Bianca Exklusiv Band 381

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

EINE PRINZESSIN UNTERM MISTELZWEIG von LEANNE BANKS

Nie hätte er es für möglich gehalten: Die Nanny schenkt seinen Kindern endlich das Lachen zurück! Und auch Gavin glaubt bei jedem Blick in Saras Augen wieder an die Liebe. Bis sein Traum von einer sinnlichen Adventszeit zerplatzt: Ihm wird klar, dass Sara ihn eiskalt belogen hat …

DU BIST MEIN SCHÖNSTES GEHEIMNIS von JOANNA SIMS

Hundertmal hat Tyler die wunderschöne London charmant in sein Bett eingeladen, und neunundneunzig Mal hat sie lachend abgelehnt. Aber dann wird er eines Nachts davon wach, dass sie ihn beim Wort nimmt. Eine Affäre beginnt – mit ungeahnten Folgen …

WEIHNACHTSWUNDER IN PORT ORCHARD von CHRISTINE FLYNN

Erik Sullivan ist attraktiv, erfolgreich – und will nur weg aus seiner Heimatstadt. Denn hier erinnert ihn alles an seine Scheidung. Doch dann tritt kurz vor Weihnachten die bezaubernde Rory in sein Leben. Und weckt in ihm Gefühle, gegen die er sich heftig sträubt. Anfangs …


  • Erscheinungstag 09.11.2024
  • Bandnummer 381
  • ISBN / Artikelnummer 0852240381
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Leanne Banks

PROLOG

„Eure Hoheit, Prinzessin Fredericka Deveraux, erlauben Sie mir, Ihnen die Prinzessinnen Sasha und Tabitha Tarisse vorzustellen“, sagte Paul Hamburg, als die wunderschöne Prinzessin den Raum betrat. Diese hatte persönlich dafür gesorgt, dass Sasha und ihre Schwester in Chantaine Zuflucht gefunden hatten.

Sasha stand auf und zog ihre jüngere Schwester vom Stuhl. Die letzten Monate waren für sie und ihre Familie, das Königshaus der Tarisses von Sergenia, schrecklich gewesen. Seit drei Jahren herrschte in ihrem Land eine schwere Wirtschaftskrise, und die Bürger waren immer wütender und ungeduldiger geworden. Erst kürzlich hatte sich der Volkszorn dann gegen die königliche Familie gerichtet. Es hatte handfeste Drohungen gegeben. Sasha wäre fast verprügelt worden, und Tabitha war nur knapp einer Entführung entgangen.

Schließlich hatte ihr Bruder sie überredet, das Land wenigstens zeitweilig zu verlassen. Einer der königlichen Berater hatte mit der Prinzessin ausgehandelt, dass die Königskinder in Chantaine, einem friedlichen Inselstaat im Mittelmeer, aufgenommen wurden.

„Bitte nennen Sie mich Ericka“, erwiderte sie. „Sie müssen erschöpft sein. Möchten Sie einen Tee?“

„Gern“, sagte Sasha. Sie hoffte, dass es richtig gewesen war, sich in Chantaine in Sicherheit zu bringen. Sie und ihre Schwester hatten alles Vertraute in Sergenia zurückgelassen und so gut wie nichts mitgenommen.

Die blonde Prinzessin wirkte kühl, aber ihr Blick war voller Mitgefühl.

Ericka nickte ihrer Assistentin zu. „Bitte bringen Sie uns Tee und Gebäck.“

Sasha strich über den lockeren Haarknoten in ihrem Nacken. „Wir sind Ihnen sehr dankbar. Verzeihen Sie uns, wenn wir noch etwas zurückhaltend sind.“

„Weil wir hereingelegt wurden“, warf Tabitha mit gerunzelter Stirn ein. „Unser Bruder Alex hat versprochen, sich hier in Chantaine mit uns zu treffen, aber er ist verschwunden.“

„Oh, das tut mir leid. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?“, fragte Ericka.

Tabithas Augen blitzten. „Wer weiß? Vielleicht streift er durch die Berge an unserer Landesgrenze. Oder er zieht in Italien von einer Party zur nächsten.“

„Tabitha“, sagte Sasha tadelnd. „Ich bitte um Entschuldigung“, fügte sie hinzu.

„Ich verstehe Ihre Verärgerung“, erwiderte Ericka.

Die Assistentin kehrte mit Tee und Snacks zurück, und die drei Frauen setzten sich. Obwohl Sasha hungrig war, wusste sie, dass sie keinen Bissen herunterbekommen würde. Sie begnügte sich damit, am Tee zu nippen.

„Es ist mir ein Vergnügen, Sie in Chantaine willkommen zu heißen“, sagte ihre Gastgeberin. „Aber wie Sie wissen, ist Ihr Aufenthalt hier mit mehreren Bedingungen verknüpft. Es geht dabei um Ihre Sicherheit und die unserer Bürger. Bestimmt hat man Ihnen bereits erklärt, dass Sie eine neue Identität annehmen müssen. Sie dürfen niemandem erzählen, wer Sie wirklich sind. Sasha, mir ist bewusst, dass Sie eine begabte Konzertpianistin sind, aber solange Sie hier sind, müssen wir Sie bitten, nicht öffentlich aufzutreten.“

Sasha nickte betrübt. Die Musik bedeutete ihr alles. Natürlich hatte sie gewusst, dass sie keine Konzerte mehr geben durfte, aber jetzt spürte sie eine schmerzhafte innere Leere.

„Selbstverständlich können Sie privat spielen. Wir werden versuchen, es Ihnen zu ermöglichen.“

„Danke“, antwortete Sasha. „Es würde mir sehr schwerfallen, ganz auf das Klavier zu verzichten.“

„Tabitha, wir arbeiten daran, Sie so bald wie möglich unterzubringen. Bis dahin können Sie beide hierbleiben, aber Sie dürfen nicht zusammen in der Öffentlichkeit auftreten.“

Entsetzt starrte Tabitha sie an. „Nie?“

„Nur vorübergehend, bis in Ihrem Land wieder Ruhe herrscht“, erinnerte Ericka sie. „Diese Vorsichtsmaßnahme dient vor allem Ihrer eigenen Sicherheit. Wenn man Sie zusammen sieht, wird irgendwann jemand darauf kommen, wer Sie wirklich sind.“

Sasha griff nach der Hand ihrer Schwester. „Wir werden tun, was nötig ist, aber was ist mit unserem Bruder?“

Ericka sah Paul Hamburg an.

„Wir erkundigen uns nach ihm, aber wir müssen vorsichtig sein, solange die Prinzessinnen in Chantaine sind. Wir wollen keinen Verdacht erregen“, sagte er.

„Aber wir kennen Leute, die andere Leute kennen, und können unsere Beziehungen nutzen.“

Paul seufzte. „Ja, das können wir.“

„Ich weiß, dass Sie von mir keine Befehle annehmen, aber ich hoffe, Sie tun Ihr Bestes und gehen dabei äußerst diskret vor.“

„Das werde ich“, versprach er.

„Danke.“ Sie wandte sich wieder den Schwestern zu. „Jetzt lassen Sie mich Ihnen etwas über Chantaine erzählen.“

Prinzessin Ericka schwärmte ihnen von Chantaines landschaftlicher Schönheit, dem milden Klima, den vielen Stränden und freundlichen Bewohnern vor. Sasha entspannte sich ein bisschen.

„Wie ich bereits sagte, werden Sie neue Identitäten annehmen müssen. Haben Sie schon darüber nachgedacht, welche Namen Sie annehmen möchten?“

Tabitha warf das lange schwarze Haar über die Schulter. „Gypsy Rose.“

Sasha verdrehte die Augen. „Wir brauchen Namen, die keine Aufmerksamkeit erregen.“

„Na gut. Welchen hast du dir ausgesucht?“

„Sara“, antwortete Sasha. „Ein Vorname, der mit demselben Buchstaben beginnt und ähnlich klingt, damit ich schnell darauf höre. Und ungewöhnlich ist er auch nicht.“

Tabitha zog einen Schmollmund. „Jane Doe geht wohl nicht, was? Obwohl eine Amerikanerin den Namen aussuchen würde.“

Die Prinzessin lächelte. „Das bezweifle ich. Nehmen wir als neuen Nachnamen Martin. Der kommt in Chantaine und Europa häufig vor.“

Tabitha seufzte. „Dann muss ich wohl Jane Martin heißen, wenn ich einen noch gewöhnlichere Namen als Sasha haben will.“ Sie räusperte sich. „Oh, Entschuldigung, ich meinte Sara.“

1. KAPITEL

Ein Jahr später …

Als Sara die Veranda betrat, hörte sie einen schrillen Laut. Hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie geglaubt, dass er von einem Tier kam. Hastige Schritte folgten, und dann wurde die Tür geöffnet.

