Bianca Exklusiv Band 382

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AUF KLEINEN PFOTEN INS WINTERMÄRCHEN von AMY WOODS

June ist empört! Wie kann man so süße Hundebabys einfach aussetzen? Natürlich wird sie die Welpen retten. Sie weiß, in der Tierklinik findet sie Hilfe. Aber als ein Schneesturm sie zwingt, dort zu übernachten, bringt das umwerfende Lächeln von Dr. Ethan Singh plötzlich sie in Gefahr ...

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  • Erscheinungstag 07.12.2024
  • Bandnummer 382
  • ISBN / Artikelnummer 0852240382
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Amy Woods

1. KAPITEL

„June, Süße, warum gehst du jetzt nicht nach Hause? Ich kann den Laden doch allein zumachen. Es sieht so aus, als ob das Wetter noch schlechter wird.“

June Leavy schaute von ihrem Eimer auf und folgte dem Blick der Besitzerin der Peach Leaf Pizzeria zu dem kleinen Fernseher hinter der Bar. Gerade lief die abendliche Wettervorhersage. Der Januar in West-Texas konnte natürlich immer unberechenbar sein, aber der Gedanke an einen halben Meter Schnee war einfach surreal.

Sie musterte ihre Chefin. Die Linien um Margarets Mund und die dunklen Ringe unter den sonst so lebhaften Augen der älteren Frau waren ihr nicht verborgen geblieben. Heute war viel los gewesen. Sie waren beide erschöpft, aber mit vier Händen wäre die Arbeit sehr viel schneller erledigt.

June schüttelte deshalb den Kopf. „Blödsinn. Ich bin schon fast fertig mit dem Boden, und dann muss ich nur noch den Müll rausbringen.“

Margaret schenkte ihr ein dankbares müdes Lächeln. Zugeben würde sie das zwar nie, aber sie wurde langsam älter. June hatte das dumpfe Gefühl, dass ihre Chefin sie bald bitten würde, den Laden zu übernehmen. Wer konnte es einer frischgebackenen Großmutter auch übel nehmen, dass sie gerne mehr Zeit mit ihren Enkeln verbringen wollte? Außerdem war June ihre einzige Vollzeitkraft, und sie teilte sich mittlerweile mit ihr auch schon die Geschäftsführung.

June seufzte und versenkte den Mopp erneut platschend im Wasser. Wieder einmal fragte sie sich, wie sie auf die Frage antworten würde, wenn es irgendwann so weit war. Die Vor- und Nachteile standen ihr klar vor Augen. Aber die Entscheidung würde trotzdem nicht einfach sein.

Margaret war eine wunderbare Chefin, und der Job bot ein regelmäßiges Einkommen. Die Arbeit hatte außerdem etwas Beruhigendes an sich. Das Teigkneten, das Gemüseschneiden und die Aufnahme der Bestellungen, die vertrauten Gesichter der vielen Stammkunden. Sie würde die Scherze vermissen, die Gespräche mit Menschen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, und die aufgeregten Teenager, die nach einem Sieg beim Baseball immer die roten Lederbänke in Beschlag nahmen.

Aber June hatte auch ihre eigenen Träume.

Und bis vor Kurzem war sie nahe dran gewesen, diese Träume auch zu verwirklichen. So nahe dran, dass sie sich noch nicht wieder davon erholt hatte, alles verloren zu haben.

Jetzt hatte sie die Wahl: Sie konnte noch einmal ganz von vorn anfangen. Oder sie konnte auf Nummer sicher gehen und irgendwann die Pizzeria übernehmen.

So gesehen war das eigentlich gar keine Frage. Aber sie rief sich noch einmal ins Gedächtnis, dass ein Neuanfang keine Garantie für ein Happy End war.

June putzte nun einen Klecks verspritzter Marinarasoße weg und schob den fahrbaren Eimer anschließend zur Rückseite des Lokals.

Margaret wischte die Theke ab und ging dann auf Zehenspitzen durch den Raum, um den Fernseher abzuschalten, bevor sie die Schürze auszog. „Als ich noch ein Mädchen war, haben wir einmal über einen Meter Schnee hier gehabt. Und ich sage dir, es ist nicht einfach, unterwegs zu sein, wenn so viel Schnee liegt.“ Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und deutete mit der anderen auf June. „Vor allem, wenn hier keiner weiß, wie man bei so einem Ereignis fahren muss.“

June nickte und durchquerte dann die Küche, um den Wischeimer ins Spülbecken auszuleeren. Danach verstaute sie die Putzsachen wieder in der Besenkammer. Vermutlich war es möglich, dass das Wetter noch schlechter wurde. Es schneite ja jetzt schon seit ein paar Tagen immer wieder, also hatte sich inzwischen schon eine dünne Schneedecke über alles gelegt, aber es kam ihr nicht sehr wahrscheinlich vor, dass innerhalb weniger Stunden noch viel mehr herunterkommen würde. Es war bestimmt unnötig, sich ernsthaft Sorgen zu machen.

Aber als sie die Tür der Besenkammer zumachte und sich umdrehte, schaute Margaret sie an. Die klaren blauen Augen ihrer Chefin wirkten beunruhigt.

„Versprich mir bitte, dass du besonders vorsichtig bist. Und wenn es richtig übel wird, dann machen wir morgen gar nicht erst auf.“

June schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. Sie versprach, dass sie auf sich aufpassen würde, und tätschelte Margaret sanft die Schultern. Im Laufe der Jahre waren sie sich immer näher gekommen. Sie waren nicht mehr einfach nur Arbeitgeberin und Angestellte. Ihre Chefin behandelte sie eigentlich mehr wie eine Tochter. Und das machte es nur noch schwieriger für June, über das nächste Kapitel ihres Lebens nachzudenken.

Sie wusste, dass es Margaret nicht gefallen würde, dass June deren Bedürfnisse berücksichtigte. Aber sie waren nun einmal ein Faktor in ihren Überlegungen. Ein wichtiger sogar. Wenn sie je wieder auf eigenen Füßen stehen würde, wenn sie je ihr über viele Jahre hinweg mühsam erspartes Geld zurückbekommen würde, wenn sie je ihre eigene Bäckerei eröffnen würde, dann würde sie jemanden zurücklassen müssen, der ihr wichtig war. Jemanden, der ihr durch ihre schlimmste Lebenskrise hindurch geholfen hatte. Und das spielte nun einmal eine Rolle. Eine große sogar.

Sie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber nachzudenken.

Das Geld war weg. Ihre Träume höchstwahrscheinlich auch. Sie hatte sich über ein Jahrzehnt abgeplagt, um es zu verdienen. Dabei hatte sie auf so viel verzichtet, nur um genug Geld für ihre eigene Bäckerei sparen zu können. Unter der Last dieses Verlusts ließ sie die Schultern erneut hängen. Es würde Jahre dauern, bis ihre finanziellen Verhältnisse wieder stabil waren, und noch länger, um wieder so viel ansparen zu können.

Sechs Monate waren mittlerweile vergangen, seit Clayton verschwunden war und alles mitgenommen hatte. Ihr ganzes gemeinsames Geld. Eigentlich eher Junes Geld, wenn sie ehrlich war. Und das war sie jetzt – es war einfach zu viel passiert, um es nicht zu sein. Ihre Träume waren dahin.

Ihr Herz, gebrochen.

Sie liebte ihn nicht mehr, denn dafür hatte er ihr Vertrauen zu sehr missbraucht und sie zu tief verletzt. Aber die tiefe Einsamkeit nach seinem Verschwinden und das Ende des Lebens, das sie sich gemeinsam aufgebaut hatten … Vielleicht, dachte June, ist es auch das, um was ich in Wirklichkeit trauere. Jedenfalls brauchte sie ihn nicht. Oder sonst einen Mann. Bis Clayton aufgetaucht war, war sie den größten Teil ihres Lebens Single gewesen. Und glücklich und zufrieden damit.

Aber genau das war der Punkt. Bis er verschwunden war, hätte sie geschworen, dass sie mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen würde. Und als er dann weg war, waren die Aussichten auf eine Familie und ein gemeinsames Leben mit ihm von jetzt auf gleich verschwunden. Sie war wieder da, wo sie vor ihm gewesen war – nur dieses Mal war es anders. Dieses Mal wusste sie, wie es war, ein Zuhause mit jemandem zu teilen, den man liebte. Oder darüber zu sprechen, irgendwann einmal Kinder zu haben. Zusammen zu träumen. Gemeinsam in die Zukunft zu schauen. Dieses Mal hatte sie das Gefühl, als ob ihr etwas fehlte.

