum hast du nicht angerufen?“, fragte Mary. „Jemand von uns hätte dich doch vom Flughafen abholen können.“

„Ich habe mir nach der Landung einen Pick-up gekauft. Ich dachte, ich brauche hier sowieso ein Transportmittel, und wusste nicht, ob ihr auf der Ranch einen Wagen übrig habt.“

„Wir hätten bestimmt einen für dich aufgetrieben. Wie lange bleibst du denn hier?“

„Das weiß ich noch nicht. Fae und ich habe gerade darüber gesprochen. Was würdest du dazu sagen, wenn ich dieses Jahr die Christmas Ranch übernehme?“

Mary sah sie überrascht an. Für einen Moment flackerte so etwas wie Freude in ihren Augen auf, doch ein Blick zu Faith und sie wurde wieder ernst. „Oh je, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist. Du hast bestimmt keine richtige Vorstellung davon, wie viel Arbeit das ist.“

Hope hatte in den letzten zehn Jahren fast die ganze Welt bereist und dabei gelernt, allein zurechtzukommen. Sie war es gewohnt, hart zu arbeiten. Vielleicht wurde es Zeit, dass ihre Familie das endlich akzeptierte.

„Ich schaffe das, ganz bestimmt. Ihr werdet keinen Finger krümmen müssen, ich kümmere mich um alles!“

„Aber die Rentiere und die Schlittenfahrten … Das ist doch viel zu viel Arbeit für einen allein.“

Die Herausforderung war gewaltig. Eine leise Stimme in Hopes Hinterkopf warnte sie, dass sie tatsächlich keine Ahnung hatte, worauf sie sich einließ. Aber sie überhörte sie entschlossen. Die Christmas Ranch war ihr einfach zu wichtig. Sie musste sie dieses Jahr öffnen. Das war eine Frage des Familienstolzes – und ihres Selbstvertrauens.

„Ich finde schon eine Lösung. Ich schaffe vielleicht nicht alles allein, aber sogar eine Teileröffnung wäre besser als nichts. Bitte, lasst es mich versuchen! Es würde mir so viel bedeuten. Ich habe wundervolle Erinnerungen an die Christmas Ranch.“

Tante Mary war offensichtlich hin- und hergerissen – da die Ranch ihr jedoch gehörte, hatte sie letztlich auch das Sagen. Sie blickte wieder zu Faith, die heftiger als nötig auf den Pizzateig einschlug.

„Die Entscheidung, die gesamte Saison abzusagen, ist mir sehr schwergefallen. Und nicht nur mir“, gab Mary zu. „Du ahnst ja nicht, wie enttäuscht die Leute in der Stadt waren.“

Hope nutzte diese Chance. „Ist es nicht unsere Bürgerpflicht, den Menschen dieses Weihnachtsvergnügen zu bieten? Ohne sie ist Weihnachten in Pine Gulch nicht mehr das, was es mal war.“

„Übertreib doch nicht so“, murmelte Faith.

„Bitte, gebt mir eine Chance. Ich werde euch nicht enttäuschen, das verspreche ich.“

Faith seufzte. Sie war anscheinend mürbe.

In diesem Augenblick hüpfte Hopes Nichte Louisa in die Küche. „Mom, da steht ein Pick-up in der Einfahrt. Er sieht ganz schön schrottig aus.“ Bei Hopes Anblick blieb sie überrascht stehen. „Tante Hope! Hi!“

„Der schrottige Pick-up gehört mir. Ich fahre ihn gleich weg.“

Louisa umarmte Hope stürmisch. „Was machst du hier?“

„Rate mal! Sie eröffnet die Christmas Ranch!“, rief Barrett aufgeregt. „Wir eröffnen sie jetzt doch!“

„Echt? Oh, das wäre wunderbar!“

„Das haben wir noch nicht entschieden“, sagte Faith gereizt. „Kinder, wascht euch die Hände und deckt den Tisch. Ich schiebe gleich die Pizza in den Ofen. Tante Celeste kommt jeden Moment nach Hause, und dann können wir essen.“

Die Kinder verließen die Küche.

