Big Sky - weiter Himmel, weites Land - Teil 1-3

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BIG SKY COUNTRY - DAS WEITE LAND

Urplötzlich steht Sheriff Slade Barlows ruhiges Leben kopf. Erst vermacht ihm sein Vater, der ihn nie anerkannt hat, die Hälfte seiner riesigen Farm. Sehr zum Missfallen seines Halbbruders. Dann schneit die Teenagertochter seiner Exfrau bei ihm rein. Und schließlich taucht Joslyn Kirk wieder in Parable auf, ehemalige Cheerleaderin, Rodeo-Queen und Schönheitskönigin. Früher hat er sie nur von Weitem angehimmelt, inzwischen mutiger geworden, kommt er ihr jetzt erstaunlich nahe. Dass sie mit seinem Halbbruder befreundet ist, macht die Sache allerdings kompliziert...

DER BERG DER SEHNSUCHT

Nur aus einem Grund ist Kendra nach Montana zurückgekehrt: Hier kann ihre kleine Tochter Madison unbeschwert aufwachsen, umgeben von liebevollen Menschen. Kein Grund für ihre Rückkehr ist dagegen Hutch Carmody! Damals hat der millionenschwere Rancher und heiratsscheue Draufgänger Kendras Herz gebrochen. Doch dass er ihr jetzt ständig über en Weg läuft, kann kein Zufall sein... Und er hat eine kleine Verbündete: Madison, die sich sehnsüchtig einen Daddy wünscht. Allerdings ist Kendra überzeugt: Hutch will vielleicht Leidenschaft - aber ganz bestimmt keine Familie: Ganz Parable weiß schließlich noch, wie er seine Braut vor dem Altar hat stehen lassen.

BIG SKY RIVER - AM REIßENDEN FLUß

Die Erinnerung an seine verstorbene Frau ist wie der Fluss, der an Boone Taylors Grundstück vorbeifließt. Immer da, nicht aufzuhalten... Erst als Boone sich zum Sheriff wählen lässt, scheint ein erster Schritt in Richtung Zukunft getan, ein zweiter, als er seine kleinen Söhne wiedersehen will. Und dann ist da seine Nachbarin Tara Kendall. Eigentlich eine Frau, die für Boone alles verkörpert, was ihn provoziert. Angefangen von ihrem Model-Look bis hin zu ihrem wahnwitzigen Plan einer Hühnerfarm! Doch sobald sie sich näherkommen, spürt er wieder Hoffnung: Das Leben könnte für ihn weitergehen - wäre da nicht seine Angst, erneut einen geliebten Menschen zu verlieren.


  • Erscheinungstag 19.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768515
  • Seitenanzahl 960
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Linda Lael Miller

Big Sky - weiter Himmel, weites Land - Teil 1-3

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1. KAPITEL

Parable, Montana

Du warst nicht auf der Begräbnisfeier“, fuhr Hutch Carmody seinen Halbbruder Slade Barlow an. Sein vorwurfsvoller Ton war unüberhörbar.

Slade sah Hutch nicht direkt an, musterte ihn aber aus dem Augenwinkel. Sie saßen nebeneinander auf zwei unbequemen Stühlen vor einem riesigen Schreibtisch. Maggie Landers, die Anwältin ihres gemeinsamen Vaters, von der sie beide herbestellt worden waren, hatte sich bis jetzt noch nicht blicken lassen.

„Ich war bei der Beisetzung auf dem Friedhof“, antwortete Slade nach einer Weile tonlos. Es war die Wahrheit. Allerdings hatte er sich etwas abseits der Menge gehalten, da er einerseits nicht bei den anderen Trauergästen stehen wollte, es andererseits aber auch nicht geschafft hatte, ganz wegzubleiben.

„Warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht zu kommen?“, fragte Hutch provokant. „Oder wolltest du dich nur davon überzeugen, dass der Alte wirklich in der Kiste liegt?“

Slade war kein jähzorniger Mann. Seinem Naturell entsprechend, dachte er erst und redete dann. Wenn er sich zu irgendetwas äußerte, tat er es stets ruhig und mit Bedacht. Diese Eigenschaft hatte sich in all den Jahren, seit er zum Sheriff ernannt worden war, gut bewährt. Doch bei dem scharfen Unterton in den Worten seines Halbbruders spürte er, wie ihm die Hitze bis zum Hals hinaufkroch und es in seinen Ohren zu pochen begann.

„Vielleicht war es das, ja“, erwiderte er gedehnt und voller Verachtung, während die Bürotür hinter ihnen leise geöffnet wurde.

Hutch hatte gerade seinen Stuhl zurückgeschoben, als wollte er aufspringen und auf Slade losgehen. Stattdessen blieb er sitzen und fuhr sich – vermutlich als Ventil für den Adrenalinstoß – mit einer ruckartigen Bewegung durch seinen dunkelblonden Haarschopf.

Slade war über sich selbst entsetzt, weil er sich gerade zu dieser Provokation hatte hinreißen lassen. Gleichzeitig empfand er wegen Hutchs Reaktion ein tiefes, grimmiges Gefühl der Befriedigung. Sie beide konnten sich, wie man so schön sagte, auf den Tod nicht ausstehen.

„Schön, dass Sie einander nicht umgebracht haben“, bemerkte Maggie fröhlich, während sie um den glänzenden riesigen Schreibtisch herumging und dann auf dem Lederstuhl dahinter Platz nahm. Mit über 50 Jahren, den kurzen, perfekt gefärbten braunen Haaren und den grünen Augen, die für gewöhnlich intelligent und schelmisch funkelten, sah sie immer noch umwerfend aus. Sie drehte sich ein wenig zur Seite, um ihren Computer hochzufahren.

„Jedenfalls noch nicht“, meinte Hutch schließlich.

Obwohl Slade Maggie nur im Profil sehen konnte, bemerkte er, dass sie einen Mundwinkel hochgezogen hatte, und schmunzelte. Ihre Finger, die jeden Samstagvormittag im Friseursalon seiner Mutter sorgfältig manikürt wurden, flogen eifrig über die Tastatur. Der Monitor warf einen schwachen blauen Lichtschein auf ihr Gesicht und die dünne Jacke ihres maßgeschneiderten cremefarbenen Hosenanzugs.

„Wie geht es Ihrer Mutter, Slade?“, erkundigte sie sich freundlich, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

Maggie und seine Mutter Callie waren ungefähr im gleichen Alter und schon befreundet, solange Slade denken konnte. Angesichts der Tatsache, dass er Maggie erst gestern zufällig im „Curly-Burly“, dem Frisiersalon seiner Mom, getroffen hatte, nahm Slade an, dass es sich um eine rein rhetorische Frage handelte. Einfach um Small Talk.

„Danke, es geht ihr gut.“ Mittlerweile hatte sich Slades unbändiges Bedürfnis nach Brudermord gelegt. Nun grübelte er wieder über jene Sache, die ihn beschäftigte, seit die ehrenwerte Ms Landers heute Morgen bei ihm zu Hause angerufen und ihn gebeten hatte, auf dem Weg zur Arbeit doch in ihrer Kanzlei vorbeizukommen.

Der Termin musste mit dem Testament des Alten zu tun haben, obwohl Maggie das am Telefon nicht direkt gesagt hatte. Alles, was sie verraten hatte, war: „Es wird nicht lange dauern, Slade. Und glauben Sie mir, es ist in Ihrem Interesse, wenn Sie dabei sind.“

Hutchs Anwesenheit war nur logisch, da er der eheliche Sohn war. Der Goldjunge, der von seiner Geburt an darauf vorbereitet worden war, der alleinige „Herrscher“ über die gesamten Besitztümer zu werden. Man hatte ihn auch dann noch darauf vorbereitet, nachdem er mit zwölf Jahren seine Mutter verloren hatte und infolgedessen tun und lassen konnte, was er wollte. Slade selbst wiederum war als uneheliches Kind der klassische Außenseiter gewesen.

John Carmody hatte ihm kein einziges Mal Beachtung geschenkt. Kein einziges Mal in den mittlerweile 35 vergangenen Jahren. Äußerst unwahrscheinlich, dass John auf dem Sterbebett seinem Herzen einen Ruck gegeben und das Ergebnis seiner längst vergessenen Beziehung mit Callie in seinem Testament berücksichtigt hatte.

Nein, dachte Slade. Carmody hatte kein Herz gehabt. Auf jeden Fall nicht, sobald es um ihn und seine Mutter ging. Während der ganzen Zeit hatte er nicht ein einziges Wort mit Slade gesprochen. Bei jeder Begegnung hatte er durch ihn hindurchgeschaut, als wäre er unsichtbar. Falls dieser halsstarrige Mistkerl Maggie beauftragt hatte, dafür zu sorgen, dass Slade bei der Verlesung des Testaments anwesend war, konnte das nur einen Grund haben: Wenn Hutch die ganzen Ländereien und das Geld bekam, sollte Slade wissen, was ihm entging.

Du kannst es dir sonst wohin stecken, Alter, schoss es Slade wütend durch den Kopf. Er hatte nie erwartet – oder sich gewünscht –, auch nur einen müden Cent von John Carmody zu kriegen. Schlimm genug, dass er das Aussehen dieses Kotzbrockens geerbt hatte– die dunklen Haare, die schlanke, muskulöse Statur und die blauen Augen. Und es ärgerte ihn, dass Maggie, die Freundin seiner Mutter, dabei mitspielte, wenn er hier seine Zeit vergeuden musste.

Maggie klickte mit der Maus, und ihr Drucker begann, eine Seite nach der anderen auszuspucken. Währenddessen drehte sie sich zu Hutch und Slade und sah die beiden an.

„Ich erspare Ihnen das juristische Geschwafel“, sagte sie, holte die Blätter aus dem Drucker und sortierte sie in zwei Stapel. Dann schob sie die beiden Papierstöße über den Tisch, sodass jeder von ihnen einen vor sich liegen hatte. „Hier sind alle Fakten. Sie können das Testament bei Gelegenheit durchlesen.“

Slade warf nur einen kurzen Blick auf die Ausdrucke und machte keine Anstalten, sie zu nehmen.

„Und wie sind die Fakten?“, fragte Hutch mürrisch. Vollidiot, dachte Slade.

Maggie verschränkte die Finger und lächelte milde. Es bedurfte mehr als eines arroganten Cowboys, um sie aus der Fassung zu bringen. „Der Besitz soll zwischen Ihnen beiden zu gleichen Teilen aufgeteilt werden“, verkündete sie.

Slade war so verblüfft, dass er einfach nur reglos dasaß. Es hatte ihm den Atem verschlagen, als hätte ihm gerade jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt.

Durch seinen Kopf summte ein einziger Gedanke – wie eine eingesperrte Motte, die den Weg nach draußen sucht: Was zum Teufel hatte das alles zu bedeuten?

Hutch, der ohne Zweifel genauso schockiert war wie Slade – wenn nicht sogar noch mehr –, beugte sich vor und presste barsch hervor: „Was haben Sie da gerade gesagt?“

„Sie haben mich schon richtig verstanden, Hutch“, antwortete Maggie gelassen. Sie mochte vielleicht aussehen wie eine würdevoll alternde Elfe, doch sie nahm es mit den besten Staatsanwälten des Landes auf und machte – bildlich gesprochen – re – gelmäßig Kleinholz aus ihnen.

Slade schwieg. Er versuchte immer noch, die Neuigkeit zu verdauen.

„Schwachsinn“, murmelte Hutch. „Das ist Schwachsinn.“

Maggie seufzte. „Trotzdem“, meinte sie, „ist es das, was Mr Carmody wollte. Er war mein Mandant, und es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass sein letzter Wille erfüllt wird. Immerhin hat ihm Whisper Creek gehört. Er hatte jedes Recht, so über sein Eigentum zu verfügen, wie er es für richtig hielt.“

Slade hatte sich mittlerweile zumindest wieder so weit gefangen, dass er sprechen konnte. Seine Stimme klang dennoch heiser. „Was wäre, wenn ich Ihnen sagte, dass ich nichts davon möchte?“, wollte er wissen.

„Wenn Sie mir das sagten“, erklärte Maggie sanft, „würde ich antworten, dass Sie den Verstand verloren haben, Slade Barlow. Wir reden hier von einer Menge Geld. Dazu kommt eine äußerst gewinnbringende große Ranch und alles, was dazugehört – inklusive Gebäude, Tiere und Bodenschätze.“

Erneutes Schweigen – kurz, gefährlich und mit Emotionen aufgeladen.

Hutch war derjenige, der zuerst das Wort ergriff. „Wann hat Dad sein Testament geändert?“

„Er hat es nicht geändert“, erwiderte Maggie, ohne zu zögern. „Mr Carmody hat die Papiere vor Jahren aufsetzen lassen, da war mein Vater noch in der Kanzlei tätig. Er hat sie vor sechs Monaten, nachdem seine Krankheit diagnostiziert wurde, sogar nochmals persönlich durchgesehen. Es ist das, was er wollte, Hutch.“

Hutch schnappte sich seine Ausdrucke und stand auf. Slade erhob sich ebenfalls, ließ die Dokumente jedoch liegen. Ihm kam alles völlig unwirklich vor. Wahrscheinlich träumte er. Jeden Moment würde er in kaltem Schweiß gebadet zwischen zerwühlten Laken allein in seinem alten Bett aufwachen … In seiner Wohnung aufwachen, in der er lebte, seit er vor zehn Jahren nach dem College, einem militärischen Einsatz und einer kurzen Ehe – gefolgt von einer höchst freundschaftlichen Scheidung – nach Parable zurückgekehrt war.

„Ich fasse es nicht“, murmelte Hutch. Seine Stimme war rau wie Sandpapier. Er war für die Rancharbeit angezogen und trug alte Jeans, ein blaues Baumwollhemd und ein Paar abgewetzte Stiefel. Vermutlich bedeutete das, dass er genauso wenig wie Slade gewusst hatte, was es mit diesem Termin auf sich haben würde.

„Danke, Maggie“, hörte Slade sich sagen, während er sich zum Gehen umwandte.

Er war nicht dankbar; nur aus Gewohnheit war es ihm herausgerutscht.

Maggie erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und ihm nach. Dann drückte sie ihm den Ausdruck des Testaments seines Vaters mit sanfter Gewalt in die Hand. „Lesen Sie es wenigstens“, verlangte sie. „Ich werde Sie in ein paar Tagen zu einem weiteren Gespräch zu mir bitten. Bis dahin haben Sie beide Zeit, alles zu verarbeiten.“

Slade erwiderte nichts. Er spürte, wie das Papier zerknitterte, als er reflexartig die Blätter fester umklammerte.

Nachdem er wenige Augenblicke später die Tür seines Pickups geöffnet hatte, stand Hutch wieder neben ihm.

„Ich kaufe dir deine Hälfte der Ranch ab“, schlug er mit gepresster Stimme vor. „Das Geld interessiert mich nicht. Davon habe ich ohnehin genug. Aber Whisper Creek ist seit fast hundert Jahren im Besitz meiner Familie. Mein Urgroßvater hat das ursprüngliche Haus und den Stall mit seinen eigenen Händen gebaut. Also sollte die Ranch mir allein gehören.“

Die Betonung von meiner Familie war ein subtiler und gleichzeitig unmissverständlicher Wink mit dem Zaunpfahl.

Slade erwiderte den grimmigen Blick seines Halbbruders. Dann griff er nach seinem Hut, den er – nach alter Cowboytradition – mit der Krempe nach oben auf dem Beifahrersitz seines Wagens liegen lassen hatte, bevor er Maggies Kanzlei betreten hatte. „Ich muss darüber nachdenken.“

„Was gibt es da nachzudenken?“, fragte Hutch nach einer weiteren spannungsgeladenen Pause. „Ich zahle bar, Barlow. Nenn mir deinen Preis.“

Nenn mir deinen Preis. Slade wusste, dass er auf den Deal eingehen sollte. Er sollte einfach froh sein, dass John Carmody es für angebracht gehalten hatte, ihm etwas zukommen zu lassen – wenn auch erst nach seinem Tod. Alles, was Slade tun musste, war, Ja zu sagen. Dann könnte er sich das kleine Stück Land kaufen, auf das er schon seit ein paar Jahren ein Auge geworfen hatte. Er könnte es bar bezahlen, statt seine Ersparnisse für eine Anzahlung plündern zu müssen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, Hutchs Angebot anzunehmen; etwas, das andere – tiefere – Gründe hatte als seine generelle Unfähigkeit, impulsiv zu reagieren.

Indirekt hatte John Carmody zu guter Letzt seine Existenz doch noch zur Kenntnis genommen. Slade brauchte Zeit, um dieses Wissen erst einmal zu verdauen und herauszufinden, was es bedeutete. Wenn es denn überhaupt etwas bedeutete …

„Ich melde mich bei dir.“ Slade stieg in seinen Pick-up und setzte seinen Hut auf. „Inzwischen muss ich mich um mein County kümmern.“ Er knallte die Autotür zu.

Hutch schlug mit der Handkante fest gegen die Tür. Dann drehte er sich um, stürmte zu seinem Pick-up mit dem Whisper-Creek-Logo drauf, lief um die Motorhaube herum, riss die Wagentür auf und sprang auf den Fahrersitz.

Slade beobachtete, wie sein Halbbruder das Auto anließ, den Rückwärtsgang einlegte und die Reifen dabei ordentlich Kies aufwirbelten. Hutch war sichtlich wütend, aber immerhin so schlau, nicht das Tempolimit zu überschreiten, während der Sheriff zusah.

Slade wartete ein paar Sekunden, dann gab er Gas und bog in die schmale Nebenstraße ein. Er sollte längst in seinem Büro drüben im Justizgebäude sein und seine Deputys auf Streife in die verschiedenen Teile des Countys schicken. Stattdessen fuhr Slade los Richtung Highway. Fünf Minuten später hielt er vor dem Zuhause seiner Mutter, einem alten Wohnwagen mit rostgesprenkeltem Aluminiumunterbau und einem Anbau aus Sperrholz, der als Wohnbereich diente.

In seiner Kindheit hatte sich Slade manchmal wegen des chaotischen Gebildes aus Metall und Holz geschämt. Es war so notdürftig zusammengebaut, dass nur mehr das hüfthohe Unkraut, ein paar aufgebockte Schrottautos und rostige Haushaltsgeräte auf der Veranda fehlten, um der klassischen Hinterwäldler-Behausung zu entsprechen. Callie hatte ihn gezwungen, die zweifarbigen Außenwände des Wohnwagens – jenen Teil, in dem sich der Friseursalon befand – mindestens zweimal im Jahr gründlich zu reinigen. Außerdem hatte Slade den Rest regelmäßig frisch gestrichen.

Auf dem staubigen Schild am Rand des Schotterparkplatzes waren diese Woche sogar alle Wörter richtig geschrieben: Acrylnägel: halber Preis. Zehn Prozent auf Strähnchen/Dauerwelle.

Slade schmunzelte, als er den Motor abstellte und ausstieg.

Der Salon öffnete erst um zehn Uhr, doch drinnen brannte bereits Licht. Höchstwahrscheinlich blubberte auch schon das Wasser in der Kaffeemaschine.

Kaum dass Slade sich dem Wohnwagen näherte, ging die Tür auf, und Callie begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. In der Hand hielt sie einen Besen.

