Bianca Extra Band 142

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  • Erscheinungstag 16.11.2024
  • Bandnummer 142
  • ISBN / Artikelnummer 0802240142
  • Seitenanzahl 432

Leseprobe

Brenda Harlen

1. KAPITEL

Daisy verzweifelt gesucht.

Wir suchen Daisy, eine Frau, die 1945 als Tochter minderjähriger Eltern zur Welt gekommen und irgendwo in Montana adoptiert worden ist. Deine leibliche Familie möchte dich kennenlernen! Bitte kontaktiere die Familie Abernathy auf der Ambling A Ranch, Bronco Heights, Montana. Die Zeit drängt!

Evan Cruise klickte mit der linken Maustaste, um das Fenster auf dem Monitor zu schließen, in dem der Twitterfeed seiner Firma angezeigt wurde. Es war schon mindestens das zehnte Mal innerhalb von drei Tagen, dass er diese Anzeige auf verschiedenen Social-Media-Seiten gesehen hatte, und aus irgendeinem Grund juckte es ihn jedes Mal im Nacken, wenn er sie las. Dennoch war er nicht darauf erpicht, herauszufinden, was der Auslöser dafür war.

Er hatte sein ganzes Leben in Bronco verbracht, daher war der Name Abernathy ihm natürlich ein Begriff. Er wusste auch, wo sich die genannte Ranch befand. Ihm war jedoch nicht klar, weshalb die Abernathys plötzlich nach einer vermissten Verwandten suchten. In jedem Fall hatte er keine Zeit, sich mit einem jahrzehntealten Rätsel zu befassen, das – so hatte er es trotz des merkwürdigen Gefühls entschieden – nichts mit ihm zu tun hatte. Schließlich hatte er ein Geschäft zu führen.

Er bewegte den Mauszeiger über den Bildschirm bis zu einem Desktopsymbol mit dem Titel „Diese Woche“ und klickte darauf, um den Wochenkalender zu öffnen. Jeder der geplanten Tourentermine war rosa hervorgehoben, was bedeutete, dass alle Termine ausgebucht waren. Er klickte auf die nächste Woche und lächelte. Obwohl es Mitte November war und somit die Feiertage und der damit einhergehende Trubel vor der Tür standen, leuchteten wieder alle Termine farbig auf. Und das bedeutete mehr Geld auf dem Konto, was das sicherste Zeichen für Erfolg war.

Na gut, er führte die Touren in dieser Zeit, welche als Nebensaison für die Bronco-Geistertouren bezeichnet werden konnte, auch nur an drei Wochentagen durch. Dennoch hatten ihn die Zahlen davon überzeugt, dass das Interesse groß genug war, bis zum Jahreswechsel noch eine vierte wöchentliche Tour anzubieten. Diese zusätzliche Tour zusammen mit den Einnahmen aus dem Verkauf von Merchandise-Artikeln im Laden und im Internet garantierten seinem Unternehmen einen gesunden Umsatz.

Zum Glück für Evan schienen viele Leute gute Geschichten zu mögen, und nicht wenige davon mochten Gruselgeschichten. Da sich sogar noch mehr Leute für die Feiertage begeisterten, hatte er die Idee zu einer weihnachtlichen Geistertour gehabt. Bloß weil er ihre Begeisterung nicht teilte, hieß das nicht, dass er daraus kein Kapital schlagen konnte.

Um seine Weihnachtstour als etwas Besonderes zu verkaufen, hatte er sich vorgenommen, neue Legenden und Schauplätze zu finden, anstatt seinen bewährten Zwischenstopps lediglich einen saisonalen Anstrich zu verpassen. Es war ein glücklicher Zufall gewesen, dass er eine Woche zuvor im Café nebenan ein paar Alteingesessene belauschen konnte, die sich über die „Geisterpferde“ auf der „alten Whispering Willows Ranch“ ausgelassen hatten, die „um diese Jahreszeit immer für Aufregung“ sorgten.

Obwohl Evan seinen Kaffee normalerweise schwarz trank, hatte er sich an jenem Morgen genug Zeit gelassen, um Milch und Zucker in seinen To-Go-Becher zu geben und sich genau zu merken, was die Männer erzählten.

Als er ins Büro zurückgekehrt war, hatte er sich die Details notiert, damit seine Assistentin herausfinden konnte, ob sich die Whispering Willows Ranch für die neue Tour eignete. Da die erste Weihnachtsgeistertour bereits für den Freitag nach Thanksgiving – also in neun Tagen – geplant war, musste er die Geschichte vorbereiten, die er erzählen wollte, um seine Gäste auf Schritt und Tritt zu unterhalten.

Wie aufs Stichwort erklang ein zaghaftes Klopfen an der offenen Bürotür. Er blickte auf und entdeckte seine Assistentin im Türrahmen stehen.

„Was gibt’s, Kelly?“

„Callie, Sir.“

„Was ist ein Callie?“

„Ich heiße Callie“, stellte sie klar.

Einem anderen wäre dieser Ausrutscher peinlich gewesen, Evan jedoch hielt sich nicht allzu lange mit Gefühlen auf. Außerdem war es wohl kaum seine Schuld, dass er sich die Namen der Assistentinnen nicht merken konnte, die sich bei ihm die Klinke in die Hand gaben. Nein, die Schuld lag ganz allein bei Brittany Brandt. Seit sie ihre Stelle bei Bronco Ghost Tours im Frühjahr aufgegeben hatte, war er der Gnade einer Zeitarbeitsfirma ausgeliefert, die ihm alle paar Monate – und manchmal sogar öfter – eine neue Kandidatin schickte.

Offenbar hatte sich seine ehemalige Assistentin inzwischen einen Namen als Eventplanerin gemacht. Es hieß sogar, sie sei für die erfolgreiche Spendengala von Cornelius Taylor und seiner dritten Frau Jessica verantwortlich gewesen, bei der Geld für einkommensschwache Familien in Bronco Valley gesammelt worden waren. Evan wusste, dass er sich für Brittany freuen sollte, die nicht nur einen neuen Karriereweg eingeschlagen, sondern sich auch verliebt und geheiratet hatte. Aber er war immer noch verärgert darüber, dass sie ihn mit nur zwei Wochen Vorankündigung und einer unzulänglichen Erklärung verlassen hatte: Sie sind ungeduldig, anspruchsvoll, und es macht keinen Spaß, für Sie zu arbeiten.

„Was gibt’s, Callie?“, fragte er seine Aushilfskraft, die immer noch in der Tür stand und aussah, als stünde sie ohne Sicherheitsgurt am Rand einer Klippe.

Er versuchte zwar, geduldig zu sein, aber er hatte das Gefühl, in den vergangenen sechs Monaten so viel Zeit mit der Einarbeitung neuer Mitarbeiterinnen verschwendet zu haben, dass er schon viel weiter wäre, wenn er alles einfach selbst erledigen würde. Immerhin war diese hier nicht auf den Kopf gefallen. Und ihre Röcke bedeckten immerhin mehr als nur ihren Po. Auch ihre Schuhe waren vor allem zweckmäßig und weniger sexy. Bei ihrer unmittelbaren Vorgängerin hatte das noch ganz anders ausgesehen. Sie hatte mit jedem Mann geflirtet, der das Büro betreten hatte – sogar mit ihrem Chef! Klar, sie war attraktiv gewesen. Und Evan hätte sich vielleicht sogar geschmeichelt gefühlt, hätte er nur nicht so große Angst vor einer Klage wegen sexueller Belästigung gehabt – wie er ihr aus sicherer Entfernung von der anderen Seite seines Schreibtisches aus mitgeteilt hatte.

„Ich habe die Recherche zur Whispering Willows Ranch beendet, so wie Sie wollten“, berichtete Callie.

Er streckte ihr die Hand entgegen, denn wichtiger als ihre Röcke oder ihre Schuhe war die Tatsache, dass sie eine kluge und fleißige Mitarbeiterin war, wenn auch etwas schüchtern.

Sie betrat das Zimmer und reichte ihm einen Stapel Unterlagen.

Es waren viele Seite, die von ihrer gründlichen Recherche zeugten, was er zu schätzen wusste. Da er aber in weniger als einer Stunde ein Meeting hatte, bat er sie, ihre Ergebnisse zusammenzufassen.

