Bianca Extra Band 135

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DU BIST DER SCHLÜSSEL ZUM GLÜCK von ELIZABETH BEVARLY

Fast ein Jahr ist es her, dass die aparte Rory bei einem Autounfall ihr Gedächtnis verlor. Jetzt geschieht etwas Seltsames: Als der attraktive Chefkoch Felix Suarez sie sanft küsst, kehrt eine erste Erinnerung zurück! Je näher sie sich kommen, desto mehr weiß Rory wieder…

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  • Erscheinungstag 04.05.2024
  • Bandnummer 135
  • ISBN / Artikelnummer 0802240135
  • Seitenanzahl 432

Leseprobe

Elizabeth Bevarly, Melissa Senate, Michelle Lindo-Rice, Makenna Lee

BIANCA EXTRA BAND 135

PROLOG

Der fünfzehnjährige Felix Suarez liebte den Geruch von Sofrito. Ob morgens, mittags oder abends – das spielte für ihn keine Rolle. Das Sofrito seiner Großmutter war das beste der Welt, und er hätte es jeden Tag essen können, zu jeder Zeit.

Seine Tita führte das beste kubanische Restaurant im gesamten Süden von Indiana. Nun, vielleicht war es auch das einzige kubanische Restaurant im Süden von Indiana. Aber ihre Kochkünste waren mit Abstand die besten.

Der Geruch nach Sofrito gehörte einfach zu Felix’ Leben dazu, so wie das Atmen selbst. Dafür wurden Zwiebeln und Knoblauch in Olivenöl gedünstet oder angebraten. Diese Mischung diente in Mittel- und Südamerika als Basis für Saucen, Eintöpfe und viele andere Gerichte. Meist wurden noch verschiedene Gemüse in kleine Würfelchen geschnitten und mitgebraten, zum Beispiel Karotten oder Sellerie.

Auch in Europa kannte man die Mischung als Soffritto, überwiegend in Spanien und Italien.

In der kleinen Wohnung, in der Felix und seine Großmutter lebten, direkt über dem Restaurant, roch es fast immer nach Sofrito. Nahrung der Götter wurde es auch genannt, und für Felix war sonnenklar, weshalb.

„Ach du liebe Zeit, was riecht hier so gut?“

Max Travers reckte die Nase in die Luft und erhob sich von seinem Schlafplatz auf dem Wohnzimmerfußboden.

„Das ist Señora Suarez‘ Sofrito“, erwiderte Chance Foley, der sich nun ebenfalls von seinem Schlafplatz erhob. Die beiden waren Felix’ beste Freunde und hatten bei ihm übernachtet, nachdem die drei gestern Abend den Galaxy Ball gefeiert hatten.

„Ich sag’s ja nicht gerne, aber das riecht fast besser als das Doro wat meiner Mutter“, sinnierte Max.

„Wir könnten einen Kochwettbewerb veranstalten und die beiden gegeneinander antreten lassen“, überlegte Felix. „Kuba gegen Äthiopien. Wir werden ein Vermögen machen. Und dann können wir endlich raus aus dieser langweiligen Stadt.“

„Na, Hauptsache meine Mutter muss nicht antreten“, bemerkte Chance trocken. „Bei uns gibt es heute Hackbraten. Toll.“

„Hey, der Hackbraten deiner Mom ist doch spitze“, versicherte Max seinem Freund. Die drei kicherten einvernehmlich.

Gestern Abend hatte es eine große Feier gegeben, die Abschlussfeier zu Ehren des Kometen Bob, der alle fünfzehn Jahre an der Erde vorbeizog. Hier kam er dabei der Erde am nächsten – in der kleinen Stadt Endicott.

Alle fünfzehn Jahre verwandelte sich Endicott dank Bob in den ersten Septemberwochen in eine Art Hochburg für Kometenfans. Das sonst so verschlafene Städtchen wurde von unzähligen Touristen belagert, es gab Partys und Bälle und eine ungewohnte Betriebsamkeit in den für gewöhnlich ruhigen Straßen.

Warum der Komet ausgerechnet hier der Erde am nächsten kam, wusste eigentlich niemand so genau. Aber für die Bewohner der Stadt spielte das auch längst keine Rolle mehr. Wichtiger waren die Vorbereitungen auf die Festlichkeiten, die neben den Touristen auch eine Menge Geld in die Kassen spülten.

„Tita benutzt Sofrito in fast jedem Rezept“, erklärte Felix. „Auch wenn ich finde, dass sie ein bisschen weniger gelbe Zwiebeln und ein bisschen mehr rote Paprika nehmen sollte.“

Nicht, dass sie seiner Meinung nach wirklich etwas hätte ändern sollen. Er liebte ihre Art zu kochen, und sie hatte ihm alles beigebracht, was es darüber zu wissen gab. Eines Tages wollte er sein eigenes Restaurant eröffnen.

Aber an einem aufregenderen Ort als Endicott. Und dann würde er nach Herzenslust an neuen Rezepten experimentieren. Aber bis dahin waren Titas Rezepte heilig, und die Gäste des La Mariposa konnten sich darauf verlassen.

Wenn Endicott bloß nicht so langweilig gewesen wäre.

Im Augenblick summte das Städtchen zwar vor Geschäftigkeit. Doch Felix wusste genau, wie es nächste Woche wieder hier aussehen würde, und ihm graute davor.

Nie geschah hier etwas Spannendes.

Deswegen hatte Felix eine ganz spezielle Bitte an den Kometen gerichtet.

Der Legende nach erfüllte der Komet nämlich bestimmten Personen zu bestimmten Zeiten einen Wunsch.

Jedes Kind in Endicott wusste das. Wer in einem Jahr geboren worden war, in dem der Komet vorbeiflog, der durfte sich in einem solchen Jahr auch etwas wünschen, also fünfzehn Jahre später. Sobald der Komet danach das dritte Mal die Erde streifte, würde der Wunsch in Erfüllung gehen.

Im Laufe der Jahrhunderte hatten sich allerlei Legenden um den Kometen Bob gebildet. Dass er die kosmischen Strahlen veränderte, dass er Leute dazu brachte, Dinge zu tun oder zu sagen, die sie unter normalen Umständen nicht getan beziehungsweise gesagt hätten.

Dass sich Menschen ineinander verliebten, die sich sonst nicht einmal angesehen hätten, oder dass jahrealte Familienfehden beigelegt wurden.

Aber die Idee mit den Wünschen gefiel Felix am besten.

Sowohl er als auch seine beiden Freunde waren im Jahr des Kometen geboren. Demnach hatten sich alle drei in der vergangenen Nacht – in der Bob der Welt am nächsten kam – etwas gewünscht.

Chance hatte sich eine Million Dollar gewünscht. Max hatte sich gewünscht, dass er endlich von seinem Schwarm bemerkt wurde, der hübschen Marcy Hanlon, die bisher nichts weiter in ihm sah als den Jungen, der für ihre Familie den Rasen mähte.

Blah blah blah.

Felix’ Wunsch war dagegen doch vielversprechender. Wenn er in Erfüllung ging, könnte er allen dreien von Nutzen sein. Etwas Aufregendes sollte passieren. Immerhin war ihre kleine Stadt lange genug verschlafen und langweilig gewesen.

Unglücklicherweise mussten sie nun weitere fünfzehn Jahre warten, bis der Wunsch in Erfüllung ging.

Aber bis dahin wollte Felix eigentlich schon weit weg sein. Vielleicht in Indianapolis. Oder Cincinnati. Seinetwegen auch Louisville, das sich auf der anderen Seite des Flusses befand. Irgendwo, wo nicht pünktlich um sieben die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Wo die einzig aufregende Frage war, was es wohl in der Schulcafeteria zum Mittagessen gab.

Etwas Spannendes.

War das etwa zu viel verlangt? Felix schloss die Augen. Bitte, Bob, bat er im Stillen noch einmal. Lass etwas Spannendes passieren. Ganz egal, was. Es kann eine Person sein, oder ein Ding, oder ein Ereignis. Was immer du willst. Es soll nur spannend sein.

1. KAPITEL

15 Jahre später

Felix Suarez war gerade im Begriff, die Tür zu seinem Restaurant aufzuschließen, als er den Kerl in der gegenüberliegenden Gasse bemerkte. Der Typ im Jogginganzug. Schon wieder.