Kopf hoch, ermahnte sie sich. Es war besser, sich mit der Gegenwart zu arrangieren, als der Vergangenheit nachzutrauern. Oder etwa nicht?

Natürlich war es das.

Also ging sie in die Küche und holte die beiden großen Müllsäcke. Sie nahm sie auf die Schultern, um sie zum Müllcontainer hinter dem Lokal zu tragen.

Es war alles ja gar nicht so schlimm. Sie hatte ihren Job, ihre Freunde und ein Dach über dem Kopf. Und dafür war sie wirklich dankbar. Im Augenblick war es sogar gut, ungebunden zu sein. So hatte sie den Freiraum zu entscheiden, wie sie ihr Leben wieder in Ordnung bringen würde. Das konnte gerne auch noch eine Weile so bleiben. Damit sie eines Tages wieder Vertrauen in eine Beziehung setzen könnte, wäre ein ganz besonderer Mensch nötig. Und sie war sich ziemlich sicher, dass es so jemanden möglicherweise niemals für sie geben würde.

June ließ die Müllsäcke neben der Hintertür fallen und ging schnell ihren Mantel holen. Margaret folgte ihrem Beispiel. „Zieh dich warm an.“

„Jawohl, Ma’am.“ Sie salutierte scherzhaft.

Margaret stemmte die Hände in die Hüften. „Das ist kein Witz, Junie. Du vergisst, dass ich aus dem Norden von New York komme. Dem Staat, nicht der Stadt. Da kann es im Winter wirklich lebensgefährlich werden. Ihr Texaner habt keinen blassen Schimmer von richtiger Kälte. Ich will einfach nicht, dass dich das Wetter eiskalt erwischt.“

„Okay. Versprochen.“

Sie zogen nun beide Handschuhe und Mützen an und holten ihre Handtaschen. Margaret machte die Hintertür für June auf, als diese die Müllsäcke hochhob. Ein eisiger Windstoß blies ihr ins Gesicht und brachte sie kurz aus dem Gleichgewicht, bevor sie sich den entfesselten Elementen entgegenstemmte.

„Ich komm schon klar. Ich lade den Müll ab und schließe dann zu. Bis morgen!“, rief sie über ihre Schulter zurück.

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

June lachte leise. „Okay, dann eben bis bald.“

„Na schön, Liebes. Vergiss aber nicht, was ich gesagt habe. Bleib zu Hause, wenn es richtig übel ist“, erwiderte Margaret. Ihre Stimme verhallte, als die Tür hinter ihr zuschlug und sie nach vorn auf den Parkplatz zu ihrem Auto ging.

June schüttelte den Kopf, dann warf sie die schweren Säcke in den Container und fuhr bei dem lauten Scheppern des Deckels zusammen.

Noch jemand musste bei dem Geräusch die gleiche Reaktion gehabt haben, denn aus dem Augenwinkel nahm June eine Bewegung wahr, als sie zurück zur Tür ging, um abzuschließen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie sich umsah.

„Hallo?“

Sie lauschte und hörte … nichts. Außer vielleicht dem Blut, das in ihren Ohren rauschte.

„Ist da jemand?“, rief sie erneut. Wahrscheinlich gab es keinen Grund zur Sorge. Das hier war schließlich Peach Leaf, wo die Kriminalitätsrate ungefähr bei null lag. Trotzdem, sie war eine Frau, und sie war nach Einbruch der Dunkelheit ganz allein auf der Straße. Es war nur vernünftig, vorsichtig zu sein.

Sie sah sich noch einmal nervös um.

Nun vernahm sie wieder etwas. Ein leises Rascheln, gefolgt von einem schwachen Quietschen. Sie versuchte sich zu entscheiden, ob sie das Geräusch einfach ignorieren sollte. Sie wusste, dass es klüger wäre, einfach wegzugehen. Egal, worum es sich handelte, es war schließlich nicht ihr Problem. Und der Himmel wusste, dass sie im Augenblick nicht noch mehr Probleme in ihrem Leben brauchen konnte.

Aber dann hörte sie es wieder. Und dieses Mal versetzten ihr die leisen traurigen Laute einen Stich ins Herz. Der Schneefall wurde immer stärker. Die Flocken bildeten bereits einen weißen Schleier auf dem roten Stoff ihres Mantels. June stieß einen tiefen Seufzer aus und beschloss, der Sache trotzdem auf den Grund zu gehen. Egal was diese Geräusche auch machte, in einer eiskalten Winternacht hatte es nichts in einer einsamen Gasse verloren.

Sie zog jetzt den Riemen ihrer Handtasche von der Schulter über den Kopf, dann kramte sie ihr Handy heraus und schaltete die eingebaute Taschenlampe ein. Der schmale Strahl durchbrach die Dunkelheit. Langsam schob sich June hinter den Müllcontainer. Das Licht brachte jedoch nichts weiter zum Vorschein als schmutzigen Schnee. Sie blieb stehen und wartete einen Augenblick. Dabei lauschte sie angestrengt, um den Geräuschen zu ihrem Ursprung folgen zu können. Gerade, als sie ihre Suche aufgeben wollte, hörte sie wieder etwas: dieses Mal noch deutlicher.

Sie legte eine Hand ans Ohr und versuchte zu identifizieren, worum es sich handelte. Vielleicht um ein Kätzchen? Auf jeden Fall irgendetwas Kleines, Hilfloses und Verlorenes. Sie hoffte innerlich, dass es kein Baby war. Der Gedanke daran, dass jemand einen Säugling aussetzen würde, und noch dazu bei diesem Wetter, war einfach … undenkbar.

Da war es wieder! Und dieses Mal war sie sich ganz sicher, dass es eine Art Wimmern war. Sie sprach ein stummes Gebet und bewegte sich dann langsam auf das Geräusch zu. Es wurde jetzt immer lauter. Also musste sie bereits ganz in der Nähe sein. Sie hatte die Gasse halb durchquert und schon fast die Straße erreicht, als sie den Ursprung des Lautes, in einer dunklen Ecke hinter einer weiteren Mülltonne, entdeckte.

June richtete ihre Taschenlampe auf den Schatten und schnappte nach Luft, als sie in zwei Paar große braune Augen blickte.

Große braune … Hundeaugen.

Das Geräusch, das sie gehört hatte, war das herzerweichende Wimmern winziger Hundebabys gewesen, die leise winselten und wahrscheinlich nach ihrer Mutter riefen.

Auf einem Haufen Abfall hinter dem Müllcontainer eines Ladens kuschelten sich zwei winzige schwarze Fellbündel mit acht kleinen schwarz-weiß gefleckten Pfoten aneinander. Ihre winzigen Gesichter gaben schließlich den Ausschlag. June stiegen die Tränen in die Augen, als sie die zwei Paar flauschigen schwarzen Ohren anstarrte – und zwar nicht wegen der beißenden Kälte. Zwischen den Ohren befand sich ein weißer Fellstreifen, der sich nach unten zu identischen weißen Schnauzen fortsetzte.

Eine ganze Minute lang stand June wie erstarrt da. Ihr Instinkt drängte sie, die Welpen auf den Arm zu nehmen, um sie aufzuwärmen. Aber sie war sich nicht sicher, ob das richtig war.

Einerseits waren die Temperaturen bestimmt schon seit dem Sonnenuntergang unter den Gefrierpunkt gesunken, aber andererseits: Was geschah, wenn die Mutter der Welpen wiederkam und dieser hier nicht mehr vorfand? Aber die noch viel dringendere Frage war natürlich – was passierte, wenn sie nicht wiederkam? Die Kleinen konnten noch nicht lange hier draußen sein, denn sonst wären sie …

Nein, daran wollte sie gar nicht danken. Dennoch … Wenn sie die Welpen jetzt nicht aus der immer kälteren Nachtluft holte – und aus dem Schnee, der mit jeder Minute heftiger und dichter fiel –, dann würden sie auf jeden Fall hier erfrieren. Sie hatte eigentlich gar keine andere Wahl.

June eilte hastig auf sie zu. Beim Laufen öffnete sie ihren Mantel. Dann hob sie die Welpen ganz sanft und sehr vorsichtig hoch und steckte sie kurzerhand in die Bauchtasche ihres „Peach Leaf Pizza“-Sweatshirts. Sie zog ihren Mantel anschließend um sich zusammen, ließ ihn aber ein Stückchen offen, damit die Hunde auch noch atmen konnten. Danach ging sie mit gesenktem Kopf um die Ecke.

