Bianca Exklusiv Band 383

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EMMAS KLEINER PLAN VOM GLÜCK von KATIE MEYER

"Lieber Daddy ...". Die Valentinskarte ihrer kleinen Tochter Emma bricht Cassie fast das Herz. Denn einen Daddy gibt es nicht, und wenn es nach ihr geht, wird es ihn auch nicht geben. Aber Emma hat einen Plan - und der neue Sheriff Alex Santiago auch ...

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  • Erscheinungstag 04.01.2025
  • Bandnummer 383
  • ISBN / Artikelnummer 0852250383
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Katie Meyer

1. KAPITEL

„Grace, du hast mir gerade das Leben gerettet! Wie kann ich das je wiedergutmachen?“

Die Frau am Tresen rollte mit den Augen. „Das ist doch bloß Kaffee, Dr. Marshall.“

Cassie umklammerte den Pappbecher wie einen Rettungsanker. „Ich musste heute um drei Uhr nachts bei einem Schnauzer einen Kaiserschnitt machen. Und dann war heute jeder Termin doppelt belegt. Im Augenblick ist Ihr Kaffee meine einzige Chance, die Sitzung lebend zu überstehen, zu der ich jetzt muss.“ Sie bezahlte und nahm einen vorsichtigen Schluck. „Grace, Sie sind und bleiben meine Heldin.“

„Mit dem Kompliment haben Sie sich den letzten Zimt-Scone verdient, wenn Sie wollen.“

„Habe ich so etwas je abgelehnt?“ Cassie nahm die Papiertüte entgegen. „Danke. Das sollte verhindern, dass ich mich vorm Abendessen nicht in einen Teufel verwandle.“

„Wenn man vom Teufel spricht … Da kommt der neue Deputy des Sheriffs. Ich wäre gerne bereit, ein paar Gesetze zu brechen, um ihm aufzufallen.“ Grace verrenkte sich den Hals, um einen besseren Blick durchs Schaufenster zu erhaschen. „Sieht er nicht wie ein Mann aus, der mit meinen rebellischen Anteilen fertigwerden könnte?“

Aufzubegehren machte lange nicht so viel Spaß, wie man sich das vorstellte. Cassie wusste das aus Erfahrung. Sie war drauf und dran, sich Grace gegenüber entsprechend zu äußern, als hinter ihr die Klingel an der Ladentür bimmelte. Bei dem Geräusch drehte sich Cassie um und schnappte nach Luft.

Kein Wunder, dass Grace für den Deputy schwärmte. Der Mann sah aus, als ob er in einen Actionfilm nach Hollywood gehörte – und nicht auf die beschaulichen Straßen von Paradise in Florida. Dichtes, dunkles Haar umgab ein Gesicht mit markanten Zügen und einem Anflug von Bartstoppeln. Seine Augen waren so dunkel wie Espresso, und er hatte den durchdringenden Blick, den nur Gesetzeshüter zu haben schienen. Sogar ohne Uniform hätte sie ihn sofort als Polizist erkannt. Wirkte er sexy? Oh ja! Aber er war ein Cop. Und von denen hatte sie genug.

„Ich möchte eine Bestellung abholen. Für Santiago.“

Grace griff nach einem Karton auf der Vitrine. „Gemischte Cookies, richtig?“

„Das stimmt.“

„Was, keine Donuts?“

Er musterte Cassie. Dann verzog er die Lippen zu einem schiefen Grinsen. „Tut mir leid, wenn ich da jetzt ein Vorurteil zerstört habe.“

Grace warf Cassie einen finsteren Blick zu, bevor sie sich bemühte, die Wogen zu glätten. „Deputy Santiago, ich bin Grace. Wir haben vorhin telefoniert. Und neben mir steht Dr. Cassie Marshall, unsere Tierärztin.“

„Nett, Sie kennenzulernen.“ Er nickte ihnen zu. „Und wenn ich nicht im Dienst bin, dann sagt doch bitte Alex zu mir.“ Dann lächelte er. Ein echtes, ehrliches Lächeln. Auf einmal war Cassie viel zu warm. Ihre Reaktion beunruhigte sie. Cassie wollte schnellstmöglich verschwinden, bevor sie sich noch mehr blamierte.

„Lass mich das machen.“ Alex war vor ihr an der Tür. Mit einer Hand balancierte er die Kekse. Mit der anderen machte er die Tür für Cassie auf. Nach ihrer spitzen Bemerkung bekam sie bei so viel Höflichkeit auch noch ein schlechtes Gewissen.

„Das mit den Donuts tut mir leid.“

„Da ist mir schon Schlimmeres untergekommen.“ Einen Augenblick lang wirkte seine Miene wie versteinert. „Keine Sorge.“

Sie nickte höflich. Dann ging sie schnurstracks zu ihrem Dreitürer. Sie stellte den Kaffee in die Halterung, ließ den Motor an und legte eine CD mit Liebesliedern ein. Sie hatte weniger als zehn Minuten Zeit, um den Kopf frei zu kriegen und in Valentinstagsstimmung zu kommen.

Alex beobachtete, wie der silberne Kleinwagen davonfuhr. Dabei merkte er sehr wohl, dass die Tierärztin auf die Geschwindigkeitsbegrenzung achtete. Nur wenige hatten den Nerv, vor einem Deputy zu schnell zu fahren, und normalerweise machten die Leute auch keine Polizistenwitze in seiner Hörweite. Er hatte die Abneigung in ihren blauen Augen erkannt. Von Gangmitgliedern und Drogenhändlern war er das gewöhnt. Aber von einer niedlichen Tierärztin? Er ahnte, dass mehr dahintersteckte. Doch er wollte sich an seinem neuen Wohnort keine Feinde machen. Davon hatte er in Miami schon genug.

Lautes Bellen riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ich komm ja schon, mein Junge!“

Im Augenblick waren er und Rex, sein Partner auf vier Pfoten, sozusagen noch in den Flitterwochen. Der Hund war immer noch ganz aufgeregt, wenn Alex zurückkam. Als er das Auto aufsperrte, musste Alex lächeln. Der Deutsche Schäferhund war ein K-9-Polizeihund und der schlimmste Albtraum von Verbrechern. Für Alex aber bedeutete er das Schönste an seinem neuen Job.

Er hatte nie erwartet, mal in einer Kleinstadt wie Paradise zu leben, weil er nie vorgehabt hatte, Miami zu verlassen. Als er jedoch gegen seinen Partner ausgesagt hatte, da hatte sich die ganze Abteilung gegen ihn gestellt.

Es war ihm klar gewesen, dass er jede Chance auf Beförderung zunichtemachte, als er sich geweigert hatte, eine Falschaussage zu machen. Doch damit konnte er leben.

Sein Leben aufs Spiel zu setzen, gehörte zum Job. Seine Familie mit reinzuziehen, stand auf einem ganz anderen Blatt. Eines Tages war seine Mutter nach Hause gekommen und hatte die Wände mit Drohungen beschmiert und die Einrichtung demoliert vorgefunden. Da war Alex klar geworden, dass sie nicht mehr in Miami bleiben konnten.

Er sah seine Mutter immer noch vor sich, wie sie bleich vor Angst in ihrer zerstörten Küche stand.

Am nächsten Tag hatte er seine Kündigung eingereicht. Als ein Posten im Büro des Sheriffs von Palmetto County frei geworden war, hatte er keine Sekunde gezögert. Für ihn erfüllte sich ein Traum, weil er mit einem Polizeihund der K-9-Staffel arbeiten durfte. In Miami hatte er oft bei der Staffel ausgeholfen. Dank dieser Erfahrung und seiner makellosen Personalakte hatte er den Job bekommen.

Zum Glück war seine Mutter auch bereit gewesen, umzuziehen. Er hatte sich gesorgt, dass sie sich gegen einen Umzug sträuben würde. Aber sie hatte fast sofort zugestimmt. Ihr mangelnder Widerstand hatte verdeutlicht, dass ihr die Sache viel mehr zugesetzt hatte, als sie zugeben wollte.

Und natürlich musste er noch an seine kleine Schwester, Jessica, denken. Sie war zwar inzwischen auf dem College, aber in den Semesterferien kam sie immer noch nach Hause.

Jetzt war Paradise ihr Zuhause, und die Geschehnisse lagen hinter ihnen.