Obwohl es im südlichen Indiana im September noch ziemlich warm war, trug der Unbekannte immer einen langen Trainingsanzug. Normalerweise einen schwarzen mit goldfarbenen Streifen, aber manchmal auch einen auffälligen weinroten Anzug mit bordeuxfarben abgesetzten Linien.

Seit über einer Woche lungerte er nun bereits hier herum, immer irgendwo in der Nähe der Water Street, die sich im historischen Stadtkern von Endicott befand. Hier gab es neben Felix‘ Restaurant auch Dutzende von kleinen Geschäften.

Zunächst war Felix davon ausgegangen, dass es sich bei dem Typen im Trainingsanzug um einen Touristen handelte. Das Festival zu Ehren des Kometen Bob hatte zwar noch nicht offiziell begonnen, aber manche Besucher reisten schon sehr früh an.

Felix erinnerte sich daran, wie schon vor fünfzehn Jahren die hartgesottenen Kometenfans hier eingefallen waren – bewaffnet mit kostspieligen Teleskopen, Ferngläsern und Kameras.

Aber dieser Kerl da …

Ay, dios mío. Dieser Kerl war anders. Er wirkte auf Felix nicht wie der typische Tourist. Er sah nicht aus, als sei er in feierlicher Stimmung. Er sah eigentlich überhaupt nicht glücklich aus. Und er schien auch gar kein Interesse zu haben an den Läden, die er den ganzen Tag über so gewissenhaft im Auge behielt. So konzentriert. Jemand, der so fokussiert war, konnte nichts Gutes im Schilde führen.

Felix hatte sich bereits gefragt, ob der Kerl womöglich sein Restaurant inspizierte. Es war zwar nicht so, dass Felix mit dem La Mariposa Millionen verdiente, aber es lief sehr gut für ihn. Seit dem Tod seiner Großmutter vor zwei Jahren hatte Felix das Level noch einmal angehoben, und das Restaurant war jeden Abend voll besetzt.

Wenn es der Kerl also darauf abgesehen hatte, eines der lokalen Geschäfte auszurauben, wäre das Restaurant ein lohnenswertes Ziel gewesen.

Und schließlich konnte man nie vorsichtig genug sein, selbst in einer Stadt wie Endicott.

Doch irgendwann war Felix aufgefallen, dass der Fremde gar nicht sein Restaurant im Blick hatte – sondern den Blumenladen gleich nebenan. Der Laden hieß Mauerblümchen und war erst vor einem knappen Monat von einer jungen Frau übernommen worden.

Allerdings schien sie damit gerade so über die Runden zu kommen. Zumindest war das Felix‘ Eindruck. Warum also beobachtete dieser mögliche Dieb einen schlecht laufenden Blumenladen?

Weil er es womöglich gar nicht auf den Laden abgesehen hatte – sondern auf seine Besitzerin. Und die war wirklich einen zweiten Blick wert.

Sie war fast so groß wie Felix und gleichzeitig so umwerfend heiß wie außergewöhnlich cool. Ihr glänzendes, tintenschwarzes Haar war sehr kurz geschoren, und zwischen diesem Haar und den pinkfarben lackierten Fußnägeln war jeder Zentimeter an ihr ziemlich scharf. Dass Rory Vincent einen Stalker haben könnte, lag für Felix nahe, denn sie war der interessanteste Mensch, den Endicott je gesehen hatte.

Seit sie vor wenigen Monaten hierhergezogen war, war sie in der kleinen Stadt das Hauptgesprächsthema. Griechische Gelehrte, Scharfschützin, angehende Olympionikin, ehemalige Luftakrobatin beim Cirque du Soleil, Bergsteigerin am Kilimandscharo …

Immer wenn es jemandem gelungen war, sie in ein Gespräch zu verwickeln, kamen neue erstaunliche Dinge über sie heraus. Und natürlich verbreiteten sich die Nachrichten in Endicott wie ein Lauffeuer, schließlich war Klatsch die Lieblingsbeschäftigung der Einwohner.

Felix bezweifelte, dass irgendjemand in Endicott auch nur eines der Dinge erreicht hatte, die Rory gelungen waren. Kaum verwunderlich also, dass sie einen Stalker hatte.

Doch da Felix den Typen im Trainingsanzug weder gestern noch am Tag zuvor gesehen hatte, war er davon ausgegangen, dass er endgültig abgereist war.

Aber da war er wieder.

Und er beobachtete definitiv Rorys Haus.

Genau wie bei Felix und seinem Restaurant befand sich Rorys Wohnung über dem Blumenladen. Der Typ hatte demnach nicht nur ihr Geschäft, sondern auch ihre Privatwohnung im Blick. Dieser Gedanke sandte einen unangenehmen Schauer über Felix‘ Rücken.

Statt die Eingangstür aufzuschließen, wandte Felix sich ab und ging zur hinteren Küchentür. Das Restaurant würde ohnehin erst in ein paar Stunden öffnen. Doch in der Küche herrschte bereits rege Betriebsamkeit. Sein Team war dabei, den samstäglichen Brunch vorzubereiten.

Seine Chef de cuisine, die Küchenchefin Tinima, war eine fähige, resolute Frau mit einem dicken, schwarz-silbernen Zopf, den sie bei der Arbeit stets zu einem Kranz um den Hinterkopf drehte.

„Morgen, Chef“, grüßte sie ihn.

„Hey, Tinima. Was macht der Wildbrokkoli für das harina?“

„Perfekt“, antwortete sie. Dann blickte sie von ihrer Arbeit auf, und in ihren dunklen Augen glimmte es schelmisch. „Warum? Möchtest du später Rory etwas davon rüberbringen?“

Felix verkniff sich das ärgerliche Stöhnen, das ihm auf der Brust lag. Seit Rory Vincent nebenan ihren Laden eröffnet hatte, waren von Tinima immer wieder Kommentare dieser Art gekommen.

„Nein“, sagte er stattdessen sachlich. „Aber ich erinnere mich, wie wir letzte Woche eine Menge davon wegwerfen mussten. Das war no bueno.“

„Ach, sicher“, erwiderte Tinima mit diesem Lächeln, das Felix immer an eine allwissende Göttin erinnerte. Und in gewisser Weise war Tinima das auch. „Ich erinnere mich.“

Küchenchefinnen. Dios mío.

Felix schlenderte weiter durch seine Küche zu dem Konditormeister Arjun, der gerade dabei war, die pastelitos de guayaba fertig zu machen, bevor sie später in den Ofen wanderten. Das feine Gebäck mit Guaven war zum Renner geworden, und die Gäste, die samstags zum Brunch kamen, äußerten sich immer begeistert dazu.

„Sieht gut aus“, stellte Felix mit Blick auf das fast fertige Gebäck fest.

Arjun nickte. „Ich dachte, die Füllung könnte noch ein bisschen queso fresco vertragen. Und ein wenig turbinado.“ Er reichte Felix einen Löffel.

„Könnte funktionieren“, bestätigte Felix, nachdem er die neue Creme probiert hatte. „Weißt du was, wir machen es so: Für jede gewöhnliche Portion pastelitos, die heute bestellt wird, geben wir eines von dem neuen Rezept dazu. Gratis. Wenn es den Leuten schmeckt, kommt es auf die Speisekarte. Einverstanden? Und wir nennen es Pastelitos Arjunito.“

Arjun grinste. „Klar. Hey, du solltest nachher Rory ein paar pastelitos vorbeibringen. Sie steht auf Süßes.“

Du lieber Himmel, Arjun auch noch? Felix schüttelte den Kopf.

Konditormeister. Dios mío.

„Hast du Chloe heute schon gesehen?“, fragte er stattdessen.

„Hier drüben!“

Seine Oberkellnerin war gerade dabei, ein schweres Tablett voll frischer Teller und Tassen aus der dampfenden Spülmaschine zu holen. Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Kaum verwunderlich, denn in der Küche herrschten jetzt schon über dreißig Grad.

Entgegen ihrem Protest nahm Felix ihr die übrigen Teller ab und begleitete sie in den Speiseraum. „Hast du heute schon die Blumen aus dem Laden geholt?“, fragte er.

„Das wollte ich gleich als Nächstes tun.“

„Brauchst du nicht. Ich hole die Blumen heute selbst.“

Chloe lächelte in etwa dasselbe Lächeln, das auch Tinima und Arjun gezeigt hatten. Ihre grauen Augen leuchteten auf. Ganz offensichtlich dachten alle im La Mariposa, dass er etwas von Rory wollte.