Ein hochgewachsener, zerzaust aussehender Mann starrte sie an. Er hatte ein weinendes Baby mit rotem Gesicht auf dem Arm, und ein kleiner Junge klammerte sich an sein Bein.

„Sind Sie Sara?“, fragte er atemlos. „Sara Smith? Hat der Palast Sie hergeschickt?“

„Ja“, sagte sie nur.

Er musterte sie von Kopf bis Fuß. „Danke, dass Sie gekommen sind“, übertönte er das weinende Baby. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sehen sehr jung aus. Sind Sie alt genug, um als Kindermädchen zu arbeiten?“

Bis auf Lipgloss trug Sara keinerlei Make-up. Auch das gehörte zu ihrer neuen Rolle. Auf das Bühnen-Make-up, das sie bei Konzerten getragen hatte, konnte sie gern verzichten. „Das nehme ich mal als Kompliment“, erwiderte sie. „Ich bin siebenundzwanzig.“

„Oh“, sagte er, und die Überraschung war ihm deutlich anzusehen. „Darauf wäre ich nie gekommen.“ Das Baby begann wieder zu weinen. „Wir haben gerade einen harten Tag, daher wäre es mir recht, wenn Sie den beiden Saft und Kekse geben möchten. Dann beruhigen sie sich hoffentlich wieder.“ Er ging den Flur entlang, das zweite Kind noch immer am Bein. „Das ist Sam“, fuhr er mit einem Blick auf den Jungen fort.

„Hallo, Sam“, begrüßte Sara ihn zaghaft. Obwohl sie gewusst hatte, dass die kleine Familie noch immer unter einem schweren Verlust litt, war das hier mehr, als sie erwartet hatte.

„Und ich habe Adelaide auf dem Arm“, erklärte der Mann. „Wie Sie sehen, kann sie ziemlich anstrengend sein.“

„Mr. Sinclair?“

„Oh.“ Er schüttelte den Kopf. „Nennen Sie mich Gavin. Vielleicht verpassen Sie mir im Laufe des Tages noch andere Namen“, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.

Ihre Blicke trafen sich, und in seinen schokoladenbraunen Augen sah Sara eine Mischung aus Erschöpfung und Galgenhumor. Seine markanten Züge hätten auf sie vielleicht einschüchternd gewirkt, aber der strenge Eindruck, den das kantige Kinn und die dunklen Brauen auf sie machten, wurde durch das verlegene Lächeln und die Lachfalten an den Augen abgemildert.

Er sah Adelaide an und streichelte ihre Wange. „Bald geht es dir besser, meine Süße.“ Dann warf er Sara einen Blick zu. „Sie ist seit einiger Zeit nicht so gut drauf. Ich weiß nicht, was sie hat. Ihre Nase läuft, aber sie hat kein Fieber. Vielleicht braucht sie nur ausreichend Schlaf. Ich zeige Ihnen, wo alles ist.“ Er hielt Sam eine Hand hin. „Hilf mir, Kumpel. Führen wir die hübsche Lady herum.“

Widerwillig ließ Sam das Bein los und hielt sich an der Hand des Vaters fest, während Gavin ihr das Haus zeigte. Es gab außer dem Elternschlafzimmer ein kleines Kinderzimmer, eine Waschküche und zwei weitere kleine Schlafzimmer. Eines davon war voller Bücher und Spielzeuge seines Sohnes, das andere lag zwischen dem Kinderzimmer und Sams Zimmer. „Dies ist Ihr Zimmer“, sagte Gavin. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, sich ein Bad mit Sam zu teilen.“

„Überhaupt nicht“, erwiderte Sara. Die Morgensonne schien durchs Fenster. Das Zimmer war klein, aber gemütlich eingerichtet. Hier kann ich mich sicher fühlen, dachte sie erleichtert.

Gavin zeigte ins Elternschlafzimmer, in dem ein Schreibtisch mit einem Computer und einige Fitnessgeräte standen. „Wie Sie sehen, habe ich versucht, zu Hause zu arbeiten, aber leider ohne großen Erfolg.“

Er drehte sich zu ihr um. „Das kleine Wohnzimmer kennen Sie ja schon. Das größere dient als Spielzimmer. Dort gibt es auch einen Fernseher, den Sie gern benutzen können.“

Saras Blick fiel auf ein altes Klavier an der hinteren Wand. Sie musste sich beherrschen, um nicht hinzulaufen und über die Tasten zu streichen. „Sie haben ein Klavier“, sagte sie so beiläufig wie möglich.

Gavin nickte. „Sie spielen?“

In Konzertsälen auf der ganzen Welt. Aber seit einiger Zeit nicht mehr. Sie zuckte mit den Schultern. „Ja, ein wenig.“

„Ich fürchte, es ist länger nicht gestimmt worden“, warnte er. „Das Klavier war uns nicht so wichtig.“

„Natürlich nicht.“ Die Prinzessin hat Wort gehalten.

„Spielen Sie, wann immer Sie möchten. Es tut mir leid, dass ich Sie mit allem überfalle und wieder schnell verschwinde, aber ich muss mich im Palast um die Bauplanung kümmern. Auf dem Tresen in der Küche liegt ein Handy, das Sie benutzen können. Außerdem habe ich Ihnen sämtliche Nummern aufgeschrieben, auch die für Notfälle. Die Liste liegt daneben. Die Notfallnummern werden wir hoffentlich nicht brauchen, aber bei kleinen Kindern kann man nie wissen.“ Er schaute erst auf Adelaide, die sich die Augen rieb, dann auf Sam.

Gavin seufzte, und der traurige Ausdruck auf den drei Gesichtern ging Sara ans Herz. „Trauen Sie sich das wirklich zu? Ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber wir haben eine schwere Zeit durchgemacht.“

„Ich bin informiert“, versicherte sie ihm und war plötzlich fest entschlossen, ihr Bestes für diese Familie zu geben. „Ich passe auf Ihre Kinder auf. Sie können ruhig zum Palast fahren. Bestimmt wartet man dort schon auf Sie.“

Das Baby sah sie misstrauisch an, ließ aber zu, dass Sara es auf den Arm nahm. „Komm mit, Sam. Wir trinken jetzt Saft und essen Kekse. Drück deinen Vater ganz fest, damit er einen guten Arbeitstag hat. Dann musst du mir mit Adelaide helfen.“

Gavin umarmte seinen Sohn, griff nach einer Computertasche und eilte zur Tür. „Rufen Sie mich an, falls Sie etwas brauchen.“

„Wir kommen schon zurecht!“, rief sie ihm nach.

Kaum war Gavin fort, fühlte Sara, wie Adelaide mit der Kraft eines kleinen Hais in ihr Schlüsselbein biss. Der Schmerz war so heftig, dass sie leise aufschrie.

Das Baby zuckte zurück und begann wieder laut zu weinen.

Sam trat Sara gegen das Schienbein.

Entsetzt starrte sie ihn an. „Warum hast du das getan?“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast meiner Schwester wehgetan.“

„Das habe ich nicht“, widersprach Sara. „Sie hat mich gebissen!“

Sam überlegte kurz. „Oh, ich glaube, ihr Mund tut weh. Kriege ich jetzt Saft und einen Keks?“

„Erst entschuldigst du dich dafür, dass du mich getreten hast“, sagte sie, als Adelaides Weinen in ein leises Wimmern überging.

„Entschuldigung“, sagte der Junge. „Kriege ich jetzt …“

„Kann ich bitte Saft und einen Keks haben?“

Er nickte. „Ja, kannst du.“

Sara seufzte. „Sprich mir nach. Kann ich bitte Saft und einen Keks haben?“

Sam tat es.

„Gut gemacht“, lobte sie.

Sara nahm Adelaide auf den anderen Arm und servierte Sam den Snack am Tisch, Anschließend holte sie einen Eiswürfel aus dem Kühlschrank, wickelte ihn in einen Waschlappen und gab ihn dem kleinen Mädchen.