Ohne den Schutz der Häuser war der Sturm jetzt viel stärker. Wind und Schnee nahmen June fast die Sicht, als sie in Richtung Parkplatz stapfte. Endlich erreichte sie ihr Auto. Zuallererst machte sie den Kofferraum auf und holte dort ihre Sporttasche heraus. Dann schlüpfte sie auf den Rücksitz. Ihre Joggingsachen und Schuhe nahm sie aus der Tasche, aber das Handtuch ließ sie drin, um eine Art Nest daraus zu gestalten. Vorsichtig legte sie die beiden Fellbündel in die Tasche, ganz nahe nebeneinander, damit sie sich gegenseitig wärmen konnten.

„So“, sagte sie leise. „Schön durchhalten, ihr zwei. Wir holen euch ganz schnell Hilfe.“

Das antwortende Fiepen war beruhigend. Jetzt machte June noch den Sicherheitsgurt um die Tasche herum fest. Sie hoffte, dass er halten würde. Dann kroch sie nach vorn auf den Fahrersitz. Zum Glück sprang ihr altes Auto bereits nach ein paar Versuchen an.

Das Schneetreiben wirkte jetzt wie eine weiße Wand, als sie zur Hauptstraße fuhr. Ihre Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, während sie sich das Hirn zermarterte, was für gute Ratschläge Margaret ihr stets über das Autofahren im Winter gegeben hatte. Jetzt bereute sie es, dass sie nicht besser zugehört hatte.

Sie umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Dann drückte sie sich selbst die Daumen, während sie zu dem einzigen Ort fuhr, der ihr einfiel, an dem man ihr mit zwei ganz jungen Hundewelpen helfen konnte.

2. KAPITEL

Ethan Singh verfluchte das geradezu absurde Chaos auf dem Schreibtisch seines Vaters. Eines Tages, schwor er sich zum hundertsten Mal, beiße ich die Zähne zusammen und räume hier auf. Eines Tages.

Aber nicht heute. Oder besser gesagt, heute Abend, stellte er fest, als er aus dem Büro und an der unbesetzten Empfangstheke vorbeiging, um einen Blick aus dem vorderen Fenster der Tierarztpraxis seines Vaters zu werfen. Es war beinahe eine Erleichterung, dass es schon höchste Zeit für ihn sein würde, ins Bett zu gehen, wenn er im Haus seiner Eltern angekommen und etwas gegessen hatte.

So hatte er nämlich keine Zeit, darüber nachzudenken, was er eigentlich hier in Peach Leaf, Texas, mit sich anfangen sollte. Und noch viel wichtiger, was er tun würde, wenn der Winter erst einmal vorbei war und er an die Universität Colorado zurückkehren musste, um dort im Frühjahr ein paar Kurse in Veterinärmedizin zu unterrichten.

Ethan schüttelte kurz den Kopf und wandte sich dann vom Fenster ab. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber nachzugrübeln. Denn genau darum hatte er sich ja überhaupt darauf eingelassen, die Praxis für seinen Dad zu führen, während seine Eltern einen vierwöchigen, längst überfälligen Urlaub machten und dabei den Bruder seines Vaters in Washington, D. C., besuchten. Er wollte nicht darüber nachdenken, was in Alaska passiert war. Ethan setzte sich auf den Stuhl der Rezeptionistin und stützte den Kopf in die Hände. Aber wie sollte er nicht daran denken? Wie konnte er nicht an sie denken – oder an das, was sie getan hatte, um sein Herz zu brechen?

Das war einfach unmöglich.

Auf die Forschungsreise hatte er sich damals riesig gefreut, denn er hatte gewusst, dass er dann jeden Tag mit Jessica Fields verbringen würde. Er und die unglaublich intelligente und umwerfend schöne neue Kollegin waren damals bereits seit ein paar Wochen ein Paar gewesen. Und er hatte bekommen, was er wollte. Ihre gemeinsame Zeit im äußersten Norden von Alaska – ein Landstrich, den er wegen seiner extremen Schönheit und Gefahr zu lieben und zu respektieren gelernt hatte – war absolut perfekt gewesen. Die Forschung des Teams zum Klimawandel und zu ansteckenden Krankheiten bei Eisbären war viel weiter gediehen, als sie es ursprünglich gehofft hatten. Und für seine Beziehung mit Jessica hatte das Gleiche gegolten.

Erst an ihrem letzten Tag hatte sie Anzeichen von Unbehagen gezeigt. Als er sich während des Rückflugs vorgebeugt hatte, um sie zu küssen – eine Geste, die zu diesem Zeitpunkt ihres Zusammenseins ganz normal gewesen war –, war Jessica plötzlich zurückgewichen. Und da hatte er sie zur Rede gestellt.

Sie war gar kein Single, hatte sie auf einmal gesagt. Sie hatte ihn bei diesen Worten voller Bedauern angesehen. Doch wie ihm traurigerweise aufgefallen war, auch vollkommen ohne Reue. Sie war in Wirklichkeit verlobt, und sie hatte nicht vor, ihre Beziehung wegen etwas zu beenden, was sie „eine Affäre“ nannte. Sie hatte ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht, sagte sie.

Also, in diesem Punkt würde er ihr bestimmt nicht widersprechen. Mit ihm zu schlafen und ihm zu sagen, dass sie ihn liebte, Zukunftspläne mit ihm zu schmieden … ja, sie hatte ihn tatsächlich ganz schön vorgeführt. Ethan hatte anschließend sofort um einen anderen Sitzplatz im Flugzeug gebeten. Den Rest des Flugs hatte er mit zusammengebissenen Zähnen verbracht.

Der Vorsitzende seines Fachbereichs war zwar wegen seiner hastig zusammengeschusterten Erklärung etwas verwirrt gewesen, aber er hatte Ethans Bitte um ein Freisemester trotzdem entsprochen.

Er hob jetzt den Kopf, um wieder aus dem Fenster zu sehen. Dabei hörte er, wie der Wind um das Haus toste. Im Augenblick brauchte er Zeit, um sich zu überlegen, wie er es schaffen sollte, an die Universität zurückzukehren und dabei Jessica gegenüberzutreten. Denn diese hatte absurderweise nicht vor, das Team zu verlassen. Also musste er damit fertigwerden, dass die einzige Frau, in die er sich jemals verliebt hatte, einen anderen heiraten würde. Und dass es ihr offenbar vollkommen egal war, was das für ihn bedeutete.

Aber in der Zwischenzeit hatte er wenigstens die Praxis. Und er musste zugeben, dass er in den letzten zwei Wochen die Leute und ihre geliebten Haustiere ganz schön ins Herz geschlossen hatte. Er hatte die Forschung schon immer geliebt, die zu seiner Arbeit als Veterinärpathologe gehörte, aber das hier … die Luftveränderung und die Erinnerung an den Anfang seiner Karriere taten ihm momentan richtig gut.

Ethan fuhr hoch, als er plötzlich ein heftiges Klopfen hörte. Er brauchte eine Minute, bis er merkte, dass es von der Eingangstür kam, die er schon vor einer Stunde abgeschlossen hatte. Wer um alles in der Welt würde jetzt an diese Tür klopfen – nein, eigentlich eher hämmern? Ethan wusste, dass sein Vater gelegentlich auch mal länger als zwölf Stunden arbeitete. Aber niemand hatte angerufen, um Bescheid zu sagen, dass er so spät noch vorbeikommen würde.

Er sprang auf und ließ den Stuhl einfach kreiseln. Als er die Tür erreichte, steckte er zuerst einen Finger zwischen zwei Lamellen des Rollos und spähte vorsichtig hinaus. Aber der Schnee war jetzt mittlerweile so dicht und der Besucher so eingepackt, dass er nichts erkennen konnte, außer einem leuchtend roten Mantel und einer dazu passenden Mütze. Er konnte nicht einmal irgendwelche Tiere sehen. Aber er rief sich ins Gedächtnis, dass er hier in Peach Leaf war. Die potenziellen Bedrohungen einer Großstadt spielten an diesem Ort in der Regel keine Rolle.

Deshalb öffnete Ethan nun die Tür. Als die eisige Luft ihn traf, verschlug es ihm den Atem. Eine hochgewachsene Person eilte auf ihn zu und rannte ihn dabei beinahe über den Haufen.

„Oh, Gott sei Dank“, ertönte jetzt eine Stimme … eindeutig eine Frauenstimme … irgendwo zwischen Mantel und Mütze. Ethan machte schnell die Tür hinter ihr zu.