Hope merkte, dass Faith wütend war, und bekam sofort wieder ein schlechtes Gewissen. An deren Stelle wäre sie genauso sauer. Faith tat ihr Bestes, die Familie zusammenzuhalten, leitete die Ranch, kümmerte sich um die Kinder und sorgte dafür, dass alles lief – obwohl sie noch den Tod ihres Mannes verarbeiten musste. Und jetzt kam Hope daher und wirbelte alles durcheinander.

„Wir haben kein Geld, Hope, verstehst du das denn nicht? Du wirst praktisch kein Budget zur Verfügung haben und gerade genug Geld einnehmen, um den Weihnachtsmann und die Aushilfen im Laden zu bezahlen.“

Oh Gott, Faith hatte recht! Woher sollte sie in nur neun Tagen Aushilfen herbekommen?

„Hattet ihr wirklich so hohe Ausgaben?“

„Die Menschen kommen nicht mehr so zahlreich wie früher. Der einzige Grund, die Christmas Ranch weiter zu betreiben, war, dass Onkel Claude sie geliebt hat und Travis sein Andenken ehren wollte.“

Faiths Worte waren ganz schön ernüchternd.

„Du warst schon immer so begeisterungsfähig“, fuhr Faith fort. „Du stürzt dich voller Optimismus auf jedes Problem und versuchst, es zu lösen. Aber das hier ist nicht lösbar. Die Christmas Ranch schreibt rote Zahlen. Wir können sie uns schlicht und einfach nicht mehr leisten. Das Geld ist auch so schon knapp genug. Wenn die Dinge nicht bald besser laufen, werden wir einen Teil der Herde verkaufen müssen und vielleicht ein Stück Weideland am Creek. Wade Dalton hat uns ein sehr faires Angebot gemacht. Mary und ich denken ernsthaft darüber nach.“

„Ach, Faith, das tut mir ja so leid. Ich hatte keine Ahnung.“

„Ich habe auch erst nach Travis’ Tod erfahren, wie schlimm es wirklich steht. Er hat die Fassade gut aufrechterhalten.“

Faith zögerte einen Moment und kam dann um die Kücheninsel herum. „Ich sollte dir vielleicht sagen, dass ich auch ein sehr gutes Angebot für die Rentiere habe. Wir haben beschlossen, es anzunehmen.“

Die kleine Herde Rentiere hatte immer schon zur Ranch gehört … Sie war ein Teil der Familie! „Was? Ihr wollt die Rentiere verkaufen?“

„Ich weiß. Mir bricht es auch das Herz.“

„Habt ihr schon den Vertrag unterschrieben?“

„Nein, aber …“

„Bitte mach das nicht, Faith! Oder wartet damit wenigstens bis nach Weihnachten. Gebt mir diese Saison Zeit, zu beweisen, dass ich das Ruder noch herumreißen kann. Ich werde mit der Christmas Ranch Gewinn machen – genug, um die Star N Ranch den Rest des Jahres über Wasser zu halten.“

Faith lachte. „Dir ist anscheinend nicht klar, was du dir aufbürdest.“

„Vielleicht nicht, aber ist das nicht ein Vorteil? Selig sind die Ahnungslosen oder so ähnlich.“

„Ach, Hope! Ich habe mich schon immer von dir rumkriegen lassen.“

Mary, die der Unterhaltung bisher schweigend zugehört hatte, lachte. „Dann mal los, Mädchen!“

Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte Hope – dicht gefolgt von Nervosität. „Ihr werdet es nicht bereuen! Das wird euer bestes Jahr! Das verspreche ich.“

Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie dieses Versprechen halten sollte, aber sie würde es zumindest versuchen.

3. KAPITEL

Er war für so etwas einfach nicht geschaffen.

Rafe versuchte, die angebrannte Tomatensoße mit einem Holzlöffel vom Topfboden zu kratzen, verrührte sie dadurch jedoch nur mit dem Rest. Jetzt würde er wohl doch zu Fertigsoße greifen müssen. Warum hatte er das nicht gleich gemacht? Joey war es sowieso egal, woher seine Tomatensoße kam. Er schmeckte den Unterschied vermutlich gar nicht.