Als er die Hauptstraße entlangfuhr, musterte er die Schaufenster mehr aus Gewohnheit als aus Vorsicht. Das verschlafene Inselstädtchen konnte kaum unterschiedlicher sein zum lebhaften Süden Floridas. Anstelle von Hochhäusern und Einkaufszentren gab es hier Bungalows und kleine Läden. Miami verfügte zwar über eine blühende Kulturlandschaft, aber als Polizist hatte er viel Zeit in den weniger sehenswerten Stadtteilen verbracht. Hier dagegen waren sogar die ärmeren Viertel sauber und ordentlich in Schuss gehalten.

Natürlich war nicht alles perfekt, nicht einmal in Paradise. Darum verzichtete Alex auf wertvollen Schlaf, um an der Share the Love-Sitzung teilzunehmen. Die Polizei und das Jugendamt hatten sich zusammengetan, um eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu organisieren – einen Ball am Valentinstag. Die Einnahmen sollten dafür verwendet werden, um ein Förderprogramm für Kinder aus schwierigen Verhältnissen aufzubauen. Alex hatte sich sofort freiwillig gemeldet. Er kannte solche Einrichtungen aus eigener Erfahrung. Jetzt war es an der Zeit, etwas zurückzugeben.

Er brauchte nur ein paar Minuten, um die Insel zu überqueren. Dann hatte er das Sandpiper Inn erreicht, wo das Treffen heute Abend stattfinden würde.

Als er auf den Parkplatz einbog, stellte er überrascht fest, dass die meisten Plätze belegt waren. Entweder hatte das Inn diese Woche viele Gäste, oder die Versammlung war besser besucht als erwartet.

Er schnappte sich den Karton vom Beifahrersitz. Den Motor ließ er laufen. Er war dankbar für die spezielle Klimaanlage, die für die Sicherheit seines Partners auf vier Pfoten sorgte. Ende Januar war das Wetter in Florida zwar normalerweise mild, aber manchmal konnten die Temperaturen trotzdem gefährlich nach oben klettern. „Sorry, Kumpel. Ich glaube, da drin sind nur Menschen erlaubt.“

Rex brummte. Doch als Alex den Wagen abschloss, legte er den großen Kopf auf die Vorderpfoten.

„Verfolgst du mich jetzt, oder was?“, fragte jemand hinter ihm.

Die kratzbürstige Tierärztin aus der Bäckerei.

Sie stand vor dem Fußweg zum Inn. Ihr rotblondes Haar glänzte in der Abendsonne. Die Brise wehte ihr einzelne Strähnen ins Gesicht. Ihre Augen funkelten, während sie auf eine Antwort wartete.

„Ich bin kein Stalker, wenn du das meinst.“ Bei dieser Unterstellung biss er die Zähne zusammen. „Ich bin Polizist, kein Krimineller.“

Ihre Miene entspannte sich. Er bemerkte einen Anflug von Traurigkeit in ihren Augen. „Sorry. Aber hier in der Gegend besteht da manchmal kein Unterschied.“

Also, das wurde allmählich richtig peinlich. Cassie bemühte sich ehrlich, ihren Verstand einzuschalten, bevor sie den Mund aufmachte. An manchen Tagen klappte das eben besser als an anderen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, dem Neuen vorzuwerfen, dass er sie verfolgen würde? Der Unfall lag Monate zurück – sie musste aufhören, so schreckhaft zu sein.

„Mommy, guck mal!“ Cassies Tochter Emma kam die Treppe heruntergerannt. Ihre Lautstärke hätte dabei besser zu einer Blaskapelle als zu einem vierjährigen Mädchen gepasst. „Ich hab Valentinskarten gebastelt!“

Cassies beste Freundin und Angestellte, Jillian Caruso, folgte dem Mädchen langsamer. Mit ihren schwarzen Locken und dem blassen Teint sah sie aus wie eine Märchenprinzessin, obwohl sie lässige Jeans und ein Sweatshirt trug. Im Augenblick wirkte sie außerdem ein bisschen schuldbewusst. „Bevor du irgendwas sagst – das ist nicht meine Schuld. Ich habe nur gesagt, dass ich ihr helfen würde. Der Rest war ihre Idee.“

Cassie zog nur eine Augenbraue hoch. Sie war einfach dankbar, dass Jillian sich bereit erklärt hatte, sich heute um Emma zu kümmern. Normalerweise passte Cassies Mutter nach dem Kindergarten auf Emma auf. Heute hatte das nicht geklappt. Und Emma machte es viel mehr Spaß, im Inn zu spielen, als bei Cassie in der Praxis herumzusitzen.

„Hallo, mein Sonnenschein. Ich hab dich vermisst.“ Cassie umarmte ihre Tochter. Ihretwegen arbeitete sie so hart. Dieses kleine Mädchen war das Wichtigste in ihrem Leben. Die Überstunden und der Schlafmangel der letzten paar Monate waren egal. Emma war ihr das wert. „Hast du Spaß gehabt?“

„Das hoffe ich“, mischte Jillian sich ein. „Wir haben auf dem Spielplatz gespielt, Muscheln gesammelt und Brownies gebacken.“

„Bist du ein Polizist? Hat meine Mommy was angestellt?“

Den Deputy hatte Cassie fast vergessen. Als sie Emma absetzte und sich umdrehte, wurde sie rot. Er lächelte, als ob sie ihm nicht gerade beinahe verbal den Kopf abgerissen hatte.

„Hallo, Süße. Ich bin der Alex. Wie heißt du denn?“

„Ich heiße Emma. Kommen wir jetzt ins Gefängnis?“

„Heute kommt niemand ins Gefängnis. Es sei denn, es gibt hier irgendwelche bösen Buben …“ Wenn er lächelte, wurden seine Grübchen sichtbar. Polizisten sollten keine Grübchen haben.

„Nein. Hier sind nur ich und Miss Jillian und Mr. Nic. Und Murphy. Das ist ihr Hund. Und ein paar Leute für das Treffen. Aber die wollen Kindern helfen. Dann können die doch nicht fies sein, oder?“ Sie runzelte die zarte Stirn.

„Wahrscheinlich nicht. Kindern zu helfen, ist eine gute Sache. Willst du auch mitmachen?“

Emma nickte, dass ihre Locken nur so wippten. „Jawohl. Ich darf beim Schmücken helfen, hat meine Mommy gesagt. Und ich darf zum Ball am Valentinstag mit. Ich werde ein rotes Kleid tragen.“

„Ein rotes Kleid? Das klingt nach einer tollen Party.“ Er schaute auf und sah das dritte Mitglied der kleinen Gruppe an.

„Hi, ich bin Jillian. Willkommen im Sandpiper Inn.“ Sie streckte dem gut aussehenden Deputy die Hand entgegen.

„Wie schön, dich kennenzulernen. Alex Santiago. Vielen Dank, dass wir das Treffen hier abhalten dürfen.“

Jillian lächelte. „Das machen wir doch gerne. Ich bin selbst in einer Pflegefamilie aufgewachsen – ich weiß, wie schwierig das sein kann. Es wäre echt toll, wenn wir ein richtiges Betreuungsprogramm ins Leben rufen könnten.“

Wenn Alex überrascht war, wie beiläufig Jillian über ihre Kindheit sprach, ließ er sich das nicht anmerken. Er nickte nur und hielt den Karton hoch, den er bei der Bäckerei abgeholt hatte. „Ich habe Cookies mitgebracht. Wo soll ich die abstellen? Ich habe gedacht, dass ein paar Leute bestimmt noch keine Zeit zum Abendessen hatten.“

Oh, Himmel. Schamesröte stieg Cassie ins Gesicht. Sie hatte den doofen Scherz über Polizisten und Donuts ausgerechnet gemacht, als er Süßigkeiten für andere Leute gekauft hatte – noch dazu für eine Wohltätigkeitsveranstaltung.

Auch wenn der Anblick der Uniform ihr auf die Nerven ging, war das noch lange kein Grund, derart unhöflich zu sein. Der Unfall, bei dem ihr Vater schwer verletzt worden war, ging auf das Konto eines Deputys, der die Kontrolle verloren hatte – aber sie konnte den Mann, der jetzt vor ihr stand, dafür natürlich nicht verantwortlich machen, nur weil er die gleiche Dienstmarke hatte.

„Ohhh, kann ich einen Cookie haben?“ Emma schaute zu Alex auf und klimperte mit den Wimpern. „Ich war auch ganz brav.“

Er lachte. „Das muss deine Mom entscheiden, Prinzessin.“

Emma bedachte Cassie mit einem flehenden Blick. Natürlich wurde sie sofort weich. „Weil du so brav gewesen bist, darfst du einen Keks haben. Aber nur einen.“ Sie nickte Alex dankbar zu, weil er ihr die Entscheidung überlassen hatte. „Also, dann zeig mir mal die Valentinskarten.“

„Cassie, vielleicht solltest du sie später lesen?“, schlug Jillian vorsichtig vor und nickte Alex zu.