Sie nickte und begann sofort zu erzählen. „Die Milton-Familie hat das Grundstück 1912 erstanden und darauf fünfzig Jahre lang eine Rinderfarm betrieben. Kurz vor Thanksgiving im Jahr 1960 …“

„Halt“, unterbrach er sie. „Sind Sie sich sicher mit der Jahreszahl?“

Denn so wie die alten Herren im Café geredet hatten, hatte es geklungen, als würde es seit mehr als einhundert Jahren auf dem Grundstück spuken. Nicht, dass der Zeitpunkt wichtig gewesen wäre. Wichtig war nur, dass es einen Beleg für den Spuk gab.

„Ja, Sir“, antwortete sie und nickte eifrig.

„Na gut.“ Er bedeutete ihr fortzufahren.

„Kurz vor Thanksgiving 1960 fuhren Henry und Thelma zu einem Ausflug in die Stadt. Als sie zurückkehrten, stand der Stall in Flammen. Es muss schrecklich gewesen sein. Die Feuerwehrleute haben von den grässlichen Schreien der Tiere berichtet, die sie nicht hatten retten können. Was aber zu diesem Zeitpunkt niemand wusste: Alice, die Tochter der Eheleute, war ebenfalls im Stall eingeschlossen. Vielleicht weil sie hineingelaufen war, um die Pferde zu retten … Erst am nächsten Tag wurden ihrer verkohlten Überreste in den Trümmern gefunden. Ihr Vater war so untröstlich über den Verlust seiner einzigen Tochter, dass er sich eine Woche später das Leben nahm.“

Evan blätterte die Seiten durch, während sie die Fakten aufzählte. Er blickte auf und zog die Augenbrauen zusammen, als er einen silbernen Streifen auf ihrer Schulter entdeckte. „Ist das Lametta?“

„Was?“ Sie folgte seinem Blick. „Oh … Ähm, ja.“ Sie zog den Metallstreifen des Anstoßes von ihrer Bluse und zerknüllte ihn in der Hand. „In den anderen Geschäften wird schon für Weihnachten geschmückt, darum dachte ich mir, Bronco Ghost Tours könnte sich auch auf die Feiertage einstimmen.“

„Ich bezahle Sie nicht fürs Dekorieren“, erwiderte er.

„Natürlich nicht“, stimmte sie ihm zu. „Ich habe während meiner Mittagspause nur ein paar Dinge aufgehängt.“

„Na gut“, brummte er, wohlwissend, dass er ihr nicht vorschreiben konnte, was sie in ihrer Pause zu tun hatte.

Sollte er aber Weihnachtslieder aus dem Lautsprecher auf ihrem Schreibtisch hören, würde er ein Machtwort sprechen.

„Erzählen Sie mir, was Sie zu den Geisterpferden herausfinden konnten“, sagte er, um zum eigentlichen Thema zurückzukehren. „Hat irgendjemand schimmernde Erscheinungen gesehen oder ungewöhnliche Geräusche gehört?“

Sie nickte erneut. „Der letzte Besitzer wollte die Ranch verkaufen, weil ihm das Wiehern der Pferde in der Nacht zu unheimlich war – er hatte nämlich keine Pferde.“

„Genau davon rede ich.“ Evan rieb sich zufrieden die Hände, bis ihm ein Gedanke kam. „Wer kauft sich denn eine Ranch, wenn man keine Pferde hat?“

„Ein Stuntman aus Hollywood, der sich nach einem ruhigen Rückzugsort sehnt. Bis er leider erkennen musste, dass es dort nicht so ruhig ist, wie er es sich gewünscht hat“, erklärte sie. „Einige Nachbarn und Besucher wollen die Pferde ebenfalls gehört haben. Meistens nachts. Außerdem haben manche sogar Rauch gerochen, als ob etwas brennen würde.“

„Was ist mit dem derzeitigen Besitzer? Hat er etwas gehört?“

„Die derzeitige Eigentümerin ist Daphne Taylor. Sie hat das Grundstück vor fast sechs Jahren erstanden.“

„Cornelius Taylors Tochter?“

Kelly – Callie – nickte.

„Hm …“ Er dachte über diese Komplikation nach. Vermutlich wäre die wohlhabendste Familie von Bronco nicht begeistert davon, wenn ihr Besitz mit Spukgeschichten in Verbindung gebracht wurde. „Ich hatte ganz vergessen, dass sie dort einen Lebenshof gegründet hat.“

„Richtig“, bestätigte Callie. „Whispering Willows heißt jetzt Happy Hearts.“

„Haben Sie die Kontaktinformationen für Daphne Taylor?“

„Sie stehen auf der ersten Seite.“

Er gab ihr den Papierstapel zurück. „Rufen Sie sie an und vereinbaren Sie einen Termin. Sagen Sie ihr, dass ich so schnell wie möglich eine Geschäftsidee besprechen möchte.“

„Sehr gerne, Sir“, sagte sie und machte sich auf den Weg zurück zur Tür.

Es würde nicht schaden, ab und zu mal Danke zu sagen.

Brittanys Worte von ihrem letzten Arbeitstag hallten jetzt in seinem Kopf wider.

Lassen Sie Ihre Mitarbeiter wissen, dass Sie ihnen für ihre Bemühungen dankbar sind.

Er musste sich daran erinnern, dass ein Gehaltsscheck nicht immer genug Wertschätzung aussagte.

„Kel… Callie?“

Seine neue Assistentin drehte sich auf dem Absatz um und sah aus, als machte sie sich auf eine Rüge gefasst.

„Danke. Das haben Sie gut gemacht.“

Sie riss die Augen auf, als ob sie nicht richtig gehört hatte. Dann verzog sie ihren Mund langsam zu einem Lächeln. „Vielen Dank, Sir.“

„Und vergessen Sie nicht, die Lieferung von BrandYou auszupacken. Wir können kein Merchandise verkaufen, wenn es nicht in den Regalen liegt.“

Daphne Taylor lebte für Happy Hearts. Der Lebenshof war nicht bloß ihre Arbeitsstätte und ihr Zuhause, sondern auch ihre Leidenschaft. Und obwohl sie sich auf dem Grundstück, auf dem es angeblich spukte, sehr wohlfühlte, träumte sie dennoch manchmal davon, an einem weißen Sandstrand unter einem tropischen Himmel mit einem fruchtigen Cocktail in der Hand zu entspannen, während ihr ein attraktiver Mann mit Sonnenmilch den ganzen Körper eincremte.

Sie runzelte die Stirn, als sie mit der Mistgabel in das verschmutzte Stroh stach, um es in die bereitstehende Schubkarre zu befördern. Konnte man überhaupt einen Drink und gleichzeitig eine sinnliche Massage genießen? Da ihre verspannten Schultern schmerzten, stellte sie den imaginären Drink beiseite und konzentrierte sich stattdessen auf den imaginären Mann mit den Zauberhänden.

Ein ungeduldiges Grunzen unterbrach ihre Tagträumereien.

„Keine Angst, Tiny Tim.“ Sie nahm eine behandschuhte Hand von der Mistgabel und streichelte liebevoll über den borstigen Kopf des Hängebauchschweines. „Du und Barkley seid immer noch meine Lieblingsjungs.“

Nach ein paar weiteren Streicheleinheiten trottete der Eber an ihr vorbei in seine Box, wo eine Heizmatte, eine Wühlkiste zum Spielen und frisches Heu und Wasser auf ihn warteten.

Wehmütig dachte Daphne an ihr eigenes Wohnzimmer, wo sie es sich um diese Uhrzeit normalerweise mit einer Tasse heißem Tee und ein paar Keksen sowie ihrem treuen gelben Labrador an ihrer Seite im Sessel gemütlich machte. Aber normalerweise hatte sie auch mehr Hilfe auf dem Hof als heute. Ohne diese lag sie ein paar Stunden hinter dem Zeitplan zurück.

Es war ihre eigene Schuld, dass sie den Karrieretag in der Schule vergessen hatte, weshalb ein Großteil ihrer freiwilligen Helfer heute nicht erschienen war. Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand und wurde das Gefühl nicht los, dass sie nicht nur den Karrieretag, sondern noch etwas anderes vergessen hatte.

Zwar hatte sie eine viel benutzte Kalender-App auf ihrem Handy, aber manchmal vergaß sie, sich Terminerinnerungen einzustellen. Diese Nachlässigkeit hatte sogar zum Ende ihrer letzten Beziehung beigetragen. Denn als Boyd Watkins sie abholen wollte, um gemeinsam ihr Sechsmonatiges zu feiern, hatte sie nicht nur die Verabredung an sich, sondern auch ihre Bedeutung vergessen.