Rafe ging zur Spüle und goss die Soße weg. Zwanzig Minuten kostbarer Lebenszeit verschwendet!

Sein Neffe würde in einer halben Stunde von einer Spielkameradin zurückkehren. Rafe war unfähig, die Regeln für Verabredungen unter Kindern zu durchblicken. Gäbe man ihm eine Terrorzelle und die klare Anordnung, sie zu vernichten, er würde das locker schaffen. Aber anscheinend war er nicht in der Lage, sich zu merken, wer bei Verabredungen an der Reihe war, welche Freunde an bestimmten Tagen der Woche keine Zeit hatten und wer sich erst dann verabreden durfte, wenn die Hausaufgaben gemacht waren.

Ehrlich gesagt jagte ihm dieses gesamte Elternding verdammten Respekt ein. Was wusste er schon über Siebenjährige? Er konnte sich ja kaum noch an die Zeit erinnern, als er selbst einer gewesen war.

Leider würde er es irgendwie hinkriegen müssen. Joey brauchte ihn. Er konnte ihn nicht so im Stich lassen wie damals seine Schwester Cami. Es kam nicht infrage, ihn in die Hände einer Pflegefamilie zu geben. Er und Cami hatten das selbst durchmachen müssen, und das wollte er seinem Neffen nicht antun.

In Momenten wie diesen fragte Rafe sich jedoch, ob der Junge bei einer Pflegefamilie nicht besser aufgehoben wäre. Joey sah das vielleicht genauso. Ihr Verhältnis war nicht gerade gut. Zumindest zeigte der Junge bisher nicht das geringste bisschen Dankbarkeit für Rafes Bemühungen.

Auf der anderen Seite kannten sie einander bisher kaum. Rafe hatte so gut wie nie da gearbeitet, wo sich seine umherstreunende Schwester gerade aufhielt. Also war es nicht weiter überraschend, dass er und Joey nicht sofort eine innige Beziehung hatten.

Rafe öffnete den Schrank, in dem sich seines Wissens noch eine Flasche mit Tomatensoße befand, als es plötzlich an der Tür klingelte. Super, vielleicht hatte sein Unterbewusstsein ja den Pizzalieferdienst gerufen …

Rafe ging zur Haustür und öffnete sie.

Ausgerechnet sie stand davor. Die blonde, schöne Hope Nichols, die alle möglichen schrecklichen und lange verdrängten Erinnerungen in ihm wachrief und ihm in diesem Moment erst recht das Gefühl gab, als Erzieher ein Versager zu sein.

Hope lächelte ihn freundlich an. Sie war geradezu verstörend gut drauf. „Hi. Rafe, oder?“

Sie war so zart und feminin, dass er sich in ihrer Gegenwart grobschlächtig und unbeholfen vorkam. „Richtig. Rafe Santiago.“

Vermutlich wollte sie ihm nur die Rechnung für die zerbrochene Fensterscheibe geben. Warum sollte sie sonst an einem Dienstagabend vor seiner Tür stehen?

„Darf ich reinkommen? Es friert da draußen, und ich habe mich seit Marokko immer noch nicht akklimatisiert.“

„Ja, natürlich. Kommen Sie rein.“

Er hielt ihr die Tür auf und schob den Rucksack weg, den Joey nach der Schule mitten auf den Boden hatte fallen lassen.