Cassie warf dem Polizisten einen Blick zu. Er zuckte die Achseln, dann ging er an ihnen vorbei. „Wir sehen uns dann drinnen.“

Warum war Jillian so angespannt? Es ging doch nur um Papierherzen und Glitzer. Sie nahm Emma die Karten aus der leicht verschmutzten Hand und ging aufs Inn zu.

Die erste Karte zeigte einen unbeholfen gemalten Blumenstrauß und die Worte MOM und LOVE, umringt von rosa und lila Herzen. „Danke, Süße. Die gefällt mir total gut.“ Sie machte die nächste Karte auf. Diesmal zierten lächelnde Gesichter rosa Papier. In der Mitte stand Jillians Name. „Wunderschön!“ Lächelnd faltete sie die letzte, herzförmige Karte auf und erstarrte.

Für Daddy. Sorgfältig waren die Buchstaben mit roten und goldenen Pailletten aufgeklebt worden.

Sie spürte, wie jemand ihr eine Hand auf die Schulter legte. Mitleid stand in Jillians Augen. „Es tut mir leid. Ich wusste nicht, was ich tun sollte …“

Cassie straffte die Schultern. Sie würde mit Emma darüber reden. Ihr Kopf fing an, schmerzhaft zu pochen.

„Mach dir keine Sorgen. Das ist nicht deine Schuld“, erklärte Cassie.

Es ist meine Schuld.

Alex behielt die Tür im Auge, während er sich unters Volk mischte. Warum waren ein paar Valentinskarten so wichtig? Vielleicht hatte das nichts zu bedeuten. Überdurchschnittliche Neugier gehörte nun einmal zu seinem Beruf.

Er aß gerade ein Sandwich, als Cassie hereinkam. Ihre Tochter und ihre Freundin folgten ihr. Cassie war jedoch diejenige, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die temperamentvolle Rothaarige hatte einfach etwas an sich. Ja, sie war hübsch, auf eine natürliche Art und Weise mit ihrer zierlichen Figur und den Sommersprossen. Und es war mehr als das. Ihr heftiges Temperament hätte unattraktiv wirken sollen. Stattdessen tat ihm ihre Offenheit gut. Jede Regung zeichnete sich deutlich auf ihrem Gesicht ab – sie verbarg nichts. In seinem Beruf verbrachte er die meiste Zeit damit, herauszufinden, was jemand nicht sagte. Doch diese Frau schien ein offenes Buch zu sein.

Und in diesem Augenblick sah sie aus, als ob sie einen Freund brauchte. Sie wirkte angespannt, als ob sie gegen Kopfschmerzen ankämpfte. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging er auf sie zu und bot ihr etwas zu trinken an. „Wasser?“

„Hmm?“ Sie starrte die Flasche an, die er in der Hand hielt. „Ja, danke.“ Sie nahm einen vorsichtigen Schluck. „Hör mal, die Sache in der Bäckerei. Es tut mir leid, dass ich unhöflich war. Das war ein dummer Witz. Ich … also, das hatte eigentlich nichts mit dir zu tun.“

„Du bist kein Fan der Polizei, was?“

Sie zuckte zusammen. „Ist das so offensichtlich?“

„Lass mal überlegen. Du machst einen Polizistenwitz in Gegenwart eines Polizisten. Dann vergleichst du Polizisten mit Verbrechern. Das war jetzt keine harte Nuss.“

Bei ihrem Lächeln blieb ihm die Luft weg. Es ließ ihre Augen leuchten. Sein Herz schlug heftig und warnte ihn, den Blick abzuwenden.

Er warf ihrer Tochter einen Blick zu, die sich ans andere Ende des Tischs davongeschlichen hatte, um noch einen Cookie zu ergattern. „Sie ist total hübsch.“

Das Lächeln strahlte noch heller. „Danke.“

„So wunderschön wie ihre Mutter.“

Sofort war das Lächeln verschwunden, und ihr Blick wirkte misstrauisch. „Ich sollte mir einen Sitzplatz suchen, bevor alle Plätze belegt sind.“

Das Kompliment war nicht als Anmache gedacht gewesen. Aber offensichtlich glaubte sie, dass er mit ihr flirtete. Sie trug keinen Ring, aber er hatte gehört, dass Ärzte wegen des dauernden Händewaschens nicht immer Eheringe trugen. Na toll. Wahrscheinlich war sie verheiratet. Jetzt hatte sie einen Grund, nicht nur Polizisten im Allgemeinen, sondern ihn im Besonderen nicht zu mögen.

Weil ihm kein Grund einfiel, ihr zu folgen, blieb er im Hintergrund und beobachtete das Geschehen von hinten. Eine kleine Menschenmenge füllte die Sitze vor ihm. Das waren jetzt alle seine Nachbarn. Sie kennenzulernen, musste an erster Stelle stehen, wenn er seinen Job gut machen wollte. Hoffentlich war ehrenamtliches Engagement ein Schritt in die richtige Richtung. Er hatte auch noch persönlichere Gründe dafür, was jedoch niemand wissen musste.

Vorne stand die Frau auf, mit der er vorhin gesprochen hatte. Jillian bat alle Anwesenden um ihre Aufmerksamkeit. „Herzlich willkommen im Sandpiper Inn und vielen Dank, dass ihr euch die Zeit nehmt. Wie die meisten von euch wissen, war ich selber ein Pflegekind. Daher weiß ich aus eigener Erfahrung, wie hart dieses Leben sein kann. Und was für einen Unterschied es macht, wenn jemand sich um einen kümmert. Ich bin wirklich dankbar dafür, dass so viele Leute Interesse haben, mitzuhelfen. Und dafür, dass wir nicht nur mit dem Jugendamt, sondern auch mit dem Sheriffdepartment von Palmetto County zusammenarbeiten werden. Deputy Santiago ist heute hier, um das Department zu vertreten, und wird höchstpersönlich seine Zeit für dieses wichtige Projekt opfern.“ Sie lächelte ihm zu, und er hob als Antwort die Hand. Einige Einwohner drehten sich um und musterten ihn. Viele lächelten freundlich; ein paar nickten wohlwollend.

Dann stellte Jillian die Organisatorin vor. Mrs. Rosenberg war eine winzige ältere Dame, die einen Jogginganzug mit Leopardenmuster anhatte. Als sie die verschiedenen Aufgaben aufzählte, nahm er sich vor, sich für den Aufbau zu melden. Ein starker Rücken war bestimmt willkommen, wenn es daran ging, Tische zu tragen und Dekorationen aufzuhängen.

Schließlich war die Sitzung vorbei. Die Leute machten die Runde, um Neuigkeiten auszutauschen, während sie darauf warteten, sich in die Helferlisten eintragen zu können. Er schob sich durch die Menge. Das war gar nicht so einfach, da ihn anscheinend alle Anwesenden persönlich begrüßen wollten. Er hatte sich schon mit einem halben Dutzend Leute unterhalten, als jemand ihn am Ärmel zupfte.

„Deputy?“

Es handelte sich um die Vorsitzende, die jetzt eine mit Strass besetzte Brille aufhatte und ein Klemmbrett in der Hand hielt.

„Jawohl, Ma’am?“

„Sie sind neu in der Stadt, nicht wahr?“ Sie musterte ihn durch ihre Brillengläser hindurch mit einem Blick, der so scharf war wie der eines abgebrühten Detectives.

„Das bin ich.“ Er streckte die Hand aus. „Alex Santiago. Nett, Sie kennenzulernen.“

Sie packte seine Hand und schüttelte sie heftig. „Keine Sorge, ich trage Sie höchstpersönlich in die Liste ein.“

Dankbar, dass er sich nicht weiter durch die Menge kämpfen musste, machte Alex sich wieder auf den Weg zur Eingangstür. Er war beinahe angekommen, als ihm etwas einfiel. „Mrs. Rosenberg?“

Auf der anderen Seite des Raumes drehte sie sich um. „Ja?“

„Für welches Komitee tragen Sie mich denn ein?“

„Na, für alle natürlich.“

Natürlich.

Cassie verbrachte den Rückweg damit, sich zu überlegen, was sie zu Emma zum Thema Valentinskarten sagen sollte. Sie war sich nicht sicher, wie sie alles so erklären konnte, dass eine Vierjährige es verstehen würde.

Zu Hause stellte sie erst einmal den altertümlichen Teekessel auf den Herd. „Emma, mach dich bitte fürs Bad fertig. Ich bin gleich bei dir.“ Es war so spät, dass sie versucht war, das Baden auszulassen. Nach einem Nachmittag am Strand hatte ihre Tochter jedoch eine gründliche Körperwäsche dringend nötig.