In den zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sich ihr Liebesleben auf ihre Tagträume beschränkt. Immerhin beschwerten sich die Männer in ihren Träumen nie darüber, wenn die Tiere ihre Aufmerksamkeit brauchten. Und die Tiere brauchten ständig ihre Aufmerksamkeit. Darum stand ein Urlaub auf Hawaii – oder irgendwo anders – weder in naher noch in ferner Zukunft auf ihrer Agenda.

Und das war auch in Ordnung so, denn Happy Hearts war ihre große Freude, genauso wie ihre Verantwortung. Doch manchmal – und seit der Verlobung ihres älteren Bruders vielleicht sogar noch etwas häufiger – wünschte sie sich einen besonderen Menschen in ihrem Leben, mit dem sie diese Freude und Verantwortung teilen konnte. Jemanden, den sie lieben konnte und der sie genauso liebte. So wie Jordan Camilla liebte.

Wenn das Wörtchen Wenn nicht wäre …, dachte sie trocken und arbeitete weiter.

Als die Uhr 15 Uhr anzeigte, schippte sie das letzte alte Stroh in die Schubkarre und leerte sie hinter der Scheune aus. Sie hielt Ausschau nach Barkley, der sich normalerweise nicht allzu weit weg wagte. Doch dann erinnerte sie sich, dass Elaine, eine der Freiwilligen, sich ihre Fellnase heute ausgeliehen hatte, um mit seiner Hilfe andere Hunde im Adoptionszentrum zu vergesellschaften.

Sie kehrte in den Stall zurück, um frisches Stroh in den Boxen zu verteilen, während sie sich weiter den Kopf darüber zerbrach, was sie nur vergessen hatte.

„Klopf, klopf“, rief eine männliche Stimme von draußen. „Ist jemand zu Hause?“

Sie drehte sich mit der Mistgabel in der Hand um. „Hier drinnen“, rief sie und wartete auf den Besucher.

Als er aus dem Schatten ins Licht der Nachmittagssonne trat, das durch die Fenster hereinfiel, wirkte er fast wie ein Engel – oder ein Geist.

Daphne schüttelte den Gedanken ab, als sich die Hormone in ihrem Körper in Bewegung setzten und sie daran erinnerten, dass sie nicht bloß lebendig, sondern auch eine Frau war – eine, die schon viel zu lange keine solch starke Anziehungskraft eines Mannes mehr verspürt hatte.

Denn … wow. Er war der attraktivste Mann, der je einen Fuß auf ihren Hof gesetzt hatte. Kurzes braunes Haar, das aber lang genug war, dass sich die natürlichen Wellen darin abzeichneten. Dunkelbraune Augen mit kleinen Fältchen in den Augenwinkeln. Ein kantiges Kinn mit einem Dreitagebart, wie er heutzutage Mode war, der aber nur an ihm richtig gut aussah.

Er zog seine dunklen Augenbrauen nach oben, als sein Blick auf die Mistgabel fiel und hob langsam kapitulierend die Hände. „Ich komme in Frieden“, versprach er.

Erschrocken stellte sie fest, dass sie die Mistgabel wie eine Waffe in den Händen hielt. Sie ließ die Arme sinken und stieß die Zinken in das Stroh zu ihren Füßen. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich suche Daphne Taylor.“

„Sie haben sie gefunden“, sagte sie und schickte ein stummes Dankeschön ans Universum, weil ihre Gebete erhört worden waren – und zwar auf spektakuläre Weise. Trotz des Punktabzugs für die Lederjacke, die er zu einem dunkelblauen Pullover und Jeans trug, sah dieser Mann umwerfend gut aus.

Allerdings schien er nicht gleichermaßen fasziniert zu sein. „Sie sind Daphne Taylor?“, fragte er ungläubig.

Klar, er war ja auch tadellos angezogen, während sie nur einen übergroßen Overall und klobige Gummistiefel trug, ganz zu schweigen von den losen Strähnen, die aus ihrem Pferdeschwanz fielen und ihr verschwitztes, ungeschminktes Gesicht umrahmten.

„Willkommen bei Happy Hearts“, sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich schnell und etwas unwirsch. „Ich hatte nicht erwartet, die Besitzerin selbst beim Ausmisten anzutreffen.“

„Hier packt jeder mit an. Egal, was anfällt.“

„Logisch“, sagte er und nickte kurz, bevor er sich vorstellte. „Ich bin Evan Cruise. Wir hatten um 15 Uhr einen Termin vereinbart.“

„Ja, das haben wir.“ Plötzlich erinnerte sie sich wieder und schaute verschämt zur Uhr. „Tut mir leid. Wir sind heute unterbesetzt, und ich hänge mit meinen Aufgaben hinterher.“

Sie zog die Handschuhe aus und steckte sie in die Gesäßtasche ihres Overalls, um ihm die Hand zu schütteln. Unmittelbar reagierte ihr Körper auf die Berührung. Am liebsten hätte sie sich an ihn schmiegen und mit ihm verschmelzen wollen. Doch sie schaffte es, sich zusammenzureißen. Hat er auch etwas gespürt? fragte sie sich. Sie konnte seinen neutralen Gesichtsausdruck nicht deuten, aber sie fand, dass sich sein Blick verändert hatte.

Er hielt ihre Hand noch etwas länger, während ihr Herz wie wild schlug.

„Ihre Assistentin hat eine Geschäftsidee erwähnt. Da sie mich gerade beim Füttern erwischt hatte, hatte ich keine Zeit, nach weiteren Einzelheiten zu fragen.“

„Mir gehört Bronco Ghost Tours“, erklärte er.

Das wusste sie, denn ihre Freundin Brittany hatte früher für ihn gearbeitet. Brittany hatte ihren Boss immer einen Tyrannen genannt. Dass dieser Tyrann jedoch unfassbar heiß war, hatte sie verschwiegen.

Langsam dämmerte es Daphne, warum er hier war, auch wenn sie das nicht unbedingt zugeben wollte. „Was kann ich für Sie tun, Mr. Cruise?“, fragte sie stattdessen.

„Evan“, sagte er mit einem Lächeln, das ihr Herz zum Rasen brachte.

Ja, er sah gut aus, und schon allein seine Nähe löste Gefühle in ihr aus, die sie schon beinahe vergessen hatte. Trotzdem wollte sie es nicht zulassen, dass ihre Ranch zu einem Nebenschauplatz seiner Gruselshow wurde.

Gerade wollte sie die Frage wiederholen, als ein klingelndes Glöckchen ein flauschiges, nicht ganz so weißes Schaf ankündigte, das zu ihnen gehumpelt kam.

„Einer offenen Tür kannst du nicht widerstehen, oder, Winnie?“, fragte Daphne voller Zuneigung und gleichzeitiger Verzweiflung.

Määähhh.

„Obwohl du weißt, dass du hier drin nichts verloren hast“, fuhr sie fort.

Das Schaf ignorierte ihre Ermahnung und ging, das eingegipste Beinchen hinter sich herziehend, an den Menschen vorbei zu Tiny Tims Box am hinteren Ende des Stalls.

Daphne war sich nicht sicher, wie und wann es passiert war, aber das Schwein und das Schaf waren gute Freunde geworden. Sie hatte zwar nichts gegen diese Besuche einzuwenden, aber trotzdem schob sie sich an Evan vorbei, um die Stalltür zu schließen, damit sich nicht noch mehr Tiere hierher verirrten.

„Was ist mit ihrem Bein passiert?“, fragte er.

„Sie hat sich auf der Farm, wo sie vorher gelebt hat, in einem Elektrozaun verfangen. Die Schäferin hat zuerst versucht, die Verletzung mit Hausmitteln zu behandeln, was natürlich schiefging. Als sie endlich den Tierarzt kontaktiert hat, war eine OP die einzige Option. Da die Kosten dafür aber zu hoch gewesen wären, wollte sie Winnie lieber einschläfern lassen.“

Es kostete Daphne viel Mühe, die Geschichte in einem ruhigen Ton zu erzählen, da es sie immer noch wütend machte, wie leicht Winnies Leben hätte ausgelöscht werden können, nur weil eine Schäferin, deren Fahrlässigkeit überhaupt erst zu der Verletzung geführt hatte, dessen Wert nicht zu schätzen wusste.

„Zum Glück hat der Tierarzt vorgeschlagen, Winnie stattdessen zu Happy Hearts zu bringen.“

„Das muss teuer sein“, überlegte er laut. „Sich um so viele kranke und verletzte Tiere zu kümmern.“

Er klang aufrichtig mitfühlend, was Daphne dazu veranlasste, einen kleinen Teil ihrer Vorsicht abzustreifen.