„Du brauchst gar nicht so zu schauen“, sagte er grimmig.

„Wie schaue ich denn?“, fragte Chloe unschuldig. „Nur weil der Chef persönlich die Blumen holen will? Immerhin weiß jeder, wie wichtig frische Dekoration ist. Nicht umsonst hat das Restaurant schon drei Auszeichnungen bekommen. Natürlich nur wegen dem guten Essen. Nicht wegen der Blumen“, fügte Chloe hinzu und grinste frech.

Kellnerinnen. Dios mío.

Felix machte auf dem Absatz kehrt, ging zur Hintertür hinaus und befand sich in der Gasse, die zur rückwärtigen Seite der Wa-
terstreet-Läden hinausging.

Rory begann sehr viel früher mit der Arbeit, dafür endete ihr Arbeitstag auch einige Stunden vor Felix’. Die Tür zu ihrem Lagerraum war halb geöffnet, und im Inneren konnte Felix ihren Mitarbeiter Ezra sehen.

Ezra war das genaue Gegenteil seiner Chefin. Seine Haut war beinahe so schwarz wie Obsidian, und mit seiner kleinen, gedrungenen Statur hatte er etwas von einem Boxkämpfer. Ganz anders als Rorys heller Porzellanteint und ihre hochgewachsene schlanke Gestalt.

Allerdings war auch seine Persönlichkeit das Gegenteil seiner Chefin – herzlich und warmherzig, während Rory stets distanziert und kühl erschien.

Aber Felix mochte kühle, unnahbare Frauen. Sie stellten eine größere Herausforderung dar. Und Felix hatte bisher noch jede Herausforderung angenommen.

Er klopfte an die halboffene Tür.

„Hey, wie geht’s, Felix?“, fragte Ezra und winkte ihn herein.

Genau wie in der Restaurantküche herrschte in Rorys Lagerraum ein intensiver Geruch. Allerdings roch es hier nicht nach Gewürzen und Zwiebeln, sondern nach frischen Blumen und duftigen Pflanzen. Manche davon rochen leicht und süß, andere durchdringend und herzhaft.

Im Gegensatz zu Felix‘ blitzblanker, auf Hochglanz polierter Stahlküche explodierte dieser Raum in einem wahren Farbenrausch, mit roten und rosafarbenen Rosen, violetten und gelben Tulpen, Blattgrün und Sattblau.

Nicht zum ersten Mal kam Felix der Gedanke, dass sie beide – er und Rory – von dem lebten, was aus der Erde wuchs – nur auf völlig unterschiedliche Weise.

„Ist Rory da?“, wollte er wissen.

Jetzt bemerkte Ezra auch Felix ernsten Gesichtsausdruck. „Ja, sie ist vorne im Laden. Ist alles in Ordnung?“

„Der Typ im Trainingsanzug ist wieder da“, erklärte Felix.

Natürlich wusste Ezra, wen er meinte. Der Kerl war unter den Ladenbesitzern in der vergangenen Woche das Gesprächsthema Nummer eins gewesen. Veronika, die Inhaberin des Vintageladens am Ende der Straße, hatte seinetwegen sogar einmal die Polizei gerufen.

Die Beamten hatten sich mit dem Fremden unterhalten, doch es war nichts dabei herausgekommen. Angeblich war er wegen dem Kometen in der Stadt und mochte die Geschäfte in der Waterstreet. Das war nichts Unrechtes.

Seltsam nur, dass er nie eines der Geschäfte betreten hatte, die ihm angeblich so gut gefielen, dachte Felix.

Ezra wandte sich wieder einem Blumengesteck zu. „Das wird ihr nicht gefallen. Aber überraschen wird es sie wohl auch nicht.“

Was Felix allerdings überraschte, war die Art, wie locker Ezra damit umging. Er tat ja beinahe so, als ob Rory den Kerl kennen würde.

„Darf ich reingehen?“, fragte Felix.

„Klar. Es ist ohnehin noch nicht viel los“, bekräftigte Ezra.

Felix betrat den Blumenladen.

Noch waren nicht alle Lichter eingeschaltet, aber er bemerkte Rory sofort, wie sie neben dem Tresen auf allen vieren auf dem Boden kniete. Sie hatte die Hand ausgestreckt und versuchte offenbar, an etwas in dem Stauraum unter der Theke heranzukommen, was sich außerhalb ihrer Reichweite befand.

Wie jeden Tag trug sie schlichte Jeans und ein T-Shirt. Heute war ihr Shirt von einer warmen, dunkelbraunen Farbe – so wie das Innere einer Sonnenblume. Es hatte genau die gleiche Farbe wie ihre Augen, bemerkte Felix.

Ihre Augen waren so dunkel und intensiv. Zusammen mit dem glänzend schwarzen, kurzen Haar und ihrer Halt dich von mir fern – Haltung übte sie auf Felix eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.

„Hey, Rory“, rief er aus. Er hatte absichtlich die Stimme gehoben, um eine Reaktion von ihr zu erhalten. Irgendeine Reaktion. Denn in seiner Gegenwart war sie sogar noch distanzierter als bei anderen Leuten.

Es funktionierte. Sie fuhr auf und stieß sich den Kopf an der offenstehenden Schranktür.

„Verdammt, Felix“, murmelte sie und erhob sich auf die Knie. Dios mío, selbst auf Knien konnte man ihre Größe erahnen. Sie rieb sich den Hinterkopf, obwohl der Stoß nicht allzu schlimm gewesen sein konnte. „Was willst du?“

Was für eine Fangfrage.

Felix wollte viele Dinge. Zum Beispiel Weltfrieden. Eine gesunde Work-Life-Balance. Lohngleichheit. Rory im Hausmädchenkostüm sehen. Und noch viel mehr.

Stattdessen sagte er: „Der Typ im Trainingsanzug ist wieder da.“

Ihr Blick flog unwillkürlich zur Ladentür, und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich von Verärgerung zu … Besorgnis? Angst? Bei Rory konnte man nie genau wissen, was in ihr vorging.

Ihr entfuhr ein kleines Geräusch von … Besorgnis? Angst? Ärger?

Dann erhob sie sich und ging zur Tür. Einen Moment lang sah sie zur Gasse hinaus. „Okay. Danke. Mach’s gut“, sagte sie.

Na schön, das war ausnahmsweise einmal sehr eindeutig.

Sie wollte, dass Felix verschwand.

Aber noch war er nicht bereit dazu.

„Hey, warum kommst du nicht gleich mal rüber? Arjun macht heute pastelitos, die solltest du wirklich probieren.“

Überhaupt sollte sie das La Mariposa mal probieren, dachte Felix. Vor allem den Chefkoch. Aber bisher hatte sie sich geflissentlich von beidem ferngehalten, obwohl sie Nachbarn waren.

„Danke, aber wir sind heute Morgen sehr beschäftigt.“

„Da hat Ezra aber etwas anderes gesagt.“

Der Blick, den sie ihm jetzt zuwarf, war ebenfalls eindeutig. Eindeutig tödlich.

„Na schön“, lenkte Felix ein, „dann bringe ich dir später welche vorbei.“

„Danke“, antwortete sie widerwillig. Schließlich war sie nicht dumm. Nur ein Volltrottel würde Whisky pur pastelitos ablehnen.

Dann bückte sie sich erneut und langte in den Schrank, so lange, bis sie ein frustriertes kleines Geräusch ausstieß. Sie sah über die Schulter und starrte Felix an, der lässig im Türrahmen lehnte.

„Was ist noch?“, fragte sie ärgerlich.

„Brauchst du Hilfe?“

Ihr war anzusehen, dass sie am liebsten abgelehnt hätte. Aber da sie offensichtlich alleine nicht weiterkam, lenkte sie schließlich ein. „Wenn es dir nichts ausmacht.“

Felix lächelte. „Natürlich nicht!“ Er trat zu ihr. „Ich hab’s dir schon gesagt, als du hier eingezogen bist, Rory. Wenn du etwas brauchst, kannst du dich gerne an mich wenden. Jederzeit.“

In jenem Moment hatte er mehr körperliche Bedürfnisse im Sinn gehabt statt geschäftliche, aber hey, er nahm es, wie es kam.

Rory erhob sich und wich demonstrativ drei große Schritte vor ihm zurück.