Sie schnüffelte überrascht. „Wow. Das riecht ja … streng.“

„Das war ein Unfall“, erklärte Rafe verlegen. „Ich habe Tomatensoße gekocht und vergessen, sie umzurühren. Ich habe sie gerade entsorgt, aber ich fürchte, der Geruch hängt noch in der Luft.“

Hope sah ihn verständnisvoll an. „Ist mir auch schon passiert. Ich bin eine lausige Köchin.“

„Wir könnten ja einen Verein gründen.“

Sie lächelte. „Dessen Mitgliedern ausdrücklich untersagt wird, zu den Sitzungen etwas zu essen mitzubringen.“

Rafe ertappte sich dabei, dass er ihr Lächeln erwiderte. „Genau! Wir sollten das in der Satzung festlegen.“

Sie legte den Kopf schief. „Brauchen Sie Hilfe? Vielleicht fabrizieren zwei lausige Köche zusammen ja etwas halbwegs Anständiges.“

Bot sie ihm wirklich gerade an, ihm beim Vorbereiten des Abendessens zu helfen? Okay, das kam etwas unerwartet … und war ein bisschen surreal. Das Beste wäre vermutlich, sich höflich für das Angebot zu bedanken und sie wegzuschicken. Sonst würde er sie nämlich auf ihren Vater ansprechen müssen, und dazu war er gerade nicht in der Verfassung. Auf der anderen Seite hatte er in den letzten Wochen kaum einen Erwachsenen gesehen und wollte nur zu gern über etwas anderes reden als Lego, Star Wars und Ninjago.

„Wer weiß? Vielleicht bringen wir ja etwas zustande, das Joey auch tatsächlich isst. Bis jetzt waren meine Bemühungen in dieser Hinsicht vergebens.“

„Prima, das machen wir!“ Sie nahm ihren bunten Schal ab und knöpfte ihren roten Wollmantel auf. Darunter trug sie einen hellblauen Pulli, der gut zu ihren Augen passte. Sie wirkte frisch und munter – die hübscheste Frau, die er je gesehen hatte.

Ungeübt half er ihr aus dem Mantel. Manieren hatte er erst beim Militär gelernt.

Unter dem Mantel duftete sie wunderbar nach Zimt und Mandeln.

Er versuchte, sich einzureden, dass das seltsame Gefühl in seinem Magen vom Hunger herrührte.

Er hängte ihren Mantel an die Hakenleiste in der Diele und ging voran in die Küche. „Womit fangen wir an?“

Sie folgte ihm und blieb in der Mitte des Raums stehen. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, spüle ich erst mal den Topf ab, damit er nicht mehr riecht.“

„Nur zu.“

Sie ging zur Spüle und ließ Wasser einlaufen. Dann öffnete sie ein paar Schränke und nahm Zutaten heraus. „Und? Wo steckt der kleine schneeballwerfende Champion?“

„Nebenan. Er ist mit seiner Komplizin verabredet.“

„Mit der berüchtigten Samantha?“

„Genau der! Gestern Abend haben ihre Eltern und ich die Kinder über die Gefahren von Schneeballwerfen auf Autos aufgeklärt. Sie müssten jetzt gefahrlos durch das Viertel fahren können.“

„Das ist ja beruhigend.“ Hope warf ein paar Zutaten in den inzwischen sauberen Topf. „Wo sind eigentlich Joeys Eltern, wenn ich fragen darf? Ich hoffe ja, sie machen gerade eine lange Kreuzfahrt zu den Bahamas.“

Rafe presste die Lippen zusammen. „Ich wünschte, es wäre so.“ Er zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. Plötzlich empfand er das Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen. „Joeys Dad ist schon vor seiner Geburt verschwunden, soweit ich weiß. Ich habe keine Einzelheiten mitbekommen. Ich war damals in Übersee.“

„Beim Militär?“

„Woher wissen Sie das?“

„Ihre Frisur lässt darauf schließen. Lassen Sie mich raten: Marines.“

„Fast. Navy.“

Er unterschlug die Information, dass er ein SEAL gewesen war. Sonst würde sie vielleicht die Verbindung zwischen ihm und jenem Rebellenlager damals in Kolumbien herstellen und so auf ihrer beider schmerzhafte Vergangenheit kommen – das wollte er nicht riskieren, jetzt, wo sie sich besser verstanden.