„Vielen, vielen Dank, dass Sie mich hereingelassen haben. Ich habe schon gedacht, dass es vielleicht so spät ist, dass niemand mehr hier ist, und ich wollte schon wieder umdrehen und zu meinem Auto zurückgehen, aber …“

„Hoppla, immer mit der Ruhe. Fangen Sie doch bitte ganz am Anfang an.“ Er trat einen Schritt zurück.

Die Frau verstummte und zog ihre Mütze, die ihr ins Gesicht gerutscht war, ein Stück nach oben. Jetzt konnte er erkennen, dass ihre Augen groß und grün waren – ein wunderschönes Grün, übrigens. „Tut mir leid“, sagte sie und stieß den Atem aus. Sie streckte Ethan eine behandschuhte Hand entgegen. Er nahm sie und war überrascht, wie kalt sie war.

Sie musste praktisch ein Eiszapfen sein. Er hatte nachmittags mal auf das Thermometer gesehen. Noch vor Sonnenuntergang war die Temperatur unter den Gefrierpunkt gefallen. Wenn er sie nicht hereingelassen hätte, hätte sie in echte Schwierigkeiten geraten können. Während seines Semesters in Alaska hatte er viel über die Gefahren extremer Kälte gelernt. Und auch wenn das Klima in Texas im Allgemeinen eher mild war, waren die Gefahren doch die gleichen, wenn man nicht vorsichtig war.

Die Frau schüttelte ihm ein paar Mal die Hand, bevor sie ihn losließ. „Ich bin June. June Leavy. Ich bin wegen der entfernten Chance vorbeigekommen, dass Dr. Singh so spät noch da ist. Und na ja, ich weiß wirklich nicht, was ich sonst machen soll.“

„Ich bin Dr. Singh“, sagte Ethan und bemühte sich um ein freundliches Lächeln.

Die Frau – June – kniff die Augen zusammen. „Wahnsinn, Dr. Singh. Ich muss schon sagen, Sie sehen aus, als ob Sie den Quell der ewigen Jugend gefunden hätten.“

Ethan musste unwillkürlich lachen. Die meisten Leute kamen nur zum jährlichen Check-up und für Impfungen vorbei, wenn ihre Haustiere nicht gerade krank oder alt waren. Natürlich hatte es sein Vater nicht geschafft, alle Kunden von seinem Winterurlaub in Kenntnis zu setzen.

„Nein, ich meine, ich bin Dr. Singh, aber vielleicht nicht der, auf den Sie gehofft haben. Ich bin sein Sohn Ethan.“

Jetzt entspannte sich June sichtbar, und sie nickte. Anschließend zog sie ihre Handschuhe und ihre Mütze aus. Als sie nach ihrem Kragen fasste, um ihren Mantel auszuziehen, bemerkte Ethan, das sie recht rundlich wirkte. Ihm kam jetzt der Gedanke, dass sie vielleicht schwanger war. „Hier, lassen Sie mich Ihnen bitte helfen“, sagte er und nahm ihr den Mantel ab.

Er konnte nicht anders, als dabei den dezenten und süßen Duft ihrer Haare wahrzunehmen. Melone, dachte er. Wie merkwürdig, dass ihm das jetzt auffiel. Noch merkwürdiger war allerdings, dass er bemerkte, wie ihr das Haar in weichen kastanienbraunen Wellen über die Schultern fiel. Und dabei ein Gesicht umrahmte, das vor Kälte gerötet und, nun ja, durchaus reizend war.

June lächelte, und Ethan kam der Gedanke, wie gut ihr Name zu ihr passte. Ihre Haut wirkte so strahlend wie der Sonnenschein, und beim Anblick ihrer geschwungenen großzügigen Lippen wurde ihm ganz heiß. Ihre Augen waren lebhaft und warm wie der Sommer, obwohl ihr Lächeln sie nicht ganz erreichte.

Nicht dass ihn das interessierte. Er war einfach nur ein guter Beobachter – genauso, wie es sich für einen tüchtigen Wissenschaftler gehörte.

„Danke“, sagte sie nun. „Also, wie gesagt, ich war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, und mein Auto ist liegen geblieben. Ich weiß nicht genau, wie weit von hier, aber es kam mir auf jeden Fall sehr weit vor.“ Sie holte tief Luft und schloss die Augen, als ob sie sich beruhigen musste. „Jedenfalls, jetzt bin ich hier, und Sie sind hier, Gott sei Dank.“

Ethan wollte ihr gerne helfen. Vielleicht konnte er ja einen Abschleppwagen für sie rufen, und sie könnte so lange hierbleiben, bis der Sturm wieder ein wenig abgeflaut war. Aber abgesehen davon war er sich nicht sicher, warum sie überhaupt in Richtung Praxis unterwegs gewesen war.

Als sie verstummte, nutzte er die Gelegenheit, sie danach zu fragen: „Kann ich denn etwas für Sie tun, Miss Leavy?“

„Ehrlich gesagt, ja. Wenigstens hoffe ich das.“

Sein Herz schien auf einmal schneller zu schlagen, als sie sich auf die Unterlippe biss und mit beiden Händen in die Bauchtasche ihres Sweatshirts griff. Er dachte nicht unbedingt, dass sie jetzt eine Waffe ziehen würde, aber irgendwie ahnte er, dass ihre Enthüllung kein Problem sein würde, das sich leicht lösen ließ.

Als June Leavy plötzlich zwei zitternde schwarz-weiße Welpen aus ihrer Tasche holte, um ihm zu zeigen, warum sie sich auf den Weg zu seiner Praxis gemacht, eine unbestimmbare Strecke im Schneesturm zurückgelegt und beinahe seine Tür eingeschlagen hatte, konnte Ethan Singh nur tief seufzen.

June sah Dr. Singh junior aufgeregt an und wartete auf eine Antwort. Aber trotz ihrer Enthüllung blieb sein Blick kühl und undurchdringlich. Es war unmöglich, zu sagen, was er davon hielt, dass sie so plötzlich und unangemeldet auf seiner Türschwelle aufgetaucht war.

Sie wusste, dass es eine Zumutung war, ohne einen vorherigen Anruf so spät einfach vorbeizukommen, aber sie hatte nun mal nicht gewusst, was sie sonst mit den beiden Fellbündelchen hätte anstellen sollen.

June hatte gar nicht gemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte, bis er die Hände ausstreckte, um ihr die Welpen abzunehmen. Langsam atmete sie aus und beobachtete, wie er diese sanft auf den Arm nahm.

„Wir müssen sie zuallererst aufwärmen“, sagte er und gab ihr mit einem Schulterzucken zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte, als er zu den Untersuchungszimmern ging.

June war schon oft in dieser Praxis gewesen, als ihre geliebte Katze alt geworden war. Wieder hier zu sein rief Erinnerungen in ihr wach. Als sie hinter dem Tierarzt herging, konzentrierte sie sich stattdessen lieber auf sein welliges dunkles Haar, das ihm bis zum Kragen reichte – und fast bis auf seine breiten Schultern. Er hatte etwas an sich – die stürmischen, aber nicht unfreundlichen dunklen Augen, der wunderschöne Farbton seiner Haut, wie schwarzer Tee mit ein bisschen Milch. Und seine Statur erst – er war ganz schön groß, da er ihre eins achtzig deutlich zu überragen schien. Sie spürte, wie sich ihr verkrampfter Magen langsam entspannte.

June hatte selten so viel Angst gehabt, wie bei ihrer Fahrt durch den Schneesturm. Es war Glück gewesen, dass sie die Straßen so gut kannte, denn ansonsten war sie sich nicht sicher, ob sie eine Chance gehabt hätte, es bis hierher zu schaffen. Ganz zu schweigen davon, wie wahrscheinlich es war, dass sie und die Welpen nicht überlebt hätten, wenn sie im Auto sitzen geblieben wäre und auf Hilfe gewartet hätte. Und bis das extreme Wetter vorbei war, konnte man unmöglich feststellen, warum ihre alte Klapperkiste einfach so, den Geist aufgegeben hatte. Panik hatte sie gepackt, als der Motor auf einmal geröchelt hatte und dann einfach ausgegangen war. Es hatte so heftig geschneit, dass sie keinen halben Meter weit hatte sehen können. So gut sie konnte, war sie daraufhin der Straße gefolgt. Und irgendwie hatte sie es tatsächlich geschafft.

Wahrscheinlich hatte die Entfernung keinen Kilometer betragen, aber bis sie die Glastür der Praxis erblickt hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie einen Weg vor sich hatte, der praktisch nicht zu bewältigen war. Aber jetzt war sie endlich hier.