Stille. Fünf herrliche Sekunden lang. Sara holte tief Luft und beobachtete, wie Sam sich den Keks in den Mund stopfte und Adelaide am kalten Lappen kaute. Hoffnung stieg in ihr auf, aber sie konnte nicht den ganzen Tag lang Saft und Kekse servieren.

Sie setzte Sara in eine Sportkarre und band Sam die Schuhe, damit sie spazieren gehen konnten. Als Kind war sie gern draußen gewesen. Anders als die Kindermädchen in Kinofilmen waren ihre Nannys mit ihr und ihren Geschwistern immer im Palast geblieben, der ihnen dunkel und renovierungsbedürftig vorgekommen war.

„Ist es nicht ein schöner Tag?“, fragte sie Sam. „Wir haben Dezember, aber es fühlt sich an wie Mai.“

Er zuckte nur mit den Schultern.

„Bist du denn nicht gern draußen?“

Wieder ein Achselzucken. „Glaub schon.“

„Wie ich höre, hast du in North Dakota gelebt. Ist es dort nicht sehr kalt?“

Sam nickte. „Es hat viel geschneit. Hier gibt es gar keinen Schnee.“

„Was vermisst du noch?“

Er antwortete erst nach einem langen Moment. „Mommy“, flüsterte er so leise, dass sie es kaum verstand.

Tröstend drückte sie seine Schulter, aber er wich zurück. Zu früh, dachte sie betrübt.

„Mein Dad sagt dauernd, dass wir an den Strand gehen können, aber wir waren erst ein einziges Mal da.“

„Vielleicht laufen wir bald mal hin. Zum Baden ist das Wasser wahrscheinlich noch zu kalt.“

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Ja“, erwiderte er, klang jedoch nicht überzeugt.

Sie runzelte die Stirn. „Versprochen.“

Sam warf einen Blick in die Karre. „Adelaide schläft.“

„Oh. Wir müssen sie in ihr Bett legen.“ Hastig machte Sara kehrt.

„Sie wacht auf, sobald wir zu Hause sind.“

Sam behielt recht.

Adelaide machte ein Nickerchen, aber es dauerte nicht lange.

Sam döste vor sich hin.

Sara servierte den Kindern ein frühes Abendessen, und sie saßen zu dritt vor dem Fernseher, als Gavin nach Hause kam.

Sofort sprang Sam auf.

„Wie war dein erster Tag mit Sara?“, fragte sein Vater.

Adelaide strampelte und begann zu weinen.

Sara gab ihr einen Waschlappen.

„Sie war mit uns spazieren“, sagte Sam. „Ganz schön weit.“

„Gut.“ Gavin sah Sara an. „Alles in Ordnung?“

„Ja. Ich glaube, Adelaide zahnt.“

Seine Augen wurden groß. „Darauf hätte ich auch selbst kommen können.“

„Kein Problem. Sie kaut auf einem kalten Waschlappen. Das hilft. Stimmt’s, Baby?“, sagte sie zu Adelaide.

Das Baby legte die Stirn in Falten und biss kräftig in den Waschlappen.

„So ist es richtig“, lobte Gavin und sah Sam an. „Wir müssen zu Mr. Brahn.“

Der Junge verschränkte die Arme. „Ich will nicht zu Mr. Brahn.“

„Mr. Brahn ist sein Therapeut. Er hilft ihm, mit der Trauer fertigzuwerden“, erklärte sein Vater leise und ging zu Sam. „Komm schon, Partner, wir müssen los.“

Sam schob die Unterlippe vor. „Mr. Brahn ist langweilig, ich will nicht …“

„Eiscreme oder ein Videospiel?“, flüsterte sie Gavin zu.

„Wie bitte?“

„Nur so ein Gedanke“, sagte sie. „Als Belohnung nach dem Termin.“

Er nickte. „Möchtest du danach Eiscreme oder ein Videospiel?“, fragte er Sam.

Sams Augen leuchteten. „Geht auch beides?“

Gavin lächelte. „Nur eins“, sagte er und nahm den Jungen auf den Arm.

„Eis“, entschied Sam.

„Es könnte das Zubettbringen schwieriger machen“, sagte Gavin zu Sara.

Sie lächelte. „Bestimmt schläft Adelaide schon, wenn Sie wiederkommen.“ Hoffentlich, dachte sie. „Falls Sie nicht wissen, wohin Sie anschließend gehen sollen, es gibt ein tolles Eiscafé an der Geneva Street.“

„Geneva Gelato?“

„Genau. Waren Sie schon mal da?“

„Nein. Es hört sich nur richtig an. Welche Sorte ist am besten?“

„Haselnussschokolade schmeckt himmlisch. Das beste Eis der Welt, abgesehen von dem in Italien.“

„Sie sind anscheinend weit herumgekommen?“, fragte er und musterte sie.

Sein plötzliches Interesse macht Sara nervös. „Das sagt man so“, wich sie aus. „Probieren Sie es einfach.“

Sie sah den beiden nach, bis die Haustür sich hinter ihnen schloss. „Was hältst du von einem Bad und einer Flasche?“, fragte sie die Kleine und trug sie in die Küche. Sie säuberte das Spülbecken gründlich, legte ein Handtuch hinein und ließ etwas warmes Wasser hineinlaufen. Dann zog sie Adelaide aus und badete sie vorsichtig. Als sie ihr den Waschlappen wegnehmen wollte, protestierte das kleine Mädchen heftig. „Schon gut, du kannst ihn behalten. Aber wir müssen aufpassen, dass er nicht seifig wird.“

Von Prinzessin Bridget hatte sie gelernt, dass es Babys beruhigte, wenn man beim Baden mit ihnen sprach. Sie trocknete Adelaide ab, zog ihr saubere Sachen an und schaffte es, den Waschlappen durch einen frischen zu ersetzen.

Es war noch zu früh, um Adelaide ins Bett zu legen, also versuchte sie, ein Buch zu lesen. Das Baby protestierte strampelnd. „Keine Lust zum Lesen?“, murmelte sie und ging mit ihrem kleinen Schützling durchs Haus.

„Warum eigentlich nicht?“, fragte sie laut, als ihr Blick auf das Klavier fiel. „Wenn es dir nicht gefällt, kannst du mich gern ausbuhen.“

Sie stellte Adelaides Babyschale neben das Klavier, setzte sich auf die Bank und schaute auf die Tasten. Eine Mischung aus Vorfreude und Erleichterung durchströmte sie. Sie spielte einige Akkorde, um sich mit dem Anschlag vertraut zu machen. Gavin hatte recht. Das Klavier musste gestimmt werden, aber das störte sie nicht. „Mozart soll gut für Kinder sein, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher und spiele Bach. Sag mir einfach, wie du seine Goldberg-Variationen findest.“

Sara begann zu spielen, und da sie kein Weinen hörte, spielte sie fünfzehn Minuten lang. Als sie sich anschließend nach Adelaide umschaute, lag das Baby friedlich da und schien vergessen zu haben, dass es einen Waschlappen brauchte. Lächelnd nahm Sara die Kleine aus der Babyschale. „Braves Mädchen. Bach wirkt immer, was? Zeit für deine Flasche.“

Adelaide trank, Sara wiegte sie ein paar Minuten lang und legte sie in ihr Bett. Sie überzeugte sich, dass das Babyfon eingeschaltet war, und ging leise hinaus. Die Erschöpfung überkam sie urplötzlich, und sie seufzte leise. Das war ihr erster Tag als Nanny, aber sie hatte nicht erwartet, dass der Job sie so viel Kraft kosten würde. Obwohl es erst acht Uhr war, wäre sie am liebsten zu Bett gegangen.

Sie riss sich zusammen, machte sich einen Tee, setzte sich ins Wohnzimmer und versuchte blinzelnd, wach zu bleiben.

Gavin schob Sam ins Cottage. Wegen einer Baustelle auf der meistbefahrenen Straße der kleinen Insel kamen sie viel später als geplant nach Hause.

Stolz trug der Junge die weiße Tüte mit einem rapide schmelzenden Eisbecher für Sara. Er rannte ins Wohnzimmer und blieb abrupt stehen. „Sie schläft“, flüsterte er.

Gavin warf einen Blick auf das neue Kindermädchen und verspürte einen Anflug von Mitgefühl. Vielleicht hätte er lieber zwei Nannys einstellen sollen. Er betrachtete sie etwas genauer. Sie hatte Schatten unter den Augen, aber ihre Haut sah aus wie elfenbeinfarbenes Porzellan. Das dunkle Haar war ihr in die Stirn gefallen, und die rosigen Lippen waren leicht geöffnet, fast wie eine Einladung.