Cassie genoss den kurzen Augenblick der Stille und machte die Terrassentür auf. Das war ihr Lieblingsplatz, vor allem um diese Jahreszeit. Die Luft war kühl für Floridas Verhältnisse, aber immer noch angenehm. Liebend gerne hätte sie sich jetzt mit ihrem Tee und einem Krimi auf der alten Liege zusammengeringelt. An diesem Abend blieb dafür wie meistens jedoch keine Zeit.

Emma wartete im Badezimmer auf ihre Mutter. Sie hielt ihre Lieblingsgummiente in der Hand. „Mit Schaum?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Mit Schaum. Aber nur ein kurzes Bad heute Abend. Es ist schon spät.“

Das kleine Mädchen nickte ernst. „Okay, Mommy.“

„Hast du heute Spaß gehabt?“ Sie beobachtete, wie das Wasser um ihre Tochter herum anstieg und der Schaum duftende Berge formte.

„Jawohl. Ich habe mit Murphy gespielt und Brownies gegessen. Und wir haben einen Schmetterling gesehen. Und Mr. Nic hat mich auf der Schaukel ganz arg angeschubst.“

Nic war Jillians Ehemann. Er hatte das Sandpiper Inn vor ein paar Monaten gekauft. Der Spielplatz war eine der ersten Baumaßnahmen gewesen. Nic und Jillian hofften, bald ein eigenes Kind zu haben. In der Zwischenzeit nutzten die Gäste und Emma den Spielplatz nach Herzenslust. „Das kling wie ein richtiges Abenteuer.“

„Hmmhmm. Und dann hat Miss Jillian mir mit den Valentinskarten geholfen. Ich habe eine für sie gemacht und eine für dich und eine für einen Daddy. Wir müssen nur noch einen Daddy für mich finden, damit ich ihm die Karte geben kann.“

Verdammt. Jetzt musste Cassie sich überlegen, wie sie der Kleinen vor Enttäuschung nicht das Herz brechen würde. „Liebling, ich kann dir nicht einfach so einen Daddy besorgen.“

Emma runzelte die Stirn. „Es wäre aber besser, wenn ich einen Daddy hätte. Dann könnte er dein Valentinsschatz sein. So wie Mr. Nic der Valentinsschatz von Jillian ist.“

Cassie musste plötzlich Tränen wegblinzeln. Je älter Emma wurde, umso deutlicher merkte sie, dass in ihrer Familie etwas anders war. Dass etwas, oder besser gesagt, dass jemand fehlte.

„Ein Daddy für dich wäre schön“, gab sie zu, „aber du hast doch mich. Und wir sind ein tolles Team, du und ich. Oder?“

Emma sah nachdenklich drein. „Warum kann ich keinen Daddy haben? Im Kindergarten haben viele Kinder einen.“

Das Pochen hinter Cassies Augen wurde wieder heftiger. Sie rieb sich die Schläfen. „So ist das eben manchmal. Manche Kinder haben Mommys, und manche Kinder haben Daddys, und manche Kinder haben beides.“

„Oh, und manche Kinder haben weder Mommys noch Daddys, stimmt’s? Darum machen wir die Share the Love-Party. Um diesen Kindern zu helfen. Richtig, Mom?“

Cassie seufzte erleichtert. „Genau, Liebling. Jede Familie ist einzigartig. Und wir müssen einfach mit der Familie zufrieden sein, die wir haben.“

Enttäuschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als Emma langsam nickte. „Okay.“

Während sie die düstere Miene ihrer Tochter betrachtete, lagen Cassie die Schuldgefühle schwer im Magen. Am liebsten hätte sie bedauert, dass sie ihren verlogenen Ex je getroffen hatte. Aber ohne ihn gäbe es keine Emma. Und das war einfach unvorstellbar.

Das bedeutete jedoch nicht, dass sie sich nicht manchmal wünschte, einen Partner an ihrer Seite zu haben. Während sie Emma bettfertig machte, fragte sie sich, wie es wäre, einen Mann zu haben, mit dem sie sich unterhalten konnte, sobald ihre Tochter eingeschlafen war. Mit dem sie ihre Ängste und ihren Frust teilen könnte, statt Eiscreme direkt aus der Packung zu löffeln.

Jemanden in ihr Leben zu lassen, bedeutete allerdings ein viel zu großes Risiko. Sie hatte sich schon ein Mal von ihren Gefühlen mitreißen lassen und konnte es sich nicht leisten, so einen Fehler zu wiederholen.

2. KAPITEL

Zehn Stunden später schüttelte Alex immer noch den Kopf, was Mrs. Rosenberg und ihre vertrackten Pläne anging. Und er grübelte immer noch über die faszinierende Tierärztin nach, obwohl sie ihn so deutlich abgewiesen hatte.

Er hatte die ganze lange Nacht damit verbracht, die ruhigen Straßen von Paradise zu patrouillieren. Ganz allein, abgesehen von seinen Gedanken und abgesehen von Rex. Alex war dankbar, dass im Hinblick auf Kriminalität so wenig los war. Die ruhige Nachtschicht ließ ihm jedoch zu viel Zeit zum Nachdenken – zu viel Zeit, sich daran zu erinnern, warum er überhaupt hier war.

Als der Morgen dämmerte, fuhr er noch einmal die Küstenstraße entlang. Er hielt auf einem Parkplatz bei den Dünen an, stieg aus und legte Rex die Leine an. Nachdem der Hund sein Geschäft erledigt hatte, gingen sie die Treppe zum Strand hinunter.

Von hier aus hatte er einen ungehinderten Blick auf das Meer und den Himmel, der sich bereits rosa färbte und am Horizont mit dem Ozean zu verschmelzen schien. Das Wasser verwandelte sich in flüssiges Orange, als die Sonne aufging. Der Deputy erlaubte es sich, die Ruhe zu genießen. Das einzige Geräusch war das sanfte Rauschen der Wellen über den Sandstrand und das leise Schnüffeln von Rex, als der das Gebüsch neben der Treppe untersuchte.

Das klare Licht bei Tagesanbruch erinnerte Alex an den Neuanfang, um den er zwar nicht gebeten hatte, den er aber wahrscheinlich gebraucht hatte.

Er war jetzt über dreißig. Vielleicht würde er hier ein Leben nach der Arbeit finden. Er war kein Familienmensch; sein persönlicher Hintergrund hatte ihn auf so ein Leben nicht vorbereitet. Aber Paradise weckte in ihm den Wunsch, hier heimisch zu werden und Freunde zu finden. Vielleicht würde er bei einem Softballteam oder so etwas in der Art mitmachen.

Bei der Vorstellung lachte er leise. Dann wandte er sich ab. Rex sträubte sich gegen die Leine. Das war völlig untypisch für ihn. Vielleicht war der Hund auch müde.

„Hierher, Junge! Komm schon.“

Der Hund verharrte, wo er war. Seine Schnurrhaare bebten, während er die Schatten unter der Treppe anstarrte.

„Was ist denn, meine Junge?“ Alex war kein Hundeflüsterer, aber ganz offensichtlich war da irgendwas unter der Treppe.

„Ist da jemand?“

Er hörte ein kratzendes Geräusch. Eine Antwort erhielt er nicht.

Rex winselte. Seine Nackenhaare sträubten sich. Obwohl er sich dabei ein bisschen albern vorkam, zog Alex seine Glock aus dem Halfter. Er war nicht bereit, ein Risiko einzugehen. Er ging in die Hocke und leuchtete mit seiner Taschenlampe unter die Holzkonstruktion. Niemand war zu sehen, aber unter dem Stützpfeiler befand sich eine Nische.

Er schob sich unter den Überstand und leuchtete die Stelle mit seiner Taschenlampe aus. Nichts.

Wuff!

Alex fuhr zusammen und knallte mit dem Kopf an die Treppe. Schmerz durchzuckte seinen Schädel, als er hastig unter der Treppe herauskrabbelte. Er hörte, wie Rex erneut bellte.

„Was ist los, meine Junge?“

Als Antwort erhielt er hastiges, stakkatoartiges Bellen vom Treppenabsatz über ihm.

„Stehen bleiben! Polizei.“ Er stand auf und folgte dem Blick des Hundes.

Dort saß die Bedrohung, die seinen Hund so in Aufregung versetzt hatte: Ein winziges Kätzchen kauerte auf der obersten Stufe.

„Still, Rex!“, befahl er, weil er nicht wollte, dass der große Hund das Kätzchen wieder unter die Treppe scheuchte.