Im Untersuchungszimmer hielt er ihr die Welpen hin. „Halten Sie die beiden bitte einmal einen Augenblick. Ich bin gleich wieder da.“

Sie schaffte es offenbar nicht, zu verbergen, wie besorgt sie war. Als er ihren Blick bemerkte, schien sich Ethans stoische Art kurz zu verflüchtigen; seine Augen wurden sanfter, und er verzog die dünne strenge Linie, die seine Lippen formten, fast zu einem Lächeln.

„Alles okay, Miss Leavy. Ich bin gleich wieder da, versprochen. Ich hole nur schnell ein paar Sachen. Es würde helfen, wenn Sie die Welpen noch ein bisschen länger warm halten könnten. Schaffen Sie das?“

June nickte. Sie hatte die Babys ja schließlich auch bis hierher gebracht. Aber dann kam ihr urplötzlich der Gedanke, dass sie es vielleicht nicht schaffen würden. Sogar mithilfe eines ausgebildeten Tierarztes bestand immer noch die Möglichkeit, dass die Kleinen nicht überleben würden.

„Gut“, antwortete er und nickte. „Es war eine großartige Idee von Ihnen, sie zusammen in die Tasche zu stecken. So haben sie sich gegenseitig wärmen können und hatten noch dazu Ihre Körperwärme.“

Ein kleiner Schauer überlief sie, weil Dr. Singh ihre Körperwärme erwähnte. Aber sie schüttelte nur den Kopf und nahm die beiden kleinen Fellbündel entgegen, um sie noch einmal in ihr Sweatshirt zu stecken.

„Alles klar?“, fragte er.

„Ja, ich denke schon.“

Nun verließ er den Raum, und June konzentrierte sich voll und ganz darauf, die Welpen an sich zu schmiegen. Sie betete, dass ihre Wärme ausreichen würde, um sie am Leben zu erhalten. Sie konnte nicht sagen, wie es ihnen ging. Abgesehen davon, dass ihre winzigen Herzen immer noch sanft pochten und dass ihre süßen braunen Augen offen waren. Mit etwas Glück bedeutete dies, dass es den beiden einigermaßen gut ging.

Sie schluckte und schloss die Augen. Einen Augenblick später kam Dr. Singh mit einem Stapel flauschiger Handtücher zurück. Er legte sie auf den Untersuchungstisch, dann ging er zu der Bank, auf der June saß, und legte ihr eines über die Schultern. Sanft strich er den warmen Frotteestoff glatt. Die Geste war vollkommen logisch in Anbetracht der Tatsache, dass sie immer noch vor Kälte zitterte, aber sie war nichtsdestoweniger überraschend intim. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann ein Mann sich das letzte Mal so fürsorglich um sie gekümmert hatte. Aber bevor sie zu intensiv darüber nachdenken konnte, sah sie mit einem warmen Lächeln zu ihm auf.

„Danke“, sagte sie. „Das fühlt sich … wunderbar an.“

„Gern geschehen. Wir haben eine kleine Waschmaschine und einen Wäschetrockner im Mitarbeiterzimmer. Also habe ich die Handtücher ein, zwei Minuten lang im Trockner angewärmt.“

Während er sprach, erwiderte er zwar nicht unbedingt ihr Lächeln, aber in den Winkeln seiner tiefbraunen Augen formten sich sanfte Lachfältchen. Sie bemerkte erneut, wie unglaublich attraktiv dieser Mann war. Und sie hatte bis jetzt nicht einmal gewusst, dass Dr. Singh senior überhaupt einen Sohn hatte.

Ethan kehrte nun mit einem zweiten Handtuch zurück, das er vor ihren Füßen ausbreitete. Er setzte sich im Schneidersitz davor. „So, legen wir die Welpen jetzt darauf, während ich sie mir genauer ansehe. Das ist im Augenblick sicherer als oben auf dem Tisch.“

June nickte und holte einen nach dem anderen aus ihrer Tasche. Sie zuckte zusammen, als die beiden protestierend fiepten. „Glauben Sie …“ Sie schluckte. „… dass sie es schaffen werden?“

„Das ist schwer zu sagen, bis ich sie mir angesehen habe“, sagte er. „Aber so viel ist sicher“, er sah zu ihr auf, „Sie haben es großartig gemacht, wie Sie die beiden warm gehalten und hergebracht haben. Auf den ersten Blick denke ich, dass sie eine echte Chance haben. Und zwar nur Ihretwegen.“

June schmolz nur so dahin bei seinen Komplimenten. Aber sie wusste auch, dass sie sich erst besser fühlen würde, bis sie wusste, dass die Welpen durchkommen würden.

Dr. Singh zog nun einen Welpen ganz behutsam zu sich. Er kraulte ihn zuerst sanft hinter den Ohren und fuhr dann mit den Fingern über jedes winzige Bein. Anschließend befühlte er das niedliche rosa Bäuchlein und lächelte beinahe, als der Kleine – sie konnte jetzt eindeutig sehen, dass die Bezeichnung korrekt war – wohlig die Augen schloss.

June versteckte nervös die Hände in der vorderen Tasche ihres Kapuzenshirts und drückte die Daumen.

„Es ist ein gutes Zeichen, dass es ihnen nichts ausmacht, festgehalten zu werden“, sagte Ethan. Mit dem Daumen öffnete er sanft das Mäulchen des Tieres und untersuchte die winzigen Zähne, bevor er mit dem Stethoskop, das er um den Hals trug, sein Herz abhörte. „Ihre Zutraulichkeit wird es auf jeden Fall einfacher machen, ein Zuhause für sie zu finden, wenn es so weit ist“, sagte er nüchtern. „Wo haben Sie die beiden denn gefunden?“

June räusperte sich. Sie war überrascht, wie sehr ihr die Bemerkung missfiel, die Welpen wegzugeben. Dabei hatte sie ja gar nicht vor, sie selbst zu behalten. „Hinter der Pizzeria, wo ich arbeite.“

Der Tierarzt hörte aufmerksam zu, als sie sprach.

„Wir waren gerade mit der Arbeit fertig, und ich bin rausgegangen, um den Müll wegzuschmeißen. Da habe ich sie plötzlich jammern gehört und hinter dem Container gefunden.“ Wieder schnürte es ihr fast die Kehle zu, bei dem Gedanken daran, dass jemand diese zwei kleinen Hunde einfach in der eiskalten Gasse ausgesetzt hatte.

„Irgendeine Ahnung, wie lange sie schon da waren?“

June schüttelte den Kopf. „Nein. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen. Aber leider ist das alles. Ich habe nicht gewusst, was ich sonst hätte machen sollen.“

„Sie haben genau das Richtige getan. Auch wenn es den Anschein hat, dass Sie sich selbst bei dem Versuch, herzukommen, in Gefahr gebracht haben. Die beiden Kerlchen haben wirklich ein Riesenglück gehabt, dass jemand wie Sie sie gefunden hat. Das hätte viel schlimmer für sie ausgehen können. Aber das muss ich Ihnen ja sicher nicht erklären.“ Ein Schatten glitt auf einmal über das Gesicht des Tierarztes.

„Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich wollte einfach nur, dass es ihnen gut geht … und das will ich immer noch.“

Ethan nickte und legte den ersten Welpen wieder hin, bevor er den zweiten – eine Hündin, wie sich herausstellte – ebenfalls ausführlich untersuchte. „Dank Ihrer Hilfe ist das jetzt durchaus wahrscheinlich.“ Als er fertig war, wickelte er Bruder und Schwester in das Handtuch ein und faltete dann die Hände im Schoß.

„Also, wie sieht’s aus?“, fragte sie. Ihre Fingernägel bohrten sich vor Angst in ihre Handflächen.

Ethan starrte sie an. Sein Blick war jetzt viel wärmer. Vielleicht hatte er sich mittlerweile mit dem veränderten Verlauf des Abends abgefunden. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, dass er vielleicht etwas vorhatte … Vielleicht wartete ja eine Ehefrau zu Hause auf ihn. Aber er trug keinen Ring, und er hatte auch niemandem eine SMS geschickt oder angerufen, seit sie hereingeschneit war.

„Also, in den nächsten paar Tagen muss ich noch einen Bluttest machen, um mir einen kompletten Überblick verschaffen zu können. Aber soweit ich das im Augenblick beurteilen kann, schaffen sie es höchstwahrscheinlich.“

Erleichterung überkam sie bei seiner optimistischen Feststellung.