Als sein Körper auf ihren Anblick reagierte, wehrte er sich dagegen. Er hatte weder Zeit noch Kraft für solche Gedanken. Die Kinder brauchten ihn, und er durfte sich nicht ablenken lassen.

Während der letzten Jahre hatten Gavin und seine verstorbene Frau sich einander entfremdet. Sie hatten versucht, ihre Ehe zu retten – so war Adelaide gezeugt worden. Aber er hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, denn nach Sams Geburt hatte sie unter Wochenbettdepressionen gelitten. Obwohl Laurens Tod ein Unfall gewesen war, konnte er seine Schuldgefühle nicht abschütteln. Er fragte sich, ob er es jemals schaffen würde.

Die Papiertüte raschelte zwischen Sams Händen. Saras Lider zuckten, dann öffnete sie die Augen. Hastig setzte sie sich auf. „Oh, ich bin eingeschlafen. Wie spät ist es?“

Gavin schaute auf die Uhr. „Zehn nach acht.“

„Oh“, wiederholte sie lachend. „Ein Acht-Minuten-Nickerchen. Höchstens zehn. Willkommen zurück. Soll ich Ihnen einen Tee einschenken? Möchtest du etwas zu trinken, Sam?“

„Wie nehmen beide Wasser. Sam hat etwas für Sie.“

Saras Blick fiel auf die Papiertüte in den Händen des Jungen. Lächelnd klatschte sie in die Hände. „Oh, sag mir nicht, was es ist, Sam. Lass mich raten … Ist es Pizza?“

Sam schüttelte den Kopf.

„Käse und Cracker?“

Sam schüttelte den Kopf.

„Ein Häschen?“

Sam schüttelte den Kopf und lächelte zaghaft. „Hier.“ Er hielt ihr die Tüte hin.

Sie öffnete sie, holte einen kleinen Becher heraus und nahm den Deckel ab. Dann senkte sie den Kopf und steckte die Zungenspitze in den Becher. „Haselnuss. Mein Lieblingseis. Vielen Dank. Was für eins hattest du?“

„Schokolade und Marshmallow“, antwortete Sam.

„Ich habe Ihren Rat befolgt und ebenfalls Haselnuss genommen“, sagte Gavin. „Sie hatten recht, es schmeckt wirklich gut. Sie sollten Ihr Eis schnell essen. Wir haben in einem Stau gesteckt, und es ist geschmolzen.“

„Dann ist es weich und cremig. Ich hole Ihnen Wasser.“ Sie eilte in die Küche.

Sam sah seinen Vater an. „Sie ist hübsch, aber raten kann sie nicht gut.“

Obwohl sie außer Sicht war, spürte Gavin ihre Anwesenheit. Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Die neue Nanny lächelte viel, und etwas an ihr ließ alles weniger finster und aussichtslos erscheinen. Sie sprach mit Sam, auch wenn er selten antwortete. „Gehen Sie schlafen“, sagte er zu ihr, obwohl es noch früh war. „Morgen ist wieder ein harter Tag.“

„Das stimmt. Soll ich Sam ins Bett bringen?“

Gavin schüttelte den Kopf. „Nein, das mache ich selbst. Ich bin auch dran, wenn er das erste Mal in der Nacht aufwacht. Sie können das zweite Mal übernehmen.“

Ihre Augen wurden groß. „Er wacht zweimal auf?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir machen Fortschritte.“

„Dann versuche ich, für ihn da zu sein. Gute Nacht, Sam. Danke für das leckere Gelato.“

Sam nickte, und Gavin stieß ihn an. „Sag: Gern geschehen.“

„Gern geschehen“, wiederholte sein Sohn leise.

„Gute Nacht“, sagte sie und ging hinaus.

Irgendwann, als es dunkel war, erwachte Sam und fühlte, wie Panik in ihm aufstieg. Sein Herz raste. Er schaute auf das Nachtlicht und holte tief Luft.

Dann holte er noch mehr Luft und dachte an seine Mutter. Sie war weggegangen und nie wiedergekommen. Er vermisste sie so sehr. Er wollte nicht noch jemanden verlieren.

Sam schlüpfte aus dem Bett und schlich zum Zimmer seines Vaters. Die Tür war nicht ganz geschlossen. Er schob sie auf und ging hinein. Sein Vater lag auf dem Rücken und schnarchte leise.

Erleichtert beobachtete Sam ihn eine Weile, dann ging er über den Flur zum Zimmer seiner neuen Nanny. Ihre Tür war auch geöffnet. Er ging hinein.

Sie schlief auf der Seite.

Plötzlich hörte er ein seltsames Geräusch. Er brauchte einen Moment, bis er wusste, was es war.

Das Meer. Die Wellen. Er liebte das Geräusch.

Er liebte es so sehr, dass er mehr davon hören wollte. Er legte sich auf den Teppich, lauschte und wurde immer ruhiger, bis ihm die Augen zufielen.

Sara erwachte von ungewohnten Lauten. Sie hörte Summen und Seufzen, setzte sich auf, starrte in die Dunkelheit und sah eine kleine Gestalt auf dem Fußboden. Erst nach einigen Sekunden wurde ihr klar, wer es war.

Sam.

Sie stand auf, nahm ihn auf die Arme und drückte ihn an sich.

Er erschrak.

„Alles gut. Ich bin deine Nanny Sara“, sagte sie und ging zu seinem Zimmer.

„Aber …“

Gavin trat auf den Flur. „Was ist passiert? Normalerweise schläft er auf dem Fußboden in meinem Zimmer.“

„Er war in meinem Zimmer.“

Gavin nahm ihr seinen Sohn ab. „Was ist los, Partner?“

„Ich mochte die Wellen.“

Erstaunt sah Gavin sie an.

„Meine Sound Machine“, erklärte Sara. „Ich lasse zum Einschlafen immer die Meeresgeräusche laufen.“ Sie strich Sam über die Stirn. „Möchtest du nachts die Wellen hören?“

Er nickte.

„Okay“, sagte sie. Dann stellte sie ihre Sound Machine in Sams Zimmer.

Mit auf die Hüften gestützten Händen betrachtete Gavin seinen schlafenden Sohn. Er beschützt ihn, dachte Sara und konnte sich nicht erinnern, wann ihr Vater jemals so auf sie aufgepasst hatte. Hör auf damit, befahl sie sich und schloss die Augen. Ihr Leben drehte sich allein um Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit war vorbei.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Gavin sie anstarrte. Er winkte sie auf den Flur, und sie folgte ihm aus Sams Zimmer.

„Das war eine Premiere“, sagte er. „Seit sechs Monaten kommt Sam jede Nacht in mein Schlafzimmer, um nachzusehen, ob ich ihn auch verlassen habe. Wie seine Mutter.“

„Er hat eine schwere Zeit hinter sich, genau wie Sie.“

Gavin nickte. „Ja, das stimmt. Wer hätte geahnt, dass eine Sound Machine so viel ausmacht?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Danke“, flüsterte er und neigte den Kopf zu ihrem.

Sie hielt den Atem an.

Er drückte ihren Arm. „Gehen Sie schlafen.“

Die Kombination aus Erleichterung und Enttäuschung ließ ihre Knie weich werden.

Überrascht sah Gavin ihr nach. Keine Frage, sie brauchte eindeutig mehr Schlaf.

Stunden später hörte Sara Gavins Stimme und setzte sich auf. Sie schaute auf die Uhr. Halb acht. Sie sprang aus dem Bett und rannte ins Zimmer des Babys. „Gibt es ein Problem?“, fragte sie. „Ich kann nicht glauben, dass ich so lange geschlafen habe.“

Gavin trug noch immer seinen Pyjama und wechselte gerade Adelaides Windel. „Ein gutes Problem. Sie hat durchgeschlafen. Haben Sie etwas anders gemacht, als Sie sie zu Bett gebracht haben?“

„Ich habe auf dem Klavier ein wenig Bach gespielt.“

Er warf ihr einen Blick zu. „Scheint gewirkt zu haben.“

„Hoffen wir es.“

„Ja.“

„Kann ich rasch duschen?“

„Klar“, sagte er. „Nach den letzten vierundzwanzig Stunden haben Sie sich Ihre Dusche wirklich verdient.“

Sie eilte ins Bad.

Zehn Minuten später betrat Sara die Küche und setzte ihr schönstes Lächeln auf. „Ich melde mich zum Dienst.“

Drei Augenpaare sahen sie voller Hoffnung, Angst und Erwartung an.