„Hey!“, rief sie.

„Hey“, erwiderte Slade missmutig.

Callie Barlow war eine kleine Frau mit großer Oberweite und rotbraunen Haaren, die sie mit einer gewaltigen Plastikspange hochgesteckt hatte. Sie trug türkisfarbene Jeans, rosa Westernstiefel und ein grellgelbes T-Shirt, das mit kleinen Strasssteinchen verziert war.

„Na, das ist aber eine Überraschung.“ Sie stellte den Besen beiseite und klopfte sich die staubigen Hände ab. Ihr Gesichtsausdruck war herzlich wie immer, doch der Blick ihrer grauen Augen war erstaunt, fast schon besorgt. Sie wusste, dass Slade seinen Job ernst nahm und es ihm überhaupt nicht ähnlich sah, während seiner Dienstzeit bei ihr vorbeizuschauen. „Sorgt dein Revier jetzt schon selbstständig für Recht und Ordnung?“

„Meine Deputys halten die Stellung“, antwortete Slade. „Ist der Kaffee schon aufgesetzt?“

„Natürlich.“ Callie trat einen Schritt zurück, damit er hereinkommen konnte. „Das ist ungefähr das Erste, was ich jeden Morgen mache – die Kaffeemaschine einschalten.“ Nur kurz und kaum merklich runzelte sie die Stirn. Schließlich gewann aber ihre angeborene direkte Art die Oberhand. „Na, was ist schiefgelaufen?“, fragte sie.

Slade seufzte, nahm seinen Hut ab und legte ihn auf die Theke neben Callies Kasse. „Ich weiß nicht, ob schiefgelaufen der richtige Ausdruck ist“, meinte er. „Ich komme gerade aus Maggie Landers’ Kanzlei. Scheint so, als hätte John Carmody mich in seinem Testament bedacht.“

Erstaunt riss Callie die Augen auf. Dann musterte sie ihn skeptisch. „Wie bitte?“ Sie räusperte sich.

Er hakte seine Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans, neigte den Kopf zur Seite und betrachtete seine Mutter prüfend. Falls Callie von der Erbschaft gewusst hatte, gelang es ihr verdammt gut, sich nichts anmerken zu lassen.

„Die Hälfte“, fuhr er fort. „Er hat mir die Hälfte von allem vererbt, was er besessen hat.“

Callie ließ sich auf einen der Frisierstühle fallen. Beinahe hätte sie sich den Kopf an der Plastiktrockenhaube gestoßen. Sie blinzelte ein paarmal, wobei sich in einem Augenwinkel die falschen Wimpern lösten. Sie drückte sie mit der Fingerspitze wieder fest. „Das glaube ich einfach nicht“, murmelte sie.

Slade schob die Trockenhaube über dem Stuhl seiner Mutter hoch und setzte sich; umfasste die Hand seiner Mutter gerade lang genug, um sie kurz zu drücken.

„Glaub es ruhig.“ Er war ziemlich ratlos, was er sagen sollte. Er liebte Callie und sie standen sich sehr nahe, doch sie hatte ihn nicht zu einem Menschen erzogen, der sofort wegen irgendwelcher Neuigkeiten nach Hause lief.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie leise. Ihre Unterlippe zitterte ein wenig, und in ihren Augen, die normalerweise strahlten und keck funkelten, lag ein bedrückter, fast gequälter Ausdruck.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Slade leise. „Hutch hat es – was nicht anders zu erwarten war – nicht besonders gut verkraftet. Er hat bereits angeboten, mir meinen Anteil der Ranch abzukaufen.“

Callie schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war das alte Leuchten in ihrem Blick wieder da. Callie war zäh; hatte es immer sein müssen. Schon früh hatte sie ihre Eltern verloren und später ein uneheliches Kind in einer Stadt bekommen, in der so etwas ein Problem darstellte. Sogar ein großes Problem. Aber wegen dieser Schwierigkeiten war Callie nicht zu einer verbitterten Frau geworden, wie es bei manch anderen der Fall war. Vielmehr hatte sie die Dinge so genommen, wie sie kamen, das Beste daraus gemacht und Slade so erzogen, dass er sie – und sich selbst – respektierte. Sie gehörte zu den ausgeglichensten Menschen, die Slade kannte. Manchmal allerdings fragte er sich, wie viel von dieser Ausgeglichenheit nur gespielt war.

„Ein oder zwei Mal“, begann sie, „als du noch ein Teenager warst, hat mir John ein paar Dollar für Lebensmittel, Glühbirnen oder Dinge zugesteckt, die du für die Schule brauchtest. Doch dass er das tun würde, hätte ich nie gedacht. Keine Sekunde.“

„Er war immer für eine Überraschung gut, schätze ich.“ In Slades Worten schwang ein Hauch von Sarkasmus mit.

„Nicht überraschend war, wie eingebildet er war“, erwiderte Callie. „Er hatte furchtbare Angst, dass ich mich erdreisten würde, dich nach ihm zu nennen. Dadurch wäre der Skandal noch größer geworden, als er ohnehin schon war. Aber nachdem er erfahren hatte, dass ich dich ‚Slade‘ genannt hatte, meinte er, ich hätte wohl zu viele Westernserien im Fernsehen geschaut. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, ihm zu erklären, dass ich deinen Namen aus einer Geschichte hatte, die ich in Ranch Romances gelesen habe.“

Slade lächelte. Callie hatte ihm von diesen Romanheften und davon erzählt, wie sie damals beim Lesen alles um sich herum vergessen hatte. Sie hatte ihm auch gesagt, dass sie ihn nach ihrem Lieblingshelden benannt hatte.

Bei John Carmodys Beerdigung war sie nicht gewesen. Soweit Slade sich erinnern konnte, hatte sie in letzter Zeit auch nie von ihm gesprochen. Erst jetzt kam Slade in den Sinn, dass sie möglicherweise dennoch um ihn trauerte. Sie musste John Carmody einmal geliebt haben.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

Sie nickte. Dann schluckte sie. „Nimmst du Hutchs Angebot an?“, fragte sie schließlich.

Wieder seufzte er. „Wenn ich das bloß wüsste. Einerseits kann ich es mir durchaus vorstellen. Ich könnte das Stück Land kaufen, auf das ich schon seit einer Weile ein Auge geworfen habe. Ich könnte ein Haus und einen Stall bauen. Andererseits … Tja, ein kleiner Teil von mir möchte mein Geburtsrecht geltend machen und will, dass es die ganze Welt erfährt.“

Callie tätschelte seine Hand, stand von dem Stuhl auf und ging zur Kaffeemaschine, einem glänzenden Ungetüm aus Metall, das wie ein altmodischer Dampfkocher klang, wenn man es einschaltete.

„Ich schätze, das ist verständlich.“ Sie wandte ihm den Rücken zu, während sie Kaffee in einen großen Styroporbecher goss und ihn mit einem Deckel verschloss. „Der Wunsch, dass die Leute die Wahrheit erfahren, meine ich.“

Slade war aufgestanden, hatte seinen Hut von der Theke genommen und drehte die Krempe langsam zwischen den Händen. „Ich glaube nicht, dass es irgendjemanden überraschen wird“, wandte er ein. Er erinnerte sich gut an das Gerede, das in seiner Jugend der Auslöser für viele Prügeleien auf dem Schulhof gewesen war.

Callie war nicht einmal zwanzig Jahre alt gewesen, als sie sich mit Carmody eingelassen hatte. Sie war naiv und mutterseelenallein gewesen und gerade von einem dubiosen Beauty-Institut in Missoula zurückgekehrt – mit nichts als einem Friseurdiplom in der Tasche. Außer dem alten Wohnwagen, in dem sie aufgewachsen war, und den zwei kargen Morgen Land dahinter, die sich schräg abfallend zum Ufer des Buffalo Creek erstreckten, hatte sie nichts besessen. Ihr geliebter „Großvater“ war damals bereits zwei Jahre tot gewesen.

„Es tut mir leid, Slade“, sagte sie nun. „Es tut mir leid, was du meinetwegen alles durchmachen musstest. Sobald ich erfahren hatte, dass John ohnehin die ganze Zeit vorhatte, eine andere zu heiraten, wurde mir von praktisch allen Leuten geraten, dich zur Adoption freizugeben. Aber das habe ich nicht übers Herz gebracht. Ich nehme an, das war egoistisch von mir, doch du warst mein Junge, und ich wollte sehen, wie du zu einem Mann heranwächst.“

„Ich weiß.“ Slade beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Ihm war das alles bereits bekannt, und er konnte verstehen, dass Callie viele Dinge bereute. Tatsächlich war er aber froh, dass sie ihn behalten hatte. Sie hatte viele Opfer gebracht und hart gearbeitet, um das Geschäft aufzubauen, von dem sie beide gelebt hatten. Manchmal mehr schlecht als recht … Des Öfteren hatte sie darauf verzichtet zu heiraten, aus Parable wegzuziehen und dadurch endlich ein gewisses Maß an gesellschaftlichem Ansehen genießen zu können.

Stattdessen hatte sie durchgehalten, hier, in ihrer alten Heimatstadt. Sie war davon überzeugt gewesen, jedes Recht zu haben, hierzubleiben. Das Gleiche hatte sie für ihren Sohn in Anspruch genommen. Und zwar unabhängig davon, ob es John Carmody, seiner Braut aus der High Society von Parable oder einigen hochnäsigen Bewohnern der Stadt nun gefiel oder nicht.

Slade hatte versucht, in Worte zu fassen, wie dankbar er für den unerschütterlichen Mut war, den sie jeden Tag aufs Neue bewiesen hatte. Dankbar für das gute Vorbild, das sie ihm gewesen war, indem sie hart gearbeitet und sich nicht hatte unterkriegen lassen. Und dankbar dafür, dass sie sich einfach dem Leben stellte und aus dem, was sie hatte, immer das Beste machte. Nur ihretwegen war er zu einem starken Menschen mit einem scharfen Verstand herangewachsen, der sich in seiner Haut wohlfühlte. Sie hatte ihm ein unerschütterliches Vertrauen in sich selbst und in sein Urteilsvermögen mitgegeben, das ihn nie verlassen hatte – auch nicht während seines Einsatzes im Irak und der schweren Zeit, als seine Ehe zerbrochen war.

Er blieb bei der Tür stehen und drehte sich – immer noch mit dem Hut in der Hand – zu ihr um. „Jetzt kannst du dich zur Ruhe setzen. Vielleicht eine Reise machen oder etwas anderes unternehmen.“

Callie lachte melodisch. „So weit kommt’s noch, Slade Barlow“, erwiderte sie. „Falls du glaubst, dass ich einen dicken Scheck von dir annehme und den Rest meines Lebens Pralinen esse oder mir in meinem Urlaub anderer Leute Gärten angucke, hast du dich getäuscht. Ach, ich wüsste gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte, wenn ich meinen Salon nicht hätte. Und was würden denn meine Kunden ohne mich tun?“

Slade schüttelte den Kopf und grinste. „Denk einfach darüber nach.“ Eine seltsame, bittersüße Traurigkeit hatte ihn erfasst. „Außerhalb dieser Stadt gibt es eine ganze Welt, Mom.“

Callie machte eine abwehrende Handbewegung und griff wieder nach dem Besen. „Mag sein. Aber ich bleibe hier.“

„Du bist verdammt dickköpfig. Ist dir das klar?“

„Was glaubst du, woher du das hast?“, entgegnete sie.

Slade hatte immer gedacht, dass er seine Sturheit – ebenso wie sein Aussehen und seine Statur – von John Carmody hatte. Jetzt allerdings erkannte er, dass diese Eigenschaft die Kehrseite der unerschütterlichen Beharrlichkeit seiner Mutter war.

Er winkte, ging zu seinem Pick-up, stieg ein und fuhr los.

Er hätte schon vor einer halben Stunde bei der Arbeit sein müssen.

Mittlerweile hatten seine Deputys und Becky, die langjährige Sekretärin, vermutlich schon alles für eine Suchaktion in die Wege geleitet. Samt Leichenspürhunden und einem Plan für eine Rasterfahndung.

Bei dieser Vorstellung musste Slade auf seiner Fahrt zurück ins Sheriffbüro breit grinsen.

Joslyn Kirk hatte an diesem Morgen verschlafen. Als sie die Augen öffnete, brauchte sie ein paar Sekunden, bis sie wusste, wo sie war: ausgerechnet in jener Stadt, in die sie nie mehr einen Fuß hatte setzen wollen – Parable, Montana.

Sie richtete sich in ihrem Schlafsack auf. Da sie gestern spät in der Nacht angekommen war, hatte sie sich nicht mehr die Mühe gemacht, das alte Messingbett zu beziehen. Jetzt sah sie sich um und ließ die Tapeten mit Rosenmotiven, die abgewetzten Dielen, die Zierleisten aus Holz und den schweren Kleiderschrank auf sich wirken.

Sie befand sich im Gästehaus hinter jenem Herrenhaus, das den Großteil ihrer Kindheit ihr Zuhause gewesen war. Viele Erinnerungen holten sie ein: An einem sonnigen Morgen wie heute hätte am anderen Ende des weiten grünen Rasens jetzt ihre Mutter auf der Veranda gesessen. Sie hätte Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen. Opal, die Haushälterin, hätte in der riesigen Küche gerade das Frühstück vorbereitet.

Jetzt war ihre Mutter in Santa Fe, wo sie mit Ehemann Nummer drei, einem erfolgreichen Künstler, zusammenlebte. Ehemann Nummer zwei, Elliott Rossiter, war im Gefängnis an einer Embolie gestorben. Wohin es Opal verschlagen hatte, wusste der Himmel. Sie und Joslyn hatten sich tränenreich voneinander verabschiedet und sich versprochen, in Kontakt zu bleiben. Doch dann hatten sie sich vor Jahren aus den Augen verloren.

Joslyn seufzte, strich sich die langen braunen Haare aus dem Gesicht und schlüpfte aus dem Schlafsack. Es hatte keinen Sinn, wegen der Vergangenheit trübselig zu werden. Schließlich war sie aus einem bestimmten Grund nach Parable zurückgekehrt. Und sie musste damit beginnen, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Damit sie diese Stadt möglichst bald wieder verlassen konnte.

Nach einem kurzen Zwischenstopp im Bad und einer schnellen Katzenwäsche am Waschbecken tapste sie barfuß in die winzige Küche. Dort musste sie mehrere Einkaufstüten durchwühlen, bis sie die billige Kaffeemaschine fand, die sie – neben ein paar anderen lebensnotwendigen Dingen – am Vortag beim großen Discounter am Highway gekauft hatte.

Sie kämpfte kurz mit der Filtermaschine, dann mit dem Kaffeepulver und zu guter Letzt mit dem altmodischen Wasserhahn.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie innehalten – aber nur kurz. Ohne Kaffee war nichts mit ihr anzufangen, und außerdem wusste sie, wer der Besucher war.

„Komm rein!“, rief sie.

Ein metallisch klingendes Ruckeln an der Haustür war zu hören, und einen Moment später betrat Kendra Shepherd – seit ewigen Zeiten Joslyns beste Freundin – die Küche.

Kendra – blond und mit der Eleganz einer Balletttänzerin gesegnet – wirkte in ihrem grünen Hosenanzug und den High Heels munter und voller Tatendrang. Sie leitete die Immobilienfirma „Shepherd Real Estate“ – und das mit sichtlichem Erfolg.

„Du solltest die Tür nachts wirklich abschließen“, sagte Kendra ohne Umschweife. „Auch in Parable gibt es Kleinkriminelle, weißt du.“

„Solange sie nur klein sind, brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen“, entgegnete Joslyn ungerührt und zuckte mit den Schultern. Sie hatte sich gerade über die Kaffeemaschine gebeugt und suchte unter den verschiedenen Schaltern den Einschalt-Knopf. Nachdem sie ihn gefunden hatte, drückte sie ihn mit der Spitze ihres Zeigefingers hinunter. Dann richtete sie sich auf, lächelte ihre Freundin an und fühlte sich dabei wegen ihrer Flanellpyjamahose und des riesigen T-Shirts kein bisschen verlegen.

„Ich meine es ernst.“ Kendra ließ nicht locker. „Man möchte meinen, jemand wie du, der in Phoenix lebt, wäre vorsichtiger.“

Joslyn durchwühlte erneut die Einkaufstüten, diesmal auf der Suche nach Tassen und Süßstoff. „Na gut“, sagte sie leicht abwesend aufgrund ihres dringenden Bedürfnisses nach einem Koffeinschub. „Ich hab’s verstanden. Ab sofort werde ich jede Tür und jedes Fenster verriegeln. Vielleicht lege ich mir auch einen Rottweiler mit Killerinstinkt zu.“

Kendra lächelte und zog sich einen Stuhl an den kleinen Tisch, an dem Platz für zwei Personen war. „Immer noch die alte Besserwisserin …“, stellte sie fest. Es klang fast melancholisch.

„Es ist eine Überlebensstrategie“, erklärte Joslyn halb im Scherz, halb im Ernst. Sie strich sich wieder die Haare aus dem Gesicht und betrachtete ihre Freundin voller Zuneigung. „Danke, Kendra. Dafür, dass du mir einen Job gibst und mir das Gästehaus vermietet hast, meine ich.“

Kendra setzte sich mit einer anmutigen Bewegung hin. Sie hatte ihr helles, seidiges Haar zu einem lockeren Knoten im Nacken hochgesteckt, und ihr einfacher Schmuck – goldene Ohrstecker und ein Armreif am rechten Handgelenk – sah elegant und dezent aus.

„Ich habe dich vermisst, Joss“, sagte Kendra, als Joslyn sich neben sie setzte. „Es ist toll, dich wieder hier zu haben …“ Sie verstummte und senkte den Blick.

„Aber?“, fragte Joslyn leise.

„Ich kann mir nicht recht erklären, warum du hier sein willst. Nach allem, was passiert ist.“ Kendra errötete, schaute Joslyn aber nun wieder direkt an. „Wobei du natürlich keine Schuld hattest, doch …“

Die Kaffeemaschine begann zu zischen, und ein verführerischer Duft breitete sich aus. „Ich habe meine Gründe“, antwortete Joslyn. „Ich verlasse mich darauf, dass du mir vertraust, Kendra. Zumindest für die nächsten paar Monate. Sobald ich es erklären kann, werde ich es tun.“

„Die Leute hatten in letzter Zeit mysteriöse Schecks in ihrer Post“, meinte Kendra nachdenklich. „Schecks von einer großen Anwaltskanzlei in Denver. Und, du hast deine Software-Firma verkauft …“

Joslyn sprang auf, ging rasch zur Kaffeemaschine auf der winzigen Anrichte und spülte unter dem Wasserhahn eilig die zwei einfachen Kaffeetassen ab. „Stimmt, ich habe die Firma verkauft“, gab sie zu. Sowie sie es aussprach, überfiel sie ein Gefühl des Verlusts – und das, obwohl der Deal schon vor Wochen abgewickelt worden war. „Allerdings verstehe ich nicht, was das mit den Leuten zu tun hat, die unerwartet Schecks bekommen.“

„Die Empfänger der Schecks haben alle etwas gemeinsam.“ Kendra ließ nicht locker. Sie wäre jetzt nicht in dieser Position, die sie bekleidete, wenn sie schwer von Begriff wäre. „Sie hatten alle Geld in die … Firma deines Stiefvaters investiert.“

Joslyn spürte einen Kloß im Hals. „Zufall“, murmelte sie, nachdem sie wieder sprechen konnte.