„Ach. Ein Seemann also.“ Ihr schien das ziemlich gleichgültig zu sein. „Dann ist Joeys Vater also nicht im Spiel. Was ist mit seiner Mom?“

Rafe nahm einen großen Topf aus einem Schrank, um Wasser für die Spaghetti aufzusetzen. Wieder zögerte er einen Moment, beschloss dann jedoch, zumindest in diesem Punkt ganz ehrlich zu sein. „Meine Schwester hat Ärger mit dem Gesetz. Sie ist im Gefängnis.“

„Oh, nein!“

Rafe hätte es dabei bewenden lassen können, aber aus irgendeinem Grund empfand er das Bedürfnis, weiterzureden. „Letzte Woche hat sie sich schuldig bekannt, unter anderem dazu, einem Minderjährigen Drogen verkauft zu haben. Streng genommen mehreren Minderjährigen. Sie ist gerade in Pine Gulch im Gefängnis und wartet auf ihr Urteil.“

„Das tut mir schrecklich leid.“

„Tja, es ist ein ganz schönes Chaos“, stimmte er zu.

„Also sind Sie eingesprungen und kümmern sich um Joey?“

„Irgendjemand muss es ja tun. Es gibt sonst keine Familienangehörigen.“

Nachdenklich öffnete Hope eine Dose Tomaten und goss den Inhalt in den Topf. „Haben Sie freigenommen?“

„Ich habe zwanzig Jahre Dienst hinter mir. Ich bin jetzt im Ruhestand.“

Er verschwieg Hope, dass das die härteste Entscheidung seines Lebens gewesen war.

„Sie haben Ihren Beruf aufgegeben, um sich um Ihren Neffen kümmern zu können?“

Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen. „So edel bin ich nun auch wieder nicht. Ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, mich zur Ruhe zu setzen.“ Irgendwie stimmte das sogar. Als er auf Ende dreißig zuging, hatte Rafe sich manchmal gefragt, ob er für den Job nicht schon zu alt war und ob es nicht noch andere Möglichkeiten für ihn gab. Camis Anruf hatte ihm die Entscheidung, aufzuhören, abgenommen.

„Und was haben Sie jetzt vor? Bleiben Sie in der Nähe von Pine Gulch?“

„Nur bis zum Urteil. Danach gehe ich vermutlich zurück nach San Diego. Ich habe da eine Wohnung und einen Job in Aussicht, aber meine Schwester hat mich angefleht, hierzubleiben, damit sie ihren Sohn wenigstens ab und zu sehen kann.“

„San Diego ist sehr schön. Tolle Strände und super Wetter! Ein guter Ort, um Kinder großzuziehen.“

Ihre Worte machten Rafe noch nervöser, als er ohnehin schon war. Er zog jetzt also ein Kind groß. Aber verflixt noch mal, wie sollte er das bloß anstellen? Die letzten paar Wochen waren schon hart genug gewesen. Die Vorstellung, monate- oder womöglich jahrelang für einen Jungen verantwortlich zu sein, der wenig mit ihm zu tun haben wollte, jagte ihm gewaltige Angst ein.

Im Moment hatte er allerdings ein ganz anderes Problem: Hope. Sie bewegte sich mit einer Anmut zwischen Arbeitsfläche, Herd und Kühlschrank hin und her, die er äußerst anziehend fand. Er genoss ihre Anwesenheit sehr – vielleicht sogar zu sehr. Ihre zarten Gesichtszüge, ihre hübschen blauen Augen und ihre wilden blonden, zu einem Pferdeschwanz gebändigten Locken weckte in ihm mehr Appetit als der köstliche Duft, der vom Topf auf dem Herd aufstieg.

Das störte ihn gewaltig! Er hatte gern alles unter Kontrolle und schätzte strikte Ordnung. Vielleicht ein Ergebnis seiner chaotischen Kindheit – und jenes Einsatzes als Navy SEAL, von dem auch Hope betroffen gewesen war … und den er nie überwunden hatte.

Die Mitglieder seiner Einheit nannten ihn Frío, das spanische Wort für kalt. Nicht weil er unfreundlich oder gefühllos war, sondern weil er unter Druck eiskalt und beherrscht war.