Felix nahm ihre Position auf dem Boden ein. „Wonach hast du gesucht?“

„An der Rückwand vom Schrank stehen drei kleine Tontöpfe. Ich brauche alle drei.“ Sie zögerte. „Bitte“, fügte sie schließlich hinzu, allerdings klang es ziemlich halbherzig.

Felix bückte sich und holte mühelos die drei Töpfe hervor. Dann sah er sie von unten an. „Brauchst du sonst noch etwas?“ Zum Beispiel eine versteckte Andeutung? Ein Zwinkern? Eine sanfte Berührung? Oder ein stundenlanges, heftiges Liebesspiel?

Felix jedenfalls war zu allem bereit, Samstagsbrunch hin oder her.

„Nein, ich habe alles.“

Oh ja. Diese Frau hatte definitiv alles, was man sich nur wünschen konnte. Rory Vincent war die interessanteste Frau, die je nach Endicott gekommen war.

Nicht zum ersten Mal wurde Felix an seinen Wunsch erinnert, den er vor fünfzehn Jahren an den Kometen Bob gerichtet hatte. Etwas Interessantes sollte passieren.

Nun, in gewisser Weise schien sich der Wunsch wirklich zu erfüllen.

Erst Rorys Ankunft, dann die ihres Stalkers.

Und genauso interessant war ihre Reaktion auf den Fremden. Sie schien weder überrascht noch verängstigt zu sein. Vielleicht kannte sie ihn tatsächlich. Aber was zur Hölle wollte der Kerl im Trainingsanzug von Rory?

Es würde auf jeden Fall interessant sein, das herauszubekommen.

Rory Vincent betrachtete Felix Suarez, wie er vor ihr auf dem Boden kniete, und versuchte verzweifelt, die Bilder zu bezwingen, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten.

Heiße Bilder. Unleugbar. Doch je mehr sie versuchte, diese erotischen Szenen zu verscheuchen, desto eindringlicher wurden sie. Sie ahnte, dass daraus heute Nacht intensive Träume werden würden.

Schließlich hatte sie solche Träume gehabt, seit sie hierhergezogen und ihm zum ersten Mal begegnet war.

Warum ging er nicht endlich? Sie hatte sich doch sehr klar ausgedrückt. Aber er kniete noch immer vor ihr auf dem Boden und sah sie an, mit diesem Blick, als ob … als ob sie ebenfalls ein pastelito wäre, das er gerne verschlingen würde.

Und zwar nicht mit einem einzigen großen Bissen. Nein, er würde sie ganz langsam verschlingen, an ihr knabbern, langsam und verheißungsvoll und gründlich, fast qualvoll intensiv …

„Nun“, sagte sie langsam, und es entstand eine Pause, in der man den Blumen beim Wachsen hätte zusehen können. „Ich nehme an, du musst jetzt zurück ins Restaurant. Es ist schon Zeit für den Brunch.“

Felix erhob sich, doch er machte keinen Schritt in Richtung Tür.

Das sollte er aber.

Schließlich war sie auch nur ein Mensch. Ein Mensch, dessen Selbstbeherrschung in Gegenwart dieses bronzefarbenen Gottes empfindlich auf die Probe gestellt wurde.

Denn so aalglatt und selbstgefällig wie Felix Suarez auch daherkam, so hübsch war seine Verpackung. Er sah tatsächlich so aus, als wäre er von den Göttern selbst gegossen und vergoldet worden. Seine glatte, sonnenverwöhnte Haut, das dunkelblonde Haar, die bernsteinfarbenen Augen – alles an ihm hatte diesen erhabenen, goldfarbenen Schimmer.

Sie versuchte sich einzureden, dass Felix Suarez genau das war – eine hübsche Verpackung. Vergoldet, mit ein bisschen Glitzer bestreut. Nichts dahinter. Er tat nur so, als ob er nett wäre, und einzigartig und großzügig … Aber da war etwas an ihm, das sie durcheinanderbrachte. Etwas, das sie nicht einmal in Worte zu fassen vermochte.

Sie schüttelte den Kopf. Du liebe Zeit, selbst seine Chefkochjacke war goldfarben. Darunter trug er eine lässig geschnittene Hose, die mit kleinen grünen und blauen Schmetterlingen bedruckt war – das Markenzeichen des La Mariposa, nach dem es benannt war.

Auf seine Jacke war der Name Felix gestickt, doch was Rory anging, hätte dort auch Adonis stehen können.

Du lieber Himmel, es war wirklich Zeit, dass er ihren Laden verließ, bevor sie hier noch von seinem reinen Anblick einen spontanen Orgasmus bekam.

Erstaunlich, dass sie sich so sehr zu jemandem hingezogen fühlte, den sie kaum kannte. Und das bisschen, was sie über ihn wusste, verleitete sie nicht unbedingt dazu, noch mehr wissen zu wollen. Er war einfach zu … glatt. Zu selbstbewusst. Viel zu sehr von sich überzeugt.

Die Art von Mann, die genau wusste, welchen Effekt sie auf Frauen hatte, und das gnadenlos ausnutzte. Rory wollte gar nicht wissen, wie viele Frauen schon in seinem Bett gelandet waren. Und sie würde sich gewiss nicht einreihen.

Auch wenn ihr Körper eine ganz andere Sprache sprach.

„Es dauert noch Stunden, bis die Gäste zum Brunch kommen“, sagte er und blieb regungslos stehen.

„Tja, mein Laden öffnet jedenfalls gleich“, antwortete sie.

Geh jetzt endlich, dachte sie. Bevor ich hier in Flammen aufgehe.

Doch er lächelte bloß. Schließlich rührte er sich. „Okay. Ich komme später vorbei und bringe dir ein paar pastelitos mit. Ich bin gespannt, was du dazu sagst.“

Ja, sicher, solange du jetzt einfach gehst.

„Toll.“ Es klang wenig überzeugend, auch wenn sie sich wirklich auf die süßen Teilchen freute. Sie mochte Süßes. Aber sie wollte ihm auf gar keinen Fall das Gefühl geben, dass sie sich auf ihn freute.

„Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte er unerwartet.

Sie sah ihn verwirrt an. „Warum?“

„Wegen dem Kerl im Trainingsanzug.“

Richtig. Der Kerl im Trainingsanzug. Felix hatte offenbar Angst, sie hätte einen Stalker. So musste es schließlich für ihn aussehen. Und Rory ging tatsächlich davon aus, dass der Kerl sie kannte. Manchmal kam er ihr selbst seltsam bekannt vor.

Aber um wen es sich handelte, das wusste nur der Himmel. Rory jedenfalls nicht. Der Kerl hätte jeder sein können. Ihr Erzfeind. Oder ihr Bruder. Vielleicht sogar ihr Ehemann.

Rory hatte keine Ahnung.

Denn an das Leben, das sie geführt hatte, bevor sie vor achteinhalb Monaten nach Endicott gekommen war, hatte sie absolut keine Erinnerung mehr.

Sie war in einem Krankenhaus in Gary, Indiana, zu sich gekommen – mit einem schweren Kopfverband und noch schlimmeren Kopfschmerzen.

Man hatte ihr gesagt, dass die Erinnerungen wahrscheinlich irgendwann zurückkehren würden, doch bisher sah es nicht danach aus. Sie konnte sich an nichts erinnern. Nicht einmal an das kleinste Detail.

Das war der Grund, warum sie sich immer etwas ausdenken musste, wenn sie in ihrer neuen Heimatstadt nach ihrer Vergangenheit gefragt wurde. Aus dem Stegreif versuchte sie, eine Geschichte zu erfinden, die so außergewöhnlich war, dass niemand mitreden konnte. Oder zumindest nicht hinterfragen konnte, ob die Geschichte wirklich stimmte.

Für die braven Bürger von Endicott war sie also bereits alles gewesen, von der Verfasserin von Horoskopen bis hin zur Surflehrerin.

Niemals würde sie ihren neuen Nachbarn verraten, dass sie das Gedächtnis verloren hatte. Denn dann würde sie nie wirklich dazugehören. Aber sie wollte dazugehören. Unbedingt. Das hier war die friedlichste, freundlichste Stadt, die sie sich vorstellen konnte.

Falls sie je irgendwo anders hingehört hatte, konnte sie sich jedenfalls sowieso nicht daran erinnern.

„Sicher, alles in Ordnung“, sagte sie zu Felix.