Ihre Hände zitterten ein wenig, während sie Kaffee in die beiden Tassen einschenkte.

„Wie du meinst …“, antwortete Kendra nachsichtig.

Als Joslyn sich mit je einer Tasse in der Hand umdrehte, schob Kendra ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich sollte besser los. „Ich habe heute Vormittag eine Vertragsunterzeichnung, und anschließend zeige ich dem gleichen Interessenten zum siebzehnten Mal eine Hühnerfarm.“ Sie blickte hinunter auf ihre Schuhe. „Meinst du, ich sollte statt der High Heels besser Stiefel anziehen?“

Joslyn war über den Themenwechsel so erleichtert, dass sie nicht widersprach. „Wahrscheinlich schon“, stimmte sie zu und stellte sich vor, wie Kendra mit hohen Absätzen auf einer Hüh-nerfarm herumstakste.

„Würde es dir etwas ausmachen, einoder zweimal im Büro nach dem Rechten zu sehen? Nur für den Fall, dass jemand vorbeikommt, der sich eine Immobilie anschauen will. Slade Barlow taucht regelmäßig auf und erkundigt sich, ob das Kingman-Anwesen schon verkauft ist.“

Bei dem Namen Barlow klingelte es sofort bei Joslyn. Sie spürte einen Stich in der Brust und musste erst einmal schlucken, bevor sie antworten konnte. Als Kinder und Teenager hatten sie und Slade in verschiedenen Welten gelebt. Ihre war reich, seine arm gewesen. Damals war sie die Freundin seines Halbbruders Hutch gewesen, was die Sache auch nicht gerade besser gemacht hatte. Obwohl Slade es nie ausgesprochen hatte – er hatte ohnehin kaum je ein Wort mit ihr geredet –, wusste sie, was er damals von ihr dachte: dass sie verwöhnt, egozentrisch und oberflächlich sei.

Schlimmer noch: Er hatte recht gehabt.

Dann war ihr Stiefvater Elliott bankrottgegangen. Und sobald die vielen ehrlichen, hart arbeitenden Leute in Parable gemerkt hatten, dass sie von dem einstigen Lieblingssohn von Parable um ihre Ersparnisse gebracht worden waren, endete Joslyns behütetes Leben mit einem Schlag. Sie, die früher so beliebt gewesen war, fand rasch heraus, wer ihre wahren Freunde waren. Nur Kendra und Hutch hielten zu ihr. Bald nach Elliott Rossiters Verhaftung packten sie und ihre Mutter alles, was sie mitnehmen konnten, in Opals alten Kombi und verließen im Dunkel der Nacht die Stadt.

Joslyn schämte sich immer noch, wenn sie daran dachte. Wegzulaufen widersprach allem, woran sie glaubte.

„Du konntest nichts dafür“, rief ihr Kendra in Erinnerung. Sie war immer schon sensibel und einfühlsam gewesen. Sogar so einfühlsam, dass sie manchmal anscheinend sogar die Gedanken anderer Leute lesen konnte. Wie jetzt zum Beispiel. „Niemand gibt dir die Schuld an dem, was passiert ist, Joss.“

Wieder fühlte Joslyn diesen bitteren, schmerzenden Kloß im Hals, der es ihr kurz unmöglich machte, zu sprechen. Sie stellte die Tassen auf den Tisch, wobei sie den Kaffee fast verschüttete, und zwang sich, Kendra ins Gesicht zu schauen.

„Trotzdem denkst du, ich hätte nicht herkommen sollen“, sagte sie leise und mit ungewohnt zittriger Stimme.

Kendra legte ihre Hand auf Joslyns Arm. „Den meisten Leuten hier ist klar, dass du mit dem Betrug nichts zu tun hattest. Meine Güte, du warst doch noch ein Kind. Aber ein paar Leute nehmen Rossiter die Sache von damals immer noch übel. Möglich, dass sie irgendetwas sagen … Oder tun …“

Joslyn schloss einen Moment lang die Augen. Dann öffnete sie sie energisch und nickte, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte.

Sie würde das tun, wovon sie wusste, dass sie es machen musste – auch wenn sie nicht genau erklären konnte, warum. Eines allerdings war sicher: Es würde nicht einfach werden.

2. KAPITEL

Als Kendra gegangen war, duschte Joslyn, zog sich eine Jeans und ein ärmelloses Leinentop mit winzigen grünen Blumen drauf an, schlüpfte in ihre Lieblingssandalen und machte sich an die Arbeit.

Sie packte die zwei großen Koffer aus, die sie aus Phoenix mitgebracht hatte, und verstaute ihren überschaubaren Vorrat an frischer Kleidung. Dann rollte sie den Schlafsack zusammen und sah sich nach einem Platz um, wo sie ihn verstauen konnte. Letzteres stellte sich als echte Herausforderung dar. Platz war in diesem Gästehaus nämlich etwas, woran es eindeutig mangelte. Unter ziemlicher Anstrengung gelang es ihr schließlich, das unhandliche Bündel unter den Badezimmerschrank zu schieben. Als Nächstes holte sie sich ein paar Laken, die schwach nach frischer Luft und Sonne dufteten, und bezog das Bett.

In ihrem Anfall von Tatendrang stellte Joslyn sogar ihren Laptop auf den kleinen Schreibtisch vor dem Wohnzimmerfenster. Allerdings konnte sie sich nicht überwinden, ihn hochzufahren und sich einzuloggen. Sie hatte viel zu viele 18-Stunden-Arbeitstage hinter sich, an denen sie Software entwickelt hatte. Das neue, von ihr programmierte Spiel hatte sie vermarktet und patentieren lassen und schließlich die ganze Firma für eine beträchtliche Summe an einen multinationalen Konzern verkauft.

Sie war eine sehr reiche Frau gewesen – ungefähr fünf Minuten lang. Jetzt hatte sie einen Gebrauchtwagen und gerade so viel Geld auf der Bank, um – wenn sie sparsam war – ein Jahr davon leben zu können. Außerdem spürte sie zum ersten Mal, seit sie siebzehn war, wieder einen gewissen inneren Frieden.

In Parable spätnachts anzukommen war eine Sache. Sich am helllichten Tag in die Stadt zu wagen, wo sie mit Sicherheit einige Bewohner treffen würde, war natürlich eine ganz andere. Doch sie brauchte ein paar Lebensmittel. Gestern hatte sie ja nur ein paar unverderbliche Dinge besorgt, und außerdem hatte sie Kendra versprochen, im Büro vorbeizuschauen und ein Auge auf potenzielle Kunden zu haben.

Und immerhin, sagte sie sich tapfer, war sie nicht nach Parable zurückgekommen, um sich zu verstecken.

Die Gründe für ihre Heimkehr waren alles andere als konkret, obwohl sie sich die ganze Situation immer wieder durch den Kopf hatte gehen lassen. Klar war, dass sie bei den Leuten, die ihr Stiefvater betrogen hatte, etwas gutmachen wollte. Gleichzeitig wusste sie, dass sie für die Machenschaften eines anderen Menschen nicht verantwortlich war.

Warum also war sie wieder hier? Warum hatte sie so viel geopfert, einen guten Job aufgegeben und die Firma verkauft, die sie sich in nächtelanger Arbeit und ohne ein freies Wochenende aufgebaut hatte? Warum hatte sie ihre Luxuswohnung und ihr Traumauto aufgegeben?

Die einzige Antwort, die Joslyn in diesem oder jedem anderen Moment hätte geben können, war, dass etwas – ein allzu aus – geprägtes Gewissen? – sie an diesen Ort zurückgezogen hatte. Der Drang zurückzukehren war jedenfalls enorm gewesen und hatte sich genauso wenig ignorieren lassen wie ein Tsunami oder ein Erdbeben.

Dieser Drang war, wie ihr schien, aus einem versteckten Teil ihrer Seele gekommen und hatte sie – fast in blindem Vertrauen – zuerst einen Schritt und dann noch einen und noch einen machen lassen.

Es war so ähnlich, als tanzte man mit verbundenen Augen auf einem Seil. Es gab kein Zurück, und wenn sie nicht weiterging, würde sie das Gleichgewicht verlieren und abstürzen.

Joslyn seufzte und marschierte entschlossen zur Tür.

In Kendras Büro kurz nach dem Rechten zu sehen bedeutete natürlich, dass sie das Haupthaus betreten musste. Joslyn wusste, dass sie alle möglichen Erinnerungen einholen würden, sobald sie einen Fuß über die Schwelle setzte. Andererseits sprach einiges dafür, Dinge wie diese einfach hinter sich zu bringen. Kendra wohnte im ersten Stock und hatte das riesige Wohnzimmer zum Büro ihrer Immobilienfirma umgestaltet. Und dort würde Joslyn ab Montag ganztags arbeiten.

Also konnte sie genauso gut jetzt, solange sie noch ungestört war, die bittere Pille schlucken und sich der ersten und unvermeidlichen Begegnung mit ihrer Vergangenheit stellen. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet und die Schultern energisch gestrafft hatte, ging Joslyn über die riesige Wiese, auf der Blumen in unterschiedlichsten Formen und Farben blühten, zum Herrenhaus hinüber. Dann stieg sie die kleine Holztreppe zu der Veranda hinauf und legte ihre Hand auf den Griff der Glastür. Abgesperrt.

Joslyn entfuhr ein Seufzen. Ihr fiel gerade Kendras Bemerkung über die Kleinkriminalität in Parable wieder ein. Offensichtlich beherzigte ihre Freundin selbst, was sie anderen riet. Da sie Joslyn keinen Schlüssel gegeben hatte, war bestimmt das vordere Eingangstor offen.

Joslyn ging die Verandatreppe wieder hinunter und über den vertrauten Plattenweg, der parallel zur weiß glitzernden Kiesauffahrt verlief, auf die andere Seite des Hauses.

Hier war der Garten ebenfalls fast überwuchert von Blumen. Als Joslyn stehen blieb, um sich umzuschauen, konnte sie das Summen der Bienen und fröhliches Vogelgezwitscher hören. Einen Moment lang kam sie sich wie Dorothy aus dem Film „Der Zauberer von Oz“ vor, die von einem Wirbelsturm aus einer Welt in Schwarzweiß in eine atemberaubend farbenprächtige getragen wird.

Bis auf ein geschmackvolles Holzschild, das mit einer Messingkette an einem schmiedeeisernen Balken hing – „Shepherd Real Estate, das ortsansässige Immobilienbüro“ –, sah alles so aus wie damals, als Joslyn noch hier gewohnt hatte.

Vier Säulen stützten das Vordach, und die Kreuzstockfenster, die man kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem englischen Landhaus gerettet hatte, glitzerten in der Sonne wie unzählige diamantenförmige Spiegel. Das Eingangstor aus Mahagoni war verziert mit handgeschnitzten Blättern, Vögeln, Einhörnern und unterschiedlichsten Ornamenten. Ein schwerer Türklopfer aus Messing in Form eines Löwenkopfes passte perfekt zu dem feudalen Stil des großen Ganzen.

Nachdem sich Joslyn vor weiteren aufwühlenden Erinnerungen gewappnet hatte, versuchte sie den Türknauf zu drehen. Er bewegte sich.

Sie schob die Tür auf und trat in die schattige Kühle der riesigen Eingangshalle, die sich über zwei Etagen nach oben erstreckte. Das laute, hallende Ticken der massiven, großen Standuhr erfüllte den Raum.

Durch die Oberlichter fiel buntes Licht; zwei prachtvolle Treppen führten links und rechts hinauf in den ersten Stock. Über die Treppe zur Linken gelangte man in jenen Trakt des Hauses, in dem früher Joslyns Zimmer – in Wahrheit eher eine Suite – gewesen war. Zusätzlich hatte es mehrere große Gästezimmer und ein eigenes Wohnzimmer mit Kamin gegeben. Die rechte Treppe führte hinauf zu der Mastersuite samt dem geradezu dekadent geräumigen Bad, einem richtigen Festsaal und einer ebenfalls nicht gerade kleinen Bibliothek.

Joslyn machte wie hypnotisiert einen Schritt in Richtung Treppe. Doch dann zwang sie sich, stehen zu bleiben.

Dies hier war nicht mehr ihr Zuhause. Es gehörte jetzt Kendra, entsann sie sich.

Ja, Kendra war ihre Freundin – wahrscheinlich sogar ihre beste Freundin. Allerdings bedeutete das nicht, dass Joslyn in diesem alten Haus herumschnüffeln durfte, um zu sehen, was sich in den Jahren seit ihrem Auszug verändert hatte und was nicht.

Sie warf einen verstohlenen Blick in das Wohnzimmer – Elliott hatte es immer als den „Salon“ bezeichnet –, und stellte fest, dass Kendra den Platz gut genutzt hatte. Es gab zwei Schreibtische, beides antike Stücke und beide mit Computern sowie modernen Telefonen ausgestattet. Die Bücherregale links und rechts neben dem Kamin aus grau-weißem Marmor waren übervoll mit Ordnern, wirkten sonst aber ordentlich.

Auf dem eleganten runden Tisch in der Mitte des Raumes glitzerte eine Kristallschale, in der eine schöne rosa Orchidee schwamm.

Joslyn blinzelte, und für den Bruchteil einer Sekunde war der Raum wieder so, wie sie ihn in Erinnerung hatte: ein fröhliches Chaos. Die Regale waren vollgestopft mit Büchern und DVDs, und links und rechts neben dem Kamin standen zwei riesige Sofas mit beigefarbenen Cordbezügen. Spunky, der Cockerspaniel, bellte freudig, als wollte er Joslyn nach langer Abwesenheit endlich wieder begrüßen.

Joslyn blinzelte ein zweites Mal, und natürlich war alles verschwunden.

Sie, ihre Mom und Opal hatten Spunky in jener Nacht ihrer Flucht mitgenommen, und er hatte ein erfülltes langes Leben gehabt.

Joslyn schüttelte das wehmütige nostalgische Gefühl ab und betrat den Raum. In einer Ecke befand sich eine gemütliche Sitzgruppe. Kunden warteten hier, wie Joslyn erleichtert bemerkte, jedoch nicht. Sie fand, sie hatte – zumindest, was ihre Freundin betraf – ihre Pflicht getan. Zumindest fürs Erste.

Sie drehte sich auf dem Absatz um und floh regelrecht aus dem Haus, in dem die Geister ihrer verwöhnten Jugend zu spuken schienen. Dann lief sie zurück zum Gästehaus, um ihr Portemonnaie und die Autoschlüssel zu holen. Sie musste unbedingt kochen – genauso wie das Lesen war die Zubereitung ihrer Lieblingsgerichte und das Ausprobieren neuer Rezepte eine Form von Selbsttherapie für Joslyn –, was bedeutete, dass sie zum Supermarkt musste.

Der Kies knirschte unter den Reifen ihres Wagens, während sie auf die Rodeo Road fuhr und dann nach rechts abbog.

Parable – Einwohnerzahl laut Schild am Stadtrand: 10.421 – verfügte über zwei Supermärkte und jenen Discounter, wo sie sich gestern mit dem Notwendigsten eingedeckt hatte. Doch Joslyn mochte „Mulligan’s Grocery“, den Tante-Emma-Laden gegenüber dem „Curly-Burly“, am liebsten. Dort gehörten nämlich Biofleisch und auch Obst und Gemüse aus biologischem Anbau zum Angebot.

Es war allerdings viele Jahre her, seit sie zuletzt hier gewesen war. Existierte „Mulligan’s“ überhaupt noch? Oder hatte sich das Familienunternehmen der Konkurrenz größerer Läden und der unsicheren Wirtschaftslage geschlagen geben müssen und war pleitegegangen?

Kaum dass sie die Autos auf dem begrünten Parkplatz des Ladens sowie das Geöffnet-Schild im Schaufenster sah, machte ihr Herz vor Freude einen kleinen Hüpfer. Der Getränkeautomat – mittlerweile wahrscheinlich ein wertvolles Sammlerstück – stand gemeinsam mit dem Behälter für die Eiswürfel und einer Reihe von Propangasflaschen fürs Grillen immer noch neben der Fliegengittertür.

Joslyn stellte ihren Wagen ab. Beim Betreten des Geschäfts legte sie sich beschwingt den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter.

Kaum im Laden, hatte sie ein ähnliches Déjà-vu-Erlebnis wie vorhin in Kendras Wohnzimmer.

Angesichts der Tatsache, wie wenig sich die Dinge verändert hatten, kam es Joslyn vor, als befände sie sich in einer Zeitschleife. Die Regale mit dem Brot und den Bonbons befanden sich immer noch an der gleichen Stelle wie damals. Auch der Fußboden bestand immer noch aus den unebenen Dielen, die durch mehrere Kundengenerationen abgewetzt und mit Tausenden von Flecken übersät waren. Die Messingkasse – ein weiteres Relikt aus längst vergangenen Tagen – befand sich wie eh und je auf der Ladentheke. Nur die Menschen waren andere.

Mr und Mrs Mulligan, die beide schon in Joslyns Jugend alt gewesen waren, hatten vermutlich schon lange das Zeitliche gesegnet. Joslyn kannte weder den schlaksigen Mann hinter der Kasse noch einen der Kunden.

Vor lauter Nervosität hatte sie, ohne es zu merken, die Schultern hochgezogen. Nun ließ die Anspannung so plötzlich wieder nach, dass es Joslyn ein wenig schwindlig wurde. Sie war in Gedanken dermaßen mit Erinnerungen und ihrer Einkaufsliste beschäftigt gewesen, dass sie vergessen hatte, sich vor den Begegnungen mit dem einen oder anderen der zahlreichen Opfer ihres Stiefvaters zu fürchten.

Früher oder später würde das höchstwahrscheinlich auch passieren. Momentan jedoch wagte Joslyn zu hoffen, dass sie sich gerade in eine konfrontationsfreie Zone begeben hatte.

Bitte, lieber Gott.

Der Angestellte hinter dem Ladentisch nickte ihr zur Begrüßung kurz zu, schenkte ihr sonst aber keine Beachtung. Auch die wenigen Kunden, die sich gerade Lebensmittel aus den Regalen und den Gefriertruhen holten, nahmen keine Notiz von ihr.

Joslyn holte sich einen der noch übrigen Einkaufswagen – er hatte ein schiefes Rad und quietschte – und fuhr in den ersten Gang. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine richtige Liste zu schreiben, da sie praktisch alles brauchte.

Sie stand gerade vor dem Gewürzregal und griff nach dem Paprikapulver und dem Hähnchengewürz, da merkte sie plötzlich, dass jemand sie beobachtete.

Joslyn schaute auf und blickte in ein Augenpaar, das so blau war, als läge ein Stück Himmel in ihnen. Ein Stück Himmel, das in der beginnenden Abenddämmerung allmählich dunkler wird. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, denn ihr wurde klar, wer der Mann vor ihr war.

Slade Barlow.