Hope hatte nicht gelogen, als sie gesagt hatte, dass sie keine gute Köchin sei. Aber sie hatte etwas übertrieben. Sie hatte einfach nur zu wenig Zeit oder Geduld zum Kochen. Ein Gericht beherrschte sie jedoch perfekt – und das war Tomatensoße!

Warum kam ihr Rafe Santiago nur so bekannt vor? Wenn es ihr doch nur einfiele! Aber vielleicht hatte sie bei ihren Reisen auch einfach zu viele Soldaten gesehen. Eigentlich stand sie nicht auf harte Männer. Sie fühlte sich eher zu Intellektuellen und Künstlern hingezogen, nicht zu großen, kräftigen Kerlen mit einem Bizeps von der Größe eines Basketballs. Aber Rafe Santiago machte sie irgendwie nervös.

Sie verdrängte dieses Gefühl und probierte stattdessen die Tomatensoße. „Hm, da fehlt noch Oregano.“ Sie streute etwas von dem Gewürz hinein, verrührte es und griff nach einem weiteren sauberen Löffel. „Probieren Sie mal.“

„Ich vertraue Ihnen.“

„Kommen Sie schon.“ Sie hielt ihm den Löffel hin. Nach kurzem Zögern verdrehte er die Augen, beugte sich vor und schloss die sehr sinnlichen Lippen um den Löffel.

„Gut so?“

Er lachte anerkennend. „Wow. Das ist viel besser als alles, was ich je zustande kriegen würde.“

„Um eins gleich klarzustellen: Eine gute Tomatensoße gehört zu meinen raren Fähigkeiten in der Küche. Ansonsten kann ich nur Omelett. Ach ja, und Couscous. Ich habe gerade drei Jahre in Marokko verbracht, und man kann das Land nicht verlassen, ohne zumindest Tajine und Couscous zu kochen.“

„Sie haben sich gerade innerhalb von fünf Minuten von der Gründerin eines Clubs für Küchenversager in jemanden verwandelt, der mit mir völlig unbekannten Fachbegriffen um sich wirft.“

„Eine Tajine ist sowohl ein Topf mit Haube als auch ein sehr leckeres Gericht aus Fleisch und Gemüse, so etwas wie ein Eintopf. In kenne ein Rezept mit Lamm, Zitronen und Honig.“

„Klingt köstlich.“

„Vielleicht mache ich ja mal einen für Sie.“

Kaum hatte Hope das ausgesprochen, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Warum um Himmles willen sagte sie so etwas? Sie würde nie wieder für diesen Mann kochen. Sie sollte gar nicht hier sein. Sie hatte gerade tausend andere Dinge zu erledigen, und nichts davon hatte etwas mit Tomatensoße zu tun, ganz egal, wie hingezogen sie sich zu diesem Mann fühlte.

Aber wie sollte sie sich auch gegen einen Mann wehren, der seine Karriere beim Militär aufgab, um für seinen Neffen da zu sein? „Wann kommt Joey eigentlich zurück?“

Rafe warf einen Blick auf die Zeitanzeige an der Mikrowelle. „Schwer zu sagen. Ich habe halb sechs mit ihm vereinbart, aber bisher gehört Gehorchen nicht zu seinen Stärken.“

Hope musste lächeln. „Die Soße muss noch ungefähr eine Viertelstunde köcheln. Sie sollten sie gelegentlich umrühren. Ich stelle mir immer eine Eieruhr, damit ich alle zwei bis drei Minuten daran erinnert werde.“

„Das war’s? Sie kommen rein, zaubern ein Abendessen und gehen dann einfach wieder? Sie könnten zumindest bleiben und mit uns essen.“

Die Versuchung war wirklich groß. Unter anderen Umständen hätte Hope die Einladung sofort angenommen, aber sie hatte einfach noch so unendlich viel zu tun. „Sorry, aber das geht nicht.“

„Warum nicht? Dann hätten Sie zumindest die Chance, mir zu sagen, warum Sie eigentlich hergekommen sind.“

Sie lachte. „Sie wollen mein Motiv? Warum so misstrauisch? Ist es so schwer vorstellbar, dass ich nur vorbeigekommen bin, um Sie vor einer kulinarischen Katastrophe zu bewahren?“