Beinahe wünschte sie sich, der Kerl im Trainingsanzug wäre wirklich ein Stalker. Damit hätte sie umgehen können. Oder vielmehr die Polizei.

Aber wie sollte sie erklären, dass dieser Kerl womöglich zu einem anderen Leben gehörte? Zu einem Leben, zu dem sie selbst keinen Zugang mehr hatte?

Nein. Es war besser, sich von allen fernzuhalten. Auch von Felix.

Besonders von Felix.

„Wirklich, mir geht’s gut“, versicherte sie noch einmal.

„Ganz sicher?“

„Ja, ganz sicher.“

Das war natürlich eine Lüge. Weder war alles in Ordnung, noch ging es ihr besonders gut. Aber was sollte sie sonst antworten?

Bis ihr Gedächtnis wieder zurückkehrte, konnte sie sich absolut nichts im Leben sicher sein.

Doch manchmal wünschte sie sich insgeheim, ihr Gedächtnis würde nie mehr zurückkommen. Denn etwas in ihr befürchtete, dass eine Wahrheit ans Licht kommen könnte, die nicht besonders schön war …

Ihr Blick glitt zum Schaufenster.

Dort draußen, in der gegenüberliegenden Gasse, konnte sie noch immer den Kerl im Trainingsanzug sehen. Und plötzlich hatte sie Angst, dass ihr vergangenes Leben sehr bald an ihre Tür klopfen würde.

2. KAPITEL

Als Rory an diesem Abend den Laden abschloss, war sie völlig zerschlagen.

Entgegen ihrer Vermutung, es würde ein ruhiger Samstag, hatte sich der Tag völlig chaotisch entwickelt. Sie und Ezra hatten sich buchstäblich krummgelegt, um einen Auftrag zu erfüllen, der in letzter Minute hereingekommen war.

Ausgerechnet einen Auftrag für Hochzeitsblumen.

Ein Transporter hatte auf dem Highway 1 – 65 nördlich von Columbus einen Unfall gehabt. Dem Fahrer war zum Glück nichts passiert, aber die Blumenbouquets waren nicht mehr zu retten gewesen.

Also war Rory eingesprungen. Und das, obwohl sie nicht einmal die entsprechenden Blumen auf Lager hatte. Doch ihr und Ezra war es irgendwie gelungen, eine ansprechende Dekoration zusammenzustellen. Auf Hochdruck hatten sie in den vergangenen Stunden gearbeitet und sämtliche zur Verfügung stehenden Materialien aufgebraucht.

Die Mühe hatte sich gelohnt. Die Braut, ebenso wie die Brautmutter, hatten sich höchst zufrieden gezeigt. Sie gehörten zu einer von Endicotts angesehensten Familien, und daher rechnete Rory damit, dass ihr dieser Einsatz in Zukunft mehr Kunden bescheren würde.

Als sie von der Tür zurücktrat, waren von nebenan die inzwischen vertrauten Geräusche des Restaurants zu hören. Wie üblich um diese Zeit herrschte dort Hochbetrieb. Rory vernahm das Klimpern von Geschirr, das Rasseln von Besteck und Fetzen des rauen Mambo – eines kubanischen Musikstils – den Felix gerne in seiner Küche spielte.

Dazwischen war immer wieder seine und die Stimmen seiner Angestellten zu hören. „Mehr lechon asada, zackig!“, rief jemand, dann verlangte ein anderer nach croqueta.

Das würde ein langer Abend für Felix’ Team.

Rory streckte sich und atmete tief ein. Köstliche Aromen drangen aus dem Restaurant. Sie wäre wirklich gerne einmal dort essen gegangen. Oder hätte sich etwas bestellt. Aber dann hätte sie Felix begegnen müssen, deswegen …

Deswegen wandte sie sich ab und stieg müde die schmale Metalltreppe an dem Backsteingebäude hinauf. Im ersten Stock angekommen schloss sie eine Metalltür auf und betrat einen engen Flur. Von hier aus führte eine Tür hinauf auf das Dach, eine weitere zu einem Lagerraum und eine dritte zu ihrem Apartment.

Ihre Wohnung war nicht besonders groß. Es gab lediglich ein Schlafzimmer, ein kleines Bad, ein Wohnzimmer und eine überschaubare Küche. Aber Rory störte das nicht. Diese Wohnung und dieser Laden waren das Einzige auf der Welt, das ihr gehörte.

Zumindest konnte sie sich dieser Dinge sicher sein.

Was sonst noch auf der Welt da draußen ihr gehören mochte, wusste sie nicht. Womöglich war sie die Besitzerin eines millionenschweren Anwesens. Vielleicht war sie auch obdachlos und hatte unter einer Brücke geschlafen. Dazwischen war ebenfalls alles möglich.

Selbst nach beinahe neun Monaten hatte sie nicht den leisesten Schimmer, wie sich ihr Leben vor ihrem Unfall gestaltet hatte. Wenn es überhaupt ein Unfall gewesen war.

Rory betrat ihre Wohnung, duschte und zog sofort ihren Schlafanzug an, ein loses T-Shirt und eine lange Baumwollhose, die mit kleinen Cartoon-Kätzchen bedruckt waren. Dann mixte sie sich einen Dirty Martini und holte ihren Roman über Orchideenschmuggler heraus. Doch bevor sie sich damit in ihr Bett kuschelte, hielt sie inne.

Sie legte Drink und Buch auf dem Nachttischchen ab und holte einen großen flachen Karton unter dem Bett hervor. In dieser Box befanden sich die einzigen Dinge, die ihr gehört hatten, bevor sie nach Endicott gekommen war und Apartment und Laden kaufte.

Die Dinge, die man ihr zurückgegeben hatte, als man sie vor acht Monaten aus dem Krankenhaus in Gary entließ, nachdem sie sich dort ins Leben zurückgekämpft hatte.

Offenbar hatten der Kerl im Trainingsanzug und Felix‘ Fragen ihre allerersten Erinnerungen wieder heraufbeschworen. Erinnerungen an das kahle Krankenzimmer, an einen Arzt namens Saddiq und eine Sozialarbeiterin namens Min.

Rory war aufgewacht und hatte den schlimmsten Kater ihres Lebens gehabt. So hatte es sich zumindest angefühlt, auch wenn Rory sich nicht aktiv daran erinnern konnte, wo oder wann sie jemals einen Kater gehabt hatte.

Dann hatte sie mit den Fingerspitzen den schweren Verband um ihren Kopf berührt, und ihr war schlagartig klar geworden, dass das hier etwas weit Schlimmeres war.

Man hatte ihr erklärt, dass sich über ihren Kopf eine zehn Zentimeter lange Narbe zog. Zehn Klammern waren nötig gewesen, um die Wunde zu schließen. Außerdem hatte sie ein schlimmes Hämatom und einen angeknacksten Schädel.

Und um dem Spaß die Krone aufzusetzen, einen vollkommenen Gedächtnisschwund.

Laut der Krankenschwester war sie vor sechsunddreißig Stunden mit dem Krankenwagen eingeliefert worden. Ohne Ausweispapiere, ohne irgendeinen Hinweis auf ihre Identität.

Ein paar Augenzeugen wollten gesehen haben, wie man sie aus einem fahrenden Wagen gestoßen hatte – mitten hinein in drei Mülltonnen. Dann war das Auto davongerast.

Bei dem Sturz hatte sie sich den Schädel gebrochen, und zusätzlich hatte eine zerbrochene Flasche die Haut aufgeschlitzt.

Aber das war auch schon alles. Mehr wusste Rory nicht. Sie war in der Silvesternacht eingeliefert worden, das bedeutete, dass man sie mit einem wahren Höllenritt ins neue Jahr befördert hatte.

Eine Weile starrte sie die Box nur an, dann öffnete sie den Deckel. Es waren nur wenige Dinge darin, aber die waren ziemlich vielsagend. Ein knapper Lederminirock, ein pinkfarbenes Oberteil aus Lamé – mit Metallfäden durchwirktes Seidengewebe-, eine giftgrüne Jacke aus Kunstfell, zwei zerrissene Netzstrümpfe und ein einzelner, glitzernder Plateauschuh. Keine Handtasche. Kein Portemonnaie. Keine Unterwäsche.

Mit anderen Worten: igitt.

Min, die Sozialarbeiterin, die man ihr zugewiesen hatte, konnte Rory wenigstens versichern, dass sie nicht vergewaltigt worden war. Das war zumindest ein winziger Trost. Trotzdem. Ihre Aufmachung sprach nicht gerade dafür, dass sie eine aufrechte Bürgerin gewesen war.