Er ließ den Hund Platz machen. Dann steckte er die Pistole und die Taschenlampe ein. So leise er es mit seinen schweren Stiefeln vermochte, bewegte er sich behutsam die Stufen hinauf.

Das Kätzchen beobachtete ihn mit großen Augen, aber es rannte nicht weg. Ein leises Miau war seine ganze Reaktion, und selbst das hörte sich eher halbherzig an. Das jämmerliche Geschöpf wirkte schrecklich schwach.

Er hob das Kätzchen auf und hielt es mit einer Hand an seinen Oberkörper gepresst, während er sich bückte und mit der anderen Hand nach der Leine von Rex griff. Das Kätzchen zitterte. Er packte Rex wieder ins Auto und verabschiedete sich innerlich von der Idee, wie geplant eine Mütze Schlaf nachzuholen. Es sah so aus, als würde er die hübsche Tierärztin doch noch wiedersehen.

Cassie starrte verschlafen den Teekessel an. Letzte Nacht hatte sie sich wieder einmal nur hin und her geworfen.

Sie träumte oft von dem Unfall. Ihr Vater war ins Krankenhaus gekommen, während sie eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hatte. Zuerst hatten sie befürchtet, dass die Verletzungen ihres Vaters bleibende Folgen haben würden. Aber jetzt war er zu Hause, und sein Zustand besserte sich stetig. Sie hatte gehofft, das würde reichen, um die Albträume verschwinden zu lassen. Bis jetzt hatte sie leider nicht so viel Glück gehabt.

Doch letzte Nacht hatte der Traum sich verändert. Wie immer waren das zerbrochene Glas und die quietschenden Reifen vorgekommen. Doch anstelle des älteren Polizisten tauchte jemand anders auf – Alex Santiago, der neue Deputy, vor dem sie sich so blamiert hatte.

Urplötzlich hatte sie Sterne am Himmel gesehen und den Ozean rauschen gehört. Sie befanden sich allein am Strand und küssten einander. Sie wollte gerade seine Uniform aufknöpfen, als ihr Wecker sie aufgeschreckt hatte.

Mehrere Minuten lang hatte sie erhitzt dagelegen, bevor sie sich gezwungen hatte, den Traum aus ihren Gedanken zu verbannen. Wahrscheinlich gab es eine tiefenpsychologische Erklärung dafür. Und doch war es sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Also hatte sie mühsam den Weg aus dem Bett gefunden. Jetzt sehnte sie sich verzweifelt nach einer Tasse Tee. Sie hatte noch dreißig Minuten Zeit, bevor Emma aufstehen musste. Die Ruhe wollte sie genießen, solange sie konnte.

Der Tee zog gerade, als es an die Tür klopfte. Als sie durch den Spion sah, konnte sie nur die blaue Uniform des Sheriff Departments von Palmetto County ausmachen.

Ihr Herz klopfte heftig, während sie aufsperrte. Warum stand ein Polizist vor ihrer Tür? War ihren Eltern etwas zugestoßen? War in der Praxis etwas vorgefallen? Oder bei einem Nachbarn? Ihre Gedanken rasten von einem Schreckensszenario zum nächsten. Es ging doch bestimmt nicht um den Unfall? Zuerst hatte es zahllose Verhöre und Fragen gegeben, aber das war jetzt schon seit Monaten vorbei.

Sie atmete tief durch und machte auf. Vor ihr stand Alex und sah genauso aus wie in ihrem Traum. Ihre Angst verschwand, vertrieben von einer anderen und genauso starken Regung. Ihre Wangen wurden ganz heiß vor Scham. Dabei konnte er unmöglich wissen, dass sie von ihm geträumt hatte. Mit kühler Stimme fragte sie: „Gibt es ein Problem, Deputy?“

Er lächelte charmant, voll männlicher Tatkraft. „Ich schätze, es ist noch zu früh für einen freundschaftlichen Besuch?“

„Würde ich sagen, ja.“ Sie bemerkte die dunklen Schatten unter seinen Augen. Ihr wurde klar, dass er wahrscheinlich gerade eine Nachtschicht hinter sich hatte. „Ich nehme mal an, dass du aus beruflichen Gründen in aller Herrgottsfrühe bei mir an die Tür hämmerst. Wenn du mir verraten würdest, worum es geht, wäre das hilfreich. Mein Frühstück wartet auf mich.“

Bevor er antworten konnte, hatte sie den merkwürdigen Eindruck, dass sich etwas unter seiner Uniformjacke bewegte. „Was in aller Welt ist das denn?“

In diesem Augenblick tauchte ein winziger grauer Kopf im Ausschnitt seiner Jacke auf. Verdammt. Jetzt musste sie ihn wohl reinlassen.

„Ich weiß, das sieht komisch aus. Der kleine Kerl hat gezittert wie Espenlaub. Ich hab gedacht, ich kann ihn so warm halten, aber er will einfach nicht stillhalten.“ Er packte das Kätzchen.

„Na, dann sehen wir uns das Wesen mal an.“ Sie winkte ihn in die Küche. „Wo hast du es aufgegabelt, und wie lange ist das her?“ In ihrer Eigenschaft als Tierärztin konnte sie eine gewisse emotionale Distanz bewahren. Er sah vielleicht aus wie ein Filmstar, aber das Logo des Sheriff Departments auf seinem Hemd erinnerte sie nur zu deutlich an ihr momentanes Gefühlschaos. Sie würde dem Kätzchen helfen. Dann würde sie ihn wegschicken – bevor er oder das Tier ihr zu nahekommen konnten.

Alex folgte ihr. „Rex hat ihn unter einer Treppe zum Strand gefunden. Irgendwie hat er wohl gewusst, dass der kleine Kerl Hilfe braucht.“

„Ist Rex dein Partner?“ Der Name sagte ihr nichts.

„Ja“, antwortete Alex geistesabwesend, während er die Krallen des Kätzchens aus seinem Uniformhemd löste. „Er wartet draußen im Wagen.“

„Er wollte nicht reinkommen?“ War die Feindseligkeit ihr gegenüber jetzt schon so schlimm?

„Oh, klar wollte er das. Aber ich habe mir gedacht, wir sollten dich nicht völlig überrumpeln.“

Na klar. Wahrscheinlich wollte sein Partner ihr einfach aus dem Weg gehen. Sein Pech. Sie hatte es satt, in ihrem Heimatort wie eine Ausgestoßene behandelt zu werden. „Das Kätzchen zu untersuchen, wird eine Weile dauern. Also kannst du Rex auch sagen, dass er reinkommen soll. Es gibt keinen Grund, draußen in der Kälte zu sitzen.“

„Bist du sicher?“

„Klar.“

Während er seinen Partner holte, ging sie zum Schrank im Flur, wo sie ihre Arzttasche aufbewahrte. Sie hatte sie ins oberste Fach gequetscht. Also stand sie auf den Zehenspitzen, das Kätzchen sicher in die Armbeuge geschmiegt, als die Haustür aufging.

Sie gab auf und drehte sich um. „Hey, könnte einer von euch das Kätzchen halten, während ich …“

Ihr blieb die Luft weg. Vor ihr stand der größte Deutsche Schäferhund, den sie je gesehen hatte. Sie unterdrückte einen völlig unprofessionellen Aufschrei. Dann musterte sie das Riesenvieh vorsichtig, bis sie zu dem Schluss kam, dass dieser rehäugige Hund ihr nichts Böses wollte – wahrscheinlich. Das Kätzchen hielt sie vorsichtshalber außer seiner Reichweite.

Sie war erleichtert, als sie Alex entdeckte. „Du willst mir doch jetzt nicht etwa erzählen, dass Rex diesen Hund auch unter einer Treppe gefunden hat?“ Dieses majestätische Tier war nie und nimmer ein Findling.

„Was?“ Alex kniff verwirrt die Augen zusammen. „Wen gefunden?“

Sie wedelte mit der Hand Richtung Hund. „Na, den Hund da. Wo kommt der denn auf einmal her?“

Da lachte Alex aus vollem Hals. Die Linien der Erschöpfung, die sich gerade noch auf seinem Gesicht abgezeichnet hatten, verschwanden. Sie konnte nicht anders, sie musste ebenfalls lächeln.