„Allerdings, auch wenn ich mich nicht über das Resultat beklagen will.“

Oh, der Mann gefiel ihr! Viel zu sehr leider. „Na schön, Sie haben mich durchschaut. Ich bin hier, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, wie Joey bei mir die Kosten für die Fensterscheibe abarbeiten kann.“

„So etwas hatte ich schon vermutet.“

„Okay, hier ist mein Vorschlag: Ich weiß, dass Sie nicht von hier sind, aber kennen Sie die Christmas Ranch?“

„Ich glaube nicht.“

„Das ist ein ganz zauberhafter Ort in der Nähe der Mündung des Cold Creek Canyon. Mein Onkel und meine Tante haben die Ranch vor vielen Jahren eröffnet, kurz nach ihrer Hochzeit. Weihnachten wurde in meiner Familie schon immer ganz besonders in Ehren gehalten. Im Frühling, Sommer und Herbst ist die Star N eine Ranch wie jede andere Rinderfarm auch, aber von Thanksgiving bis Neujahr wird ein Teil von ihr in einen riesigen Weihnachtsmarkt verwandelt. Es gibt jede Menge Lichterketten, Schlittenfahrten, einen Hügel zum Rodeln und einen Streichelzoo mit Rentieren.“

Rafe hob eine Augenbraue. „Mit echten Rentieren?“

„Richtig geraten. Wir haben zehn Stück.“

„Okay. Und warum erzählen Sie mir das?“

„Das ist eine lange Geschichte. Rühren Sie in der Soße, während ich sie Ihnen erzähle.“

Er grummelte scherzhaft, ging zum Herd und griff nach dem Löffel.

Hope versuchte, zu ignorieren, wie toll er dabei aussah. „Meine älteste Schwester und ihr Mann haben die Ranch in den letzten Jahren geleitet, aber Travis ist im Sommer bei einem Unfall auf der Ranch tödlich verunglückt.“

„Oh, das tut mir leid.“

Hope nickte traurig. Über Travis’ Tod zu reden versetzte ihr immer einen schmerzhaften Stich. Er war ihr Freund gewesen, und sie vermisste ihn schrecklich. Aber ihre Schwester und deren Kinder hatte es viel härter getroffen. Sie hatten ihren geliebten Mann und Vater verloren.

„Faith – meine Schwester – ist mit der Situation verständlicherweise völlig überfordert. Sie hat kaum Zeit, zu trauern, weil sie mit der Arbeit auf der Ranch kaum hinterherkommt. Deshalb haben sie, meine Tante Mary und meine Schwester Celeste beschlossen, dieses Jahr mit der Christmas Ranch zu pausieren. Aber da ich jetzt hier bin und sonst nichts zu tun habe, habe ich ihnen angeboten, dieses Jahr alles zu organisieren. Wie Sie sich sicher vorstellen können, habe ich bis zur Eröffnung in einer guten Woche alle Hände voll zu tun. Und genau dabei kann ich Joeys Hilfe gebrauchen.“

Nur noch zehn Tage. Hope hatte keine Ahnung, wie sie das alles schaffen sollte, aber irgendwo musste sie ja anfangen. „Wenn Joey mir jeden Tag für ein paar Stunden nach der Schule hilft, kommen wir ungefähr auf die dreihundert Dollar, die das Fenster kosten würde.“

„Es wäre leichter für mich, wenn ich Ihnen einfach die dreihundert Dollar gebe.“

Sie verzog das Gesicht. „Da haben Sie natürlich recht. Aber Jungs richtig zu erziehen ist nicht einfach. Die müssen lernen, dass ihre Handlungen Konsequenzen haben und sie die Verantwortung dafür übernehmen müssen. Welche Botschaft würden Sie ihm denn vermitteln, wenn Sie das Problem jetzt für ihn lösen?“

„Okay, Sie haben recht. Na schön, ich bringe ihn morgen nach der Schule bei Ihnen vorbei. Die Christmas Ranch liegt im Cold Creek Canyon?“