In dem Karton befand sich außerdem ein langer dicker Zopf. Für die Operation am Kopf hatten sie einen Teil ihres Haars abrasieren müssen, und das Ergebnis sah mehr als mickrig aus. Deswegen war Rory später zum Friseur gegangen und hatte sich das gesamte Haar so kurz wie möglich scheren lassen.

Ihr Haar war überraschend schnell nachgewachsen, und zwar tintenschwarz.

Der Zopf dagegen war blond gefärbt gewesen. Blond und mit goldenen und bernsteinfarbenen Strähnen durchsetzt.

Für die Frau, die sie heute war, war es nur schwer vorstellbar, jemand zu sein, der so viel langes, schweres gefärbtes Haar trug. Welche Art Mensch war sie bloß gewesen?

Doch das größte Rätsel hatte ihr der Schmuck aufgegeben, den sie getragen hatte.

Große protzige Ohrringe, Armbänder und eine Halskette. Für Rory hatten die Stücke so kitschig ausgesehen wie der Rest ihres geschmacklosen Outfits.

Doch es war ganz anders gekommen.

Wie sich herausstellte, war die Krankenschwester, die für Rory ihre Sachen aufbewahrt hatte, ein großer Fan von Schmuck. Sie hatte sich mit Rory gemeinsam die Anhänger angesehen und ihr geraten, die Steine schätzen zu lassen – nur, um sicherzugehen.

Das hatte Rory getan.

Und bei den Accessoires handelte es sich keineswegs um billigen Modeschmuck, um Glas oder Kristall – sondern um Juwelierwaren. Die Steine waren echt. Das vermeintlich billige Metall war pures Gold.

Ihr Schmuck war ein kleines Vermögen wert.

Genug wert, um ein neues Leben zu beginnen.

Das hatte sie schließlich getan, mit der Hilfe von Min und einigen Agenturen. Min war mit ihr eine Liste von Jobangeboten durchgegangen. Außerdem hatte sie Rory eine Liste mit kleinen Läden gezeigt, die zum Verkauf standen.

Der Blumenladen im südlichen Indiana hatte sofort Rorys Interesse geweckt. Der Besitzer wollte in Rente gehen und nach Florida ziehen.

Rory wusste nicht, wieso, aber sie war der Überzeugung, dass sie wusste, wie man mit Blumen umging. Wie man Gestecke arrangieren und sie verkaufen könnte.

Und als sie zum ersten Mal nach Endicott kam, hatte die kleine Stadt sie sofort verzaubert. Die Menschen waren so freundlich. Jeder sagte ihr Hallo, obwohl sie Rory gar nicht kannten.

Alles war so übersichtlich und heimelig, man fühlte sich direkt willkommen.

Es wurde sogar noch besser, als sie das Mauerblümchen betrat. Der Laden ließ ihr Herz höherschlagen. In dem Anblick der Blumen lag etwas Vertrautes, etwas Angenehmes. Etwas, das sie gar nicht richtig in Worte fassen konnte.

Aber sie kannte die Namen der Blumen. Und sie wusste instinktiv, dass sie aus all diesen verschiedenen Pflanzen etwas Schönes kreieren konnte. Was blieb ihr also anderes übrig, als ein Gebot auf den Laden abzugeben?

Bald stellte sich allerdings heraus, dass Floristik das Einzige war, was sie beherrschte. Wie man erfolgreich ein Geschäft führte, wusste sie nicht. Buchhaltung, Verwaltung, Verhandeln, all das war neu für sie.

Deswegen lief der Laden nicht besonders gut an. Rory gab ihr Bestes, sie las Bücher über den Einzelhandel und sah sich im Internet Lernprogramme an, doch es war eine ziemliche Herausforderung.

Doch sie gab nicht auf. Irgendwann würde es besser laufen. Hey, immerhin war sie bis hierher gekommen. Ohne einen Namen und ohne eine Vergangenheit.

Sie hatte einen fast tödlichen Unfall überlebt, sich ins Leben zurückgekämpft und hatte aus dem Nichts angefangen, sich ein neues Leben aufzubauen.

Eines nach dem anderen.

Sie wünschte bloß …

Nun, es gab eine ganze Reihe Dinge, die sie sich wünschte. Seltsamerweise war eines davon, dass ihre Erinnerung nicht zurückkehrte. Denn welche Art Mensch mochte sie bloß gewesen sein?

Inzwischen wollte sie einfach nur noch nach vorne sehen. Das bestmögliche Leben leben. Und den Gegenständen im Karton nach zu urteilen, blieb ihr altes Leben besser begraben.

Hastig packte sie die Sachen zurück in die Box. Sie sollte sie loswerden. Einfach in die Mülltonnen hinter ihrem Laden stopfen und vergessen.

Aber auch das fühlte sich nicht richtig an. Sondern so, als würde sie einen Teil ihres alten Ichs wegwerfen, der einmal zu ihr gehört hatte – ganz gleich, wie geschmacklos dieses Ich auch gewesen sein mochte.

Stattdessen schob sie den Karton weit unter das Bett. Vielleicht würde es ihr auch so gelingen, den Inhalt zu vergessen.

So, wie sie auch den Rest ihres vergangenen Lebens vergessen hatte.

Sie erhob sich und wollte gerade ins Bett gehen, als es an der Tür klingelte.

Ihr Blick fiel auf den Wecker. Es war schon nach elf. Wer klingelte so spät noch an ihrer Tür?

Mit schwerem Herzen griff sie nach ihrem Handy und öffnete die App, die mit der Sicherheitskamera an der Außentür verbunden war.

Es war Felix.

Felix Suarez stand um elf Uhr nachts vor ihrer Haustür. Das war selbst für seine Verhältnisse unverschämt.

Doch anstatt ihn wegzuschicken, machte sie sich auf den Weg durch den äußeren Flur und öffnete die Metalltür. Felix trug noch immer seinen Chefkochkittel, doch im Gegensatz zu heute Morgen war dieser nun mit roten, grünen und braunen Spritzern übersät. Außerdem stank er nach Zwiebeln und Kreuzkümmel.

Nicht, dass sie das gestört hätte. Er roch genau wie sein Restaurant, und das roch ziemlich lecker. Obendrein hatte er die oberen Knöpfe seiner Jacke geöffnet, und der Anblick ließ eine makellose, goldfarbene muskulöse Brust erahnen.

Um seinen Hals hing ein kleines goldenes Kreuz. Das überraschte sie, denn Felix war so ziemlich der am wenigsten ehrfürchtigte Mensch, den sie je getroffen hatte.

Andererseits hatte sie während ihres neuen kurzen Lebens im Allgemeinen nur wenige Menschen getroffen, mit denen sie ihn vergleichen konnte.

Er grinste sie an. „Ich bin froh, dass du noch wach bist.“

„Was hättest du gemacht, wenn ich nicht mehr wach gewesen wäre?“

„Ich hätte noch einmal geklingelt.“

Sie seufzte. Nichts anderes hatte sie erwartet.

Da hob er die Hand, in der er eine kleine Box trug, die sie bisher nicht wahrgenommen hatte, wegen … nun, offenen Kragenknöpfen.

Sie erkannte das Logo des La Mariposa auf dem Deckel.

„Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht“, sagte er. „Die neuen pastelitos, die Arjun heute Morgen gemacht hat. Tut mir leid, dass ich nicht früher gekommen bin. Aber aus dem Vormittagsansturm wurde der Nachmittagsansturm. Und daraus der Abendansturm. Wir haben eben erst die Küche geschlossen.“

Was bedeutete, dass er einen soliden Vierzehn-Stunden-Tag hinter sich hatte. Der Mann war ein Arbeitstier, das musste man ihm lassen.

„Du gehörst ins Bett“, sagte sie unüberlegt.

Dann ging ihr auf, dass das eine ziemlich zweideutige Aussage war.

Denn Felix’ Grinsen wandelte sich von respektlos zu lüstern. „Wenn das eine Einladung ist …“

Sie schüttelte den Kopf. „Ist es nicht.“ Sie nahm ihm die Box aus der Hand. „Danke für die pastelitos. Ich schulde dir was.“

Er hob die Schultern. „Hoy por ti, mañana por mi.“

Dieser Satz ließ Rory innehalten. Sie starrte Felix an. „Heute für dich, morgen für mich“, übersetzte sie automatisch. Obwohl sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie Spanisch konnte.