„Da kommt einiges zusammen“, gab sie zu. „Aber ich weiß, dass Sie nicht deswegen hier sind. Also erzählen Sie mir doch, wie ich Bronco Ghost Tours helfen kann.“

„Eigentlich …“ Er lächelte wieder, sodass sie noch unvorsichtiger wurde. „Ich denke, dass wir uns gegenseitig helfen können.“

2. KAPITEL

Evans Mitarbeiterinnen hielten ihn zwar für einen Tyrannen, aber er wusste, wie er seinen Charme einzusetzen hatte, wenn er etwas wollte. Und mehr als alles andere wollte er, dass sein Unternehmen ein Erfolg war. Die Recherche hatte ihn überzeugt, dass Happy Hearts das Highlight seiner weihnachtlichen Geistertour sein könnte, und in dem Moment, als er die lange Auffahrt zur Ranch hinaufgefahren war, hatte er gewusst, dass er damit richtig lag.

Normalerweise fällte er keine geschäftlichen Entscheidungen auf Grundlage von Emotionen. Doch als er seinen Wagen geparkt und zum ersten Mal einen Fuß auf den schneebedeckten Boden gesetzt hatte, hatte er gespürt, dass er an diesen Ort gehörte. Natürlich nur wegen der Geistertour, versicherte er sich. Mehr hatte sein Gefühl nicht zu bedeuten.

Darum gab er auch alles, um die Besitzerin zu umgarnen, und obwohl er einen Funken zwischen ihnen gespürt hatte, schienen seine Bemühungen Daphne Taylor kaum zu beeindrucken. Er musste sich noch mehr ins Zeug legen, darum stützte er sich lässig mit einem Arm auf der nächstgelegenen Boxentür ab und lehnte sich etwas weiter vor.

Sie riss ihre blauen Augen weit auf, was er als Warnung verstand. Anscheinend war sie doch nicht so ein Schwächling, wie er zunächst angenommen hatte.

Eigentlich war er nur ungern jemand, der Zeit verschwendete, denn Zeit war Geld. Aber er wusste, dass Ungeduld ihm nicht dabei helfen würde, ihre Zurückhaltung zu überwinden. Also wollte er sich Zeit nehmen, um sie langsam zu bezirzen. Schließlich hatte er heute Nachmittag nirgendwo mehr zu sein, und es war keine große Bürde, mit einer hübschen Frau zu flirten.

Da er es außerdem geschafft hatte, über den schlabberigen Overall und die schlammbespritzten – bitte lass es Schlamm sein – Gummistiefel hinwegzusehen, stellte er fest, dass sie eine äußerst attraktive Frau war. Sogar mit dem unordentlichen rotblonden Pferdeschwanz und dem ungeschminkten Gesicht.

„Wie genau sollten wir einander helfen können, Mr. Cruise?“, fragte sie ihn.

„Können wir irgendwo reden?“, fragte er im Gegenzug mit hoffnungsvollem Tonfall. „Vielleicht bei einer Tasse Kaffee?“

„Weiter hinten gibt es ein Büro.“

„Das würde funktionieren.“

Sie lehnte die Mistgabel an einen Pfosten und führte ihn tiefer in den Stall hinein. Er war zwar ein Stadtmensch durch und durch, aber gegen den Duft von frischem Heu, der hier überall in der Luft lag, hatte er nichts einzuwenden. Sicher, er konnte auch den Schweiß der Tiere riechen, aber es war kein völlig unangenehmer Geruch.

Er folgte Daphne in das Büro. Es war ein einfacher Raum mit einem großen Tisch, ein paar Stühlen und einem Minikühlschrank, auf dem ein Kapselkaffeeautomat und ein halbes Dutzend Tassen standen. Die Außenwand verfügte über zwei Fenster, durch die Tageslicht hereinfiel. An einer angrenzenden Wand waren Regale und Schränke eingebaut, an den übrigen beiden hingen Tafeln, auf die Notizen zum Verhalten, zu Gewohnheiten und zur Fütterung der verschiedenen Tiere gekritzelt waren.

Er überflog die Notizen, während Daphne zwei Kaffeekapseln aus dem Kühlschrank holte und eine in den Automaten steckte. Die erste Tasse Kaffee reichte sie ihm, bevor sie sich einen eigenen Kaffee kochte.

„Milch und Zucker sind im Kühlschrank“, sagte sie.

„Warum bewahren Sie den Zucker und die Kapseln im Kühlschrank auf?“, fragte er verwundert.

„Wir versuchen alles hinter verschlossenen Türen aufzubewahren, wo es sicher vor neugierigen Tieren ist“, erklärte sie. „Besonders die Ziegen fressen einfach alles.“

„Dürfen sich all Ihre Tiere hier frei bewegen?“

„Natürlich nicht. Das wäre nicht sicher für sie. Aber wir versuchen auch, sie so wenig wie möglich einzuschränken. Happy Hearts ist ein Lebenshof, kein Zoo.“

„Außerdem, wie ich gehört habe, soll es hier spuken.“

Sie hob ihre Tasse an ihre Lippen und trank einen Schluck. „Wie man hört, soll Gordon Toole der uneheliche Halbbruder der Queen sein. Glauben Sie das auch?“

Er lachte über ihre Bemerkung. Gordon war allseits bekannt in Bronco Valley, weil er überall herumerzählte, er sei untergetaucht, damit die britische Regierung ihn nicht finden könne. „Ich glaube, Gordon Toole lebt in einer anderen Realität als wir. Zum Glück ist seine Realität harmlos.“

Sie lächelte zaghaft.

„Kommen wir wieder zum Grund meines Besuchs“, fuhr er fort, um sein Vorhaben endlich voranzubringen. „Sie kennen sicher die Geschichten über die Geisterpferde, die man hier nachts wiehern hören kann. Vielleicht haben Sie sie sogar schon gehört?“

Er hoffte auf irgendeine Reaktion, die seine Vermutung bestätigte, aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Absichtlich ausdruckslos, vermutete er. Seine Neugierde war sofort geweckt. „Zweifellos sind diese Geschichten der Grund, warum Sie dieses erstklassige Grundstück vor sechs Jahren weit unter dem Marktwert erwerben konnten.“

„Ist der Marktwert nicht per Definition der Betrag, für den etwas auf dem freien Markt verkauft wird?“

Vermutlich war sie genauso wenig an wirtschaftlichen Fragen interessiert wie an den Gerüchten, dass es auf ihrem Grundstück spukte.

„Ein vergleichbares Grundstück nicht weit von hier wurde nur zwei Wochen später für fast den doppelten Betrag verkauft“, stellte er fest. „Sie können mir nicht sagen, dass diese Diskrepanz nur auf Marktschwankungen zurückzuführen ist.“

„Ich sage Ihnen gar nichts. Sie sind derjenige, der aus Gerüchten Geschichten bastelt, um andere davon zu überzeugen, dass sie wahr sind.“

„Ich zwinge niemanden dazu, ein Ticket zu kaufen“, erwiderte er etwas zu defensiv.

„Und ich werde meinen Hof nicht in eine Touristenattraktion verwandeln und es riskieren, dass er wieder von Geisterjägern überrannt wird, nur damit Sie mehr Tickets verkaufen.“

„Wieder?“, fragte er neugierig.

„Das war lange, bevor ich die Ranch gekauft habe“, erklärte sie. „Eine ganze Horde an Pseudowissenschaftlern ist mit komischen elektronischen Gerätschaften und Kameras über das Gelände getrampelt, um Beweise für paranormale Aktivitäten aufzuzeichnen.“

„Hatten sie dabei Erfolg?“ Es überraschte ihn, dass er von den Geisterjägern noch nichts gehört hatte.

„Angeblich haben sie Pferde wiehern gehört, und es soll verbrannt gerochen haben. Aber das erzählen die Anwohner auch schon seit Jahren, ohne dass es dafür echte Beweise gibt.“

„Die Geisterjagd hat sich also totgelaufen.“ Er hoffte, sie würde über seinen Witz lachen.

Das tat sie aber nicht.

Evan entschied sich, es mit einem praktischeren Ansatz zu versuchen. „Ich habe mir Ihre Website und Ihre Online-Postings angesehen. Sie versuchen, Besucher nicht nur auf Ihre Internetkanäle zu führen, sondern auch an Ihre Tür. Sie wollen, dass die Leute herkommen, um sich über Ihre Arbeit mit den Tieren zu informieren und Geld zu spenden.“

Erneut nippte sie an ihrem Kaffee, ließ aber keine sonstige Regung erkennen. Selbst, wenn sie seinem Plan nicht traute, noch hatte sie ihm keine komplette Abfuhr erteilt.