Die Dienstmarke, die an seinem Gürtel glänzte, erinnerte Joslyn daran, dass er jetzt Sheriff von Parable County war. Er hatte seinen Hut in der einen Hand und eine Flasche Wasser in der anderen.

Joslyn stellte sich vor, wie er – standesgemäß gekleidet in seiner Jeans, dem Westernhemd und den polierten Stiefeln – jemandem langsam und drohend befahl: „Sieh zu, dass du bis Sonnenuntergang aus der Stadt verschwunden bist.“

„Hallo“, sagte sie, und es hörte sich in ihren eigenen Ohren unglaublich dumm an. Sie fühlte sich wie ein Reh, das geblendet vom Scheinwerferlicht eines herankommenden Autos erschrocken erstarrte.

Slade runzelte die Stirn. Seine Haare waren dunkel und kurz– aber nicht zu kurz – geschnitten, und er sah sie mit seinen dunkelblauen Augen skeptisch an.

„Joslyn?“

Sie biss sich auf die Unterlippe, nickte und wünschte, sie hätte eine Sonnenbrille auf. Oder eine Baseballkappe, deren Schirm sie sich jetzt tief ins Gesicht ziehen könnte.

Oder, noch besser, eine dieser Karnevalsmasken aus dem Billigladen – mit großer Plastiknase und Schnurrbart, beides befestigt an einer Hornbrille.

Slade grinste. „Schau mal einer an …“, sagte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Schau mal einer an? Was sollte das denn bedeuten?

Joslyn zermarterte sich das Hirn. War Sheriff Barlow damals ebenfalls ein Betrugsopfer von Elliott gewesen? Das war allerdings eher unwahrscheinlich. Er war als schüchterner Sohn einer alleinerziehenden Mutter in einem Wohnwagen gegenüber von „Mulligan’s“ aufgewachsen. Bis zur Junior High School hatte er Zeitungen ausgetragen und Autos gewaschen und danach bei der Weizenernte geholfen. Er hatte ein altes Auto mit Rostflecken gefahren, dessen Auspuff mit Klebeband befestigt gewesen war.

Das extreme Gegenteil zu ihrem schicken roten Wagen, den sie am Tag ihrer bestandenen Führerscheinprüfung bekommen hatte.

Nein, Slade hätte nicht die finanziellen Mittel gehabt, um sich an Elliott Rossiters Luftschlössern zu beteiligen. Glück gehabt.

„Es hat mir leidgetan, als ich erfahren habe, dass Elliott …“, begann er.

Jetzt geht’s los, dachte Joslyn und machte sich auf das Schlimmste gefasst. „Leid?“, wiederholte sie, damit sie etwas Zeit gewann.

„Leid, dass er gestorben ist. Was dachtest du denn?“ Slade betrachtete sie leicht amüsiert. Um seine Mundwinkel zuckte es kurz verräterisch. Insgesamt aber war sein Gesichtsausdruck ernst geblieben. Nachdenklich. So, als wäre sie der letzte Mensch, von dem er erwartet hätte, ihm hier in Parable, Montana, oder sonst irgendwo auf der Welt über den Weg zu laufen.

„Danke, dass du nicht ‚im Gefängnis‘ hinzugefügt hast“, erwiderte Joslyn, obwohl sie nicht vorgehabt hatte, irgendetwas in dieser Art zu sagen.

„Das muss man nicht extra betonen, schätze ich“, antwortete Slade wie nebenbei.

Sie wusste, dass er fragen wollte, warum es sie nach Parable verschlagen hatte, und natürlich hätte sie es ihm nicht erklären können. Selbst dann nicht, falls sie es gewollt hätte. Denn sie kannte den Grund ja selbst immer noch nicht genau.

Er nickte ihr zu und schickte sich an, weiterzugehen. „War jedenfalls schön, dich zu sehen“, verabschiedete er sich.

„Ebenfalls“, schwindelte Joslyn.

Sie wäre Slade lieber nicht begegnet, wenn es sich hätte vermeiden lassen. Doch sie musste zugeben – wenn auch nur vor sich selbst –, dass aus Callie Barlows kleinem Sohn ein äußerst attraktiver Cowboy geworden war.

Nachdem er schließlich um die Ecke mit den Regalen mit den Donuts verschwunden war, versuchte Joslyn, sich wieder auf die Gewürze zu konzentrieren. Aber alles, was sie zu dem Paprikapulver und dem Hähnchengewürz in ihren Einkaufswagen legte, waren Salz und Pfeffer.

Das eine Rad des Wägelchens quietschte und schrammte bei jeder Drehung über den Boden, während Joslyn die Fleisch- und Fischabteilung ansteuerte. Sie war überzeugt, dass alle im Laden sie mittlerweile anstarrten und sich daran erinnerten, in welcher Beziehung sie damals zu Elliott Rossiter gestanden hatte.

Sie entschied sich für abgepackten Tilapia, ein junges Bio-Hähnchen und etwas mageres Hackfleisch. Zwischendurch probierte sie sich abzulenken, indem sie auf die schier unfassbar hohen Preise schielte. Nostalgie hin oder her – sollte sie all ihre Einkäufe bei „Mulligan’s“ erledigen, würde sie bald pleite sein.

Das mit der Ablenkung klappte nicht besonders lange.

Slade Barlow war nicht nur in ihren Gedanken; er schien auch ihren Körper durchdrungen zu haben. Es war, als hätte eine Art Energieaustausch zwischen ihnen stattgefunden.

Er war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Auch breitschultriger. Es war noch nicht einmal Mittag, und er hatte schon einen deutlich sichtbaren Bartschatten. Dazu kam, dass diese ruhige Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, sie einerseits anzog und andererseits das Bedürfnis weckte, in die andere Richtung davonzulaufen.

Was hatte denn das nun wieder zu bedeuten?

Sie hörte, wie er ein paar freundliche Worte mit dem Mann hinter der Kasse wechselte, während er sein Wasser bezahlte. Als er den Laden verließ, bimmelte die kleine Glocke über der Tür.

Wie erstarrt und merkwürdig aufgewühlt verharrte sie vor der Gefriertruhe mit dem Fleisch. Fast rechnete sie damit, dass der Himmel gleich einstürzen und durch das nicht unbedingt stabil zu bezeichnende Dach des „Mulligan’s“ krachen würde. Und dann würde dieser Himmel in großen blauen Stücken und umschwebt von weichen Wölkchen um sie herum auf dem Boden landen.

„Bist du nicht Elliotts Tochter?“, fragte jemand mit zittriger Stimme.

Joslyn, die wie betäubt dagestanden hatte, fuhr herum und entdeckte Daisy Mulligan höchstpersönlich hinter sich. Sie war klein und weißhaarig, und zwischen ihren ondulierten Löckchen schimmerte an manchen Stellen die rosa Kopfhaut durch. Davon abgesehen wirkte sie sehr lebendig. Ihre blauen Augen hinter der altmodischen Brille waren wässrig.

Joslyn konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht „Ich dachte, Sie wären tot“ zu sagen. Stattdessen setzte sie ein freundliches Lächeln auf und streckte Daisy die Hand entgegen. „Joslyn Kirk“, meinte sie höflich. „Elliott war mein Stiefvater.“

Daisy nickte langsam und schüttelte Joslyn die Hand. Dabei bedachte sie sie mit einem wachsamen Blick. „Niemand hier dachte, dass aus dem kleinen Rossiter einmal ein Gauner werden würde“, erklärte sie. „Sein Vater und sein Großvater waren beide Ärzte. Anständige Bürger. Wir hätten wissen müssen, dass etwas nicht mit ihm stimmte, nachdem er nicht Medizin studieren wollte.“

Joslyn versuchte, die alte Dame einzuschätzen, doch es gelang ihr nicht. Entweder würde MrsMulligan gleich losschreien, Joslyn als Ausgeburt des Teufels bezeichnen und sie aus dem Supermarkt schmeißen. Oder die alte Dame machte einfach nur Konversation.

Schwer zu sagen. Geradezu unmöglich.

„Und als er kein Mädchen aus der Stadt geheiratet hat“, fügte Daisy hinzu und seufzte bedauernd. Obwohl sie ohne Stock ging und keine orthopädischen Schuhe trug, wirkte sie in ihrer Strickweste und dem einfachen Baumwollkleid zerbrechlich wie ein Vogel.

Oh, oh, dachte Joslyn.

„Damit meine ich nicht, dass deine Mama keine hübsche Frau gewesen wäre“, räumte Daisy ein.

„Ist“, verbesserte Joslyn sie verlegen. „Meine Mutter ist immer noch … wohlauf.“

Daisy tätschelte Joslyns linke Hand, die auf der Stange des wackeligen Einkaufswagens lag. „Schön zu hören“, entgegnete sie. Ihre Augen hinter den verschmierten Brillengläsern waren vor Erstaunen noch größer geworden. „Manche von uns hier haben geglaubt, du würdest zurückkommen und Hutch Carmody heiraten. Ihr zwei wart ja offensichtlich verrückt nacheinander. Die meisten Leute sind allerdings davon ausgegangen, dass du nie mehr in Parable auftauchen würdest.“

Joslyn umklammerte die Stange mit beiden Händen nun so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Noch ehe sie überlegen konnte, was sie darauf erwidern sollte, redete Daisy schon weiter.

„Freds Schwager hat in diesem Chaos, das Elliott angerichtet hat, einen schönen Batzen Geld verloren“, erinnerte sich die alte Dame. „Er ist gestorben, bevor diese Firma in Denver begonnen hat, Schecks zu schicken.“

„Schecks?“, stieß Joslyn krächzend hervor.

„Eine Begleichung der Schulden“, erklärte Daisy Mulligan. „So haben es die Anwälte in ihren Briefen formuliert. Fast alle, die von Elliott reingelegt wurden, haben ihr Geld zurückgekriegt. Mit Zinsen. Für einige war es allerdings schon zu spät.“

Joslyn spürte einen Kloß im Hals. Sie schluckte. Dass ein paar Leute tot waren, die von Elliott abgezockt worden waren, hatte sie gewusst. Ebenfalls war ihr klar gewesen, dass sie jenen Leuten begegnen würde, die noch lebten. Allerdings hatte dieses Wissen sie nicht auf die tatsächlichen Begegnungen vorbereitet. Auch die vielen vernünftigen Antworten, die sie sich auf der Fahrt von Phoenix zurechtgelegt und geprobt hatte, nützten ihr nun nichts.

Daisy plauderte munter weiter. „Die Leute vermuten, dass die Steuerbehörden oder sonst irgendjemand das Geld auf einer Bank im Ausland entdeckt hat. Dort hat Elliott es offenbar deponiert, ehe er ins Gefängnis musste. Es war wie ein Wunder, als plötzlich diese Schecks in den Briefkästen der Leute in Parable aufgetaucht sind.“

Joslyn nickte. Lange würde sie das verkrampfte Lächeln, das sie aufgesetzt hatte, nicht mehr aufrechterhalten können. „So muss es wohl gewesen sein“, stimmte sie zu, obwohl sie wusste, dass das veruntreute Geld nie gefunden worden war. Elliott hatte bestimmt den Großteil, wenn nicht sogar alles, verjubelt.

Daisy lächelte gütig. „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum es dich wieder nach Parable verschlagen hat“, sagte sie in leisem, vertraulichem Ton. Es klang, als sei sie einem Geheimnis auf der Spur. „Es sei denn, du heiratest Hutch Carmody doch noch.“ Sie war fast außer Atem vor Aufregung. „Ihm würde eine Ehefrau ganz guttun. Vielleicht würde er durch sie ein bisschen ruhiger. Er hat nämlich einen Hang zu Abenteuern. Genau wie sein alter Daddy seinerzeit. Und die Familie seiner Mom, tja, die hat zwar immer wahnsinnig vornehm getan, aber das ganze Geld damals in den 20er-Jahren mit Alkoholschmuggel verdient. Davor waren die alle nichts weiter als ein paar arme Schlucker.“

Joslyn fühlte sich während Mrs Mulligans Redeschwall wie jemand, der auf einen fahrenden Güterzug aufzuspringen versucht. „Äh, nein“, entgegnete sie schließlich. „Es gibt keine Hochzeit. Ich meine, Hutch und ich sind zwar Freunde, aber zwischen uns läuft nichts.“

Daisy zwinkerte ihr zu. „Jedenfalls noch nicht.“

Nachdem Mrs Mulligan nun anscheinend alles gesagt hatte, was sie loswerden wollte, nickte sie kurz, drehte sich um und ging.

Joslyn beendete ihren Einkauf, zahlte an der Kasse und schob das doofe Einkaufswägelchen mühsam über den Schotter zu ihrem Auto.

Vor der vorderen Stoßstange saß ein dünner, schmutzig gelber Labrador, dessen Fell voller Kletten war. Er wirkte wie ein deprimierter Anhalter, der auf eine Mitfahrgelegenheit hofft.

Seit Spunky hatte Joslyn kein Haustier mehr gehabt. Sie war viel zu beschäftigt gewesen, um einem Hund oder einer Katze jene Aufmerksamkeit schenken zu können, die sie brauchten. Doch sie hatte ein weiches Herz, was Tiere betraf; vor allem dann, wenn eines so offensichtlich vom Glück verlassen war wie dieser Vierbeiner.

„Hey, Kumpel“, sagte sie, als sie ihre Einkäufe auf dem Rücksitz verstaut und das Wägelchen zurückgeschoben hatte. Jetzt bemerkte sie, dass der Hund ein Halsband trug, an dem mehrere Hundemarken baumelten. Und sie konnte seine Rippen erkennen. „Wem gehörst du denn?“

Er zitterte, lief jedoch nicht weg. Vielleicht hatte der arme Kerl nicht die Kraft dazu. So, wie er aussah, dürfte er schon eine ganze Weile auf sich allein gestellt sein.

Das Beste wäre, ermahnte Joslyn sich, ins Auto zu steigen und abzuhauen. Einfach nach Hause zu fahren, die gekauften Lebensmittel einzuräumen, nochmals in Kendras Büro vorbeizuschauen und dann etwas zu kochen. Schließlich hatte der Hund ja Hundemarken. Irgendjemand würde sich schon darum kümmern, dass er den Weg dorthin zurückfand, wo er hingehörte.

Oder auch nicht.

Genauso gut möglich war, nahm sie an, dass er von irgendeinem herzlosen Idioten ausgesetzt worden war. Einem, der sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, dem Tier das Halsband abzunehmen. Joslyn trat vorsichtig auf den Hund zu. Dabei streckte sie eine Hand aus, damit er ihren Geruch wahrnehmen konnte. Erschöpft beschnüffelte er ihre Finger und begann wieder zu zittern. Aber er blieb, wo er war.

„Du würdest mich doch nicht beißen, oder?“, sagte sie im Plauderton. Ihre Hand befand sich immer noch vor seiner Schnauze. „Ich will dir nämlich nicht wehtun, Kleiner, sondern nur einen Blick auf deine Hundemarken werfen, das ist alles.“

Sie hockte sich vor ihm hin und schaute ihm in seine treuherzigen braunen Augen. In seinem Blick lagen eine ratlose Traurigkeit und die schwache Hoffnung, dass ihm vielleicht doch irgendeine kleine freundliche Geste zuteilwerden würde. Vorsichtig hob Joslyn die ersten zwei Anhänger an seinem Halsband an. Die Nummern auf der ersten Marke waren teilweise abgewetzt, doch die zweite Marke bot mehr an Information. Der Name des Hundes war Jasper. Außerdem war eine Telefonnummer angegeben.

Joslyn kramte ihr Handy hervor und wählte. Es klingelte ein Mal. Ein zweites Mal. Und dann hörte sie eine tiefe und reservierte Stimme auf einem Anrufbeantworter. „Hier spricht John Carmody“, sagte der Mann. „Ich bin derzeit nicht erreichbar. Hinterlassen Sie Ihren Namen usw., dann rufe ich Sie zurück, falls ich Lust habe.“

Trotz des warmen Junitages bekam Joslyn auf beiden Armen eine Gänsehaut.

Es war lange her, dass sie das letzte Mal in Parable gewesen war, aber sie hatte mitbekommen, dass Hutchs Vater gestorben war. Kendra hatte es ihr gemailt, und Joslyn hatte sofort eine Beileidskarte geschickt. Offensichtlich hatte noch niemand MrCarmodys Ansage auf dem Anrufbeantworter gelöscht– mit dem Ergebnis, dass Joslyn nun das Gefühl hatte, gerade mit einem Toten geredet zu haben.

Und das hier war der Hund des Toten. Da es keinen Sinn hatte, eine Nachricht zu hinterlassen, klappte Joslyn ihr Handy einfach zu und ließ es zurück in ihre Tasche fallen.

„Es tut mir so leid, Kumpel.“ Sie streichelte dem Hund liebevoll den Kopf.

Er zitterte wieder.

Sie richtete sich auf, öffnete eine der hinteren Autotüren und begann, die Einkaufstüten in den Kofferraum zu räumen.

Jasper beobachtete sie die ganze Zeit. Sein Blick war immer noch hoffnungsvoll.

„Komm“, sagte sie, sowie die Rücksitze frei waren. „Bringen wir dich nach Hause zur Whisper-Creek-Ranch.“

Jasper zögerte. Er wirkte, als würde er darüber nachdenken. Dann humpelte er folgsam zu Joslyn und sprang winselnd auf den Rücksitz.

War der Hund etwa verletzt? Sollte sie mit ihm direkt zum nächsten Tierarzt fahren? Hinter Joslyns Stirn pochte es schmerzvoll.

Sie setzte sich hinters Steuer und schaute in den Rückspiegel. Jaspers großer Kopf füllte das ganze Sichtfeld aus.

„Alles wird gut“, versprach sie ihm.

Er winselte, legte sich hin und harrte der Dinge, die da kommen mochten.

Joslyn holte wieder ihr Handy aus der Tasche. Hutchs Nummer hatte sie zwar nicht, aber Kendras Nummer war in ihrem Kurzwahlspeicher.

Der Anruf wurde zur Mailbox umgeleitet. Joslyn nahm an, dass ihre Freundin entweder bei der Vertragsunterzeichnung war, die sie vorhin erwähnt hatte, oder gerade dabei war, irgendjemandem die Hühnerfarm zu zeigen.

„Melde dich bitte bei mir, sobald du kannst“, sagte sie. „Ich brauche Hutchs Nummer.“

Sie hatte noch nicht einmal den Parkplatz verlassen, da rief Kendra bereits zurück.

„Warum?“, fragte Kendra, ohne sich vorher lange mit einer Begrüßung aufzuhalten.

Joslyn hielt an und seufzte. „Was meinst du mit Warum?

„Warum brauchst du Hutch Carmodys Telefonnummer?“ Kendra wollte offenbar ungezwungen klingen, allerdings klappte es nicht recht.

Unwillkürlich musste Joslyn schmunzeln. Kendra Shepherd und Hutch Carmody? Etwas Gegensätzlicheres als diese beiden konnte es kaum geben. Sie war stets adrett und in allem bestens organisiert – manche würden sie wohl als Kontrollfreak bezeichnen –, und Hutch war ein Draufgänger, der das Leben so nahm, wie es gerade kam.

Und bei diesen Eigenschaften fingen ihre Gegensätzlichkeiten erst an!