Felix lächelte sie an. „Eh, gut gemacht, yuma. Ich wusste nicht, dass du Spanisch sprichst.“

„Ich auch nicht“, entfuhr es Rory unwillkürlich.

Nun verblasste sein Lächeln. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Wie kann das sein?“

„Ich wollte damit nur sagen, dass …“ Sie ließ den Satz unvollendet.

Was wollte sie damit sagen? Sie wusste ja selbst nicht, woher die Übersetzung plötzlich gekommen war. Sie schüttelte den Kopf.

„Sag das noch einmal“, bat sie.

Jetzt wirkte Felix noch verwirrter als sie selbst. Trotzdem wiederholte er: „Hoy por ti, mañana por mi.“

Jetzt war sie sicher, dass sie diesen Satz schon einmal gehört hatte. Allerdings nicht von einem Mann. Sie hatte diesen Satz von einer Frau gehört. Aber welche Frau? Sie hatte keine Ahnung.

Felix redete nun weiter auf Spanisch, als ob sie jedes Wort verstehen würde. Aber sie konnte ihm überhaupt nicht folgen. Ein oder zwei Worte klangen vertraut, aber worum es in seinem Monolog ging, war ihr vollkommen schleierhaft.

„Stop!“, sagte sie schließlich. „Ich verstehe nicht.“ Unwillkürlich fügte sie hinzu: „No comprendo.“

Er lächelte. „Aber du verstehst ein bisschen, mija.“

Mija. Das kannte sie auch. Es war ein Kosename. Irgendwann in ihrem Leben war sie von irgendjemandem so genannt worden. Wann und warum, wusste sie nicht. Nur, dass es vermutlich eine Frau gewesen war, die sie so angesprochen hatte.

„Ich …“, begann sie, aber eigentlich wusste sie gar nicht, was sie sagen sollte. Ihr Unterbewusstsein schien für sie zu entscheiden, denn ohne nachzudenken fragte sie: „Willst du auf einen Drink reinkommen?“

Nicht, dass sie jemals zuvor jemanden in ihre Wohnung eingeladen hatte.

Und das hatte sie auch nicht vorgehabt. Schon gar nicht Felix Suarez. Aber wenn sie ehrlich zu sich war, wollte sie jetzt wirklich, wirklich gerne mit ihm reden.

„Nichts lieber als das“, entgegnete er, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Mit ebenso großer Überzeugung trat er selbstbewusst an ihr vorbei in den Flur.

Rory wich erschrocken zurück und hätte beinahe die Box fallen lassen.

Geistesgegenwärtig umfing er mit einer Hand ihre Taille und mit der anderen die pastelitos.

Rory wurde in seinen Geruch eingehüllt und spürte die Hitze seines Körpers.

Sie machte sich rasch los, ging voraus in die Küche und legte die Box ab. Dann atmete sie einmal tief durch. Ihre Wangen brannten bei dem Gedanken daran, dass Felix sie berührt hatte. Ihr Herz klopfte laut.

„Ich, äh, habe meinen Drink im Schlafzimmer stehen lassen“, sagte sie. „Bin gleich zurück.“ Jetzt hatte sie diesen Drink bitter nötig.

Eilig ging sie ins Schlafzimmer und trank – noch vor dem Bett stehend – das Glas aus.

Als sie in die Küche zurückkehrte, lehnte Felix lässig mit dem Rücken an der Anrichte. Er hatte beide Arme ausgebreitet und die Hände abgestützt, die Fußknöchel überkreuzt, und sah aus wie der Inbegriff von Ruhe und Selbstsicherheit.

Zwei Eigenschaften, die Rory selbst gerne gehabt hätte.

Aber solange sich Felix in ihrer Wohnung befand, war das ziemlich utopisch. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, ihn einzuladen?

Oh, richtig. Weil er über eine Art magischen Schlüssel verfügen könnte, um die Tür zu ihrer Erinnerung aufzuschließen. Denn der Satz, den er ausgesprochen hatte, war das Erste, was sich wirklich vertraut angefühlt hatte.

„Was möchtest du trinken?“, fragte sie und öffnete die Kühlschranktür.

„Was trinkst du?“, fragte er zurück.

„Dirty Martini.“ Dieser bestand aus Gin, Martini und einer grünen Olive.

Felix kräuselte die Nase. „Echt? Du siehst gar nicht aus wie jemand, der Dirty Martinis trinkt.“

Ach nein? „Tue ich nicht?“, fragte sie verwundert.

Er schüttelte den Kopf.

„Wie sieht denn jemand aus, der Dirty Martini trinkt?“

Er hob die Schultern. „Nicht so wie du.“

Fast hätte sie ihn gebeten, das auszuführen, doch in gewisser Weise hatte sie Angst davor. Womöglich hätte er sie darauf hingewiesen, dass eine Frau, die Dirty Martinis trank, auch knappe Lederröcke trug und Netzstrümpfe und pinkfarbene Glitzeroberteile. Und nur … äh, nachts arbeitete.

Betont gleichgültig hob sie ebenfalls die Schultern. „Ich habe nichts gegen Dirty Martini.“

„Du hast nichts dagegen“, wiederholte er skeptisch. „Das klingt nicht gerade begeistert. Lass mich dir irgendwann mal einen Mojito mixen. Das ist ein erfrischender Cocktail.“

Na schön, Dirty Martini war vielleicht nicht ihr Lieblingsgetränk. Aber es kam ihr bekannt vor. Und das war mehr, als sie von den meisten Dingen in ihrem Leben sagen konnte.

Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, waren sie und Min in eine Bar gegangen, um auf ihren Neuanfang anzustoßen. Als der Barkeeper fragte, was sie mochte, hatte sie automatisch Dirty Martini gesagt.

Schon der erste Schluck war ihr vertraut gewesen. Nicht, dass es ein besonderes Geschmackserlebnis war, aber dieses Getränk hatte sie schon öfter gehabt, dessen war sie sicher. Also hielt sie daran fest.

Als sie zum ersten Mal einkaufen gegangen war, hatte sie automatisch wieder nach Martini gegriffen, als sie vor dem Regal mit den Spirituosen stand. Immerhin war der Mensch ein Gewohnheitstier. Sie hatte genau gewusst, wie man den Drink selbst mixte.

„Ich habe auch Scotch und Cognac“, sagte sie zu Felix.

Diese Spirituosen waren ihr ebenfalls bekannt vorgekommen. Nicht, dass sie seither selbst davon getrunken hätte. Womöglich mochte sie solchen Alkohol gar nicht. Aber offensichtlich hatte es irgendjemanden in ihrem Leben gegeben, der es gemocht hatte.

„Kein Bier?“, wollte Felix wissen.

Sie schüttelte den Kopf. Sie mochte kein Bier. Gedächtnisverlust war eine seltsame Sache. Bei manchen Dingen war sie sich ganz sicher, was sie mochte und was nicht. Bei anderen wusste sie nicht einmal, ob sie es je probiert hatte.

„Cognac ist in Ordnung“, sagte er.

Als sie die Flasche in die Hand nahm, bemerkte Felix das Etikett. Er hob die Brauen. „Wow, der ist richtig gut“, bemerkte er. „Du hast einen exzellenten Geschmack.“ Neugierig betrachte er die anderen Flaschen, dann sah er wieder Rory an, und nun wirkte er aufrichtig interessiert. „Wirklich guter Geschmack. Wirklich teurer Geschmack.“

Es stimmte. Diese Marken hatten mehr gekostet, als Rory eigentlich auszugeben bereit gewesen war. Und so war es ihr mit mehreren Lebensmitteln ergangen. Aber die meisten anderen Marken waren ihr vollkommen unbekannt gewesen. Sie war einfach nur froh, etwas Vertrautes zu sehen, und es hatte ihr in dieser neuen, fremden Welt ein bisschen Halt gegeben. Also hatte sie es gekauft.

Davon abgesehen würde sie ohnehin kaum weitere Gelegenheiten haben, Geld auszugeben. Zum Ausgehen oder Feiern war ihr nicht zumute. Sie wollte einfach nur einen guten Job machen und für sich bleiben.

Sie goss Felix großzügig Cognac ein und mixte sich selbst einen zweiten Drink.