„Bronco Ghost Tours wird diese Besucher an Ihre Tür führen“, versicherte er ihr.

„Und die Tiere stressen“, entgegnete sie sichtlich unzufrieden. „Manche von ihnen haben schon mehr Stress und Traumata erlebt, als es ein Lebewesen verdient hat.“

„Sie heißen hier doch ständig Besucher willkommen“, konterte er.

„Zu bestimmten Öffnungszeiten“, stellte sie klar. „Wir haben keine nächtlichen Besucher. Vielleicht irre ich mich, aber ich nehme an, dass etwas, was als Geistertour beworben wird, erst im Dunkeln sein volles Potenzial entfaltet.“

„Die Führung beginnt in den Wintermonaten um 20 Uhr“, bestätigte er. „Im Sommer um 21 Uhr.“

„Die Tiere sind es nicht gewohnt, dass hier im Dunkeln Leute herumlaufen.“

„Wir würden uns an Ihre Vorschriften halten, um die Tiere so wenig wie möglich zu stören“, versprach er. „Wenn Sie zustimmen, dass Happy Hearts ein Zwischenstopp auf meiner weihnachtlichen Geistertour wird, wird Ihr Tierschutzverein bekannter werden, was zu mehr Spenden führt.“

„Das ist eine unbewiesene Vermutung.“

Er spürte, dass sie mit der Idee haderte, also lehnte er sich ein Stückchen weiter vor, um seinen Charme noch besser zur Geltung zu bringen. „Kommen Sie, Daphne. Lassen Sie uns zusammenarbeiten.“

Sie trank ihren Kaffee aus und stellte die leere Tasse auf den Tisch. „Was würden Sie Ihren Kunden erzählen?“

„Gästen. Bei Bronco Ghost Tours laden wir unsere Gäste ein, mit uns auf eine Reise voller Geheimnisse und Entdeckungen zu gehen.“

„Aber was wollen Sie Ihren Gästen über Happy Hearts erzählen?“, fragte sie, offensichtlich besorgt darüber, dass Ihr Zuhause einen schlechten Ruf bekommen könnte.

„Ich habe die Geschichte noch nicht im Detail ausgearbeitet, aber ich habe vor, mich auf das Feuer zu konzentrieren, bei dem der Stall niedergebrannt ist und nicht nur drei Pferde, sondern auch die Tochter des Ranchers, sein einziges Kind, ums Leben kamen.“

„Und ihr Liebhaber“, ergänzte Daphne.

Das ließ ihn innehalten.

„Meine Nachforschungen haben nicht ergeben, dass noch jemand bei dem Brand gestorben ist.“ Er war überrascht – und fasziniert – von dieser Offenbarung eines weiteren Details, das die Geschichte noch ergreifender machte. „Vielleicht waren sie unglückliche Liebende“, sinnierte er. „Die Leute mögen tragische Liebesgeschichten fast genauso gern wie glückliche.“

„Hauptsache Sie verkaufen Tickets“, vermutete sie, immer noch etwas angespannt.

„Eigentlich geht es mir mehr darum, meine Gäste mit einer Geschichte zu fesseln. Ich möchte, dass sie sich in die Personen hineinversetzen und verstehen, warum ihr Geist weiterhin in dieser Welt verweilt.“

„Ist der Verlust eines Lebens nicht schon tragisch genug?“

„Das kann sein“, bejahte er.

„Ich muss zugeben, dass ich befürchte, dass die Aufmerksamkeit, die Happy Hearts durch diese Tour bekommen könnte, eher negativ statt positiv ausfällt.“

„Wir müssen ja nicht sagen, dass es hier spukt. Es könnte auch sein, dass die Geister der Pferde über die Tiere wachen, die heute hier leben.“

„Das ist ein ziemlich einzigartiger Blickwinkel. Oder ein großer Haufen Pferdemist.“

Anscheinend war sie immer noch nicht überzeugt. Und nun, da ihre Tassen ausgetrunken waren, lief ihm die Zeit davon.

„Sie haben offensichtlich noch Fragen. Sagen Sie mir, was Sie wissen wollen“, schlug er vor.

„Ich muss wissen, dass die Tiere von dieser Zusammenarbeit profitieren werden. Das geht nur, wenn Bronco Ghost Tours einen Teil der Einnahmen aus den Ticketverkäufen an Happy Hearts spendet.“

Evan wusste nicht, ob er gerade richtig gehört hatte. „Sie wollen einen Teil meiner Einnahmen?“

„Nicht von allen Touren, nur von denen, die hierher zur Ranch führen.“

„Sie meinen das ernst“, stellte er irritiert und bewundernd fest. Er hatte sie für eine naive Tierliebhaberin gehalten, aber offensichtlich war sie eine gewiefte Verhandlungsführerin.

„Darauf können Sie wetten. Wie viele Gäste sind in einer Gruppe?“

„Üblicherweise zwölf. Manchmal auch fünfzehn, um größere Familien oder Freundesgruppen unterzubringen. Aber wir lassen keine Gäste unter zwölf zu, also werden hier keine Kinder im Dunkeln herumrennen.“

„Und was kostet ein Ticket?“

„Das ist abhängig vom Termin und von der Tour“, antwortete er ausweichend. „Für Familien und Gruppen gibt es außerdem einen Rabatt.“

„Aber mindestens 50 Dollar pro Ticket?“

„Aber das ist nicht der bloße Gewinn“, protestierte er. „Ich habe auch Unkosten.“

Sie nickte. „Glauben Sie mir, ich kenne mich mit Unkosten aus. Trotzdem halte ich fünf Dollar von jedem verkauften Ticket für einen angemessenen Betrag.“

„Fünf Dollar von jedem verkauften Ticket“, wiederholte er fassungslos.

„Ich wette, das Geld wird den Tieren viel mehr helfen als Ihnen. Kommen Sie, ich führe Sie herum, damit Sie sie kennenlernen können.“

Also folgte er ihr von Box zu Box, wo sie ihm zahlreiche Kühe, Pferde und Schafe vorstellte, außerdem eine störrische Ziege namens Agatha und einen Hahn namens Reggie. Evan war nicht nur von Daphnes Arbeit, sondern auch von ihren Fähigkeiten als Fremdenführerin beeindruckt.

„Falls Sie jemals bei Bronco Ghost Tours aushelfen wollen, geben Sie mir Bescheid“, sagte er, als sie gerade das Adoptionszentrum betraten, wo unzählige Hunde, Katzen und auch ein paar Kaninchen auf interessierte Besucher warteten, die ihnen ein neues Zuhause schenken wollten.

„Ich wäre keine Bereicherung für Ihr Unternehmen“, sagte sie und drehte sich zu einem bellenden Hund um.

„Weil Sie nicht daran glauben, dass der Stall von den Geistern des Liebespaares und der Pferde heimgesucht wird?“

„Ich fühle mich mit Lebewesen, die im Hier und Jetzt leben, wohler“, antwortete sie und hockte sich hin, um den hellen Labrador zu begrüßen, der auf sie zugelaufen war.

Ihre Erklärung war kein Dementi. „Sie haben hier irgendetwas gesehen oder gehört“, riet er.

„Nur Gerüchte und Tratsch.“

Er war unsicher, ob er ihr glauben sollte, wollte sie aber nicht weiter bedrängen. Hoffentlich hätten sie später Zeit, alles zu besprechen, wenn sie sich auf die Vertragsbedingungen geeinigt hatten.

„Wer ist denn dieser freundliche Kerl?“, fragte er, als der Hund sich von Daphne wegdrehte – und seine Nase in Evans Schritt steckte.

„Barkley“, sagte sie scharf, um das Tier zu ermahnen und gleichzeitig seine Frage zu beantworten. „Normalerweise ist er schüchterner. Er muss erst noch Manieren lernen.“

Evan ging in die Hocke, um auf gleicher Höhe mit dem Hund zu sein und einer weiteren Demütigung seiner Männlichkeit aus dem Weg zu gehen. „Wie lange haben Sie ihn schon?“

„Sieben Monate.“

Er streichelte das weiche Fell unter Barkleys Kinn, und der Hund hechelte zufrieden. „Was ist seine Geschichte?“ Evan wusste, dass jedes Tier auf dem Hof eine ganz eigene hatte.