„Sie sind eine tapfere Frau“, sagte Gavin. „Oder eine verrückte“, murmelte er, als er ihr Adelaide reichte. „Halten Sie die Woche durch?“

„Woche? Ich dachte, ich bin mindestens zwei oder drei Monate hier.“

„Ja, natürlich. Drei Monate. Rufen Sie an, wenn Sie mich brauchen.“ Er ging zur Haustür.

„Das wollen Sie nicht wirklich, oder?“

In der offenen Tür drehte er sich zu ihr um. „Ich bin Ihnen sehr dankbar.“

Sara wurde warm ums Herz. Gavin war ein wundervoller Vater. Vielleicht sogar ein wundervoller Mann.

2. KAPITEL

Nach dem Frühstück setzte Sara die Kinder in ihren Wagen und fuhr Sam zu seinem Kindergarten.

„Ich mag den Kindergarten nicht“, sagte der Junge, als sie sich in die kurze Wagenschlange vor dem Gebäude einreihten.

Sara schaute in den Rückspiegel. „Was gefällt dir daran nicht? Du kannst spielen und andere Kinder treffen. Du kannst basteln und bekommst einen Snack.“

„Ich mag die Erzieherin nicht. Sie ist gemein.“

„Gemein?“, wiederholte Sara. „Was heißt das? Schlägt sie dich etwa?“

„Nein, aber sie lässt mich nicht in Ruhe. Manchmal will ich nicht mit den anderen Kindern spielen.“

„Du kannst doch zu Hause allein spielen. Der Kindergarten ist gut für dich, und es sind nur noch ein paar Stunden. Vielleicht kannst du jemandem helfen, der einen schlechten Tag hat“, sagte sie so zuversichtlich wie möglich. „Außerdem hole ich dich doch schon bald wieder ab.“

Am liebsten hätte sie den Jungen tröstend umarmt, aber sie wusste, dass er das nicht wollte. Vorläufig muss wohl meine Sound Machine reichen, dachte sie.

Wieder zu Hause, rief sie ihre Schwester an, erreichte aber nur die Mailbox.

Tabitha arbeitete am Empfang eines exklusiven Restaurants, bis die Deveraux-Familie etwas Passenderes für sie fand. Ihr Bruder Alex hatte sie beide überredet, sich im Ausland in Sicherheit zu bringen, und versprochen, sich in Chantaine mit ihnen zu treffen. Aber noch hatte er sich nicht gemeldet. Tabitha liebte ihre Freiheit über alles und unterwarf sich nur ungern irgendwelchen Zwängen.

Sara schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte ihre Besorgnis abzuschütteln. Im Moment konnte sie wenig tun, denn sie und ihre Schwester durften sich nicht zusammen sehen lassen.

Sie holte Sam vom Kindergarten ab, und er überreichte ihr eine Nachricht von seiner Erzieherin. Sie steckte den Umschlag ein und beschloss, ihn später Gavin zu geben. Unterwegs versuchte sie sich mit dem Jungen zu unterhalten, aber er ignorierte ihre Versuche.

Erst als sie in der Einfahrt hielt, hörte sie ihn laut seufzen. „Im Kindergarten reden alle von Weihnachten“, sagte er missmutig.

„Na ja, bis dahin dauert es nicht mehr lange. Wir müssen einen Baum besorgen und alles schmücken.“

„Aber Daddy will bestimmt keinen.“

Überrascht sah sie ihn an. „Warum nicht?“

„Er will nichts, was Spaß macht“, murmelte Sam. „Kann ich hineingehen?“

„Natürlich.“ Sara schnallte ihn los.

Der Nachmittag verlief ruhig. Kurz darauf erschien die Haushälterin. Janece Dillon, eine liebenswürdige Frau mittleren Alters, bereitete mehrere Mahlzeiten zu, um sie einzufrieren. „Sie sind also die neue Nanny“, sagte sie. „Sie sehen so jung aus.“

„Danke. Das hat Mr. Sinclair auch gesagt, aber ich bin siebenundzwanzig.“

„Ich hoffe für die drei, dass Sie bei ihnen bleiben können.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Sara, Adelaide auf der Hüfte.

„Nun ja, es waren schon einige Kindermädchen da“, antwortete Janece, während sie in dem Topf mit Nudelsoße rührte. „Der arme Mann und seine Kinder haben schon so viel durchgemacht.“

Als Gavin am Abend nach Hause kam, gab Sara ihm die Nachricht von Sams Erzieherin. „Ich habe sie nicht gelesen“, versicherte sie ihm.

Er überflog sie und fuhr sich seufzend durchs Haar. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Sam hasst seine Therapie. Er mag den Kindergarten nicht. Ich habe das Gefühl, dass er überhaupt keine Fortschritte macht.“

„Es sind doch erst sechs Monate, nicht wahr?“

„Aber er ist vier Jahre alt und lächelt kaum.“

„Er hat gelächelt, als ich mit ihm Eiscreme gegessen habe“, erzählte sie, um ihm Mut zu machen.

Gavin lachte. „Ich kann ihm doch nicht jeden Abend ein Eis spendieren.“

„Das stimmt natürlich, aber wir können uns etwas anderes überlegen. Sein Lieblingsessen, zum Beispiel. Oder vielleicht würde ein Haustier helfen.“

„Ein Haustier? Ich bin doch schon mit zwei Kindern fast überfordert. Auch noch ein Haustier, und ich müsste das Handtuch werfen.“

Sara zuckte mit den Schultern. „Als Kind durfte ich leider keine Haustiere haben. Aber eine meiner Nannys hat mir ein paarmal erlaubt, ihren Hamster zu besuchen. Er hieß Willie. Das war immer toll, und ich habe mich riesig darauf gefreut.“

„Warum hatten Sie so viele Nannys?“, fragte er. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie ein schwieriges Kind waren. Auch wenn die meisten gern mal hin und wieder über die Stränge schlagen.“

„Ich nicht. Ich war immer brav.“ War das etwa Begehren in seinen Augen? Oder bildete sie es sich nur ein? „Ich habe nie Probleme gemacht, im Gegensatz zu meinem Bruder und meiner Schwester.“

„Stammt Ihre Familie aus Chantaine?“

„Nein, wir kommen vom Festland, aber meine Eltern sind viel gereist“, antwortete sie ausweichend und zeigte auf den Herd. „Jance hat Pasta und Soße fürs Abendessen gemacht.“

„Das ist gut. Es ist eines von Sams Lieblingsgerichten. Ich wasche mich rasch, ziehe mich um und helfe Ihnen.“

„Nicht nötig“, wehrte sie ab. „Ich kann nur nicht besonders gut kochen.“

„Ich auch nicht. Deshalb bekomme ich zusätzlich zu meinem Gehalt auch eine Haushälterin. Und eine Nanny“, fügte er hinzu und sah ihr in die Augen. „Die Kinder zeigen es vielleicht noch nicht, aber wir sind froh, dass Sie hier sind.“

„Wir sollten an Weihnachten denken. Sam hat erzählt, dass im Kindergarten schon alle Kinder davon reden.“

Gavin fuhr sich durchs Haar. „Ich bin nicht wirklich in der Stimmung dafür.“

„Sie können das Fest nicht einfach ignorieren. Kinder lieben Weihnachten.“

„Vielleicht sollten wir es in diesem Jahr auf Sparflamme begehen.“

„Sam meinte, dass Sie vielleicht nicht schmücken wollen.“

„Da könnte er recht haben. Außerdem haben wir unseren Weihnachtsschmuck in den USA gelassen.“

„Er hat auch gesagt, dass Sie nichts mehr tun, was Spaß macht. Es steht mir nicht zu, Ihnen Vorschriften zu machen, aber vielleicht könnten Sie mit gutem Beispiel vorangehen und ihm zeigen, dass man das Leben manchmal auch genießen kann.“

Gavin starrte sie sekundenlang an. „Stimmt, es steht Ihnen nicht zu, mir Vorschriften zu machen.“

Ja, Sir, dachte Sara.

Adelaide krähte. Sie hatte geschlafen und wollte jetzt unterhalten werden.