Dann standen sie sich einen Moment schweigend in der Küche gegenüber, und Rory musste aufpassen, nicht in seinen bernsteinfarbenen Augen zu versinken.

„Äh, setz dich doch“, forderte sie ihn schließlich auf.

Dann ging ihr auf, dass die einzige Sitzgelegenheit ein kleines Sofa war. Da sie nie mit Besuch rechnete, hatte sie keinen Sinn darin gesehen, sich zusätzliche Sessel zu kaufen.

Felix ergriff sofort die Gelegenheit und ließ sich auf das Sofa fallen. Erwartungsvoll sah er sie an, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich neben ihn zu setzen.

„Also …“, fing sie an und zögerte dann. Vielleicht war es besser, nicht um den heißen Brei herumzureden. „Kannst du noch etwas auf Spanisch sagen?“

Das war offensichtlich nicht das, was er erwartet hatte. „Wie bitte?“

„Sag noch mal etwas auf Spanisch“, wiederholte sie.

Einen Moment sah er sie verwirrt an.

Dann sagte er etwas in der fremden Sprache. Sie verstand kein Wort. Verdammt.

„Was hast du gesagt?“, fragte sie.

„Du hast es nicht verstanden?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe gesagt, dass du dich heute Abend sehr seltsam verhältst.“

Sie nippte an ihrem Drink, um die bissige Antwort herunterzuschlucken, die ihr auf der Zunge lag. Sie durfte Felix jetzt nicht vor den Kopf stoßen. „Dann hat mir das noch nie jemand zuvor gesagt“, meinte sie. „Sag noch etwas.“

Er gehorchte, aber wieder verstand sie kein Wort. Nur an der Art, wie er am Ende die Stimme hob, erkannte sie, dass es sich um eine Frage handeln musste.

„Verstehe ich auch nicht. Was hast du gefragt?“

Jetzt grinste er. „Ich habe gefragt, wie viele Drinks du heute Abend schon hattest.“

„Das ist erst mein zweiter“, versicherte sie ihm.

Er sah nicht so aus, als würde er ihr glauben. Auch egal.

„Warum kennst du spanische Sprichwörter, verstehst aber keinen normalen Satz?“, wollte Felix wissen.

Sie schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht.“

„Warum weißt du das nicht? Das ist verrückt.“

Damit hatte Felix einen Nerv getroffen.

Sie war nicht verrückt.

Sie litt unter Gedächtnisverlust. Laut Doktor Saddiq eine sogenannte retrograde Amnesie, hervorgerufen durch eine Kopfverletzung. Es war auch dissoziative Amnesie im Gespräch gewesen, aber Doktor Saddiq hatte dies am Ende ausgeschlossen, weil so ein Gedächtnisverlust durch ein Trauma hervorgerufen wurde, nicht durch eine Verletzung.

Aber sie war gewiss nicht verrückt.

Zumindest hoffte sie das.

Allerdings bekamen es die wenigsten Menschen je damit zu tun. So etwas kannte man nur aus Seifenopern oder Kriminalgeschichten.

Felix sah sie noch immer an, als erwarte er eine Antwort. Aber welche sollte sie ihm geben? Sie hätte ihm gerne eine Antwort gegeben, die ehrlich war und zumindest einen Sinn ergab.

Aber nein. Sie konnte sich ihm nicht anvertrauen.

Sie war nach Endicott gekommen, um neu anzufangen. Natürlich wäre es hilfreich gewesen, etwas über ihr vergangenes Leben herauszufinden. Aber inzwischen hatte sie immer mehr Angst, dass ihr dieses vergangene Leben nicht gefallen würde.

Doch Felix hatte etwas in ihr zum Klingen gebracht. Eine tief vergrabene Erinnerung. Und sie hatte nicht das Gefühl, dass es eine schlimme Erinnerung war.

Womöglich sollte sie sich ihm doch anvertrauen. Auch wenn er nicht gerade ein vertrauenerweckender Kerl war. Zumindest nicht für Rory.

Bei diesem Gedanken musste sie innerlich lachen. Was hätte die alte Rory wohl getan? Welcher Art von Mensch hätte sie sich anvertraut? Ob sie sich mit jemandem wie Felix angefreundet hätte?

Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Drink. Vielleicht hatte der Alkohol ihr Gedächtnis angetriggert.

Oder es lag doch an Felix. Im Augenblick sah er sie an, als wäre er tatsächlich besorgt. Als würde ihm tatsächlich etwas daran liegen, dass es ihr gut ging. Als ob er ihr helfen wollte.

Und plötzlich, nach acht Monaten des Schweigens und des Versuchs, ihr altes Leben geheim zu halten, brach alles aus ihr heraus. „Felix“, begann sie. „Kann ich dir etwas über mich anvertrauen? Etwas … Merkwürdiges? Aber es ist wirklich wichtig für mich. Und … wenn ich es tue, kannst du mir versprechen, dass du es niemandem in Endicott erzählst? Weil … ich könnte wirklich ein bisschen Hilfe gebrauchen.“

3. KAPITEL

Felix sah Rory an und fragte sich, was zur Hölle hier vorging.

Dieser Abend wurde immer merkwürdiger.

Er hatte damit gerechnet, dass Rory die pastelitos widerwillig annehmen und ihn dann eiskalt abservieren würde. Er wäre in seine Wohnung gegangen und hätte den Rest der Nacht damit verbracht, sich heißen Fantasien über sie hinzugeben. Aber das hier? Das war einfach sonderbar.

Als sie ihn auf einen Drink eingeladen hatte, war er davon ausgegangen, dass sie sich einfach damit bedanken wollte. Im besten Falle wollte sie ihn ein bisschen besser kennenlernen.

Aber dann verlangte sie eine Art abstruser Spanischlektion von ihm, die ihn völlig aus dem Konzept gebracht hatte. Und jetzt wollte sie ein Geheimnis teilen, von dem er niemandem erzählen sollte?

Bizarro, acere. Muy bizarro.

„Du willst mir etwas Merkwürdiges über dich anvertrauen?“, wiederholte Felix langsam. „Mija, was könnte an dir merkwürdig sein? Du bist die geradlinigste Person, die ich kenne. Immer aufrecht und ordentlich.“

Er hoffte, sie würde das Kompliment auffassen. Oder zumindest nichts dagegen einwenden. Stattdessen wirkte sie plötzlich sehr bekümmert. „Du weißt doch gar nichts über mich“, widersprach sie.

„Ich weiß, dass du kein Geschwätz magst“, sagte er. „Ich weiß, dass du für dich bleibst. Dass du bescheiden bist. Ich weiß, dass du deine Angestellten gut behandelst. Ich weiß, dass du dein Geschäft so führst, wie ich meines – als ob es das Einzige ist, was dir auf dieser Welt etwas bedeutet. Und das ist so ziemlich alles, was ich über eine Person wissen muss.“

Sie sah ihn an, als würde sie ihm nicht glauben.

Deshalb fuhr er fort: „Okay, wenn man dem Klatsch in Endicott glauben kann, hast du offenbar ein paar ziemlich außergewöhnliche Dinge getan. Ich versuche immer noch, herauszubekommen, weshalb du ausgerechnet hier gelandet bist – und nicht in einer Großstadt voller Herausforderungen und Abenteuer.“

Während er sprach, schloss sie die Augen und schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. „Und was, wenn man dem Klatsch nicht glauben kann?“, fragte sie.

Das war unmöglich.

Auch wenn die braven Leute in Endicott gerne Klatsch und Tratsch verbreiteten, war an den Geschichten am Ende doch imm...

Autor

Elizabeth Bevarly
<p>Elizabeth Bevarly stammt aus Louisville, Kentucky, und machte dort auch an der Universität 1983 mit summa cum laude ihren Abschluss in Englisch. Obwohl sie niemals etwas anderes als Romanschriftstellerin werden wollte, jobbte sie in Kinos, Restaurants, Boutiquen und Kaufhäusern, bis ihre Karriere als Autorin so richtig in Schwung kam. Sie...
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Melissa Senate
<p>Melissa Senate schreibt auch unter dem Pseudonym Meg Maxwell, und ihre Romane wurden bereits in mehr als 25 Ländern veröffentlicht. Melissa lebt mit ihrem Teenager-Sohn, ihrem süßen Schäfermischling Flash und der spitzbübischen Schmusekatze Cleo an der Küste von Maine im Norden der USA. Besuchen Sie ihre Webseite MelissaSenate.com.</p>
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