„Seine Mutter wurde wenige Tage, bevor sie fünf Welpen geworfen hat, hier abgegeben. Wir hatten zehnmal so viele Anfragen wie Welpen, sodass sie mit acht Wochen glücklicherweise alle zu ihren neuen Familien ziehen konnten.“

„Ich wette, Welpen sind immer sehr beliebt.“

Sie nickte. „Barkley war als Erster seines Wurfes ausgezogen, aber drei Tage später wurde er zurückgebracht.“

„Warum?“

„Wie sich herausstellte, ist der vierjährige Sohn schwer allergisch. Barkley war zuerst gar nicht unglücklich, weil er die Ranch noch kannte. Er ist herumgerannt und hat nach seinen Brüdern und Schwestern gesucht. Aber die waren natürlich alle schon weg. Als ich ihn in seinen Auslauf gesetzt habe, hat mir sein Winseln das Herz gebrochen. Ich hätte es einfach ignorieren sollen, aber so konnte ich ihn nicht zurücklassen. Also habe ich ihn mit ins Haus genommen – nur für eine Nacht –, mit der Absicht, am nächsten Morgen die Adoptionsanfragen noch einmal durchzugehen, um ihm eine neue Familie zu suchen.“

„Nur für eine Nacht, was?“, sagte er amüsiert.

„Das war der Plan. Aber aus einer Nacht wurden zwei, und jetzt, sieben Monate später, gehöre ich ihm genauso wie er mir.“

„Ein Glücksfall für beide Seiten.“

„Stimmt.“

„Sie haben hier eine ganz schön bunte Mischung“, stellte er fest. „Lehnen Sie auch mal Tiere ab?“

„Nur, wenn wir sie nicht unterbringen oder versorgen können.“

„Ist das schon mal vorgekommen?“

„Im Frühling wurden wir angefragt, ob wir zwei Schwarzbärenjunge aufnehmen können. Wir haben den Anrufer an ein Wildtierzentrum in Helena verwiesen, wo man verwaiste Jungtiere aufnimmt und später wieder auswildert.“

„Auch ohne die Bären ist hier viel los“, stellte er fest, als sie zum Ausgangspunkt ihres Rundgangs zurückkehrten. „Wie schaffen Sie das alles allein?“

„Gar nicht. Ich werde zum Glück von vielen Freiwilligen unterstützt. Darunter sind Schüler, die hier Montag bis Freitag einen halben Tag arbeiten, um sich das anrechnen zu lassen.“

„Trotzdem packen Sie mit an, wenn Not am Mann ist. Sie haben keine Angst, sich die Hände schmutzig zu machen“, stellte er anerkennend fest.

„Manchmal frage ich mich, ob sie jemals sauber sein werden.“

Er lachte über diese Bemerkung. „Ehrlich gesagt, was Sie hier geleistet haben, ist erstaunlich.“

Erstaunlich? Hatte er zu dick aufgetragen? Vielleicht hätte er „bewundernswert“ sagen sollen. Wahrscheinlich wäre das der angebrachtere Ausdruck gewesen, aber jetzt konnte er es nicht mehr zurücknehmen.

„Ich weiß nicht, ob es so ist. Aber danke.“

„Lassen Sie sich das von jemandem sagen, der noch nie versucht hat, sich um etwas Anspruchsvolleres als eine Zimmerpflanze zu kümmern. Es ist nicht nur erstaunlich, es ist ehrfurchtgebietend.“

„Beeindruckend“ wäre gut gewesen, „ehrfurchtgebietend“ war viel zu übertrieben.

„Wie ist es der Zimmerpflanze ergangen?“, wunderte sie sich.

Er verzog das Gesicht. „Nicht gut.“

Jetzt lachte sie. „Ich habe auch keinen grünen Daumen. Im Sommer stellen wir zwar Blumenkübel auf, aber für die ist Elaine, eine meiner Freiwilligen, zuständig.“

„Sie sind also nicht perfekt.“

„Ganz und gar nicht.“

„Haben wir einen Deal?“ Er wollte die Sache endlich unter Dach und Fach bringen.

„Werden Sie fünf Dollar jedes verkauften Tickets an Happy Hearts spenden?“, erwiderte sie stur.

„Ich denke …“ Er blieb wie angewurzelt stehen, als ihm ein unerwarteter kalter Schauer über den Rücken lief. „Hören Sie das?“

Daphne war im selben Augenblick neben ihm stehen geblieben, also musste sie es auch hören.

Aber sie sah ihn nur neugierig an. „Was denn?“

Langsam schüttelte er den Kopf, doch dann war das Geräusch wieder zu hören. Diesmal sogar etwas lauter, wodurch ihm das Blut kalt durch die Adern floss. „Es klingt wie ein Mensch … Wie eine … weinende Frau.“

Sie legte den Kopf schief, als lauschte sie gebannt, und zuckte mit den Achseln. „Manchmal klingen Kojoten oder Füchse wie eine schreiende Frau.“

Aber er hatte niemanden schreien gehört, sondern weinen. Und obwohl das Geräusch wieder verklungen war, konnte er das Gefühl der Trauer noch nicht abschütteln, das über ihn gekommen war.

„Oder Sie erzählen schon so lange Schauergeschichten, dass Sie anfangen, sie zu glauben“, schlug sie vor.

„Ja, vielleicht ist es das“, stimmte er ihr zu, nur um nicht die Wahrheit zugeben zu müssen – dass der Eigentümer von Bronco Ghost Tours gar nicht an Geister glaubte.

Nicht mehr zumindest.

Denn in seiner frühen Jugend hatte er eine Phase durchgemacht, in der er die Gegenwart jener zu spüren geglaubt hatte, die von uns gegangen waren. Auf jeden Fall hatte es ihn jedes Mal gekribbelt, wenn er an der Stadtbibliothek vorbeigekommen war, wo es einhundert Jahre zuvor zu einem brutalen Mord gekommen war. Oder an dem alten Gerichtsgebäude, wo man den Bibliotheksmörder hingerichtet hatte.

Da sein paranormaler Spürsinn sechs Monate, nachdem sein Vater die Familie sitzen gelassen hatte, zum ersten Mal eingesetzt hatte, war seine Mutter davon überzeugt gewesen, dass er bloß Aufmerksamkeit bekommen wollte.

Zwei Jahre später, als er seine Fähigkeit immer noch nicht wie gehofft verloren hatte, war seine Mutter mit ihm zum Kinderpsychologen gegangen. Dr. Henson hatte ihr bestätigt, dass es für Kinder, die ein emotionales Trauma wie die Trennung der Eltern erlebt hatten, nicht ungewöhnlich war, Dinge zu sehen, die nicht da waren.

Und so stand die Diagnose fest: Evan sah Geister, weil es einfacher für ihn war, zu glauben, sein Vater wäre von etwas verscheucht worden, das nicht existierte, anstatt die Wahrheit zu akzeptieren – dass Andrew Cruise seine Familie einfach im Stich gelassen hatte.

Nach ein paar weiteren Sitzungen war Evan jedenfalls davon überzeugt, dass er gar keine Geister sah, sondern lediglich seine Fantasie dazu nutzte, über den Verlust seines Vaters hinwegzukommen. Und irgendwann hatte er gänzlich aufgehört, Dinge zu sehen oder zu hören, die nicht da waren.

Bis jetzt.

Er schüttelte das plötzliche Gefühl der Melancholie ab und widmete sich wieder dem Thema. Normalerweise hätte er gefeilscht, um den Preis auf die Hälfte zu drücken, aber im Moment wollte er einfach nur das Geschäft abschließen, damit er hier verschwinden konnte. „Sie müssen etwas von dem legendären Verhandlungsgeschick Ihres Vaters geerbt haben, Daphne Taylor.“

Urplötzlich verdüsterte sich ihre Miene. „Mein Vater hat mir gar nichts beigebracht“, sagte sie mit einer Stimme, die all ihre Wärme verloren hatte.

Da er einen Nerv getroffen zu haben schien, sparte er sich eine Nachfrage. „Nun, dann eben fünf Dollar pro Ticket.“

„Wirklich?“ Sie entspannte sich wieder und lächelte.

Seltsamerweise war er so angetan von ihrem Lächeln, dass er dachte, jeder Betrag sei ein kleiner Preis, wenn er sie dafür so zum Strahlen bringen konnte. „Abgemacht?“

„Abgemacht“, bestätigte sie und streckte zuerst die Hand aus.