Andererseits passierten oft noch viel seltsamere Dinge auf der Welt – vor allem dann, wenn es um Liebe ging.

„Ich brauche die Nummer deshalb“, sagte Joslyn betont cool, „weil ich Lust auf eine Nacht voll wildem, hemmungslosem Sex habe. Dafür eignet sich Hutch genauso gut wie jeder andere Mann auch, schätze ich.“

Kendra war einen Moment lang sprachlos. Dann lachte sie. „Tja, wenn du etwas Wildes suchst, ist Hutch eindeutig der Richtige für dich.“

Volltreffer, dachte Joslyn. Sie musste immer noch grinsen.

„Aber jetzt mal ernsthaft, Kendra, ich habe gerade den Hund seines Vaters gefunden, und der arme Kerl sieht ziemlich mitgenommen und liebesbedürftig aus.“

„Jasper? Du hast Jasper gefunden?“

„Ja“, antwortete Joslyn geduldig. „So steht es zumindest auf seiner Hundemarke. Und als ich die Nummer angerufen habe, bin ich auf John Carmodys Anrufbeantworter gelandet.“

„Das muss merkwürdig gewesen sein.“ Es folgte eine kurze Pause. „Bleib kurz dran. Ich suche in meinem Telefonbuch gerade nach Hutch.“

„Ich bleibe dran.“ Joslyn trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad.

„555-6298“, sagte Kendra schließlich.

Joslyn schrieb die Nummer mit dem Zeigefinger auf das staubige Armaturenbrett ihres Wagens. „Danke. Übrigens, bevor ich von zu Hause losgefahren bin, habe ich im Büro vorbeigeschaut. Es war niemand da.“

„Das hätte ich mir denken können.“ Kendra klang plötzlich müde.

Da Kendra normalerweise fast nervenaufreibend optimistisch war, fiel Joslyn der Stimmungsumschwung– so subtil er auch sein mochte – sofort auf. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich.

„Mir tun die Füße weh“, antwortete Kendra. „Und ich habe immer noch kein Angebot für die Hühnerfarm.“

Joslyn kicherte. „Hast du etwa immer noch die High Heels an?“, fragte sie in scherzhaft-tadelndem Ton. „Das ist das Gesetz von Ursache und Wirkung. Aber vielleicht hast du ja beim achtzehnten Besichtigungstermin Glück und der zukünftige erfolgreiche Hühnerfarmer kann es gar nicht erwarten, den Kaufvertrag zu unterschreiben.“

An Kendras Stimme hörte man, dass sie jetzt wieder lächelte. „Genau“, sagte sie trocken. „Hast du zufällig Wein zu Hause?“

„Wie bitte? Ich bin gerade erst eingezogen, Kendra. Ich habe ja noch kaum Lebensmittel da.“

„Wein ist ein Lebensmittel“, entgegnete Kendra. „Bei der letzten Dinnerparty für meine Kunden sind meine letzten Bestände draufgegangen. Ich werde also später auf dem Heimweg ein paar Flaschen besorgen. Wir können auf die alten Zeiten anstoßen. Rot oder weiß?“

Jasper streckte seinen Kopf nach vorne und schleckte Joslyn mit seiner Zunge über die rechte Wange. Es war eine kumpelhafte Geste.

Sie lachte und verzog das Gesicht. „Rot, denke ich, da roter Wein nicht gekühlt werden muss. Ich habe übrigens vor, groß zu kochen. Bring also Hunger mit.“

Sie vereinbarten, dass sie um sechs Uhr essen würden, verabschiedeten sich und legten auf.

Joslyn wählte sofort Hutchs Nummer.

Wieder ein Anrufbeantworter. Wenn der Text nicht ein anderer gewesen wäre, hätte es sich geradezu gruselig angehört.

Hutch klang nämlich fast genauso wie sein Vater.

„Hinterlassen Sie eine Nachricht“, hörte man ihn kurz angebunden sagen. „Vielleicht rufe ich zurück, vielleicht auch nicht. Kommt darauf an, was Sie wollen.“

„Ich habe den Hund deines Vaters“, erklärte Joslyn nach dem Piepton. Danach wurde ihr bewusst, dass sich ihre Formulierung anhörte wie eine Lösegeldforderung. „Ich meine, hier spricht Joslyn Kirk. Von der Highschool, erinnerst du dich? Ich wohne momentan in Kendra Shepherds Gästehaus, und, nun ja, ich habe Jasper gefunden. Und da ich mir sicher bin, dass du ihn schon suchst, wollte ich …“ Sie ließ den Satz unbeendet und hinterließ schnell ihre Telefonnummer.

„Was für ein charmanter Mensch …“, sagte sie zu Jasper. Der Labrador winselte mitfühlend.

„Ich schätze, du wirst fürs Erste mit zu mir nach Hause kommen müssen“, teilte sie ihm so fröhlich mit, dass sie selbst davon überrascht war. Wenn es etwas gab, was sie in ihrem derzeitigen Leben so gar nicht brauchen konnte, dann einen Hund.

Andererseits konnte es nicht schaden, wenn Jasper ihr ein paar Stunden Gesellschaft leistete. Oder?

Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass von links und rechts kein Auto kam, fuhr Joslyn auf den Highway und – mit Jasper und den Einkäufen im Gepäck – in Richtung Rodeo Road. Es war Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und mit dem Kochen zu beginnen.

Der Rest des Tages verlief ruhig, was, wie Slade annahm, für die „Branche“, in der er arbeitete, durchaus positiv war. Ausnahmsweise machte er schon um Punkt siebzehn Uhr Feierabend und sich auf den Weg nach Hause.

Er sperrte sein Ein-Zimmer-Apartment auf, das er in einem kleinen Haus gemietet hatte, nachdem seine Ehe zwei Wochen nach seiner Ernennung zum Sheriff in die Brüche gegangen war. Dann betrachtete er die wenigen Möbel, die kahlen Wände und den schmuddeligen Teppich, dessen Farbe seine Mutter als „babykackgrün“ bezeichnet hatte.

Die Wohnung war nie ein Zuhause, sondern immer nur eine Übergangslösung gewesen – ein Zeltplatz mit Wänden, Fenstern und einem Dach.

Er hängte seinen Hut auf, nahm seine Dienstmarke vom Gürtel und legte sie beiseite. Sein Dienstrevolver befand sich in einem kleinen Waffensafe unter dem Fahrersitz seines Pick-ups.

Von der Wohnungstür war man mit zehn, zwölf Schritten in der offenen Küche, die aus einer einzigen Küchenzeile bestand.

Slade steuerte direkt auf den Kühlschrank zu, der die gleiche Farbe hatte wie der Teppich, öffnete ihn und begutachtete den Inhalt: zwei Dosen Bier, eine halbe Packung Butter und ein verschrumpeltes Stück Pizza, das bereits ein paar Tage auf dem Buckel hatte. Ich hätte bei ‚Mulligan’s‘ mehr als nur eine Flasche Wasser kaufen sollen, schoss es ihm durch den Sinn, während er die triste Auswahl begutachtete. Dann nahm er sich ein Bier und schloss den Kühlschrank wieder.

Die Wahrheit war, dass er seit dem Termin heute Morgen in Maggie Landers’ Kanzlei nicht mehr wirklich in der Lage gewesen war, sich zu konzentrieren. Und dass er im Laden dann noch Joslyn Kirk über den Weg gelaufen war, hatte die Sache auch nicht gerade besser gemacht.

Er öffnete die Bierdose, machte die Schiebetür neben dem Kartentisch auf, der als Essecke diente, und trat hinaus auf die winzige Veranda. Der Rasen müsste dringend gemäht werden; überall wucherte Unkraut.

Auf der anderen Seite der niederen Betonmauer thronte im Nachbargarten das alte Herrenhaus der Rossiters.

Slade seufzte und ließ sich auf einen abgenutzten Gartenstuhl fallen, um sein Bier zu trinken. Während er so dasaß und den Löwenzahn betrachtete, der den Rasen überwucherte, musste er lachen. Er schüttelte den Kopf.

Da war er also innerhalb eines einzigen Tages von einem armen Schlucker zu einem unglaublich reichen Mann geworden. Und dann war da noch Joslyn …

Aus dem verwöhnten, kratzbürstigen Teenager von damals war eine Frau mit sehr femininer Figur geworden.

Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ein wohlbekannter Hund über die Gartenmauer sprang und direkt auf ihn zutrabte.

3. KAPITEL

Joslyn verfolgte verblüfft, wie sich Jasper, der seit ihrer Begegnung bei „Mulligan’s“ die Sanftmut in Person gewesen war, plötzlich in eine Rakete auf vier Beinen verwandelte. Der Hund schoss wie ein geölter Blitz durch den Rosengarten und die Zinnienbeete und hechtete mit einem einzigen Sprung über die hintere Mauer in den Nachbargarten.

Hutch war gerade in einem alten, mit Schlammspritzern bedeckten Pick-up eingetroffen. Er stieg aus, nahm seinen Hut ab und warf ihn in den Wagen. Dann schloss er die Autotür, stemmte die Hände in die schmalen Hüften und grinste.

„Man könnte fast meinen, der alte Jasper freut sich nicht besonders über mein Auftauchen“, scherzte er.

Joslyn lächelte und ging ihrem alten Freund entgegen. „Ich weiß nicht, was in diesen Hund gefahren ist“, sagte sie. „Seit wir uns auf dem Parkplatz getroffen haben, hat er sich vorbildlich benommen. Anfangs dachte ich sogar, er hat ein verletztes Bein. So viel zu dieser Theorie.“

Sie lief Jasper hinterher. Hutch schloss sich ihr an.

„Schön, dich wiederzusehen, alter Kumpel“, meinte sie. „Ebenfalls.“

Im Gehen betrachtete Joslyn aus den Augenwinkeln sein markantes, attraktives Gesicht. Es überraschte sie, wie ernst er wirkte. Er schaute in die Richtung, in die Jasper abgehauen war. Sein Mund hatte einen harten Zug angenommen.

Das Lächeln war verschwunden, und es schien, als wäre er in Gedanken meilenweit weg.

Sowie sie zu dem Tor zwischen Kendras Garten und dem Nachbargrundstück kamen, fuhr Hutch sich durch sein dunkelblondes Haar und war plötzlich wieder im Hier und Jetzt.

Er stieß das große Holztor mit der Schulter derart heftig auf, dass die rostigen Scharniere quietschend Protest einlegten.

Joslyn marschierte hinter ihm her. Sie fühlte sich für Jasper verantwortlich. Immerhin war er unter ihrer Aufsicht ausgebüxt.

Außerdem war sie neugierig.

In ihrer Kindheit und Jugend war man durch das Tor auf ein leer stehendes Grundstück gelangt, auf dem sie und Kinder aus der Nachbarschaft immer Softball gespielt hatten. Joslyn hatte nie darüber nachgedacht, wer hier jetzt wohl wohnen mochte.

Als sie nun Slade Barlow auf der kleinen Veranda stehen sah, erstarrte sie.

Die geradezu explosive Spannung zwischen Hutch und Slade war deutlich spürbar.

Jasper saß neben Slade und hechelte wegen der Hitze und der körperlichen Anstrengung, die er hinter sich hatte, und blickte sie ruhig und wachsam an.

„Wusste ich doch, dass mir dieser Hund bekannt vorkommt“, sagte Slade leise. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete den Sohn seines Vaters. Jeder wusste, dass Slade und Hutch Halbbrüder waren, aber man hatte sich in Parable immer nur mit vorgehaltener Hand darüber unterhalten. Soviel Joslyn mitbekommen hatte, war darüber nie offen geredet worden.

„Ich wollte Jasper holen“, verkündete Hutch. Joslyn, die hinter ihm stand, merkte, dass jeder Muskel seines Oberkörpers angespannt war. Hutch sah den Hund an und pfiff leise. „Komm, Junge.“ Er winkte Jasper mit der Hand zu sich. „Komm, wir gehen.“

Jasper wedelte kurz mit dem Schwanz, wich jedoch nicht von Slades Seite.

„Ich bin mir nicht sicher, ob er schon gehen möchte.“ Slades Blick wanderte zu Joslyn. Er nickte ihr kurz zu und zog kaum merklich einen Mundwinkel hoch, als würde ihn irgendetwas an ihr amüsieren.

Sein Lächeln ging ihr unter die Haut.

„Er hat Hutchs Vater gehört“, versuchte sie zu erklären und wünschte sofort, sie hätte den Mund gehalten. Die angespannte Stimmung zwischen Hutch und Slade hatte nicht nur mit dem Hund zu tun, der über die Mauer gehechtet war.

„Ich erinnere mich, dass ich ihn öfter in Carmodys Wagen auf dem Beifahrersitz gesehen habe“, erwiderte Slade.

Jasper rührte sich nicht von der Stelle. Genau wie Hutch.

Slade schnalzte mit der Zunge und begann in Hutchs Richtung zu gehen. Er schien zu hoffen, dass der Hund ihm folgen würde. Jasper blieb sitzen.

Es lief wohl darauf hinaus, dass Hutch den Hund hochheben und eigenhändig durch das Tor zu seinem Pick-up schleppen musste.

„Ich fasse es nicht“, brummte er.

Gleichgültig zuckte Slade mit den muskulösen Schultern, und prompt stellte sich Joslyn vor, wie er wohl ohne Hemd aussehen mochte.

Um die Situation zu entspannen, beugte sie sich vor und klopfte mit den Händen auf ihre Oberschenkel, da sie Jasper zum Herkommen bewegen wollte.

„Zeit, nach Hause zu gehen!“, rief sie fröhlich.

Jasper starrte sie bloß an und wedelte wieder kurz mit dem Schwanz. Doch er rührte sich nicht von der Stelle.

„Am besten, ich bringe Jasper später selbst auf die Ranch zurück“, schlug Slade gelassen vor. Es war offensichtlich, dass er die absurde Situation genoss – und das ärgerte Joslyn. Nicht, dass es ihn gekümmert hätte, ob sie verärgert war oder nicht … Er schaute Hutch an, nicht sie. Sie hätte genauso gut unsichtbar sein können. „Ich würde mich dort ohnehin gern ein wenig umsehen.“

Joslyn nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Hutch neben ihr erstarrte. „Sicher würdest du das gern tun“, stellte er scheinbar ruhig fest. Aber der scharfe Unterton war nicht zu überhören.

Slade verzog keine Miene. Wenn ihm überhaupt irgendetwas anzumerken war, dann nur, dass er die Situation trotz der angespannten Atmosphäre äußerst faszinierend zu finden schien.

Die Szene erinnerte Joslyn an die berühmte Schießerei in O. k. Corral in Tombstone. Mit dem Unterschied, dass momentan niemand bewaffnet war.

Gott sei Dank.

„Ich bringe den Hund dann also nach Whisper Creek“, wiederholte Slade.

Hutch gab keine Antwort. Er nickte nur flüchtig, drehte sich um und marschierte zu dem Tor in der hässlichen Gartenmauer. Wenn er insgeheim gehofft hatte, dass Jasper ihm nachgehen würde, hatte er sich getäuscht.

Jasper hatte ganz offensichtlich beschlossen zu bleiben.

Joslyn sah erst Hutch nach, dann wieder zu Slade.

Hutch mochte zwar weg sein, dennoch war die Atmosphäre immer noch aufgeheizt. Ein kaum wahrnehmbares Donnern vibrierte in der Luft – wie der Vorbote eines Sommergewitters.

Slade ließ den Blick schweifen und betrachtete das Herrenhaus hinter Joslyn. In seinen tiefen, unglaublich dunklen blauen Augen blitzte etwas auf. „Sind wir Nachbarn?“, erkundigte er sich wie nebenbei.

Joslyn spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. „Sieht ganz so aus. Ich habe Kendras Gästehaus gemietet.“

„Aha!“, sagte Slade, als würde ihre Antwort alles erklären. Die globale Erderwärmung beispielsweise oder die Konflikte in Nordafrika.

Sie wollte ohne Hund nicht verschwinden. Deshalb war sie ja schließlich hier. Also startete sie noch einen letzten Versuch.

„Jasper?“ Es klang fast schon wie ein Betteln.

Jasper legte den Kopf schief und blickte sie irgendwie entschuldigend an, blieb jedoch, wo er war. Es wirkte fast so, als hätte der Hund die ganze Zeit niemand anderen als Slade Barlow gesucht. Und jetzt, da er ihn gefunden hatte, war er am Ziel.

Er war in Sicherheit.

Joslyn fragte sich, warum sie selbst so verunsichert war. Innerlich bebte sie, was sowohl nervtötend als auch ausgesprochen angenehm war. Sie lächelte Slade zögerlich zu. „Tja, da ich bald Besuch bekomme, sollte ich jetzt wohl besser gehen …“

„Bis dann“, sagte Slade.

Sie drehte sich um und lief durch das Tor. Für den Fall, dass Jasper es sich vielleicht doch noch anders überlegte, ließ sie es offen.

Darauf bestand herzlich wenig Aussicht.

Als Joslyn durch die Blumenbeete und den Rosengarten zurückeilte, entdeckte sie, dass Kendra gerade in ihrem blauen Cabrio eingetroffen war. Hutch, der wahrscheinlich sauer war, weil der Hund seines Vaters ihn zurückgewiesen und ausgerechnet Slade den Vorzug gegeben hatte, stand neben seinem Pick-up.

Kendra stieg samt ihrer gigantisch großen Handtasche aus ihrem BMW.

In der Tasche klirrten Weinflaschen.

„Hallo, Hutch“, begrüßte sie ihn. Es klang schüchtern.

Hutchs Anspannung ließ deutlich nach, als er Kendra sah. „Hi.“

Da war es wieder, dachte Joslyn. Diese aufgeladenen Schwingungen in der Luft.

Sie kam sich plötzlich überflüssig vor. Fast wie ein Eindringling.

„Hutch ist nur vorbeigekommen, um Jasper abzuholen“, erklärte sie Kendra, die gar nicht danach gefragt hatte; die, genauer gesagt, den Blick die ganze Zeit keine Sekunde von Hutch abgewendet hatte.

„Ich dachte, Hunde wären so wahnsinnig treu“, meinte Hutch nachdenklich und schüttelte den Kopf. „Ich suche Jasper schon seit dem Tag, an dem Dad gestorben ist. Da ist er nämlich abgehauen.“

Kendra war sichtlich nervös. Die Haut unter ihren perfekt geschwungenen Wangenknochen hatte eine zartrosa Färbung angenommen. Sie lächelte unsicher, wobei ihre Lippen ein wenig zitterten, und blickte Joslyn flehend an. Sag doch was, schienen ihre Augen ihr sagen zu wollen.

„Warum bleibst du nicht zum Abendessen?“, wandte sich Joslyn an Hutch.

Kendras gerade noch rosa Wangen wurden tiefrot.

Oh, oh, schoss es Joslyn durch den Sinn. Das falsche „Etwas“.

„Geht nicht“, antwortete Hutch eine Spur zu schnell. „Die Pferde müssen gefüttert werden.“

Die ganze Sache wurde ja immer seltsamer, stellte Joslyn fest. „Dann ein andermal“, sagte sie.