„Bis zum Abendessen dauert es noch ein paar Minuten. Ich vermute, die Prinzessin braucht eine frische Windel und will nicht warten. Das kann ich gut verstehen.“

Nach dem Essen unternahm Sara mit Sam und Adelaide einen Spaziergang, während Gavin Baupläne studierte. „Ein schöner Abend, findest du nicht auch, Sam?“

Sam schob die Hände in die Taschen. „Ich wollte mein Videospiel spielen.“

„Das kannst du auch morgen. Die Sonne scheint noch, und das sollten wir ausnutzen. Frische Luft ist gut für dich. Ich war als Kind gern draußen.“

Der Junge seufzte. „Hattest du Videospiele?“

„Ich glaube nicht. Ich hatte ein Klavier.“ Sie bemerkte, dass Adelaides Augen geschlossen waren. „Oh nein, Adelaide schläft ein. Hilf mir, sie jetzt wach zu halten, damit sie nachher in der Nacht durchschläft.“ Sie überlegte kurz, dann begann sie zu singen. Es war das Lied von den zwei Vögeln, deren Namen sich auf die vorherige Textzeile reimten. Sam kannte es, aber sie musste ihn mehrmals auffordern, bevor er mitmachte.

Er stimmte eher lustlos ein, aber sie war froh, dass er überhaupt etwas sagte. Als sie wieder zu Hause waren, brachte sie die Kinder ins Bett, ging erst ins Bad und dann mit einem Buch auf ihr Zimmer.

Schon nach wenigen Seiten war sie eingeschlafen und erwachte mitten in der Nacht mit dem Buch auf der Brust. Sie blinzelte ins Licht der Nachttischlampe, tastete nach dem Glas Wasser daneben und stellte fest, dass sie es vergessen hatte.

Um Sam nicht zu wecken, ging sie nicht ins Bad, sondern schlich über den dunklen Flur in die Küche. Sie goss sich ein Glas ein, trank es fast aus und machte sich auf den Rückweg.

Schon nach wenigen Schritten stieß sie gegen etwas, das keine Wand war. Panik stieg in ihr auf. Sie schrie auf und hätte fast das Glas fallen gelassen.

„Ich bin es“, sagte Gavin und fluchte leise, weil das übergeschwappte Wasser ihn getroffen hatte. „Was ist los?“

„Ich habe ein Glas Wasser in der Hand“, erklärte sie atemlos. Er fühlte sich stark und fest an und hielt sie, damit sie nicht stürzte. Sie wusste nicht mehr, wann jemand sie zuletzt so gehalten hatte. „Sie haben mich erschreckt.“

„Ich habe ein Geräusch gehört und dachte, es sei Sam.“

Sara fühlte sich so sicher und geborgen wie schon lange nicht mehr, lehnte sich bei Gavin an und atmete seinen Duft ein. „Entschuldigung“, brachte sie heraus. „Ich wollte Sie nicht nass machen.“

„Könnte schlimmer sein“, erwiderte er, ohne sie loszulassen.

Sara wünschte, sie könnten für immer so bleiben. Woher kam dieser plötzliche Wunsch?

„Ja“, sagte sie und schmiegte sich so unauffällig wie möglich an ihn.

„Alles in Ordnung?“, fragte er nach einem langen Moment.

„Ja.“

„Bestimmt?“

Sie holte tief Luft und atmete ein letztes Mal seinen Duft ein. „Ja“, flüsterte sie.

Er machte einen Schritt zurück und ließ sie los.

Das eigenartige Kribbeln in ihrem Bauch verwirrte sie. War das Verlangen? „Ich gehe wieder ins Bett.“

„Gute Nacht“, sagte er mit einer heiseren, maskulinen Stimme, die ihr unter die Haut ging.

„Gute Nacht.“ Auf dem Weg zu ihrem Zimmer taumelte sie fast. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fühlte etwas, das sie sehr lange nicht mehr gefühlt hatte.

Sara wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie sank auf ihr Bett und schloss die Augen. Der Raum schien sich zu drehen. Vielleicht war das seltsame Gefühl morgen früh wieder weg. Sie durfte den Vater der Kinder, auf die sie aufpasste, nicht begehren. Es wäre unmöglich.

Sie holte mehrmals tief Luft und wünschte, sie könnte einen Schluck Wasser trinken. Immer wieder redete sie sich ein, dass sie Gavin nicht anziehend fand. Sie konnte und durfte ihn nicht wollen.

Mit klopfendem Herzen zählte sie von dreihundert rückwärts und hoffte inständig, dass sie einschlief, bevor sie bei eins ankam.

Während der nächsten Tage ging Sara Gavin aus dem Weg, was in dem kleinen Cottage schwierig war. Trotz aller Anstrengungen streifte er sie, oder sie stieß mit ihm zusammen. Jedes Mal fühlte es sich an wie ein Stromschlag.

Wenn sie abends zu Bett ging, war sie erschöpft, aber sobald sie die Augen schloss, malte sie sich aus, wie er sie in seinen kräftigen Armen hielt. Und dann fragte sie sich, wie sein Mund sich anfühlen würde, wenn er sie küsste.

Sara unterdrückte ein Stöhnen. Hör auf damit. Aber ihr störrischer Kopf gab nicht auf. Wusste sie überhaupt noch, wann sie das letzte Mal geküsst worden war?

Neun Tage nach ihrem Arbeitsantritt bei Gavin brachte sie Adelaide zu Bett und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Als sie die Küche verließ, kam Gavin auf sie zu.

Obwohl es hell war, hätte sie fast wieder das Wasser verschüttet.

„Sie müssen nicht jeden Abend in Ihrem Zimmer verschwinden, sondern dürfen die anderen Räume gern nutzen. Sie können fernsehen“, sagte er.

„Danke, aber ich lese lieber oder höre Musik über Kopfhörer.“

„Ich nehme an, Sie brauchen Ruhe, wenn die Kinder im Bett sind.“ Nachdenklich rieb er sich das Kinn. „Ich war mir nicht sicher, ob Sie durchhalten. Für eine Frau wie Sie ist das hier nicht gerade ein Traumjob.“

„Warum sagen Sie das?“

„Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie können gut mit Kindern umgehen, aber ich bezweifle, dass das Ihre übliche Arbeit ist.“

„Ich brauchte eine Abwechslung“, erwiderte Sara. „Ich habe als Nanny für Prinzessin Bridgets Kinder angefangen. Vielleicht bin ich nicht so erfahren wie andere, aber ich glaube, das gleiche ich durch Begeisterung und Einfühlungsvermögen aus.“

„Ich wollte Sie nicht kritisieren. Sie sind nur hübscher, als ich erwartet habe.“

Sara blinzelte. Komplimente waren für sie nicht neu, aber bisher waren sie immer von Leuten gekommen, die gewusst hatten, wer sie war. Sie räusperte sich verlegen. „Vielen Dank.“

„Außerdem wissen wir beide, dass die Kinder in einem schwierigen Alter sind. Adelaide bekommt Zähne, und Sams Situation …“

„Ich glaube, inzwischen akzeptiert er mich“, unterbrach sie ihn sanft. „Adelaide will pünktlich gefüttert werden und braucht Trost, wenn sie Schmerzen hat. Ehrlich, ich habe noch keine Sekunde daran gedacht, hier aufzuhören.“ Sie wusste gar nicht, ob sie es durfte. Inkognito zu arbeiten war der Preis für ihre Sicherheit und die ihrer Schwester.

„Das freut mich. Aber Sie hatten noch keinen freien Tag. Vielleicht kann ich später mal eine Vertretung besorgen. Vorläufig wäre es einfacher, wenn Sie einen Tag am Wochenende nehmen.“

„Okay.“ Sara wollte ihre Schwester besuchen, die in letzter Zeit ihre Anrufe oder Textnachrichten nicht erwidert hatte. „Samstag.“

Gavin nickte. „Das geht. Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.“

„Das mache ich“, versprach sie und fühlte seinen Blick so intensiv wie noch nie. „Gute Nacht.“ Sie eilte in ihr Zimmer. Ihr Herz schlug zu heftig, und ihr Gesicht schien zu glühen. Hoffentlich war bald Samstag.

Sara fuhr in die Stadt, parkte an der Straße, kaufte frisches Obst und ging die Stufen zu Tabithas Wohnung hinauf. Sie freute sich, dass an der Tür ein Adventskranz hing. Sie klopfte und wartete. Und wartete.

Sie klopfte wieder, und endlich öffnete ihre Schwester in einem Kleid, das sie offenbar hastig angezogen hatte. „Hi“, sagte sie mit schläfriger, aber übertrieben fröhlicher Stimme.