„Sie sind jetzt ungefähr dreieinhalb Wochen alt. Keine gebrochenen Knochen, gesunde Lungen und Herzen. Und sie bekommen gerade Zähne. Das sind alles gute Neuigkeiten.“

„Dann können sie also schon festes Futter essen? Wir müssen ihnen nicht die Flasche geben?“ June musste zugeben, dass sie ein bisschen enttäuscht war. Der Gedanke, die winzigen Hündchen im Arm zu halten und zu füttern, war irgendwie … schön. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht, aber nach Clayton war sie sich nicht mehr sicher, ob sie je wieder jemandem genug vertrauen könnte, um auch nur daran zu denken, eine Familie zu gründen. Mit jemandem, der ihr vielleicht irgendwann das Herz brechen würde. Vielleicht könnte sie sich ja in ein paar Jahren um einen eigenen Welpen kümmern. Aber das würde Zeit brauchen. Viel mehr Zeit, als sie im Augenblick hatte, während sie sechzig Stunden in der Woche in der Pizzeria arbeitete, nur um ihre Miete zahlen und ihr Auto in Gang halten zu können.

„Ja, sie können bereits festes Futter essen, aber wir müssen es trotzdem mit Ersatzmilch mischen, die eine Zusammensetzung speziell für Welpen ist. Kuhmilch würde ihren kleinen Bäuchlein nicht guttun.“

Aus irgendeinem Grund musste June jetzt lächeln. Die Formulierung war so viel väterlicher und liebenswerter, als Ärzte es normalerweise ausdrücken würden.

„Haben Sie so etwas da?“

„Klar. Jede Menge.“ Er warf einen Blick auf die Welpen. „Für den Augenblick sollten wir aber erst einmal dafür sorgen, dass die beiden etwas Wasser trinken und ein bisschen fressen. Wir dürfen ihnen jetzt nicht zu viel auf einmal geben. Ich weiß ja nicht, was oder wie viel sie zuvor gegessen haben. Und ich will nicht, dass sie Blähungen bekommen.“

June nickte, als er aufstand und ihr die Hand reichte, um ihr auf die Füße zu helfen. Dann kniete er sich hin, um die fiependen Bündel aufzuheben. Er führte June durch ein Hinterzimmer in einen Lagerraum. Die Regale an den Wänden waren mit Futter und Medikamenten gefüllt. Er reichte ihr die Welpen, damit er sich die Vorräte ansehen konnte, um zu finden, was sie brauchten.

Anschließend gingen sie wieder ins Hinterzimmer. Dieses Mal blieben sie an einem Waschbecken stehen, um eine Schale mit Wasser zu füllen. In eine andere gab er eine kleine Menge Trockenfutter. Dann nahm er eine Flasche und schüttete eine dünne weiße Flüssigkeit darüber, so wie Milch auf Cornflakes. Schließlich stellte er die Schalen in einer Ecke auf den Fußboden. Anschließend bedeutete Ethan June, das Handtuch auf den Boden zu legen. Beim Geruch des Futters krausten sich die beiden schwarzen Nasen sofort, und die Menschen lachten leise.

„Die kleinen Stinker sind echt süß, was?“

Ethan sah sie an, als er das sagte, und dieses Mal zeigte sich ein Lächeln in seinen wunderschönen mahagonibraunen Augen. Sie spürte seinen Blick bis in den Bauch. So warm und tröstlich wie das Handtuch, das er ihr um die Schultern gelegt hatte.

„Sehr“, antwortete sie. Ihre Stimme quietschte fast wie die der Welpen.

Dr. Singh half ihr, die Hunde zu den Futterschalen zu lotsen, dann beobachteten sie mit angehaltenem Atem, ob die Kleinen fressen würden. Endlich beschnüffelten beide Welpen das Futter, und schon waren ihre Schnauzen in der Schüssel verschwunden. Ethan und June seufzten hörbar vor Erleichterung auf.

Während die Hunde sich mit ihrem Abendessen beschäftigten, verschwand Ethan wieder im Vorratsraum und kam kurze Zeit später mit Papierhandtüchern und einem Objekt zurück, das wie ein Krabbelgitter aussah. In einer Ecke des Raumes machte er sich daraufhin an die Arbeit. Er bedeckte den Boden mit den Tüchern, und June erkannte nun, dass es sich dabei um Welpenunterlagen handelte. Drum herum baute er jetzt das Krabbelgitter auf. So entstand ein kleiner Zwinger für die Welpen. „Okay. Wir setzen sie jetzt eine Weile hier hinein. Mal sehen, ob sie ihr Geschäft erledigen. Und dann können wir sie ins Bett bringen.“

Er schaute zu ihr hoch. „Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit vielleicht irgendetwas anbieten?“

Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie noch nichts gegessen hatte und es mittlerweile schon fast neun Uhr war, aber sie bezweifelte, dass es in der Praxis Menschennahrung gab. „Irgendetwas Heißes zu trinken wäre toll.“

„Kommen Sie mit“, sagte Dr. Singh und führte sie jetzt in ein Zimmer, bei dem es sich offenbar um den Aufenthaltsraum der Angestellten handeln musste. Dort zog er einen Stuhl von einem kleinen runden Tisch zurück und bat sie mit einer Geste, sich zu setzen.

Sie beobachtete, wie er einen Messbecher und anschließend einen kleinen Topf aus einem Schrank nahm und den Topf auf eine Kochplatte stellte, bevor er Milch aus dem Kühlschrank holte und, wie es aussah, ein paar Gewürzdosen aus einer Schublade heraussuchte.

„Sagen Sie, Miss Leavy …“

„Bitte einfach nur June.“

Er vermischte die Zutaten so sorgfältig in dem Messbecher, als ob er Koch in einem schicken Restaurant und nicht ein sehr geduldiger Tierarzt in einer Kleinstadtpraxis wäre. „Also, June, hast du schon einmal Chai getrunken?“

Das war eines ihrer Lieblingsgetränke. „Oh ja, ich liebe Chai-Tee.“

Der Arzt lachte leise, während er die Mixtur weiter umrührte.

„Was ist denn so lustig daran?“

„Nur Chai. Wenn du ›Chai-Tee‹ sagst, dann sagst du eigentlich ›Tee-Tee‹. Das Wort ›Chai‹ bedeutet nämlich ›Tee‹ auf Hindi.“

„Ach herrje“, sagte sie und kam sich auf einmal ziemlich dämlich vor. „Tut mir leid.“

„Kein Problem“, sagte Ethan und lachte.

June entschied sich, dass es ihr gefiel, wie der tiefe warme Klang ihre Ohren kitzelte. Er wirkte jetzt viel entspannter auf sie.

„Kommt deine Familie ursprünglich aus Indien?“, fragte sie und überraschte sich damit selbst. Aber vermutlich konnte es nichts schaden, ein Gesprächsthema zu haben, um sich die Zeit zu vertreiben, bis der Sturm nachließ und sie nach Hause gehen konnte.

„Mein Vater ist in Delhi geboren.“

„Und deine Mutter?“

„Sie ist Amerikanerin, aus New York.“

Es war ein paar Minuten lang still, während Ethan weiter den Tee umrührte und June tief durchatmete. Zum ersten Mal, seit sie die Welpen gefunden hatte, erlaubte sie es sich, zu entspannen. Ihre Schultern schmerzten vor Anspannung, und sie war hundemüde. Sie sehnte sich unglaublich nach einer heißen Dusche und ihrem Bett.

Als sie die Augen wieder öffnete, stellte Ethan gerade zwei dampfende Tassen auf den Tisch, und June nahm einen vorsichtigen Schluck. Die heiße Flüssigkeit schien sich sofort bis tief in ihre Adern hinein zu ergießen und wärmte sie von innen heraus. Der süße, aber würzige Geschmack kitzelte ihren Gaumen. „Oh, Himmel“, sagte sie und schaute hoch. „Der ist ja fantastisch.“

Ethan lächelte, dann nahm er ebenfalls einen Schluck aus seiner Tasse. „Ich freue mich, dass es dir schmeckt“, sagte er und wechselte ganz unbewusst zum vertrauten Du.

Dann stand er auf und ging wieder zur Arbeitsfläche, wo er einen kleinen Fernseher anschaltete und denselben Sender mit der örtlichen Wettervorhersage einstellte, den sie vor einiger Zeit auch schon mit Margaret geschaut hatte.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie erfuhren, dass das Wetter sogar noch schlechter geworden war, während sie sich um die Hunde gekümmert hatten. Über ein halber Meter Schnee war auf die mittlerweile vereisten Straßen gefallen. Für ganz Peach Leaf galt jetzt eine Winterwetterwarnung.

June stützte die Ellbogen auf den Tisch und senkte den Kopf auf ihre Arme. Es würde garantiert noch Stunden dauern, bis sie sicher nach Hause fahren konnte … wenn sie ein funktionierendes Auto hätte.