Diesmal war er auf das Gefühl vorbereitet, das er verspürte, als sich ihre Handflächen berührten. Er war sich zwar unsicher, was diese gegenseitige Anziehungskraft bedeutete, aber er freute sich aufrichtig auf ihre Zusammenarbeit.

3. KAPITEL

Evan glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick.

Vielleicht glaubte er nicht mal an romantische Liebe.

Familiäre Liebe hingegen war eine ganz andere Sache, und seine Zuneigung zu seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Großmutter war durch und durch echt. Dass er – vielleicht ein wenig zu sehr – auf den Erfolg seines Unternehmens fixiert war, lag daran, dass er sich sicher sein musste, auch im Notfall für sie sorgen zu können.

Natürlich hätten sich die Frauen in seiner Familie gegen diesen Gedanken gesträubt – und das zurecht. Sie waren klug, stark und konnten auf sich selbst aufpassen. Aber er als sprichwörtlicher Mann im Haus, seit sein Vater die Familie verlassen hatte, trug die Verantwortung für sie. Und niemand – weder seine Mutter noch seine Schwester oder gar seine Großmutter – konnte ihn vom Gegenteil überzeugen.

Er musste an sie denken, als er sich von Happy Hearts auf den Weg zum Bungalow seiner Mutter machte. Wanda Cruise war vor über zwanzig Jahren in das kleine Haus umgezogen, nachdem ihr Ehemann zusammen mit dem Geld von ihrem gemeinsamen Konto verschwunden war und sie mit einer unbezahlbaren Hypothek und zwei kleinen Kindern sitzen gelassen hatte, die nicht verstanden, warum ihr Daddy nicht mehr nach Hause kam.

Vanessa war noch zu klein gewesen, um sich an Andrew Cruise zu erinnern. Evan wusste, dass sie das störte, aber er fand, sie hatte Glück, dass ihre ersten drei Lebensjahre für sie ein Rätsel waren. Denn so konnte sie nicht vermissen, was es nicht mehr gab.

Außerdem wurde sie dadurch auch nicht mit der Erinnerung daran belastet, wie ihre Mutter nach der Trennung geweint hatte. Zunächst hatte Evan ihre Tränen als Zeichen dafür gedeutet, dass sie ihren Mann vermisste. Erst später hatte er erkannt, dass sie sich Sorgen darum machte, wie sie ihnen ein Dach über dem Kopf bieten und Essen auf den Tisch bringen sollte.

Wanda hatte ihre Teilzeitstelle als Sekretärin bei einer Anwaltskanzlei zu einer Vollzeitstelle umwandeln müssen. Mehr Arbeitsstunden hatten weniger Zeit für die Kinder bedeutet, doch glücklicherweise hatten ihre Eltern ihr bereitwillig zur Seite gestanden.

Dorothea und Michael McGowan waren mehr als Großeltern für Evan und Vanessa gewesen – sie waren Ersatzeltern. Sie hatten die Nachmittagsbetreuung übernommen, bei den Hausaufgaben geholfen und waren zu Schulveranstaltungen gegangen. Die Lücke, die ihr ehemaliger Schwiegersohn hinterlassen hatte, hatten sie nicht nur ausgefüllt, sondern Vanessas und Evans Leben mit Liebe und Lachen bereichert.

Zu seiner Großmutter hatte Evan eine besondere Beziehung. Sie schien immer zu verstehen, was er dachte und fühlte, und über die Jahre war ihre Bindung sogar noch enger geworden.

Evan parkte in der Auffahrt hinter dem uralten Minivan seiner Mutter und schüttelte den Kopf. Mehrmals hatte er ihr angeboten, ihr ein neues Auto und sogar ein neues Haus zu kaufen. Etwas Größeres und Schöneres, vielleicht in Bronco Heights statt in Bronco Valley. Aber sie hatte jedes Mal abgelehnt. Sie sei glücklich in dem kleinen Haus, das voller Erinnerungen steckte, hatte sie gesagt.

Er fragte sich, ob das stimmte. Konnte sie sich wirklich nur auf die guten Zeiten konzentrieren und all die Probleme, die sie allein geschultert hatte, vergessen? Anscheinend schon, denn sie lächelte und lachte viel. Doch es störte ihn, dass sie ihm nicht gestattete, seine Wertschätzung für sie mit einer großen Geste zu untermauern.

Die Geistertouren waren überraschend lukrativ. Außerdem hatte er einige kluge Investitionen getätigt, als er das Geld dazu hatte. Die Entscheidung, seit diesem Jahr auch Merchandise anzubieten, hatte sich ebenfalls als Segen erwiesen. In seinem zum Souvenirshop umfunktionierten Büro verkaufte er nun auch Baseballcaps, T-Shirts und andere Dinge, die das Firmenlogo zierten. Sogar Weihnachtsbaumkugeln, wobei das die Idee seiner Mutter gewesen war.

Er verstand nicht, warum irgendjemand eine Glaskugel kaufen sollte, die für Bronco Ghost Tours warb, aber Wanda hatte gesagt, das Schmücken des Weihnachtsbaumes stelle für viele Familien eine Art glückliche Reise in die Vergangenheit dar. Er wusste, dass sie recht hatte, aber er selbst konnte auf diese Reise gut verzichten.

Er schüttelte den Gedanken ab, klopfte und trat ein. Die Stiefel zog er an der Tür aus und schlenderte danach in die Küche.

„Hier riecht es aber gut.“

„Ich mache Schweinebraten mit den kleinen Kartoffeln, die du so magst“, erklärte Wanda und rührte in einem Topf auf dem Herd herum.

„Soll ich dir helfen?“

„Nein, du wärst mir sicher nur im Weg. Nimm dir was zu trinken und kümmere dich um deine Oma, bis das Essen fertig ist.“

„Okay.“ Er öffnete den Kühlschrank, holte eine Dose Cola für sich und eine Dose Ginger Ale für seine Großmutter heraus. Dann füllte er das Ginger Ale in ein Glas mit Eis, da sie nur ungern aus der Dose trank, und ging ins Wohnzimmer.

Grandma Daisy blickte auf, als er das Zimmer betrat. Ihre haselnussbraunen Augen leuchteten vor Freude. Nach dem Tod von Grandpa Mike vor drei Jahren war sie in den Bungalow gezogen. Nicht, weil sie nicht in der Lage wäre, allein zu leben, wie sie allen versichert hatte, sondern weil sie es nicht wollte. Da Vanessa inzwischen ausgezogen war, um in Billings als Lehrerin zu arbeiten, hatte sich Wanda über die Gesellschaft gefreut.

„Da ist ja mein Lieblingsenkel“, begrüßte ihn Grandma Daisy.

„Das sagst du immer, wenn ich der Einzige hier bin.“

„Und der Klügste“, sagte sie mit einem Augenzwinkern.

Schmunzelnd reichte er ihr das Glas.

„Danke.“ Sie drehte ihm die Wange zu.

Gehorsam gab er ihr einen Kuss und schob den Gedanken an den merkwürdigen Social-Media-Post, der ihm gerade wieder eingefallen war, ganz weit weg von sich.

„Woran arbeitest du gerade?“, fragte er, als er das aufgeschlagene Skizzenbuch auf ihrem Schoß entdeckte. Er sah mehrere Zeichnungen von ein und demselben Mann. „Ist das jemand, den du kennst?“

Zwischen Grandma Daisys Augenbrauen zeichnete sich eine tiefe Falte ab. „Ich weiß es nicht genau“, antwortete sie zögerlich. „Er kommt mir bekannt vor, aber … ich kann ihn nicht zuordnen.“

Verwundert nahm Evan das Buch in die Hand und blätterte es durch. Neben dem Mann gab es auch mehrere Porträts einer Frau und eine detaillierte Zeichnung eines beeindruckenden Holzhauses. „Und was ist mit diesen Skizzen?“ Er zeigte ihr, welche er meinte.

„Ach, ich weiß doch auch nicht. Das ist mir alles einfach so eingefallen.“ Sie schien lieber das Thema wechseln zu wollen. „Reich mir mal meine Tasche“, forderte sie ihn auf.

„Musst du ganz dringend mein Porträt malen?“, neckte er sie und griff nach der Tasche.

„Frecher Junge“, schimpfte sie mit einem Augenzwinkern, steckte eine Hand in die Seitentasche und zog einen Flachmann hervor.

Amüsiert sah er dabei zu, wie sie einen gehörigen Schuss Whiskey in ihr Glas gab.