„Rex ist mein Partner.“ Als sie nur die Augenbrauen hochzog, fuhr er fort: „Will sagen, der Hund ist Rex. Mein Partner.“

Mit einiger Verspätung ergab das einen Sinn. „Ach so, du bist ein K-9-Beamter?“

„Ja. Ich habe einfach angenommen, als hiesige Tierärztin weißt du Bescheid.“

Sie überlegte. Sie hatte tatsächlich Andeutungen über eine neue K-9-Einheit gehört. Aber sie hätte schwören können, dass die Idee aus Geldmangel aufgegeben worden war. „Ich habe gedacht, das Department kann sich keine K-9-Einheit leisten? Ausgebildete Polizeihunde kosten ein Vermögen.“

Alex kraulte das Fell des großen Hundes und lächelte schief. „Er ist jeden Penny wert, aber da hast du recht. Er übersteigt das Budget von Palmetto County bei Weitem. Die Anschaffungskosten konnten nur mit Mitteln von Bund und Staat bestritten werden. Das Department muss immer noch für Tierarztkosten und Training aufkommen, aber das ist nicht so teuer wie das Gehalt eines weiteren Polizisten. Auf lange Sicht kann eine K-9-Einheit Personalaufwand und Kosten sparen.“

Seine Augen leuchteten vor Stolz. Bei dem Anblick schluckte sie schwer. Sie hatte voreilige Schlüsse gezogen. War sie inzwischen so eine Zynikerin, dass sie automatisch von allen Leuten das Schlimmste dachte?

Wenn das so war, musste sie damit aufhören. So ein Mensch wollte sie nicht sein. Das wollte sie auch ihrer Tochter nicht vorleben. Und das bedeutete, dass sie zumindest versuchen musste, aufgeschlossen und freundlich zu sein. Sogar zu dem attraktiven Polizisten.

Wenn Alex nicht so müde gewesen wäre, hätte er Cassies Verwirrung vielleicht eher bemerkt. Ihr Gesichtsausdruck war unbezahlbar, als sie plötzlich dem Hund gegenüberstand. Eines musste er ihr jedoch lassen: Sie hatte mit keiner Wimper gezuckt. Außerdem hatte sie die Körpersprache von Rex richtig interpretiert und erkannt, dass er keine Gefahr darstellte. Dabei machte Rex sogar ein paar seiner Kollegen nervös.

Mit geschlossenen Augen tastete sie das Kätzchen vom Kopf bis zur Schwanzspitze ab. Während er beobachtete, wie sie ihre Finger über das weiche Fell gleiten ließ, fragte er sich, wie sich ihre Berührung anfühlte. Falls sie verheiratet war, dann hatte ihr Mann ein Riesenglück gehabt.

Und der würde es vermutlich nicht so toll finden, wenn ein Fremder seine Frau derart anstarrte.

Nicht dass sie das überhaupt bemerkte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem kleinen schnurrenden Patienten.

Trotzdem sollte er sich besser zurückhalten. „Wird er durchkommen?“

Cassie gab einen unbestimmten Laut von sich. Dann steckte sie sich die Stöpsel ihres Stethoskops in die Ohren. Nach ein paar Minuten entspannte sich ihre Miene, und sie lächelte. „Die Lungen hören sich gut an. Und der Herzschlag ist super – soweit ich das trotz des Schnurrens hören konnte.“ Sie schmiegte das Gesicht an den Neuankömmling. „Er scheint keinen bleibenden Schaden davongetragen zu haben. Er ist nur hungrig und durstig. Was für ein Glück, dass du ihn gefunden hast – laut Wettervorhersage zieht eine Kaltfront auf.“

Obwohl es in Cassies gemütlicher Küche schön warm war, musste Alex einen Schauder unterdrücken. Die Vorstellung von dem Kätzchen ganz allein in der Kälte ging ihm an die Nieren. Er beschloss, Rex später dessen Lieblingskauknochen zu besorgen. Der Hund hatte sich definitiv eine Belohnung verdient.

Als ob sie Alex’ Gedanken lesen konnte, machte Cassie einen Küchenschrank auf und holte eine Dose mit Hundekeksen heraus.

„Darf unser Held ein Leckerli haben?“

„Klar. Er ist jetzt nicht im Dienst und hat es sich auf jeden Fall verdient.“

„Und du?“ Sie deutete mit dem Kinn auf den Teekessel. „Ich habe heißes Wasser für einen Tee. Oder ich kann dir eine Kanne Kaffee kochen.“

„Tee wäre toll, danke.“ Normalerweise war er Kaffeetrinker, aber es war sinnlos, wenn sie nur für ihn eine ganze Kanne kochte. Vielleicht ist der Kaffee eigentlich für ihren Mann bestimmt?

Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass nur ein Auto in der Einfahrt gestanden hatte. Nichts in der Küche wies auf die Anwesenheit eines Mannes hin. Natürlich handelte es sich nur um Indizien, aber die Hinweise reichten aus, um ihn an der Existenz eines Mr. Marshall zweifeln zu lassen.

Als er die Tasse Tee in Empfang nahm, sagte er sich, dass das so oder so keinen Unterschied machte. Die Tierärztin hatte bei ihrer ersten Begegnung absolut deutlich gemacht, was sie von ihm und seinem Berufsstand hielt. Jetzt saß er Cassie gegenüber in ihrer gemütlichen Küche. Sein Hund lag zu ihren Füßen, und ein Kätzchen saß auf seinem Schoß. In diesem Augenblick schien eine freundschaftlichere Beziehung zwischen ihnen durchaus möglich – was allerdings nicht erklärte, warum er sich dafür interessierte, ob sie ihr Haus oder ihr Bett mit einem anderen Mann teilte.

Offensichtlich war er zu lange aufgeblieben. Das war alles. Schlafmangel konnte jeden Menschen ganz schön durcheinanderbringen. Das wusste doch jeder. Nach ein paar Stunden Schlaf würde er sich wieder an alle guten Gründe erinnern, warum er nicht auf der Suche nach einer Beziehung war. Dank des neuen Jobs und des zusätzlichen Trainings mit Rex hatte er sowieso keine Energie für Verabredungen. Das war ihm durchaus recht.

Doch in diesem Augenblick fragte er sich, ob er nicht vielleicht doch etwas verpasste.

Weil er darüber nicht weiter nachdenken wollte, trank er seinen Tee aus und stand auf. Sein Stuhl schrammte über den Fliesenboden.

Das Geräusch erschreckte das Kätzchen, und es sprang auf den Tisch, wo es beinahe die Tassen umwarf.

„Tut mir leid. Ich sammle den kleinen Kerl besser mal ein und mach mich auf den Weg.“ Er hob das Kätzchen mit einer Hand hoch. „Danke, dass du ihn dir angesehen hast.“

Cassie erhob sich, um ihn nach draußen zu begleiten. „Was hast du jetzt mit ihm vor?“

Gute Frage. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. „Ich behalte ihn, während ich versuche, ein Zuhause für ihn zu finden.“ Frustriert rieb er sich mit der freien Hand die Augen. „Vermutlich sollte ich ihm erst mal was zu fressen besorgen.“ Er stöhnte beinahe. Sein erschöpfter Körper sehnte sich nach einem Bett.

„Die Läden machen erst in einer Stunde auf.“ Cassie schaute vom Mann zum Kätzchen. „Ich kann ihn mit in die Praxis nehmen, ihn füttern, entwurmen und baden. Dann kannst du ihn heute Abend abholen. Wie hört sich das an?“

„Als ob du mein persönlicher Schutzengel wärst. Danke.“

Sie errötete. „Das tue ich nicht für dich, mein Lieber. Sondern nur für ihn.“ Ihr Tonfall stand in deutlichem Kontrast zur freundschaftlichen Atmosphäre in der Küche gerade eben. Anscheinend war dieses Zwischenspiel jetzt vorbei.

„Egal. Ich weiß deinen Einsatz wirklich zu schätzen. Um wie viel Uhr soll ich vorbeikommen?“

„Die Praxis macht um sechs zu. Also irgendwann davor.“

Dann konnte er sich ausschlafen und hatte immer noch genug Zeit, um Katzenfutter zu besorgen und das Kätzchen abzuholen, bevor seine Schicht anfing. Dem Himmel sei Dank.

Cassie verbrachte an diesem Tag viel zu viel Zeit damit, über Alex nachzudenken. Der Anblick des raubeinigen Deputys, wie er das verwaiste Kätzchen hätschelte, hatte sie irgendwie berührt.

Sie musterte das graue Fellbündel. „Du bist ein Unruhestifter, weißt du das?“

Das Kätzchen war gerade damit beschäftigt, ihre Praxis zu erkunden.

Geistesabwesend knüllte Cassie ein Stück Papier zusammen und warf es dem Katerchen zu. Begeistert fiel das kleine Raubtier darüber her. Vor Aufregung überschlug sich der Kleine sogar.