„Hi. Ich habe angerufen, aber du hast dich nicht gemeldet. Dein Kranz gefällt mir.“

Tabitha lächelte matt. „Danke für das Obst“, sagte sie und nahm es Sara ab. „Du kommst etwas ungelegen …“

Hinter ihr erschien ein attraktiver Mann. „Stellst du mich vor?“, bat er.

„Natürlich. Meine Schwes…“ Sie brach ab. „Meine gute Freundin Sara. Das ist Christoph.“

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte er. „Ich gehe duschen.“

Der Mann verschwand mit einem Handtuch um die Hüften. Sara starrte Tabitha an. „Wer um alles in der Welt ist das?“

„Er ist atemberaubend gut im Bett. Warum soll ich wie eine Nonne leben? Er kennt meinen richtigen Namen nicht.“

„Woher weißt du das?“

„Er hält mich für eine gebildete Empfangsdame in einem Restaurant.“ Tabitha lächelte. „Na ja, das bin ich im Moment auch.“

„Möchtest du lieber in Sergenia sein?“, entgegnete Sara scharf. „Und Angst vor einer Entführung haben?“

„So große Angst hatte ich davor nicht.“ Ihre Schwester seufzte. „Komm schon, Sasha … Sara, du musst zugeben, dass unsere Situation alles andere als ideal ist.“

„Wir können froh sein, dass man uns hier aufgenommen hat.“

„Du hast deine Bedürfnisse immer unterdrückt. Ich kann das nicht. Es ist nicht gut. Soll ich etwa in einer dunklen Ecke sitzen, bis jemand mir erlaubt, wieder herauszukommen?“ Tabitha schüttelte den Kopf. „Ich bin jung. Ich will leben.“

„Sei einfach nur vorsichtig“, bat Sara sie. „Dir könnte etwas zustoßen … auch beim Sex.“

Tabitha lachte. „Woher willst du das denn wissen?“ Sie senkte den Blick. „Tut mir leid. Es muss hart sein, die Familienheilige zu sein. Du hast es mir leicht gemacht, die Sünderin zu sein.“

Sara zog sie an sich. „Ich mache mir nur Sorgen um dich.“

„Wenn ich mit Christoph zusammen bin, fühle ich mich glücklich. Er ist Grieche. Er lässt mich meine Probleme vergessen.“

„Pass auf dich auf. Ich rufe wieder an. Versuch, dich zu melden.“

Tabitha lächelte. „Möchtest du wirklich keinen Tee?“

„Ich glaube, er hat gerade die Dusche abgedreht. Ich muss los. Ruf mich an“, sagte sie und küsste ihre Schwester auf die Wange, bevor sie davonging.

Sara schlenderte durch die Innenstadt, holte sich ein Haselnusseis und ging damit zum Strand. Es war Anfang Dezember, und obwohl es zu kalt zum Schwimmen war, wollte sie das Beste aus dem freien Tag machen. Nach einer Weile ertappte sie sich dabei, wie sie aufs azurblaue Meer starrte.

Sie machte sich Sorgen um ihren Bruder, von dem sie seit Monaten nichts gehört hatte, und um ihre Schwester, die fest entschlossen schien, die Zwänge der Vergangenheit abzuwerfen. Plötzlich musste sie an Gavin, Sam und Adelaide denken. Ein Ausflug an den Strand wäre für die kleine Familie eine nette Abwechslung.

Sie stand auf und klopfte sich den Sand ab.

Gavin ermunterte Sam, mehr zu essen, und löffelte Erbsenpüree in Adelaides Mund. Sie klopfte mit dem Löffel auf das Tablett vor ihr, und das Geräusch erinnerte ihn an einen schmerzhaften Besuch beim Zahnarzt.

Sam schien einen schlechten Tag zu haben. „Komm schon, Partner, nimm noch ein paar Bissen von deinem Sandwich“, ermunterte Gavin seinen Sohn.

Adelaide spuckte den grünen Brei aus und krähte fröhlich.

„Hey, mach es deinem armen Dad nicht so schwer.“ Gavin hörte, wie jemand das Haus betrat. Er hob den Blick, sah Sara in die Küche kommen und atmete erleichtert auf. „Sie sind früh zurück.“

Sie biss sich auf die Lippe, als müsste sie ein belustigtes Lächeln unterdrücken. „Gut zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die Adelaide mit Essen besprüht.“

„Ich wette, grün steht Ihnen besser als mir“, erwiderte er und wischte seiner Tochter das Gesicht ab. „Ich hoffe, Ihr Vormittag war angenehmer als unserer.“

„Er war nicht schlecht. Ich habe Eis gegessen und eine Weile am Strand gesessen.“

„Eis“, wiederholte Gavin.

„Am Strand“, sagte Sam sehnsuchtsvoll.

„Nichts hindert uns daran, zusammen einen Ausflug an den Strand zu machen. Wir müssen ja nicht schwimmen.“

Sam kniete sich auf seinen Stuhl und sah seinen Vater an. „Können wir, Daddy? Können wir?“

So viel Begeisterung hatte Gavin bei dem Jungen seit Monaten nicht mehr erlebt. Es gab nur eine Antwort.

3. KAPITEL

Sam rannte über den Strand und ging mit den Füßen ins Wasser.

„Ich kann gar nicht glauben, dass ihm das kalte Wasser nichts ausmacht“, sagte Sara.

„Sie vergessen, dass er jahrelang im Schnee von North Dakota gespielt hat“, erwiderte Gavin.

Adelaide strampelte an seiner Brust. Sie war schon fast zu groß für den Tragegurt, aber sie waren eilig aufgebrochen, und Gavin wollte nicht, dass sie sich Sand und Muscheln in den Mund stopfte.

„Adelaide will wirklich frei sein, was?“, sagte Sara lächelnd.

„Ja. Ich habe nur keine Lust, ihr den Sand aus dem Mund zu holen. Glauben Sie mir, das wäre ein echter Stimmungskiller.“

Sie nickte, schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. „Das Meer macht alles besser.“

„Wenn es nicht gerade einen Tsunami oder Wirbelsturm gibt.“

„Sie neigen zu Zynismus, oder?“

Stimmt, dachte Gavin, sprach es aber nicht aus, sondern atmete die salzige Luft tief ein. Er fühlte, wie er langsam lockerer wurde. Lange hatte er sich angespannt gefühlt. Vielleicht hatte er es sein müssen, um unter der Last der gewaltigen Trauer nicht zusammenzubrechen. Seine Kinder hatten ihre Mutter verloren, seine Frau ihr Leben. Er hatte kein Recht, die frische Luft zu genießen oder nur einen Moment Freude zu empfinden. Jetzt atmete er noch einmal so tief durch, dass ihm fast die Lunge schmerzte.

„Vielleicht sollten wir es Sam nachmachen und die Füße ins Wasser stellen“, schlug Sara vor. „Dann fühlen wir uns besser.“

„Das klingt wie eine Taufe.“

„Vielleicht ist es eine.“ Sie zog die Schuhe aus und schrie leise auf, als das Wasser ihre Füße umströmte. Sie schaute über die Schulter. „In einer Minute habe ich mich daran gewöhnt.“

Gavin beobachtete, wie sie ein paar zaghafte Schritte machte. Sie sah so jung aus, aber in ihren Augen spiegelte sich manchmal eine ältere Seele wider. Er zog einen Mundwinkel hoch. Ältere Seele? Was war los mit ihm? Wurde er etwa poetisch?

Er schüttelte den Kopf, streifte die Schuhe ab und ging zu Sara und Sam. Als er das Wasser erreichte, zuckte er zusammen und wartete auf den Zauber. Nichts passierte. Er fühlte sich nur etwas leichter.

„Es ist ungewohnt, tut aber gut“, sagte sie.

„Ja. Sam, du machst doch deine Hose nicht nass, oder?“

„Nein“, erwiderte der Junge, ging aber weiter ins Wasser.

„Geh nicht zu weit hinein!“, rief Gavin. „Ich will nicht, dass du in ein Loch trittst und kopfüber im Wasser landest.“

„Ich passe auf“, sagte Sam, ging im Kreis und starrte auf seine Füße.