„Ja. Wissen Sie, wo das ist?“

„Ja.“

„Gut. Dann sehen wir uns also morgen Nachmittag. Danke. Achten Sie darauf, dass Joey sich warm anzieht. Und keine Sorge, ich kümmere mich darum, dass er auch Spaß hat.“

„Sind Sie sicher, dass Sie nicht zum Abendessen bleiben wollen? Das wäre doch nur fair, nachdem Sie schon die ganze Arbeit damit hatten.“

Hope war innerlich hin- und hergerissen. Der Mann gefiel ihr, viel zu gut sogar, aber Tatsache war nun mal, dass sie keine Sekunde zu verschenken hatte. Sie war ohnehin schon viel zu lange geblieben. „Ich weiß Ihre Einladung wirklich zu schätzen und wünschte, ich könnte sie annehmen, aber ich fürchte, ich muss passen.“

„Ich glaube, Sie haben nur Angst, dass Ihre Soße nach all der Angeberei doch nicht genießbar ist.“

Sie lachte. „Warten Sie’s ab, Seemann, warten Sie’s ab. Bringen Sie mir morgen Ihren Neffen vorbei. Die Christmas Ranch liegt nördlich von der Straße, etwa drei Meilen den Canyon hoch. Sie können sie gar nicht verfehlen. Über der Einfahrt ist ein Hinweisschild.“

„Ich finde sie schon.“

„Toll. Also bis dann.“

Er machte Anstalten, sie zur Tür zu begleiten, aber sie schüttelte den Kopf. „Ich finde schon allein hinaus. Bleiben Sie lieber bei der Soße!“

4. KAPITEL

Als Hope wieder zur Star N Ranch zurückgekehrt war, kamen ihr die Spaghetti mit Rafe Santiago und seinem Neffen wie der Himmel auf Erden vor. Selbst dann, wenn der Mann die Soße anbrennen ließ. Sie war am Verhungern … und außerdem absolut überfordert von der Aufgabe, die vor ihr lag.

Bisher lief nichts wie geplant. Von den sechs Aushilfen der letzten Jahre hatten drei schon etwas Neues gefunden, und einer war weggezogen. Nur die anderen beiden hatten Hope ihre Unterstützung zugesagt: Mac Palmer, der langjährige Weihnachtsmann, und Linda Smithson, die im Laden aushalf.

Hope war froh über jeden, den sie bekommen konnte, aber zwei Leute reichten hinten und vorne nicht. Manchmal war sie kurz davor, das Handtuch zu werfen, aber das kam nicht infrage. Die Christmas Ranch würde dieses Jahr vielleicht nicht gerade die denkwürdigste Weihnachtssaison aller Zeiten erleben, aber Hope wollte zumindest dafür sorgen, dass sie ihre Pforten überhaupt öffnete.

Sie suchte Zuflucht bei dem Mantra, das ihr als Lehrerin bisher immer über die anstrengende Anfangszeit hinweggeholfen hatte: Ich schaffe das. Sie hatte schon ganz andere Schwierigkeiten überwunden.

Sie hatte zusammen mit ihren Schwestern und Eltern eine Entführung durch Rebellen in einem fremden Land überlebt. Wochenlang waren sie ohne fließendes Wasser und nur mit einem Eimer als Toilette in einer winzigen Hütte gefangen gehalten worden. Hope hatte in dieser Zeit mitansehen müssen, wie ihre Mutter immer kranker wurde und ohne medizinische Hilfe zunehmend verfiel. Sie hatte ihren Vater vor ihren Augen sterben sehen, als sie gerade geglaubt hatte, es überstanden zu haben.

Doch sie ließ sich nicht so schnell unterkriegen, genauso wenig wie Faith und Celest...

Autor

Rae Anne Thayne
<p>RaeAnne Thayne hat als Redakteurin bei einer Tageszeitung gearbeitet, bevor sie anfing, sich ganz dem Schreiben ihrer berührenden Geschichten zu widmen. Inspiration findet sie in der Schönheit der Berge im Norden Utahs, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern lebt.</p>
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