„Also, June“, meinte Ethan und stand wieder auf, um die Unheilsverkündigungen im Fernsehen abzustellen. „Sieht ganz so aus, als ob du es noch eine Weile mit mir aushalten müsstest.“

„Ich … ich kann doch nicht hierbleiben. Ich muss nach Hause.“

Ethan neigte den Kopf. „Das ist leider nicht drin, wenigstens nicht heute Nacht.“ Er trank seinen Tee aus, dann nahm er beide Tassen und trug sie hinüber zum Spülbecken.

„Ich kann doch bestimmt einen Abschleppwagen bekommen. Vielleicht können die mich dann ja heimbringen.“

Ethan setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. „Es ist unwahrscheinlich, dass bei diesem Wetter der Abschleppdienst überhaupt hier rauskommt. Ich würde dich ja fahren, wenn ich das Gefühl hätte, das wäre ungefährlich, aber ich habe einige Zeit in Alaska verbracht und mit eigenen Augen gesehen, was passieren kann, wenn die Leute Wetterwarnungen nicht ernst nehmen.“ Er hielt kurz inne, vielleicht, weil er nicht zu besorgt klingen wollte. „Natürlich werde ich dich nicht daran hindern, zu gehen, June. Aber es wäre mir wirklich lieber, wenn du dich nicht in noch mehr Gefahr begibst, als du es heute sowieso schon getan hast.“

June seufzte. Er hatte ja recht. Sie saß wohl erst einmal hier fest. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie so einen gefährlichen Sturm mitgemacht. Außerdem musste sie jetzt an die Welpen denken. Seit sie die beiden mitgenommen hatte, hatte sie auch die Verantwortung für sie übernommen. Sie konnte die Tiere jetzt nicht einfach einem Arzt aufhalsen.

Sie schaute hoch und sah Dr. Singh an, der so wirkte, als ob ihm das alles fast so unangenehm war wie ihr.

„Ich hasse es, das sagen zu müssen, June, aber unter diesen Umständen wäre es am klügsten, wenn du die Nacht hier mit mir verbringen würdest.“

3. KAPITEL

June brauchte ein wenig länger, um zu verarbeiten, was Dr. Singh – Ethan – gerade zu ihr gesagt hatte. Vor allem, weil sie sich zwischenzeitlich komplett in seinen zimtbraunen Augen verloren hatte. Dieser Mann sah so gut aus, dass man ihn beinahe schon schön nennen musste.

Ihr kam plötzlich der Gedanke, dass er einfach nicht zu den Männern passte, an die sie gewöhnt war. Männer wie Ethan Singh waren normalerweise Schauspieler oder Models … und nicht Tierärzte in einer Kleinstadt. Und sie waren normalerweise mit genauso außergewöhnlich attraktiven oder wichtigen Leuten – oder, in seinem Fall, äußerst gebildeten Leuten zusammen … aber auf keinen Fall mit jemandem wie ihr.

Sie starrte ihn an und dachte, dass sie ihm in keiner Weise das Wasser reichen konnte. Dabei wusste sie gar nicht, woher dieser Gedanke überhaupt kam.

Es war ja nicht so, als ob er an ihr interessiert wäre. Und das sollte er auch nicht sein, denn sie interessierte sich schließlich auch nicht für ihn.

Wirklich nicht.

Endlich schaffte sie es, den Knoten in ihrem Hals zu lösen, und räusperte sich. „Okay. Ich schätze, das macht durchaus Sinn.“

„Natürlich tut es das“, antwortete Ethan. Sein Ton war so bestimmt, als ob es nichts mehr zu besprechen gäbe. Aber June dachte, dass es eigentlich noch eine Menge zu klären gab. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass sie am Verhungern war.

Und anscheinend – denn sie lief schon wieder Gefahr, sich in diesen Augen zu verlieren – hatte sie momentan auch nicht nur Appetit auf etwas zu essen.

Dieser Gedanke kam ihr so unverhofft und ungebeten, dass er sich sofort in ihrem Kopf festsetzte, bevor sie es verhindern konnte.

„Stimmt was nicht?“, fragte der erschreckend gut aussehende Arzt jetzt.

June schüttelte den Kopf. „Nein. Alles in Ordnung. Oder muss es vermutlich sein.“ Sie schaute hastig weg. In Zukunft würde sie sich vor diesen Augen in Acht nehmen müssen.

Denn sie brachten sie dazu, sich nach etwas zu sehnen, was sie nicht wollen sollte und was sie nicht haben konnte.

„Was denn?“

Als sie nicht antwortete, legte er den Kopf schräg. So, als ob er ein neugieriger Welpe war – ein lächerlich niedlicher, neugieriger Welpe.

„Komm schon, ich merke doch, dass du an irgendetwas denkst.“

„Es ist nur, na ja …“ Unwillkürlich legte sie die Hand auf den Bauch. „… ich bin am Verhungern.“

Ethan warf den Kopf in den Nacken und lachte. Sein Lachen war tief, temperamentvoll und voller Übermut. June fühlte sich beinahe frustriert, weil er so perfekt war. Konnte nicht wenigstens sein Lachen irgendwie komisch sein? Gab es denn nichts an dem Kerl, was sie nicht dazu brachte, ihn küssen zu wollen?

Eine Nacht mit dem attraktivsten Mann, der ihr je den Kopf verdreht hatte, verbringen zu müssen, nachdem sie gerade die schlimmste Trennung ihres ganzen Lebens hinter sich hatte … so viel Glück konnte auch nur sie haben.

„Na schön. Was ist denn so verdammt komisch daran?“, fragte sie.

„Nichts. Ehrlich. Es ist nur, dass du so unglaublich ernst warst. Und dann kommt heraus, dass du nur Hunger hast.“

„Sehr witzig“, antwortete sie. Dieses Mal erlaubte sie es sich, einen Hauch von Humor anzudeuten. „Aber ernsthaft, ich habe schon seit heute Mittag nichts mehr gegessen. Ich weiß, es hat wahrscheinlich wenig Sinn zu fragen, aber gibt’s hier irgendwas in der Nähe? Einen Laden, den wir ohne Lebensgefahr erreichen können?“

Ethan lächelte. Seine vollen Lippen lösten eine ganze Reihe von Gedanken aus, bei denen sie sich nicht ganz sicher war, ob sie noch legal waren.

„Also, das könnte ein Problem sein, das wir wenigstens lösen können.“

„Bitte treib jetzt keine Scherze mit mir. Ich bin nahe dran, mir Hundefutter zu klauen.“

Er lachte. „Das würde ich nicht wagen. Aber ein paar Häuser weiter ist eine Bäckerei. Der Fußmarsch wird vielleicht unangenehm, aber wenn wir dicht zusammenbleiben, schaffen wir das bestimmt.“

„Dicht …“ June schluckte. „… zusammenbleiben?“

„Natürlich. Wegen der Wärme.“

June spürte, wie ihre Wangen sich röteten. „Ja, klar. Natürlich.“

Ihre Temperatur stieg nur bei dem Gedanken an Ethans Nähe so sehr an, dass sie wahrscheinlich ganz bequem durch den Sturm zu ihrem Apartment laufen könnte.

Und zwar ohne Mantel!

„Lass uns aber zuerst noch einmal nach den Welpen sehen, bevor wir herausfinden, ob wir für uns etwas Essbares besorgen können“, meinte Ethan und warf seiner Begleiterin ein Lächeln zu. „Ich könnte nämlich auch ein Abendessen vertragen.“

Auch wenn das definitiv stimmte, gab es noch einen Grund, warum er den Vorschlag gemacht hatte, die Praxis zu verlassen.

Der Grund war June Leavy.

Vor ein paar Stunden war sein Leben in Peach Leaf noch einfach und unkompliziert gewesen.

Natürlich dachte er immer noch an seine Ex; das war nach dem Ende einer ernsthaften Beziehung schließlich vollkommen normal. Aber abgesehen von wenigen schmerzhaften Augenblicken ging es ihm jetzt deutlich besser. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu arbeiten, gefiel ihm im Augenblick ganz gut. Dieser Tagesablauf sorgte immerhin dafür, dass er die ganze Zeit etwas zu tun hatte. Vor allem aber blieb ihm so wenig Zeit, um über alles nachzugrübeln.

Wenigstens war das bis zu diesem Abend so gewesen … bis June Leavy praktisch mit der Tür ins Haus gefallen war und im wahrsten Sinne des Wortes frischen Wind in sein Leben gebracht hatte.