Vor langer Zeit war sie selbst einmal derart sorglos und abenteuerlustig gewesen. Allerdings war sie zu oft und zu schmerzhaft auf dem harten Boden der Realität gelandet, um so einen Salto noch einmal zu riskieren.

Seit ihr Ex sie verlassen hatte, fiel es ihr schwer, Menschen zu vertrauen. Die Nachwirkungen des Autounfalls, in den ihr Vater und sie verwickelt gewesen waren, hatten nicht geholfen. In ihrer Naivität hatte sie angenommen, dass der betrunkene Deputy, der in sie hineingefahren war, ins Gefängnis kommen würde. Stattdessen war er nur verwarnt worden. Ein paar Leute hatten sogar trotz aller Beweise angedeutet, dass der Unfall ihre eigene Schuld gewesen sein könnte. Natürlich wusste Cassie, dass diese Leute falschlagen. Dies linderte ihre Albträume und ihre Schuldgefühle jedoch keineswegs.

„Hey, Cassie?“ Ihre Freundin Mollie, die am Empfang der Praxis arbeitete, meldete sich über die Gegensprechanlage. „Emma ist hier.“

Cassie warf einen Blick auf ihre Uhr. Wie konnte es schon fünf Uhr sein? „Schick sie rein und sag ihr, dass ihr kleiner Freund noch da ist.“ Ihre Tochter hatte sich auf den ersten Blick in das Katerchen verliebt.

„Mommy!“ Ihre Tochter platzte herein. „Mollie hat gesagt, er ist noch da! Wo steckt er denn?“

Cassie lachte. „Schau mal hinter den Papierkorb.“

Emma schoss davon. „Ich hab ihn!“, rief sie und presste das Kätzchen an sich.

„Vorsichtig. Nicht zu fest drücken.“

„Das weiß ich, Mom. Ich bin doch kein Baby!“ Die Empörung, die sich auf ihrem kleinen Gesicht abzeichnete, hätte besser zu einem Teenager als zu einem Vorschulkind gepasst. Und Emma hatte recht, denn sie war an Tiere gewöhnt und wusste genau, wie sie mit ihnen umgehen musste.

„Also, der hier ist ein kleiner Frechdachs. Sei einfach vorsichtig.“ Sie hatte ihre Warnung noch nicht ausgesprochen, da versuchte der kleine Kerl schon, sich aus Emmas Armen zu winden und die Rollos hochzuklettern.

„Du bist wirklich ganz schön frech!“, tadelte sie das Kätzchen. „So solltest du auch heißen – Frechdachs.“

Cassie lachte. „Ich glaube, da hast du recht. Das ist der perfekte Name. Ich werde Mollie sagen, sie soll das in seine Akte schreiben.“

Alex hatte verschlafen. Dann hatte er sich in der Eile auch noch beim Rasieren geschnitten. Jetzt stand er vor dem Regal mit Tiernahrung im Supermarkt von Paradise. Er war total verwirrt. War Wachstumsfutter das Gleiche wie Kätzchenfutter? Oder sollte er Nahrung für Wohnungskatzen nehmen? Oder sensitiv? Was bedeutete das überhaupt?

Schließlich entschied er sich für eine Tüte mit der Aufschrift Wachstumsfutter. Hauptsächlich, weil das Bild von einem Kätzchen drauf war.

Zum Glück war die Schlange an der Kasse kurz, und er saß nur ein paar Minuten später wieder im Auto.

Als sie in der Praxis waren, ging Rex schnurstracks auf den Behälter mit den Leckerlis in der Rezeption zu und setzte sich adrett davor.

„Hallo, mein Schöner!“ Die hübsche Brünette hinter dem Tresen lächelte. Dann wandte sie sich an Alex. „Sie sind bestimmt der Mann, der heute früh das Kätzchen gerettet hat?“

„Schuldig im Sinne der Anklage. Aber eigentlich hat Rex ihn gefunden. Er verdient das ganze Lob.“

„Die Tochter von Dr. Marshall ist ganz verliebt in ihn.“ Mollie lachte. „Ich sag Bescheid, dass Sie da sind.“

Ein paar Minuten später wurde Alex ins Untersuchungszimmer gerufen. Er war überrascht, als Jillian, die Miteigentümerin des Sandpiper Inn, dort im Arztkittel auf ihn wartete.

„Deputy Santiago, wie schön, Sie wiederzusehen!“ Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. Dann ging sie in die Hocke, um Rex zu streicheln. „Und ich freue mich, dich kennenzulernen, Rex. Wie ich höre, bist du ein echter Held.“

„Die ganzen Komplimente werden ihm noch zu Kopf steigen. Und ich bin Alex.“

Die Tür ging auf, und Cassie kam herein, gefolgt von ihrer Tochter. Emma hatte das Kätzchen auf dem Arm.

„Er sieht schon viel besser aus“, bemerkte Alex.

„Mehr als gut“, sagte Cassie. „Er hat einen vollen Bauch und hat heute wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit bekommen als in seinem ganzen bisherigen Leben.“

Wie als Beweis fing das Kätzchen an zu schnurren.

„Das ist gut. Denn heute Nacht muss er allein klarkommen. Ich habe ihm unterwegs Futter gekauft. Und ich kann ihm ein Körbchen machen. Aus Handtüchern oder so.“

„Gut. Was für Katzenstreu hast du besorgt?“

Oh nein. „Äh, also …“

Cassie brach in schallendes Gelächter aus. „Du hast noch nie eine Katze gehabt, oder?“

Ihr Lachen war die peinliche Situation beinahe wert. Beinahe. Sie musste ja denken, dass er ein Vollidiot war.

Sie lachte immer noch, als sie ihm eine Hand auf den Arm legte. „Tut mir leid, dass ich gelacht habe. Ich hätte dir heute früh eine Liste geben sollen. Oder dir zumindest erklären sollen, was du brauchst.“

Bei dieser zufälligen Berührung durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Er wich zurück und räusperte sich. „Du hast schon mehr als genug getan.“ Er rieb sich den Kiefer. „Ihr habt so was wohl nicht da? Ich muss bald auf Patrouille und, na ja …“

„Warum nehmen wir Frechdachs nicht mit nach Hause, Mommy?“

Alex schaute von dem Kind zu seiner Mutter. „Ich glaube nicht …“

„Bitte, Mommy!? Du hast doch gesagt, dass wir ein Haustier haben können. Und der Kleine braucht ein Zuhause. Und er hat mich so lieb. Ich weiß, dass er mich vermissen würde. Und“, sagte sie und deutete triumphierend auf Alex, „der weiß nicht, wie man sich um eine Katze kümmert. Er hat ja nicht mal ein Katzenklo.“

Er wäre jetzt gerne beleidigt gewesen, aber das Mädchen hatte ja recht. Allerdings wollte er Cassie nicht in die Lage bringen, noch mehr tun zu müssen.

„Ich bin sicher, dass ich mir für heute Nacht etwas ausdenken kann. Und morgen hole ich mir ein Buch aus der Bücherei. Katzenpflege kann ja nicht so schwer sein, oder?“

Cassie nickte langsam. „Ich bin mir sicher, das würdest du schaffen, aber Emma hat recht. Ich habe ihr wirklich ein Haustier versprochen.“ Und weil sie ihrer Tochter schon keinen Daddy geben konnte, könnte sie ihr wenigstens eine Katze schenken. Das war logisch – nur, dass es eben nicht logisch war.

„Echt, Mommy? Ganz echt?“

„Ganz, ganz echt. Aber du musst dich um ihn kümmern. Er braucht Futter, und sein Katzenklo muss sauber gemacht werden. Es geht nicht nur um Spielen und Schmusen.“ Ihr Vortrag ging ins Leere. Ihr kleines Mädchen flüsterte dem Kätzchen bereits ein Geheimnis ins Ohr. Zweifellos planten sie schon Abenteuer.