„Ein andermal“, stimmte Hutch zu. Er nickte zum Abschied und schaute ein letztes Mal zum Tor, das in Slades Garten führte und immer noch offen stand. Dann seufzte er und stieg in seinen Wagen. Nachdem er den Motor angelassen hatte, ließ er die Fensterscheibe hinunter und lächelte Joslyn zu. Sein Blick allerdings war traurig. „Danke, dass du dich um Jasper gekümmert hast.“

„Kein Problem.“

Hutch legte den Rückwärtsgang ein, wendete und fuhr die lange Auffahrt hinunter, die in der Sonne weiß glitzerte.

„Was läuft denn da zwischen euch beiden?“, fragte Joslyn sofort und drehte sich zu ihrer Freundin um.

Kendras Wangen hatten nun wieder eine normale Farbe angenommen. Sie sah Hutchs davonbrausendem Pick-up nach und wirkte dabei genauso traurig wie vorhin.

„Nichts“, antwortete sie. Es klang wenig überzeugend.

„Lass uns den Wein aufmachen“, schlug Joslyn resigniert vor.

Kendra nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Dann gingen sie zusammen zur offenen Tür des Gästehauses.

„Wenn Hutch hier war, um Jasper abzuholen“, sagte Kendra schließlich vorsichtig, als sie das Haus betraten und Joslyn eine Schublade nach dem Korkenzieher durchstöberte, „warum ist er dann ohne ihn wieder weggefahren?“ Sie zog zwei Flaschen Wein aus ihrer Tasche und stellte sie auf die Anrichte.

Joslyn hatte den Korkenzieher gefunden und machte sich daran, einen australischen Shiraz zu öffnen. Weingläser gab es zwar keine, dafür aber leere Einmachgläser. Die würden es auch tun. „Es war alles höchst merkwürdig“, antwortete sie, nachdem sie ein paar Sekunden stumm mit dem Korken gekämpft hatte. „Jasper und ich waren draußen im Vorgarten. Dann ist Hutch gekommen, und ich dachte, der Hund würde sich freuen, endlich wieder ein vertrautes Gesicht zu sehen. Nach allem, was er durchgemacht hat … Doch dann ist er plötzlich Richtung Gartenmauer losgedüst. Jasper, meine ich, nicht Hutch.“

Kendra lächelte schwach über Joslyns nachgeschobene Erklärung, nahm ein Einmachglas randvoll mit Wein und wartete, dass Joslyn weiterredete.

„Du hast mir gar nicht erzählt, dass Slade Barlow nebenan wohnt“, sagte Joslyn.

„Du hast nicht gefragt. Was ist dann passiert?“

„Jasper hat sich irgendwie sofort mit Slade verbunden gefühlt. Ich habe den Hund gerufen. Hutch hat ihn gerufen. Aber der verrückte Kerl hat sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Jasper hat so gewirkt, als hätte er immer schon Slade gehört.“ Sie schwieg einen Moment. Dann runzelte sie die Stirn. „Er ist verheiratet, oder?“

„Jasper?“, fragte Kendra, und in ihrem Blick lag ein melancholisches Lächeln.

Joslyn verdrehte die Augen.

„Oh!“, rief Kendra, als hätte sie gerade eine Art Geistesblitz gehabt. „Du meinst Slade.“

„Sehr witzig.“ Joslyn schenkte sich ebenfalls Wein ein.

„Geschieden“, meinte Kendra. „Er war mit dieser umwerfend schönen Rothaarigen mit den wahnsinnig langen Beinen verheiratet. Sie hatte diese gewisse Art zu lächeln, bei der die Männer reihenweise aus den Socken kippen. Während er sich um das Amt des Sheriffs beworben hat, war sie immer an seiner Seite. Nachdem er allerdings den Job bekommen hatte, ist sie mit der kleinen Tochter in die Stadt gezogen.“

Joslyn kam sich mit einem Mal seltsam unzulänglich vor. Sie wusste, dass sie einigermaßen attraktiv war. Doch als „umwerfend schön“ konnte man sie auf keinen Fall bezeichnen. Bei ihr würde in nächster Zeit auch niemand aus den Socken kippen.

Nicht, dass so etwas wichtig wäre. Nicht sehr zumindest.

„Die beiden haben ein Kind?“, erkundigte sie sich. Sie vergaß, dass sie auf ihre und Kendras Freundschaft anstoßen wollte, und trank einen großen Schluck Wein.

„Sie hat eines. Das intelligenteste Kind, das man sich vorstellen kann. Layne ist ein paar Jahre älter als Slade, was vielleicht der Grund war, dass es mit ihnen nicht geklappt hat.“ Kendra schnupperte. „Was duftet hier so gut?“

„Das Abendessen.“ Joslyn machte sich sofort auf die Suche nach einem Topflappen. „Wenn ich es nicht aus dem Ofen nehme, verbrennt es gleich.“

Ein paar Minuten später saßen Joslyn und Kendra am Tisch, ließen sich das Essen schmecken und unterhielten sich über alles Mögliche. Nur nicht über Slade Barlow und Hutch Carmody.

Nachdem Joslyn Kirk durch das Tor in der Gartenmauer verschwunden war, hockte Slade eine Weile genauso reglos da wie der Hund; er musste sich sehr beherrschen, damit er ihr nicht hinterherrannte.

Aber was dann?

Er seufzte und blickte zu dem Hund hinunter, der mit glänzenden Augen und scheinbar völlig zufrieden zu ihm hochschaute.

Slade wusste, dass er John Carmody ähnlich sah – dafür konnte er nichts –, aber es konnte doch unmöglich so sein, dass Jasper ihn mit Carmody verwechselte. Hunde erkannten ihr Herrchen, das war eine Tatsache.

„Möchtest du Wasser?“, fragte er den Vierbeiner, während er zur Verandatür ging.

Jasper trottete hinter ihm her. Die Hundemarken an seinem Halsband klirrten fröhlich.

Slade nahm eine Schüssel, aus der er normalerweise seine Frühstücksflocken aß, füllte an der Spüle Wasser hinein und stellte sie auf den Boden.

Jasper trank durstig.

„Du wärst in Whisper Creek wahrscheinlich glücklicher“, fuhr Slade fort. „Eine Ranch ist ein guter Ort für einen Hund.“ Oder für einen Mann, der lieber Rancher als Sheriff wäre, dachte er.

Zum Glück läutete genau in diesem Moment das Telefon.

Slade griff nach dem Hörer, der senfgelb und dessen Schnur in sich verdreht und verknotet war.

„Slade Barlow.“

„Dad?“

Slade schloss einen Moment lang die Augen. Er war froh, dass seine Stieftochter ihn nicht sehen konnte. Bei dem Wort Dad gab es ihm jedes Mal einen Stich mitten ins Herz. Genau dorthin, wo es am meisten wehtat. „Hallo, Shea“, sagte er mit etwas heiserer Stimme.

„Sie treibt mich in den Wahnsinn!“, jammerte Shea. Sie kam immer gleich zur Sache.

Slade schaute zu Jasper hinunter und merkte, dass die Schüssel leer war und der Hund zu ihm aufblickte. Er erinnerte Slade an Oliver Twist, der um einen Nachschlag bettelte. „Ich schätze, mit ‚sie‘“, antwortete er mit leicht sarkastischem Unterton, während er sich nach der Schale bückte, „meinst du deine Mutter, oder?“

„Okay, okay“, lenkte Shea ein. Sie war sieben Jahre alt gewesen, als Slade und Layne geheiratet hatten, und elf bei der Scheidung. Jetzt war sie sechzehn und hatte schon den Führerschein. Bei dem Gedanken daran trieb es Slade fast die Tränen in die Augen. Sie veränderte sich täglich, und er war nicht dabei, um mitzuerleben, wie sie erwachsen wurde.

Oder um sie zu beschützen.

Slade vermisste seine Exfrau nicht, und er war sich sicher, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Doch es verging kein Tag, an dem er nicht an Shea dachte und wünschte, er und Layne hätten ihre Ehe retten können. Wenn schon nicht für sich als Paar, dann zumindest dem Kind zuliebe. Vielleicht hätten sie ihr eine Schwester oder einen Bruder schenken können. Oder beides.

Slade füllte wieder Wasser in die Schüssel und stellte sie für Jasper auf den Boden. Der Hund begann, sofort wieder gierig zu trinken. Er wirkte insgesamt einigermaßen sauber, war aber erschreckend mager und ganz offensichtlich kurz vorm Verdursten.

„Ich möchte bei dir wohnen“, verkündete Shea. „Bitte“, fügte sie in traurigem Ton hinzu.

„Aber das haben wir doch schon besprochen“, wandte Slade ein. Er klang gelassener, als ihm zumute war. Wäre er Sheas leiblicher Vater gewesen, hätte er das gemeinsame Sorgerecht beantragt. Doch das war er nun mal nicht. Juristisch hatte er, was Shea betraf, keinerlei Ansprüche. „Erinnerst du dich?“ Er konnte förmlich sehen, wie Shea ihre großen, lavendelblauen Augen verdrehte und sich dabei ihre dunklen Stirnfransen in den Wimpern verfingen. „Ja, ja, du bist nicht mein richtiger Vater“, sagte sie genervt, weil sie diese Diskussion tatsächlich schon geführt hatten – und zwar viele Male. „Das weiß ich. Mom ist meine Mutter, und mein Dad ist irgendein Samenspender, dem es egal ist, dass es mich gibt. Und was bist dann du? Hm? Mein Stiefvater – oder nur jemand, der mit meiner Mutter mal verheiratet war?“

Slade brachen ihre Worte beinahe das Herz. In den paar Jahren, in denen sie eine Familie gewesen waren, hatte er das Mädchen mit der Zeit geliebt wie sein eigenes Kind. „Ich werde immer dein Stiefvater sein“, antwortete er sanft. Sheas Vater war kein „Samenspender“ gewesen – Layne hatte den Mann geheiratet. Allerdings hatte es keinen Sinn, mit Shea darüber zu streiten. Das Mädchen würde ihm nicht zuhören.

Shea schniefte, und ihre Stimme bebte. „Sie ist unmöglich.“

Slade lächelte. Abgesehen von den Problemen, die Layne und er gehabt hatten, war seine Exfrau eine gute Mutter und ein durch und durch verantwortungsbewusster Mensch. Sie hatte sich in L.A. ein eigenes Unternehmen aufgebaut – sie verschönerte Häuser für Immobilienfirmen – und war sehr erfolgreich. „Und du bist ein Teenager.“

„Was soll das denn heißen?“

Slade ignorierte die Frage, da sie ohnehin nur rhetorisch war. „Shea“, begann er. „Du und ich, wir wissen beide, dass deine Mom dich liebt. Worum geht es dir wirklich?“

„Sie schickt mich nächsten Herbst auf ein Internat.“

„Was?“ Einen Moment lang dachte Slade, er hätte sich verhört.

„Mom hat einen Freund“, erklärte Shea und schniefte wieder. „Die beiden wollen heiraten.“

„Alles klar.“ Slade atmete tief durch. Internat? Was zum Teufel ging da bloß in Laynes Kopf vor? „Und was hat die Tatsache, dass deine Mom jetzt eine Beziehung hat, damit zu tun, dass du auf ein Internat sollst?“

Shea seufzte tief und theatralisch. „Möglicherweise war ich in letzter Zeit ein bisschen schwierig.“

Slade lehnte sich an die Anrichte und presste den Hörer so fest ans Ohr, dass es wehtat. Sein Magen fühlte sich genauso verknotet an wie die Telefonschnur.

„Dieser Freund …“, fuhr er fort, nachdem er sich geräuspert hatte, „… magst du ihn?“

„Bentley ist ganz okay“, räumte Shea nach einigem Zögern ein.

Bentley? Was war denn das für ein Name?

„Und weiter?“

„Kann sein, dass ich ein bisschen über die Stränge geschlagen und Probleme gemacht habe. Und das war wahrscheinlich der Grund, weshalb Mom beschlossen hat, dass das Kind eine Weile weg soll. Damit der großen Liebe nichts im Wege steht.“

Slade näherte sich dem Kühlschrank, öffnete ihn, nahm das verschrumpelte Stück Pizza heraus und gab es Jasper. Der Hund schlang es sofort hinunter.

Hatte Joslyn dem Tier denn weder Wasser noch etwas zu fressen gegeben?

„Definiere ‚über die Stränge geschlagen‘.“ Slade überlegte, ob er Shea bitten sollte, Layne ans Telefon zu holen. Er brauchte ein paar genauere Informationen.

„Ich habe mir ein Tattoo stechen lassen.“

Slade musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen; er hatte erwartet, dass sie sagen würde, sie hätte Drogen genommen oder sei schwanger. Das Tattoo war zwar keine wirklich erfreuliche Neuigkeit, aber Slade war erleichtert.

„Braucht man dazu nicht das Einverständnis der Eltern?“ Er sah zu, wie Jasper sich nach dem Verzehr seiner Pizza die Lefzen leckte.

„Es gibt Möglichkeiten, wie man diese Einverständniserklärung umgeht“, antwortete Shea leichthin. „Aber egal. Mom ist jedenfalls ausgeflippt, als sie es herausgefunden hat. Sie und Bentley haben sich lange darüber unterhalten und dann beschlossen, mich für die letzten zwei Highschool-Jahre wegzusperren.“

Bei dem Wort „wegzusperren“ musste Slade unwillkürlich schmunzeln. „Ist deine Mom da? Ich würde gern kurz mit ihr reden.“

„Ich bin nicht zu Hause“, antwortete Shea. „Sag jetzt bloß nicht, du bist abgehauen.“

„Natürlich nicht. Ich weiß doch, dass das keine gute Idee ist, Dad. Ich bin mit ein paar Freundinnen im Einkaufscenter und telefoniere von meinem Handy aus mit dir.“ Sie machte eine Pause und holte tief Luft. Dann platzte es aus ihr heraus: „Kann ich bei dir leben? Statt aufs Internat zu müssen, meine ich.“

Eine schicksalsschwere Frage.

Es wäre vielleicht anders gewesen, wenn es eine Frau in seinem Leben gegeben hätte – eine Ehefrau oder wenigstens eine feste Freundin. Aber Slade war alleinstehend und lebte in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit behelfsmäßig ausgestattetem Bad. Sein Job war anstrengend und manchmal gefährlich. Außerdem konnte er Shea nicht jene Aufmerksamkeit und Unterstützung geben, die sie brauchte. Was wusste er schon über Teenager? Besonders über weibliche?

Trotz all dieser Überlegungen wollte er Ja sagen.

„Lass uns nichts überstürzen“, entgegnete er schließlich, da er Shea nicht mit einem Nein vor den Kopf stoßen wollte. „Ich möchte mit deiner Mutter reden und hören, wie sie die Dinge sieht.“

„Sie hasst das Tattoo. Dabei ist es nur eine winzige Hummel auf meiner rechten Schulter. Wenn ich nicht gerade ein Top trage, bemerkt man es nicht einmal.“

Slade lächelte. Er dachte an seine Exfrau, eine makellose Schönheit mit kastanienrotem Haar, die niemals eine Tattoo-Nadel auch nur in die Nähe einer Pore ihrer perfekten Haut kommen ließe. „Du bist sechzehn“, erinnerte er Shea. „Das bedeutet, dass deine Mom immer noch die Regeln aufstellt. Ich werde mit ihr sprechen und dich dann wieder anrufen.“

„Sie wird dich doch nur davon überzeugen, dass sie recht hat und dass dieses Internat das Beste ist, was mir jemals passieren kann“, wandte Shea ein.

„Fürs Erste“, antwortete Slade sanft, aber bestimmt, „ist dieses Gespräch jetzt beendet. Ich melde mich bei dir, sobald ich mit deiner Mutter geredet habe.“

Shea seufzte wieder. „Okay“, sagte sie. Es klang, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Slade wusste, dass er damit nicht umgehen konnte.

„Shea?“

„Ja?“

„Ich liebe dich.“

„Sicher“, erwiderte sie. Es klang ein wenig skeptisch. Beide legten auf.

Slade hatte einen handgeschriebenen Zettel mit wichtigen Telefonnummern an die Innenseite der Tür eines seiner Küchenschränke geklebt. Er zog die Tür auf. Von Layne hatte er sowohl ihre Büronummer als auch die ihres Handys. Allerdings waren die Nummern so oft durchgestrichen und korrigiert worden, dass er genau hinsehen musste, um die aktuellen Nummern zu erkennen.

Ihm wurde bewusst, dass sich bei allen Leuten viel Neues tat – neues Haus, neue Telefonnummer, neues Leben. Bei allen bis auf ihn.

Er saß immer noch in dieser jämmerlichen Bude und hatte immer noch den gleichen Job. Und zwar einen, den er anfangs für wahnsinnig erstrebenswert gehalten hatte. In den letzten paar Jahren jedoch hatte er begonnen, sich zu langweilen. Er hatte sich immer mehr nach dem Leben gesehnt, das er wirklich führen wollte: das eines Ranchers mit Frau, Kindern und einem Hund wie Jasper.

Layne hob nach dem zweiten Klingeln ab.

„Hallo, du“, sagte sie herzlich und mit einem warmen Lächeln in der Stimme. „Immer noch atemberaubend attraktiv, nehme ich an?“

Bemerkungen über sein Aussehen machten Slade immer ein wenig verlegen. Selbst dann, wenn sie von einer Frau kamen, mit der er verheiratet gewesen war; für ihn stellte das äußere Erscheinungsbild eines Menschen den unwichtigsten Teil der Persönlichkeit dar. Dem Aussehen nach war er John Carmodys Sohn – jener Sohn, dessen Existenz Carmody völlig gleichgültig gewesen war und den er erst nach seinem Tod anerkannt hatte.

„Danke, es geht mir gut“, antwortete er, während er Jasper betrachtete, der sich auf dem Boden zusammengerollt hatte und tief und fest schlief. „Hör mal, Layne, ich hatte gerade einen Anruf von Shea, und …“

„Und sie hat dir gesagt, dass sie auf ein Internat verbannt wird“, unterbrach ihn Layne. Sie seufzte tief.

„So ungefähr.“ Slade nahm sich einen der beiden Klappstühle, die beim Kartentisch standen, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. „Was ist los, Layne?“

Layne seufzte wieder. Slade sah sie vor sich, wie sie ihre dichte, rotbraune Haarmähne nach hinten warf. Als er seine Exfrau zuletzt getroffen hatte, waren ihre Haare knapp schulterlang gewesen. „Sie … rebelliert. Ich mache mir Sorgen um sie, Slade. Ein paar ihrer Freunde stecken in ziemlichen Schwierigkeiten.“

„Und bei diesen Freunden war immer ein Tattoo die Ursache allen Übels?“, zog Slade sie auf. Er bemühte sich um einen heiteren Ton, obwohl er selbstverständlich ebenfalls besorgt um Shea war.