„Er liebt es“, flüsterte Sara. „Ich würde gern häufiger mit ihm herkommen, aber ich weiß nicht, ob ich beide gleichzeitig im Blick behalten könnte.“

Gavin nickte. „Ich werde versuchen, mir mehr Zeit dafür zu nehmen. Wann haben Sie sich ins Meer verliebt?“

„Ich bin im Landesinneren aufgewachsen, aber wir haben oft Urlaub an der See gemacht. Das waren die einzigen Wochen, in denen wir länger mit unseren Eltern zusammen waren, auch wenn immer ein oder zwei Kindermädchen dabei waren.“

„Das klingt, als hätten Sie nicht viel Zeit mit Ihren Eltern verbracht.“

„Habe ich auch nicht.“ Sie verschränkte die Arme. „Der Beruf meines Vaters hat viele gesellschaftliche Termine mit sich gebracht. Daher waren meine Eltern häufiger auf Reisen als zu Hause.“

„Hmm. Was war mit Sportfesten oder Aufführungen in der Schule? Sind sie wenigstens dann gekommen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Hin und wieder. Wir wurden zur Selbstständigkeit erzogen. Aber genug …“ Sie brach ab. „Sam!“

Panisch sah Gavin zu seinem Sohn. Er hatte ihn kaum aus den Augen gelassen, und schon stand der Junge bis zu den Schultern im Wasser. Zusammen mit Sara rannte er zu ihm. Er packte ihn am Arm und zog ihn zum Ufer. „Ich habe doch gesagt, du sollst nicht weiter hineingehen.“

„Ich wollte in die Wellen“, sagte Sam. „Und ich habe mein Gesicht nicht nass gemacht.“

„Du warst kurz davor.“

Sam ließ den Kopf hängen. „Tut mir leid.“

Sara drückte seine Schulter. „Bestimmt bist du nächstes Mal vorsichtiger. Du willst doch deinen Vater und mich nicht erschrecken. Das Meer kann selbst für erfahrene Schwimmer gefährlich sein. Kannst du schwimmen?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

Sara sah seinen Vater an. „Noch etwas, worum wir uns demnächst kümmern müssen.“

Gavin nickte. „Gute Idee. Daran hätte ich selbst denken können.“

„Sie hatten viel im Kopf. Aber auch wenn man schwimmen kann, braucht man einen Partner“, sagte sie und blickte von einem zum anderen.

Ihre hochgerollten Jeans klebten an der Haut, und das T-Shirt unter der Jacke war klitschnass und nahezu durchsichtig. Darunter trug sie einen Spitzen-BH, und die Brustwarzen drängten sich gegen den zarten Stoff. Gegen seinen Willen fand Gavin den Anblick erregend. Hastig riss er sich von dem verführerischen Anblick los.

„Heute waren wir nicht auf ein Vollbad vorbereitet, haben aber trotzdem eins bekommen“, sagte sie lachend.

„Das nächste Mal ziehen wir uns passender an.“ Gavin fragte sich, wie er seine Fantasie zügeln sollte, wenn Sara einen Badeanzug trug.

Sara badete Adelaide und legte sie mit ein paar Spielsachen in ihr Bett, während Gavin seinem Sohn beim Duschen half. Danach duschte sie ebenfalls und ging mit Adelaide in die Küche, wo Gavin Suppe aufwärmte und Sandwiches zubereitete.

„Ich bin kein guter Koch, aber mein Grillkäse kann sich sehen lassen“, sagte er.

„Soll ich die Suppe umrühren?“, fragte sie und stellte fest, wie gut er aussah, wenn er mit zerzaustem Haar und breiten Schultern am Herd stand. Er war nicht so kultiviert wie die Männer, mit denen sie normalerweise Zeit verbrachte, aber so viele Männer kannte sie nun auch wieder nicht näher. Sie hatte schon früh begonnen, ihr Klavierspiel zu perfektionieren. Ihre Eltern und die königlichen Berater hatten ihr immer wieder eingeschärft, wie stolz ihr Land auf ihre künstlerischen Fähigkeiten sein würde.

Vielleicht hätte sie lieber Ingenieurin werden sollen. Damit könnte sie in ihrer Situation wesentlich mehr anfangen. Andererseits bot die Musik ihr immer wieder Trost. „Ich habe im Haus keine Schallplatten oder CDs gesehen. Zwar habe ich Musik auf meinem Handy gespeichert, aber anscheinend gibt es hier keine Lautsprecher.“

„Lautsprecher“, wiederholte Gavin, als wäre das ein Fremdwort.

„Sie haben Kinder. Kinder brauchen Musik.“

„Ich besorge welche“, versprach er und griff nach seinem Handy. „Ich schreibe mir eine SMS.“

„Bis dahin könnte ich etwas auf dem Klavier spielen“, schlug Sara vor. „Obwohl ich möglicherweise etwas eingerostet bin.“

Er nickte. „Gute Idee.“

Sara ging ins Wohnzimmer, strich über die Tasten und spielte ein lebhaftes, aber nicht zu schwieriges Menuett von Bach. Als die letzte Note verklang, hob sie den Kopf und sah Sam neben dem Klavier stehen. Fasziniert starrte er sie an. „Wie wäre es mit Beethoven?“, fragte sie lächelnd. „Die Ode an die Freude? Mit einem Orchester klingt sie natürlich besser, aber ich tue mein Bestes.“

Nach einigen kleinen Fehlern hatte sie sich warm gespielt. Danach drehte sie sich zu Sam und Gavin um, der sie erstaunt ansah.

„Haben Sie nicht erzählt, dass Sie ein paar Klavierstunden genommen haben?“

„Habe ich“, erwiderte sie. „War es so schlecht?“

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Schlecht? Im Gegenteil. Sind Sie sicher, dass Sie nicht professionell spielen?“

Sara zuckte mit den Schultern. „In der Kunst ist professionell relativ.“ Sie lächelte. „Hat es Ihnen gefallen?“

„Sehr.“ Adelaide zappelte auf seinem Arm. „Adelaide auch. Was ist mit dir, Sam?“

Sam starrte sie an, als hätte sie plötzlich Zauberkräfte bekommen. Oder einen zweiten Kopf. Dann nickte er stumm.

„Sollen wir essen?“, schlug Sara vor, um von sich abzulenken.

Gavin nickte, lächelte jungenhaft und verströmte dabei einen männlichen Charme, der bei ihr ein Bauchkribbeln bewirkte. „Ich habe die Sandwiches nicht verbrannt.“

Sara fütterte Adelaide mit Karottenbrei, während sie, Gavin und Sam sich ihre Sandwiches, Suppe und Chips schmecken ließen. Adelaide spuckte einen Löffel Brei aus, traf aber nur das Tablett.

„Ja, Eure Hoheit, wir sind fertig“, sagte Sara. „Wir alle lernen aus unseren Fehlern, und Erbsenpüree ist noch schlimmer.“

Gavin warf ihr einen mitfühlenden Blick zu.

Sara kniff Adelaide zärtlich in eine Wange, und das Baby strahlte. „Unterernährt ist sie eindeutig nicht. Sie sind ein guter Vater.“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

„Ich schon.“ Sie wischte Adelaide das Gesicht ab. „Möchten Sie der Prinzessin ihre Flasche geben und sie zu Bett bringen? Sam und ich lesen.“

„Gern. Danke, dass Sie so früh zu Hause waren.“

Sie nahm Sam mit ins Wohnzimmer und las ihm dasselbe Buch dreimal vor. Der Junge schaute immer wieder zum Klavier, aber da es so kurz vor dem Zubettgehen im Haus still war, wollte sie ihm nichts vorspielen. Nach einer Weile kam Gavin, um seinen Sohn zu holen.

„Bereit fürs Bett, mein Großer?“

Sam sprang vom Sofa und in seine Arme, damit sein Vater ihn in sein Zimmer tragen konnte.

Sara steckte ihre Ohrhörer ein und hörte Musik.

Kurz darauf setzte Ga...

Autor

Joanna Sims
<p>Joanna Sims brennt für moderne Romances und entwirft gerne Charaktere, die hart arbeiten, heimatverbunden und absolut treu sind. Die Autorin führt diese auf manchmal verschlungenen Pfaden verlässlich zum wohlverdienten Happy End. Besuchen Sie Joanna Sims auf ihrer Webseite www.joannasimsromance.com.</p>
Mehr erfahren
Christine Flynn
Der preisgekrönten Autorin Christine Flynn erzählte einst ein Professor für kreatives Schreiben, dass sie sich viel Kummer ersparen könnte, wenn sie ihre Liebe zu Büchern darauf beschränken würde sie zu lesen, anstatt den Versuch zu unternehmen welche zu schreiben. Sie nahm sich seine Worte sehr zu Herzen und verließ seine...
Mehr erfahren