„Das war nicht nötig.“

Alex wirkte, als wäre ihm bei dieser Planänderung unbehaglich zumute. Der arme Kerl war wahrscheinlich nicht daran gewöhnt, von einer Vierjährigen gehätschelt zu werden. Da kam ihr ein Gedanke. „Du wolltest ihn doch nicht selbst behalten, oder?“

Er grinste. Das schiefe Lächeln ließ ihn jungenhaft und schurkenhaft gleichzeitig aussehen. Eine heftige Kombination. Ihr Puls beschleunigte sich. „Nein. Ich habe einen neuen Job und Rex. Da bin ich nicht auf der Suche nach noch mehr Verantwortung.“

Ihr Verlangen kühlte sich so schnell ab, als hätte er einen Eimer Eiswasser über ihrem Kopf ausgegossen. Sich vor Verantwortung zu drücken, fand sie absolut nicht attraktiv. „Klar. Also, es ist gut, dass du deine Grenzen kennst. Zu viele Leute berücksichtigen das nicht, bis das Kind oder das Kätzchen in den Brunnen gefallen ist.“

„Ich will einfach nur, dass es dem kleinen Kerl gut geht.“ Er hielt inne. „Musst du das noch mit deinem Mann abklären, bevor du ein neues Haustier heimbringst? Ich will nicht der Anlass für Schwierigkeiten sein.“

Sie spielte mit dem Stethoskop um ihren Hals. „Nein, das ist nicht nötig.“

„Meine Mommy und ich sind allein“, ließ sich Emma vernehmen. „Wir sind ein Team.“

Cassie war an mitleidige Blicke gewöhnt, wenn Leute herausfanden, dass sie eine alleinerziehende Mutter war. In den Augen von Alex stand allerdings nur Bewunderung.

Er wandte sich wieder Emma zu und ging in die Hocke, damit er ihr in die Augen sehen konnte. „Also, dann, gibst du mir dein Wort, dass du dich gut um ihn kümmern wirst? Dass du alles machst, was deine Mama sagt?“

Mit großen Augen nickte sie feierlich. Dann, ohne Vorwarnung, überfiel sie ihn mit einer Umarmung. „Danke, dass du Frechdachs gerettet hast. Und danke, dass du ihn mir geschenkt hast! Er ist das tollste Geschenk, das ich je bekommen habe.“

Niemand konnte Emma widerstehen. Nicht mal ein abgebrühter Polizist wie Alex. Er erwiderte die Umarmung des kleinen Mädchens. Als sie ihn losließ, richtete er sich auf und rief Rex an seine Seite. „Rex hat dein Kätzchen gefunden.“

Der massige Hund schüchterte sie ein. Also fragte Emma leise: „Mag er kleine Mädchen?“

„Natürlich. Das sind seine Lieblingsmenschen.“

Mehr Ermutigung war nicht nötig. Emma schlang die Arme um den Hals des riesigen Hundes und schmiegte das Gesicht in sein dichtes Fell. Cassie machte einen Schritt vorwärts. Ihr kamen Bilder von Polizeihunden und Schutzanzügen beim Kampftraining in den Sinn.

Alex hielt sie mit einer Berührung auf. „Alles in Ordnung.“

Er hatte recht. Rex ließ die Zunge aus dem Maul hängen und hechelte wie jeder glückliche Hund auf der Welt.

„Tut mir leid. Normalerweise würde ich mir keine Sorgen machen, aber ich habe nicht viel Erfahrung mit Polizeihunden …“

„Du musst dich nicht rechtfertigen. Ehrlich, ich würde auch nicht empfehlen, dass sie das mit jedem K-9-Hund probiert. Aber Rex mag Kinder. Ich habe sogar schon Vorführungen an Schulen mit ihm gemacht.“

Während sie den Hund beobachtete, hörte Cassie auf ihren Instinkt. Alex musste recht haben. Rex schien sich mit Emma so wohlzufühlen wie jeder Familienhund.

„Du gehst mit Rex zur Schule?“ Emma hob den Kopf. Den Hund hielt sie weiter mit beiden Armen fest.

„Manchmal.“ Er zwinkerte ihr zu und flüsterte dann bedeutsam: „Ich glaube, er ist gerne der Star.“

Oh, Himmel. Die Kombination aus Augenzwinkern und Grübchen brachte Cassie dazu, sich am Untersuchungstisch festzuklammern. Dieser Mann war attraktiver, als es die Polizei erlaubte.

„Könntest du ihn in meinen Kindergarten mitbringen? Zum Projektunterricht?“

„Also …“

„Emma, Deputy Santiago hat viel zu tun.“

„Das stimmt.“

Emma sah enttäuscht aus.

„Aber Lehrvorführungen sind wichtig.“

Er war sexy, er war selbstbewusst, und er konnte gut mit Hunden und Kindern umgehen. Wenn sie nicht grundsätzlich etwas gegen das Sheriffdepartment von Palmetto hätte, wäre er der perfekte Mann.

Sie rang sich ein Lächeln ab. „Ich weiß, dass die Kinder sich riesig freuen würden. Ich werde die Erzieherin bitten, sich mit dir in Verbindung zu setzen, wenn dir das recht ist.“

„Klar, kein Problem.“ Er tätschelte Emmas rotblonde Locken. Dann reichte er Cassie die Hand. „Danke, dass du das Kätzchen bei dir aufnimmst. Sag mir Bescheid, falls es doch nicht klappt. Dann finde ich eine andere Lösung.“

Sein Griff war fest, aber sanft. Abrupt ließ sie ihn los und steckte ihre kribbelnde Hand in die Tasche. „Wir kommen schon klar, Deputy. Danke.“

Ein paar Tage später stand Alex vor den Doppeltüren der All-Saints-Grundschule und fühlte sich bei diesem Anblick, als ob er wieder acht Jahre alt war.

Rex winselte. Manchmal war es nicht so toll, einen Hund zu haben, der so ein feines Gespür für seine Gefühle hatte.

„Alles okay, mein Junge. Wir sind eingeladen. Du zeigst ein paar Tricks, und dann gehen wir nach Hause.“ Er hatte den Besuch auf seinen freien Tag gelegt. Vielleicht würde er später noch bei seiner Mom zum Abendessen vorbeischauen.

„Also los.“ Er straffte die Schultern und öffnete die Tür.

Die Krallen von Rex klickten auf dem Linoleumfußboden, als Alex auf die Tür mit dem Schild Schulverwaltung zuging. Eine ältere Frau saß an einem mächtigen Schreibtisch aus Eichenholz. Als sie Alex bemerkte, stand sie auf. „Deputy Santiago, ich bin Eleanor Trask, die Konrektorin. Ich möchte mich bei Ihnen für Ihr Kommen bedanken. Die Kinder freuen sich schon riesig.“

„Es ist mir ein Vergnügen.“

Sie ging an ihm vorbei zur Tür hinaus und bat ihn mit einer Geste, ihr zu folgen. Vor einer Tür am Ende des Korridors blieben sie stehen. „Da sind wir. Wir haben beschlossen, die anderen beiden Kindergartengruppen einzubeziehen. Sie haben also ein großes Publikum.“

Er schluckte. Von der Tür aus konnte er ungefähr dreißig kleine Kinder sehen, die in Reihen auf einem bunten Teppich saßen.

„Hi, Rex!“ Die bekannte Stimme übertönte das Geflüster der anderen. Rex bellte, und alle Kinder kicherten. Emma saß vorne, genau in der Mitte. Sie strahlte vor Freude. Er erwiderte ihr Lächeln und spürte, wie er nur so dahinschmolz.

Die nächste halbe Stunde erzählte Alex den Kindern ein bisschen über Polizeihunde, bevor er ihnen ein paar Tricks zeigte. Rex vollführte verschiedene Gehorsamsübungen. Dann musste er seine Nase einsetzen, um einen versteckten Gegenstand zu finden. Die Kinder waren begeistert von den Kunststücken des Hundes.

Bevor er wieder ging, verteilte Alex noch Sheriffaufkleber. Er wollte gerade zur Tür hinaus, als Emma ihn aufhielt.

„Deputy Alex?“

„Ja?“

„Hast du schon einen Valentinsschatz?“

Wie in aller Welt kam sie auf diese Frage? „Äh, nein. Abgesehen von Rex.“

Sie rollte die Augen. „Ein Hund kann kein Valentinsschatz sein. Das muss ein Mensch sein.“

„Oh, tut mir leid. Ich schätze, dann habe ich keinen.“

„Hättest du gerne einen?“

Bekam er jetzt einen Heiratsantrag von einer Vierjährigen? „Äh, sicher.“

„Perfekt. Dann sag ich ihr, dass du Ja gesagt hast.“ Sie strahlte, winkte ihm zu und rannte zurück zu ihren Freunden.

Hatte er gerade irgendetwas zugestimmt? Und wenn ja, was?

Cassie schaffte es, einen Parkplatz zu ergattern. Vor einer Stunde hatte die Schulsekretärin angerufen, dass Emma mal wieder ihr Pausenbrot vergessen hatte. Sie knallte die Autotür zu und eilte zum Haupteingang. Gerade, als sie nach dem Türgriff fasste, ging die Tür auf. Sie verlor das Gleichgewicht und stolp...

Autor

Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
Patricia ist...
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Michelle Major
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.</p>
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