„Bentley und ich haben alles versucht.“ Layne klang ernst und, wenn Slade sich nicht täuschte, auch irgendwie verzweifelt. „Familienberatungen. Lange Gespräche am Küchentisch. Sogar Urlaub in Europa während der Frühlingsferien. Shea verschließt sich vor mir. Ich dringe irgendwie nicht zu ihr durch.“

„Und du glaubst, ein Internat ist die Lösung?“

„Im Moment bin ich so weit, alles zu probieren“, antwortete Layne traurig. „Sie zur Adoption freizugeben oder mit Gewalt Vernunft in ihren kleinen eigensinnigen Kopf zu hämmern geht ja wohl schlecht …“

„Sie möchte hierherkommen, nach Parable.“

„Das überrascht mich nicht“, erwiderte Layne. „In Parable bist schließlich du. Und ich glaube, da liegt das Problem. Derzeit bist noch du der Stiefvater für sie. Sie kann sich immer noch einreden, dass du und ich uns irgendwann versöhnen. Aber sobald Onkel Bentley und ich heiraten.“

Slade schloss einen Moment lang die Augen. „Ja“, sagte er schließlich, als sie vielsagend schwieg, „ich verstehe, was du meinst. Aber denkst du nicht, es ist ein bisschen übertrieben, Shea gleich auf ein Internat zu schicken? Wo ist es denn überhaupt?“

„Havenwood liegt gleich nördlich von Sacramento“, antwortete Layne leise. „Es hat einen hervorragenden Ruf, Kinder wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Außerdem ist das Bildungsniveau außergewöhnlich hoch.“

„Was veranlasst dich zu der Annahme, dass Shea kooperieren wird, Layne?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob sie kooperiert“, gab Layne zu. „Doch ich sehe keine andere Möglichkeit. Ich liebe meine Tochter, Slade, aber ich liebe auch Bentley. Und ich bin noch relativ jung und möchte wieder in einer Beziehung glücklich sein. Ist das denn so falsch?“

„Natürlich nicht.“

„Falls du einen Vorschlag hast, Cowboy“, meinte Layne, „würde ich mich freuen, ihn zu hören.“

Und jetzt sagte er es. Sagte, was er gar nicht sagen wollte. Sagte die absurden, verrückten Worte, die auszusprechen ihm eigentlich gar nicht zustanden.

„Du könntest sie hierherschicken, nach Parable. Nur für den Sommer.“

Es folgte ein kurzes und, wie Slade vorkam, vielversprechendes Schweigen.

„Ist das dein Ernst?“, erkundigte sich Layne vorsichtig.

„Ja.“ Slade war genauso überrascht wie seine Exfrau. „Es ist mein Ernst.“

„Okay. Versuchen wir es. Wenn Shea sich nach einem Sommer weit weg von ihrer Familie beruhigt, können wir diese ganze Sache mit dem Internat im Herbst neu überdenken.“

„Okay“, sagte Slade nun ebenfalls.

Layne lachte leise. Allerdings war eine gewisse Traurigkeit herauszuhören. „Ich wünschte, wir hätten es geschafft. Du und ich.“

„Das hätte ich mir auch gewünscht“, entgegnete Slade. „Aber es hat nicht geklappt.“

„Stimmt. Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, dem ich meine Tochter anvertraue. Das weißt du, nicht wahr?“

„Ja.“ Slades Stimme klang rau. Er war gerührt, weil das, was Layne gerade gesagt hatte, der Wahrheit entsprach: Sie konnte sich auf ihn verlassen, und das war ihr auch klar. „Ich weiß das zu schätzen, Layne. Es bedeutet mir viel.“

Beide schwiegen. Beide dachten daran, wie es hätte sein können.

„Ich rede mit Shea und rufe dich dann wieder an, damit wir alles für ihre Reise zu dir besprechen können“, erklärte Layne schließlich. „Und noch etwas, Slade …“

Er wartete.

„Danke“, sagte sie schließlich, bevor sie sich voneinander verabschiedeten und das Gespräch beendeten.

„Was zum Teufel mache ich jetzt bloß?“, wandte er sich an den gähnenden Jasper, als der von seinem Nickerchen aufwachte, während Slade den Telefonhörer auflegte.

Der Hund sah skeptisch zu ihm auf. Vermutlich fragte er sich, welcher Idiot einem Hund eine Frage stellte und offenbar auch eine Antwort zu erwarten schien.

Slade fuhr sich durchs Haar und atmete tief durch. Dann ging er in das schäbige Badezimmer mit der schäbigen Dusche und der schäbigen Badewanne. Er drehte das Wasser in der Dusche auf und holte sich frische Kleidung aus der Kommode in seinem Schlafzimmer.

Jasper lag die ganze Zeit mitten im Durchgang zum Bad, während Slade sich auszog, sich unter die Dusche stellte und so lange einseifte, bis er sich sauber fühlte.

Danach trocknete er sich mit einem – ebenfalls – schäbigen Handtuch ab. Er musste dringend neue Handtücher besorgen, bevor Shea kam, das stand fest. Verdammt, er brauchte ein neues Haus!

Eine Viertelstunde später saßen er und Jasper im Pick-up und fuhren Richtung Whisper-Creek-Ranch.

Es war zwar noch einigermaßen hell, doch der Himmel über der Bergkette in der Ferne war bereits in ein mit tiefrosa Streifen durchzogenes Orange getaucht. Bald würden sich die blaue Abenddämmerung und schließlich die Dunkelheit über die Berge senken.

Wenn Slade sich auf der Ranch einen gründlichen Überblick über das verschaffen wollte, was nun rechtmäßig ihm gehörte, würde er bis morgen warten müssen. Aber er konnte wenigstens Jasper nach Hause bringen, wo er hingehörte.

Das Carmody-Haus war ein zweistöckiges, weitläufiges Gebäude. Der Rasen sah beträchtlich besser aus als Slades eigener. Überall blühten duftende Blumen in Hülle und Fülle – rosa, rot, gelb und weiß.

Slade hielt seinen Wagen vor dem Haus an. Ehe er den Motor abstellen konnte, trat Hutch durch die vordere Tür hinaus auf die breite Veranda. Er schien wenig erfreut.

Slade stieg aus. „Ich bringe dir deinen Hund zurück“, sagte er.

4. KAPITEL

Jasper hockte schwer wie ein Sack Blei auf dem Beifahrersitz des Pick-ups. Slade konnte ihn nicht zum Aussteigen bewegen.

Hutch, der in diesem Garten voller Blumen einigermaßen fehl am Platz wirkte, beobachtete den Kampf etwas amüsiert. Er trat durch das Tor des weißen Lattenzauns und kam näher.

„Über diesen Hund kann ich dir einiges erzählen“, unterbrach er nach einem kurzen Moment das Schweigen. „Er kann verflucht stur sein.“

„Tatsächlich?“, keuchte Slade erschöpft. Mittlerweile war Jasper nicht nur schwer, sondern zusätzlich auch schlüpfrig wie eine Bachforelle. Und er befand sich immer noch auf dem Beifahrersitz, wo er offensichtlich auch beabsichtigte zu bleiben.

Hutch lachte und stand mit verschränkten Armen und schief gelegtem Kopf daneben. Er muss sein Aussehen von seiner verstorbenen Mutter Lottie Hutcheson haben, dachte Slade, denn er ähnelte John Carmody überhaupt nicht.

Nein, dieses Kreuz hatte er zu tragen – niemals in einen Spiegel schauen zu können, ohne dass ihm eine jüngere Version jenes Mannes entgegenblickte, der ihn seit seiner Geburt verleugnet hatte.

„Du kannst ihn genauso gut wieder mit zu dir nach Hause nehmen“, verkündete Hutch zu Slades Überraschung. „Jasper ist wie Dad. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, ist es unwahrscheinlich, dass er seine Meinung ändert.“

Slade betrachtete den Mann nachdenklich, der, zumindest im biologischen Sinn, mit ihm blutsverwandt war. Sie beide waren sich überhaupt nicht ähnlich. Oder doch? Immerhin musste es in ihrer DNA ein paar Übereinstimmungen geben.

„Was schlägst du vor?“, fragte Slade schließlich.

Hutch dachte ausgiebig nach, ehe er antwortete. „Ich schätze, der alte Jasper gehört wie die Ranch zur Hälfte dir und zur Hälfte mir. Da er offensichtlich beschlossen hat, von jetzt an dein Hund zu sein, kannst du mit deinen Versuchen aufhören, ihn aus dem Wagen zu heben. Du kannst ihm auch ersparen, zu Fuß den weiten Weg zurück in die Stadt laufen zu müssen. Denn wenn du ihn hierlässt, rennt er dir mit Sicherheit nach Hause nach.“

Slade rieb sich den Nacken und grübelte über Hutchs Worte. Er konnte einen Hund genauso wenig gebrauchen, wie er Verantwortung für ein sechzehnjähriges Mädchen hatte. Allerdings musste er Hutch recht geben. Aus irgendeinem Grund betrachtete Jasper sich als Slades neuen – und offensichtlich – ständigen Begleiter.

Slade wusste, dass er im Grunde froh über die Gesellschaft war. Er hatte seit der Scheidung niemanden an sich herangelassen und nur seinen Job gemacht, funktioniert und sozusagen einen Fuß vor den anderen gesetzt. Vielleicht war es an der Zeit, sich ein wenig zu öffnen. Zeit, jemanden in sein Herz zu lassen.

Selbst wenn dieser Jemand zufällig vier Beine und einen Schwanz hatte.

Es war ein Anfang, nahm Slade an. Wovon, das wusste er nicht genau.

„Na gut“, stimmte er zögernd zu und schloss die Tür des Pick-ups, in dem Jasper immer noch saß.

„Ich könnte schwören, der Köter sieht wahnsinnig erleichtert aus“, stellte Hutch trocken fest. „Und nur für den Fall, dass du glaubst, ich hätte ihn misshandelt … Das habe ich nicht getan. Jasper war schon immer ein Hund, der nur auf eine Person fixiert ist. Und diese Person war Dad. Nun wurde die Fackel quasi weitergegeben, wie mir scheint.“

Slade musterte seinen Halbbruder eine Weile. Hutchs Art war zwar nicht unbedingt als herzlich zu bezeichnen, aber er versuchte auch nicht, ihn mit dem Gewehr vom Hof zu jagen. „Danke“, sagte er.

„Hast du noch mal darüber nachgedacht, ob du mir deinen Anteil an Whisper Creek verkaufen willst?“, fragte Hutch, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.

„Ich habe sehr viel darüber nachgedacht.“ Slade kniff die Augen zusammen, weil die letzten Sonnenstrahlen des Sommertages ihn blendeten. „Aber ich habe mich noch nicht entschieden.“

Hutch nahm diese Antwort mit einem leichten und merkwürdig freundlichen Stirnrunzeln zur Kenntnis. Dann deutete er auf das Haus. „Im Moment gehört es dir genauso wie mir.“ Es war unmöglich, seine Stimmung und auch seine Miene zu deuten. Hutch Carmody gäbe ohne Zweifel einen erstklassigen Pokerspieler ab, schoss es Slade durch den Kopf. Und er würde dafür weder ein Kapuzenshirt noch eine Baseballkappe oder eine Panoramasonnenbrille brauchen. „Dann kannst du auch gleich reinkommen und dir alles anschauen.“

Slade blickte an Hutch vorbei und betrachtete das weitläufige Gebäude. Er hatte dieses Haus noch nie betreten, und nun gehörten ihm rechtmäßig 50 Prozent davon.

„In Ordnung“, antwortete er nach langem Zögern. Er drehte sich nach Jasper um, der wie ein Wachhund im Auto saß und ihn durch das halb hinuntergelassene Fenster beobachtete. Für ein paar Minuten kann ich den Hund schon allein lassen, dachte Slade. Er folgte Hutch durch das weiße Gartentor, den Plattenweg entlang und die Verandastufen hinauf.

Er hatte sich schon immer gefragt, wie es in diesem Haus wohl aussehen mochte. Hier zu wohnen oder auch nur einen Fuß über die Schwelle zu setzen hatte er sich jedoch nie gewünscht. Jetzt, da er einen Hund hatte und Shea den Rest des Sommers bei ihm verbringen würde, war sein Interesse an Immobilien jedoch beträchtlich gestiegen.

Morgen war sein freier Tag. Er würde bei Kendra vorbeischauen und vielleicht noch einmal das Kingman-Haus besichtigen. Das Gebäude war nichts Luxuriöses, auch nicht annähernd so groß wie dieses hier und stand seit Langem leer. Mit ein bisschen Muskelkraft und viel heißem Wasser und Scheuermittel konnte man es aber durchaus wohnlich machen.

Ein Badezimmer zu wenig hätten sie trotzdem.

Im Inneren von Hutchs Haus war Slade sofort von der hohen Balkendecke und dem offenen Grundriss beeindruckt. Im Gegensatz zu den vielen Blumen im Garten war die Inneneinrichtung mit den schweren Ledermöbeln und den schlichten, massiven Tischen durchgehend maskulin gehalten. Nirgendwo stand oder lag Krimskrams herum. Ein paar Navajo-Teppiche und hochwertige Gemälde sorgten hier und da für gedämpfte Farbtupfer. In Anbetracht von Hutchs Ruf, ein Draufgänger zu sein, erstaunte Slade die ruhige, meditative Atmosphäre ein wenig.

Was hatte er erwartet? Spiegel an der Decke? Einen Saloon wie in einem alten John-Wayne-Film oder vielleicht einen mechanischen Bullen mitten im Wohnzimmer?

Slade musste über sich selbst ein wenig reumütig lächeln. Aber nur kurz.

„Schau dich ruhig überall um“, sagte Hutch in demselben lockeren Ton wie zuvor. „Ich glaube, du wirst einsehen, dass in diesem Haus – so groß es auch ist – kein Platz für uns beide ist.“

Slade lächelte wieder, damit man ihm seine plötzliche Verlegenheit nicht anmerkte. Er kam sich vor wie ein Eindringling. „Du hast recht“, stimmte er zu. „Und ich habe genug gesehen. Es ist schon spät, und Jasper wird ein paar Dinge brauchen, wenn er zu mir zieht.“

Hutch blickte ihn ziemlich lange schweigend an. Dann meinte er: „In der Vorratskammer steht ein Sack Trockenfutter, und Jasper besitzt ein Hundebett und ein paar Spielsachen. Du kannst das Zeug gern haben, wenn du willst.“

„Klar“, antwortete Slade ein wenig verlegen. Es war durchaus sinnvoll, Jaspers Habseligkeiten mitzunehmen. Die Dinge waren dem Hund vertraut und würden ihn daher beruhigen. Außerdem ersparte sich Slade dadurch, extra zum Discounter außerhalb der Stadt fahren zu müssen. „Danke“, sagte er wieder.

„Hier entlang.“ Hutch drehte sich um.

Slade folgte ihm durch eine Doppelschwingtür in eine große Küche mit dem gleichen dunklen Holzboden wie im vorderen Teil des Hauses, mit hohen Fenstern und jeder Menge Küchengeräten aus blitzendem Edelstahl. Die Kücheninsel in der Mitte des Raumes war größer als Slades gesamte Küche.

Hutch verschwand in einem Raum, bei dem es sich offenbar um die Vorratskammer handelte, und kam mit einem großen, dreiviertelvollen Sack Trockenfutter zurück. Er stellte ihn ne- ben eine der Anrichten, die alle aus glattem, grauem Granit waren und sich meilenweit durch die Küche zu ziehen schienen. Dann hob er zwei Hundenäpfe aus Keramik vom Boden auf.

„Jaspers Bett und sein Spielzeug sind in Dads Zimmer“, erklärte Hutch. „Ich hole alles.“

Slade nickte. „Das wäre nett.“ Er hatte vor, inzwischen das Trockenfutter und die Näpfe zum Pick-up zu tragen.

Nachdem Hutch gegangen war, blieb er jedoch einfach in der großen Küche stehen.

Er stellte sich vor, wie sein Vater an dem langen Tisch bei seinem Morgenkaffee die Zeitung las und Jasper dabei zu seinen Füßen lag.

Irgendetwas an diesem Bild bewirkte, dass Slades Kehle sich schmerzhaft zuschnürte.

Er griff sich das Hundefutter und die Näpfe – auf einem stand Jaspers Name in bunten Buchstaben, die wie Knochen aussahen – und sah zu, dass er aus dem Haus kam.

Als Jasper ihn kommen sah, streckte er ihm seine Schnauze durch das Autofenster entgegen und begrüßte ihn mit einem freudigen Kläffen.

Slade lud den Sack Hundefutter auf die Ladefläche des Pickups und verstaute die Näpfe sicher.

Hutch kam mit dem elegantesten Hundebett aus dem Haus, das Slade jemals gesehen hatte. Es war aus braunem Fleece, hatte die Form eines großen Kanus und war – wie der Napf – mit Jas – pers Namen beschriftet. Außerdem hatte Hutch eine leuchtend rote Leine sowie eine Papiertüte mitgebracht, die randvoll mit Kauspielzeug und diversem anderen Hundezubehör war.

„Dad war regelrecht verrückt nach diesem Hund“, erklärte Hutch, da er Slades Gesichtsausdruck bemerkt und ihn – ganz richtig – als ungläubiges, amüsiertes Staunen gedeutet hatte. Er warf das Kanu-Bett und die anderen Sachen auf die Ladefläche des Wagens und klopfte sich danach die staubigen Hände ab. „Der alte Herr hat ihm zu Weihnachten Geschenke gekauft und sogar jedes Jahr an seinen Geburtstag gedacht.“

Das war mehr, als Slade in Bezug auf sich als seinen Sohn behaupten konnte. Trotzdem lachte er leise und schüttelte belustigt den Kopf. „Jasper wird bei mir ein schönes Zuhause haben“, versicherte er, weil er wusste, dass Hutch Jaspers Wohlergehen wichtig war.

„Wenn ich davon nicht ausginge“, antwortete Hutch nüchtern, „würdest du ihn nirgendwohin mitnehmen.“

Slade nickte und ging um seinen Pick-up herum zur Fahrertür. Im Laufe der Jahre hatte er nicht nur ein Mal eine Meinungsverschiedenheit mit Hutch gehabt, aber eigentlich war ihm der Mann größtenteils gleichgültig gewesen. Zumindest hatte Slade das bis heute geglaubt. Nicht, dass er und Hutch jemals dicke Freunde werden oder sich so nahestehen würden wie richtige Brüder. Vor allem dann nicht, wenn Slade sich entschied, seinen Anteil an Whisper Creek zu behalten, statt ihn an Hutch zu verkaufen – was durchaus im Bereich des Möglichen lag.

Es war allerdings klar, dass an diesem Halbbruder mehr dran war als nur die Hitzköpfigkeit, die Vorliebe für Partys und der Ruf, überall, wo er war, ein gebrochenes Frauenherz zurückzulassen.

Hutch drehte sich um und marschierte zurück ins Haus, während Slade den Wagen startete und Richtung Hauptstraße fuhr.

Jasper hatte seine Lefzen weit nach hinten gezogen und sah aus, als würde er lachen. Er hatte sich durchgesetzt und wirkte fast ein bisschen schadenfroh.

„Erwarte bloß keine Weihnachtsgeschenke“, sagte Slade in warnendem Ton. Er war froh, dass er nicht allein in seine schäbige Wohnung zurückkehren musste wie an all den anderen Abenden. „Und auch keine Torte zu deinem Geburtstag.“

Obwohl Joslyn eigentlich erst am nächsten Montag zu arbeiten begann, ging sie früh am Freitagmorgen in Kendras Büro. Sie hatte bereits ihre Yoga-Übungen absolviert, das Gästehaus auf Hochglanz gebracht und ihre E-Mails gecheckt. Jetzt, da sie sich um Jasper nicht mehr kümmern musste, wusste sie nichts mit sich anzufangen.