„Und dafür …“ Sie steckte den Flachmann zurück in sein nicht ganz so geheimes Versteck. „… verrate ich dir nicht, dass ich zum Nachtisch Apfelkuchen gebacken habe.“ Sie nahm einen Schluck von ihrem Drink. „Aber erzähl mir doch von deiner weihnachtlichen Geistertour.“

Neben dem Kunstunterricht, den seine Großmutter im örtlichen Seniorenzentrum gab, war sie auch montags im Buchclub und besuchte dreimal die Woche einen Yogakurs. Dadurch war sie bestens vernetzt und wusste über jeden Klatsch und Tratsch in der Stadt Bescheid.

Und da seine Grandma mehr als alle anderen in der Familie von seinen Geschichten von übernatürlichen Ereignissen fasziniert war, erzählte er ihr sogar von seinem Besuch bei Happy Hearts und den Geisterpferden.

Was er unerwähnt ließ, war die weinende Frau, die er auf der Ranch gehört haben wollte. Vielleicht, weil Callies Recherchen nichts darüber ergeben hatten, dass der Geist der Tochter noch immer dort verweilen könnte. Und jetzt, mit etwas Abstand, war er sich auch nicht mehr sicher, ob das, was er gehört hatte, überhaupt erwähnenswert war.

Vielleicht war es ja doch nur ein wildes Tier gewesen, wie Daphne vorgeschlagen hatte.

Oder der Wind.

Oder vielleicht ein knarrendes Tor.

Oder der Wind, der an einem knarrenden Tor rüttelte.

Es gab unzählige vernünftige Erklärungen für das, was er gehört hatte, und bei keiner davor spielte irgendein Geist eine Rolle.

Also ignorierte er das unbehagliche Gefühl in sich, denn Gefühle zu ignorieren, war eines der Dinge, die er am besten konnte.

Daphne kaute auf ihrem Daumennagel herum. Es war eine Angewohnheit aus Kindertagen und ein sicheres Zeichen dafür, dass sie aufgeregt war. Denn heute Abend erwartete sie zum ersten Mal die weihnachtliche Geistertour auf Happy Hearts.

Ihre Anwesenheit war zwar nicht notwendig, hatte Evan ihr versichert, aber sie wollte dabei sein. Nicht nur, um sicherzustellen, dass die Gäste respektvoll mit ihren Tieren umgingen, sondern auch, um die Geschichte über das Feuer zu hören und zu sehen, ob irgendjemand noch mehr darüber wusste.

Sie hatte schon einige Monate auf der Ranch gelebt, bevor sie sich endlich eingestand, dass sie das Weinen hörte. Dasselbe Weinen, das Evan bei seinem ersten Besuch vernommen hatte. Natürlich hatte sie es zunächst für alles andere gehalten, nur nicht für einen trauernden Geist. Letztendlich war es neben dem Geräusch die Traurigkeit, die auf Daphnes Herz lastete, die sie davon überzeugte, dass Alice nicht in Frieden ruhte.

Aus diesem Grund wollte sie die Reaktionen der Gäste mit eigenen Augen sehen. Aber vor allem wollte sie ihn wiedersehen.

Er war am Morgen vorbeigekommen, um die Vertragsdetails zu besprechen. Und während er jeden einzelnen Punkt durchgegangen war, konnte sie nur daran denken, wie gern sie ihn küssen wollte.

Nur ein Kuss, um zu sehen, ob er der Eine war.

Oder um zu beweisen, dass sie aus einer Mücke einen Elefanten machte.

Vielleicht verzweifelte sie ja wirklich langsam, weil sie sich verlieben, heiraten und eine Familie gründen wollte, dieser Traum jedoch zu platzen drohte. Vielleicht war es ihre eigene Schuld, weil sie ihren Lebenshof ausgerechnet in Bronco aufgebaut hatte, in einer Stadt voller Viehzüchter. Aber irgendwie war eben das auch der Grund, weshalb sie hier war – um einen Unterschied zu machen.

Trotzdem tat das Getuschel weh, das in der ganzen Stadt kursierte. Viele hielten sie für ein verwöhntes, reiches Mädchen, das seinem Vater bloß eins auswischen wollte. Noch schlimmer war, dass ihr Vater offenbar dasselbe dachte und ihren Lebenshof manchmal „Hippie Hearts“ nannte, als ob das lustig wäre. Als wäre ihr Wunsch, Tieren zu helfen, nichts weiter als ein Witz.

Cornelius hatte seiner Tochter schon immer ein zu weiches Herz attestiert und ihr geraten, sich ein dickeres Fell zuzulegen, um auf einer Ranch bestehen zu können. Anstatt härter zu werden, war sie ausgezogen.

Das hatte an den Spannungen zwischen ihnen jedoch nichts geändert, und wann immer sie sich stritten, schaffte er es, die Sache so zu drehen, dass er als Geschädigter daraus hervorging. So wie am Vortag, als sie vorgeschlagen hatte, Auberginen und gefüllte Pilze zum Thanksgiving-Essen beizusteuern. Cornelius hatte ihr Angebot nicht nur abgelehnt, sondern sich auch noch beschwert, Daphne wolle ihrer Stiefmutter vorschreiben, dass sie vegetarisch zu kochen habe.

Vielleicht versuchte sie also doch zu krampfhaft, Liebe zu finden, weil sie ihr bisher verwehrt geblieben war. Zumindest bis Evan auf ihrer Ranch erschienen war und ihr Herz zum Galoppieren gebracht hatte.

Ein Kuss wäre nicht zu viel verlangt, denn abgesehen von ein paar Flirtversuchen war ihre Beziehung bisher rein geschäftlich gewesen. Hoffentlich ändert sich das bald, dachte sie.

Deshalb hatte Daphne auch nach getaner Arbeit geduscht, eine saubere Jeans und ihren Lieblingsstrickpulli angezogen und etwas Mascara auf ihre Wimpern und einen Hauch Lipgloss auf ihre Lippen getupft. Nun wartete sie mit Mantel und Stiefeln gewappnet draußen in der Kälte.

In der Ferne sah sie die Scheinwerfer des Kleinbusses von Bronco Ghost Tours aufleuchten, bevor sie das Knirschen der Reifen auf dem Schotter hörte, und die Schmetterlinge in ihrem Bauch wieder zu flattern begannen. Evan hielt vor dem Haus, um die Tiere im Stall nicht zu stören.

Als alle Gäste ausgestiegen waren, führte er sie zu der nahegelegenen Koppel, wo sie von den Laternenpfählen angeleuchtet wurden, die den Weg zum Stall säumten.

Daphne beobachtete sie aus dem Schatten heraus. Die Gäste trugen Schlüsselbänder mit Namensschildern um den Hals.

„Willkommen bei Happy Hearts. Wir sind hier bei einem Tierschutzverein, der ausgedienten, verwaisten oder kranken Haus- und Nutztieren ein glückliches Zuhause schenkt – doch das war nicht immer so“, begann Evan zu erzählen.

„Wenige Wochen nach Thanksgiving vor sechzig Jahren wütete ein schreckliches Feuer auf dem Anwesen, das damals noch Whispering Willows hieß. Das Feuer brach aus, als Henry und Thelma Milton, die Besitzer der Ranch, zum Abendessen in der Stadt waren. Als sie zurückkehrten, stand der Stall bereits in Flammen und die Feuerwehr versuchte zu verhindern, dass das Feuer auf das Haus übergreift, vor dem wir jetzt stehen“, berichtete er und zeigte auf Daphnes Haus.

„Während sie das Haus retten konnten, wurde der Stall vollständig zerstört. Henry und Thelma hatten den Verlust des Gebäudes, das Henrys eigener Großvater fünfzig Jahre zuvor errichtet hatte, der gesamten Ausrüstung und Vorräte und vor allem den Verlust dreier wertvoller Pferde zu betrauern.“

Ein mitfühlendes Raunen ging durch die Menge, die sich von der genau mit der richtigen Portion Dramatik gewürzten Geschichte mitnehmen ließ.

„Hilflos musste das Ehepaar dabei zuse...

Autor

Kaylie Newell
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Michelle Major
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.</p>
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Kathy Douglass
Als Tochter lesebegeisterter Eltern ist Kathy Douglass mit Büchern aufgewachsen und hat schon früh eins nach dem anderen verschlungen. Dann studierte sie Jura und tauschte Liebesgeschichten gegen Gesetzestexte ein. Nach der Geburt ihrer zwei Kinder wurde aus der Liebe zum Lesen eine Liebe zum Schreiben. Jetzt schreibt Kathy die Kleinstadt-Romances,...
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