June war nicht nur schön, sie war auch ein reizender, warmherziger Mensch. Trotz der begrenzten Zeit, die sie bisher miteinander verbracht hatten, hatte er das sofort erkennen können. Aber das änderte trotzdem nichts an der Tatsache, dass ihre Gegenwart ihm im Moment einfach nicht willkommen war.

Er wollte sie nicht in seiner Praxis haben. Er wollte sie nicht in seinen Gedanken haben. Einfach nur durch ihre Anwesenheit allein, war ihm schon so warm ums Herz geworden, dass er den Blizzard fast vergessen hatte.

Das war alles viel zu gefährlich. Er brauchte deshalb unbedingt Abstand und einen klaren Verstand.

Mit June essen zu gehen war die perfekte Lösung. So hatte er die Gelegenheit, den Funken, den sie in ihm entfacht hatte, unter Kontrolle zu bekommen. Das Ehepaar, dem die Bäckerei ein paar Häuser weiter gehörte, war eng mit seinem Dad befreundet. Es waren ältere Leute, also war es sowieso gut, dort nach dem Rechten zu sehen, ob sie dem Schneesturm gewachsen waren.

Ein bisschen kalte Luft würde ihm bestimmt guttun. Dann konnte er einen Plan schmieden, was er den Rest des Abends mit June machen sollte.

Und da kamen ihm Ideen. So viele Ideen.

Aber keine davon war realistisch oder auch nur angebracht.

Ein Mann wie er sollte sich nicht vorstellen, wie sie neben ihm auf dem Sofa diese endlos langen Beine an sich zog. Oder, wie sie diese um seine Taille schlang, während er ihre zweifellos weichen Lippen küsste, bis ihr Hören und Sehen verging …

Nein. Er durfte sich einfach nicht erlauben, an so etwas zu denken. Nicht schon wieder.

Er sah hoch und bemerkte plötzlich, wie sie sich auf die Unterlippe biss, während sie ihn musterte.

Das war gar nicht sexy, wie sie das machte. Überhaupt nicht.

Wie ihre weichen rosa Lippen anschwollen, berührte ihn überhaupt nicht. Kein bisschen.

„Also, was ist das für ein Laden?“, fragte June nun. Ihre Wangen waren noch röter als vorhin, als sie aus dem Sturm hereingekommen war. Sie hatte doch bestimmt nicht … sie konnte unmöglich gerade ähnlichen Gedanken nachhängen wie er. Das war doch absurd.

„Ich meine, was gibt es dort für Essen?“

„Oh, also, das ist der Haken“, antwortete er und bemühte sich darum, sich nicht von diesen verflixten Lippen ablenken zu lassen, deren Farbton sich mittlerweile zu einem hübschen Rubinrot gesteigert hatte – ob das nun an der Kälte lag oder an ihren Zähnen, war ihm inzwischen vollkommen egal.

Und überhaupt, was für einen Unterschied machte das schon?

Es spielte schließlich keine Rolle, dass sie wie der reinste Genuss aussahen … wie frische Kirschen, die nur darauf warteten, gepflückt zu werden.

Verdammt!

Worüber um alles in der Welt hatten sie gerade gesprochen?

„Der Haken?“

Ach ja.

„Es ist leider nur eine kleine deutsche Bäckerei. Also bekommen wir dort kein richtiges Abendessen. Wir müssen stattdessen mit dem Dessert vorliebnehmen.“

„Oh, richtig. Wie dumm von mir, das zu vergessen. Ich habe die letzten paar Jahre so blöde Schichten gearbeitet, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr im Bauer’s war.“ Wehmut ließ ihre Züge auf einmal weicher wirken. „Als ich ein Kind war, ist meine Mom zu besonderen Anlässen immer mit mir dorthin gegangen. Sie haben das beste Gebäck und …“

Sie wurde wieder rot. „Jedenfalls ist das vollkommen in Ordnung. Ich bin mittlerweile so hungrig, dass mir schon egal ist, was wir essen, solange es nur als Nahrung erkennbar ist.“

„Und vorzugsweise für die menschliche Ernährung bestimmt ist“, scherzte er, als er sich an ihren Kommentar über das Trockenfutter erinnerte.

„Das wäre wirklich großartig“, sagte sie und strahlte.

Als sie das Hinterzimmer betraten, hatten sich die Welpen so eng aneinandergeschmiegt, dass er und June sich aus der Nähe vergewissern mussten, ob auch wirklich beide da waren. Nachdem sie die Welpen-Unterlage ausgetauscht hatten, sahen sie den Tieren noch ein paar Augenblicke lang beim Schlafen zu. Ethan überprüfte noch einmal ihre Atmung, bevor er June sanft anstupste.

„Ich fühle mich, als ob ich meine Kinder allein zu Hause lasse“, sagte June, als sie in den Mantel schlüpfte, den er für sie hochhielt.

„Das verstehe ich voll und ganz. Bedauerlicherweise glaube ich allerdings nicht, dass sie das erste Mal allein sein werden“, erwiderte Ethan. „Aber wir werden ja nicht lange weg sein, und ich verspreche dir, dass sie das locker überstehen werden.“

Was dachte er sich nur dabei, ihr so ein Versprechen zu geben? Ja, die Tiere wirkten im Moment relativ gesund und kräftig in Anbetracht ihrer Vorgeschichte. Aber er hatte nun mal keine hellseherischen Fähigkeiten. Würde er das wirklich alles sagen, nur um sie zum Lächeln zu bringen?

Ihm fiel die Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen auf, als sie noch einmal über die Schulter hinweg einen Blick auf die Welpen warf. Ethan legte ihr jetzt die Hand unter ihren Ellbogen. „Glaub mir, June. Den beiden geht es gut. Ihr Bauch ist voll, sie haben getrunken und ihr Geschäft verrichtet, und sie sind in ihrem Zwinger gut aufgehoben.“

Die Antwort war: Ja, anscheinend würde er wirklich alles sagen.

Bei seinen Worten milderte sich ihr Gesichtsausdruck allerdings. Und obwohl er den Grund dafür lieber nicht genau analysieren wollte, war er erleichtert, weil er sie offenbar hatte trösten können. „Außerdem würde ich sie nicht allein lassen, wenn ich glauben würde, dass es nicht sicher wäre. Okay?“

Sie nickte.

„Also, vertraust du mir?“

Sie antwortete nicht sofort, eine Tatsache, die ihn nur noch mehr für sie einnahm. Schließlich kannten sie sich erst etwas mehr als eine Stunde.

„Ja“, sagte sie schließlich. „Ich vertraue dir.“

Er lächelte und freute sich mehr, als klug für ihn war.

„Gut.“ Er drückte kurz ihren Ellbogen, dann ließ er sie wieder los. „Ich schätze, am besten holen wir uns was und kommen danach gleich wieder hierhin zurück.“

„Das ist ein Plan“, stimmte June zu.

Ethan zog seinen Mantel an und wickelte seinen Schal um Hals und Gesicht, bevor er seinen Hut aufsetzte. Bevor er fertig war, hatte June das auch getan und sah richtig süß aus. Diese Beschreibung passte eigentlich überhaupt nicht zu dem Frauentyp, zu dem er sich normalerweise hingezogen fühlte. Trotzdem kam sie ihm irgendwie immer anziehender vor.

June sah aus wie jemand, mit dem er gemütlich nach einem langen Arbeitstag eine heiße Schokolade trinken konnte. Wie jemand, der sich freuen würde, wenn er spät abends heimkam. Wie jemand, der gerne auch mal einen Abend zu Hause verbringen würde, nur um miteinander zu entspannen.

Das war der Punkt – ihr Anblick brachte ihn dazu, an ein Zuhause zu denken. Und das war etwas, was er bisher mit keiner einzigen Frau in Verbindung hatte bringen können, mit der er je ausgegangen war.

June brachte ihn dazu, an andere Dinge zu denken. An Dinge, die er sich früher einmal gewünscht hatte – wie zum Beispiel an ein Zuhause und eine Familie und an jemanden, mit dem er all das teilen wollte. Jemanden, den er von Herzen liebte.

Aber das war nichts, was er noch ernsthaft verfolgte. Denn...

Autor

Tracy Madison
Die preisgekrönte Schriftstellerin Tracy Madison ist in Ohio zu Hause, und ihre Tage sind gut gefüllt mit Liebe, Lachen und zahlreichen Tassen Kaffee ... Die Nächte verbringt sie oft schreibend am Computer, um ihren Figuren Leben einzuhauchen und ihnen ihr wohlverdientes Happy End zu bescheren. Übrigens bekommt Tracy Madison sehr...
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Michelle Major
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.</p>
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