Als sie ins Büro kam, telefonierte Kendra gerade. In ihrer engen Leinenhose und dem luftigen weißen Top sah sie frisch, blond und schön wie immer aus. Sie lächelte Joslyn zu. Dabei hob sie den Zeigefinger, um zu signalisieren, dass sie mit dem Telefonat gleich fertig wäre.

„Das ist wunderbar, Tara“, sagte Kendra in den Hörer, wobei sie die Augen verdrehte und Joslyn dabei schmunzelnd anschaute. „Du wirst eine wunderbare Hühnerfarmerin abgeben.“ Kurzes Schweigen. „Nein, im Ernst“, fuhr sie liebenswürdig fort. „Wie schwer kann es schon sein? Ja, ich bringe dir heute Nachmittag die Unterlagen, und du kannst sie übers Wochenende durchgehen.“ Sie nickte. „Ja. Und noch etwas, Tara. Es ist jetzt bestimmt etwas kurzfristig, aber ich würde schrecklich gern dir zu Ehren eine Grillparty geben. Hier, bei mir zu Hause. Kannst du kommen?“ Es gab eine weitere Pause. Dann lächelte Kendra. „Wunderbar! 14 Uhr. Nein, du brauchst nichts beizusteuern. Und natürlich kannst du gerne jemanden mitbringen.“

Joslyn, die unwillkürlich mitgehört hatte, schloss zwei Dinge daraus: Erstens, Kendra hatte endlich die Hühnerfarm verkauft, die sie so vielen Interessenten gezeigt hatte. Zweitens würde sie, Joslyn, ebenfalls bei diesem Grillfest dabei sein müssen. Sie und höchstwahrscheinlich die halbe Stadt. In Parable waren Partys in der Regel nicht privat; sie waren meist Gemeinschaftsfeste, denn auf gewisse Art und Weise waren die Bewohner der Stadt eine einzige riesige Familie.

Sie unterdrückte die leichte Panik, die sie in sich aufsteigen spürte. Ihre Begegnung mit Daisy Mulligan gestern war zwar nicht schlecht gelaufen, doch wer wusste schon, wie die inächste Person reagieren würde? Andererseits musste sie sich dieser Person – und vielen anderen – nun mal stellen.

Kendra beendete ihr Telefonat und stand grinsend auf. „Falls du hier bist, weil du zu arbeiten beginnen willst“, zog sie Joslyn auf, „bist du ein paar Tage zu früh dran.“

Joslyn seufzte und sah sich um. Sie empfand die Atmosphäre im Haus angenehmer und weit weniger emotional aufgeladen als bei ihrem letzten Besuch hier. „Ich wollte nur mal schauen, ob du vielleicht meine Hilfe brauchst“, erklärte sie. Dann legte sie den Kopf schief und lächelte ihre Freundin an. „Mir scheint, man darf gratulieren. Du hast einen Käufer für die Hühnerfarm gefunden, nicht wahr?“

„Endlich.“ Kendra klang hocherfreut. „Keiner kann Tara Kendall vorwerfen, eine überstürzte Entscheidung getroffen zu haben. Sie sieht sich die Farm schon seit einigen Jahren immer wieder an.“

„Ist sie hier aus der Gegend? Der Name sagt mir gar nichts.“

Kendra schüttelte den Kopf. „Tara ist aus New York. Sie leitet die Marketingabteilung einer großen Kosmetikfirma, glaube ich.“

„Kein gerade kleiner Schritt von einem Marketing-Job im Big Apple auf eine Hühnerfarm am Stadtrand von Parable, Montana“, stellte Joslyn fest. Sie fand diese Tara bereits jetzt ziemlich faszinierend. Zumindest würde sie sich – als die Neue in der Stadt – nicht als eines der vielen Opfer von Elliott entpuppen.

„Soviel ich verstanden habe, hat sie gerade eine schlimme Scheidung hinter sich und möchte ein neues Leben anfangen.“ Kendra ging in die Küche, und Joslyn blieb nicht viel anderes übrig, als ihr zu folgen. „Ich hoffe stark, dass da keine Reality-Serie in Planung ist.“

Joslyn lachte, obwohl sie beim Betreten jenes Raums, der so viele Jahre lang Opals Reich gewesen war, etwas nervös wurde. „Das wäre der größte Aufreger, den es in dieser Stadt gegeben hat, seit …“

Joslyn verstummte, da ihr einfiel, was der letzte größte Aufreger in Parable gewesen war – nämlich Elliott Rossiters Investment-Skandal. Das Lachen blieb ihr plötzlich im Hals stecken.

Kendra blickte sie über die Schulter an. Offensichtlich wusste sie, warum Joslyn gerade die Fassung verloren hatte. „Lass uns einen Kaffee trinken“, schlug sie freundlich vor.

Joslyn sah sich in der Küche um und entspannte sich ein wenig. Das plötzliche Gefühl der Scham über die Machenschaften ihres Stiefvaters legte sich langsam wieder. Kendra hatte der Küche ihren eigenen Stil gegeben – genau wie dem Wohnzimmer, das nun ihr Büro war. Hier gab es keine Geister.

„Stört es dich?“, erkundigte sich Kendra, während sie auf die Espressomaschine – eines dieser schicken Dinger, die den Kaffee jeweils für eine Tasse portionierten – zusteuerte. „Ich meine, nach all den Jahren wieder hier in diesem Haus zu sein.“

„Eigentlich dachte ich, dass es mich stören würde“, gab Joslyn zu. „Und ich glaube, anfangs hat es das auch getan. Aber anscheinend bin ich darüber hinweg. Schließlich sind es die Leute, die in einem Haus wohnen, die ihm seine gewisse Atmosphäre verleihen. Jetzt bist du hier, und in dem Haus ist deine Persönlichkeit spürbar. Und genauso soll es ja auch sein.“

Kendra wirkte nachdenklich, vielleicht sogar eine Spur traurig, während sie sich mit der Kaffeemaschine beschäftigte. „Wenn du das sagst …“

Joslyn wartete. Sie stand hinter einem der modernen Küchenstühle an dem glänzenden, modernen Küchentisch. Früher waren die Möbel und Küchengeräte antike Stücke gewesen – bis hin zu dem holzbefeuerten Herd. Opal hatte immer darauf bestanden, das Essen für die Familie darauf zu kochen.

Kendra sah in Joslyns Richtung, zuckte kurz mit einer Schulter und zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „War es nicht John Lennon, der gesagt hat: ‚Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen‘?“ Sie stellte eine dampfende Tasse Kaffee auf den Tisch und bedeutete Joslyn, sich zu setzen. Dann schüttelte sie seufzend den Kopf, als wollte sie unliebsame Gedanken verscheuchen.

„Was waren deine ‚anderen Pläne‘?“, fragte Joslyn sanft, zog sich einen der großen Chromstühle heran und nahm Platz.

„Das Übliche.“ Kendra versuchte – wenig überzeugend –, fröhlich und unbekümmert zu klingen. Sie bereitete gerade eine Tasse Kaffee für sich selbst vor. „Ein Ehemann. Kinder. Eine tolle Karriere.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Ich schätze, ein verwirklichter Plan von dreien ist gar nicht so übel.“

Joslyn wusste, dass ihre Freundin – sehr kurz – mit einem reichen, adeligen Engländer verheiratet gewesen war. Mehr Informationen hatte Kendra bis jetzt nicht preisgeben wollen. Sie und Joslyn standen sich zwar sehr nahe, doch sie hatten beide ihre Geheimnisse.

„Du bist jung, Kendra“, meinte Joslyn vorsichtig. „Du kannst immer noch einen Ehemann und/oder Kinder haben. Man hat heutzutage viele Möglichkeiten.“

Kendra trug ihre Tasse zum Tisch und setzte sich Joslyn gegenüber hin. Sie starrte auf ihren Kaffee, machte jedoch keine Anstalten zu trinken. „Vielleicht bin ich altmodisch“, sagte sie sehr leise, „aber wenn ich einmal Kinder habe, möchte ich mit ihrem Vater verheiratet sein. Aber um zu heiraten, müsste ich an die Liebe glauben.“

„Du glaubst nicht an die Liebe?“ Joslyn spürte, wie sie plötzlich traurig wurde. Kendra war früher immer eine Romantikerin gewesen. Trotz ihres herausragenden Notendurchschnitts von 4.0 an der Highschool hatten die anderen Schüler der Abschlussklasse Kendra zur Gewinnerin in der Kategorie „märchenhafteste Ehe“ auserkoren.

„Nicht mehr“, antwortete Kendra.

„Hat das etwas mit Hutch Carmody zu tun?“, erkundigte sich Joslyn behutsam. Ihr fiel wieder ein, wie merkwürdig angespannt die Stimmung gestern gewesen war, als Hutch Jasper holen wollte.

Kendra errötete. „Nein“, antwortete sie sehr schnell und sehr bestimmt.

Joslyn zuckte ein wenig zusammen. „Entschuldige. Offenbar trete ich mit allem, was ich sage, ins Fettnäpfchen.“

Kendra lächelte. Ihr Blick blieb jedoch ernst. „Ich wollte dich nicht anfauchen“, entschuldigte sie sich. „Aber gleiches Recht für alle, Joss. Warum sollte ich dir meine größten Geheimnisse anvertrauen, wenn du doch ganz offensichtlich viel vor mir verbirgst? Wir sind doch eigentlich beste Freundinnen, oder? Und beste Freundinnen vertrauen sich alles an.“

„Stimmt“, gab Joslyn zu. „Was willst du wissen?“

„Für den Anfang wüsste ich gern, warum du zurück nach Parable gekommen bist. Ob es dir nun gefällt oder nicht – ich weiß, dass du in irgendeiner Form hinter diesen dicken Schecks steckst. Diesem Geldregen, der seit ein paar Monaten auf die Stadt niederprasselt. Was ich allerdings nicht verstehe, ist, warum du so ein Geheimnis daraus machst beziehungsweise was dich veranlasst, überhaupt. so etwas zu tun. Du bist, wie ich dir bereits gesagt habe, nicht verantwortlich für das, was Elliott Rossiter damals getan hat.“

„Na gut“, sagte Joslyn, nachdem der Kloß in ihrem Hals wieder so weit verschwunden war, dass sie sprechen konnte. „Ja, ich habe meine Softwarefirma für eine Riesensumme verkauft und eine Anwaltskanzlei in Denver beauftragt, jede Person ausfindig zu machen, die von meinem Stiefvater betrogen wurde. Dann habe ich veranlasst, dass den Leuten ihr Geld zurückerstattet wird.“

„Und warum lässt du dir das so aus der Nase ziehen?“, fragte Kendra leise und zog dabei ihre perfekt gezogenen Augenbrauen erstaunt hoch.

Joslyn ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Sie musste erst in sich gehen, damit sie einen Haufen verwirrter Gefühle in Worte fassen konnte. „Keine Ahnung“, sagte sie nach einer Weile. „Nicht genau zumindest. Parable war immer … nun ja, es war mein Zuhause, und es hat mich all die Jahre immer hierher zurückgezogen. Ich stimme dir zu, dass das, was Elliott getan hat, nicht meine Schuld war. Aber es hätte nie passieren dürfen – schließlich wurden viele anständige Leute fast in den Ruin getrieben. Und da ich die finanziellen Mittel hatte, es wiedergutzumachen, habe ich es eben getan.“

„Aber warum machst du so ein Geheimnis daraus?“

„Weil ich um meiner selbst willen in Parable akzeptiert werden möchte. Nicht, weil ich mir Respekt erkaufen möchte.“

„Du hast ein sehr kostspieliges Gewissen“, stellte Kendra mit einem kleinen Lächeln fest, das zwar ein wenig zittrig, aber dennoch aufrichtig war. „Doch ich verstehe dich durchaus. Dein Geheimnis ist jedenfalls bei mir gut aufgehoben.“

„Gut“, meinte Joslyn erleichtert. „Und jetzt bist du dran. Warum glaubst du nicht mehr an die Liebe?“

In Kendras Blick lag plötzlich eine so große Traurigkeit, dass Joslyn ihr hartnäckiges Nachfragen sofort bereute. Aber wie hatte Kendra selbst gesagt? Gleiches Recht für alle. „Wegen Jeffrey. Mein Exmann.“

„Was hat er getan?“

Kendra überlegte eine Weile, ehe sie antwortete. „Er hat mich im Sturm erobert, mich geheiratet und mir das Blaue vom Himmel versprochen. Eine Zeit lang hat er sogar Wort gehalten. Wir haben nach der Hochzeit – die Trauung war nur standesamtlich und im kleinen Kreis – ganz Europa bereist. Aber merkwürdigerweise hat es sich nie ergeben, dass wir seine Verwandten in England besucht haben. Seine Familie hat mich, wie sich herausstellte, als nicht standesgemäß empfunden. Jeffrey meinte, ich solle mir nichts daraus machen. Die Liebe würde alles überwinden usw. Wir sind also hierher zurückgekehrt, haben dieses Haus aus dem Rossiter-Nachlass gekauft und Pläne geschmiedet, eine eigene Familie zu gründen. Er hatte jede Menge Geld, und ich war dumm genug zu glauben, ich hätte jemanden gefunden, der für mich sorgt.“

„Und?“, hakte Joslyn nach, da Kendra schwieg.

„Und eine Woche, nachdem wir den Kaufvertrag für dieses Ungetüm von Haus unterzeichnet hatten, wurde sein Vater krank. Jeffrey ist sofort nach London geflogen. Ziemlich bald darauf hat er mich angerufen und mir mitgeteilt, es tue ihm leid, mir Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber er wolle die Scheidung. Unsere Beziehung sei ein einziger riesiger Fehler gewesen. Auf mein Privatkonto wurden plötzlich mehrere Millionen Dollar überwiesen, und Jeffreys ‚Advokaten‘, wie er sie bezeichnete, haben mir die Dokumente für das Haus zugeschickt. Das war’s. Das Märchen war zu Ende.“

„Autsch.“ Joslyn nahm Kendras Hand und drückte sie zart. „Das ist brutal. Hat Jeffrey dir jemals irgendeinen Grund genannt?“

Kendra schluckte schwer. Dann schüttelte sie den Kopf. „Das musste er nicht“, antwortete sie schnell. „Ich weiß nicht, ob sein Vater wirklich krank oder die ganze Sache nur ein Vorwand war, um Jeffrey nach Hause zu locken. Sobald er dort war, haben seine Verwandten jedenfalls keine Zeit verschwendet, ihn davon zu überzeugen, dass unsere Beziehung nur eine unglückselige Liebschaft war, die unverzüglich beendet werden muss – koste es, was es wolle. Jeffrey hat sich offensichtlich dieser Meinung irgendwann angeschlossen, mir gewissermaßen die adelige Tür vor der Nase zugeschlagen, und das war’s dann.“

„Dieser Mistkerl.“ Joslyn war empört. „Du sagst es.“

Joslyn biss sich auf die Unterlippe. Sie zögerte, ob sie aussprechen sollte, was ihr gerade durch den Kopf ging. Letztendlich konnte sie sich jedoch nicht zurückhalten. „Trotzdem“, begann sie, „scheint es mir ein wenig übereilt, deshalb überhaupt nicht mehr an die Liebe zu glauben, oder? Ich meine, wie wahrscheinlich ist es schon, dass so etwas noch einmal passiert?“

„Ich habe ihn geliebt“, erwiderte Kendra schlicht. „Ja, aber …“

„Ich mache mich wohl besser wieder an die Arbeit“, unterbrach Kendra sie. „Ich muss die Verträge für die Hühnerfarm vorbereiten und beiden Vertragspartnern die Papiere schicken lassen. Und da ist natürlich das Barbecue, das geplant werden will.“

„Richtig.“ Joslyn stand auf und trug ihre und Kendras Tasse zur Spüle.

„Ich könnte deine Hilfe bei der Essensvorbereitung wirklich gut gebrauchen“, erklärte Kendra.

Joslyn seufzte innerlich. In dieser Sache gab es kein Entkommen – Kendra hatte ihr einen Job und eine Wohnung gegeben, und außerdem waren sie Freundinnen. Sie musste bei dieser Party mitmachen, ob sie wollte oder nicht.

Und sie half im Grunde nur zu gern.

„Wie viele Leute lädst du ein?“, erkundigte sie sich schließlich resigniert.

„Rechne am besten mit mindestens hundert. Vielleicht mehr.“

Kendra war mittlerweile zur Tür gegangen. Sie hatte Joslyn den Rücken zugewandt und dachte wahrscheinlich, ihre Freundin würde nicht sehen, dass sie sich mit beiden Handrücken über die Wangen wischte, während sie schließlich fluchtartig die Küche verließ.

Einkaufen war nicht gerade Slades Lieblingsbeschäftigung.

Es war früher Morgen, und er und sein neuer Hilfssheriff Jasper fuhren in Slades Pick-up vom Discountladen gerade nach Hause, da rief Layne auf seinem Handy an.

„Ich glaube, ich bin beleidigt“, sagte Layne, wie üblich ohne Einleitung. „Shea würde am liebsten ‚schon gestern‘ zu dir kommen. Sie hat bereits alles gepackt und will alle fünf Minuten wissen, ob ich die Flugtickets schon gekauft habe.“

Slade lachte leise. Gleichzeitig hatte er ein leicht mulmiges Gefühl. Er liebte Shea, das stand außer Frage, aber er konnte ihr kein richtiges Zuhause bieten. Zumindest noch nicht.

„Du setzt sie also in ein Flugzeug?“

„Ja“, antwortete Layne. „Das heißt, wenn es dir immer noch recht ist, dass Shea zu dir kommt. Glaub mir, Slade, falls du einen Rückzieher machen möchtest, verstehe ich das.“

„Wir werden das schon irgendwie hinkriegen.“

„Falls es dir nichts ausmacht, begleite ich Shea. Nur, um ihr zu helfen, sich einzurichten.“

Layne würde wahrscheinlich einen einzigen Blick in seine Junggesellenbude werfen, ihre Tochter schleunigst wieder zum Flughafen in Missoula bringen und mit ihr in das nächstbeste Flugzeug steigen – egal, wo es hinflog.

„Okay“, erwiderte Slade. Er musste mit Kendra reden, und zwar schnell. Selbst wenn er das Kingman-Haus erwarb – was er nicht vorhatte –, würde es mindestens einen Monat dauern, bis der Kauf über die Bühne ging. Vielleicht konnte er das Haus mieten, bis er sich entschieden hatte, ob er Hutchs Angebot annehmen würde, ihm seinen Teil von Whisper Creek abzukaufen.

„Versuch dich in deiner Begeisterung etwas zu zügeln“, zog Layne ihn auf. „Ich werde nur ein paar Tage in Parable bleiben, und deine Tugend ist nicht in Gefahr, Cowboy. Ich bin wahnsinnig verliebt in einen anderen Mann.“

Slade wartete, dass sich bei ihm so etwas wie Bedauern wegen Laynes Bemerkung einstellte – er hatte sie schließlich einmal geliebt –, aber er empfand nichts dergleichen. Er wünschte sich allerdings, er hätte behaupten können, ebenfalls „wahnsinnig verliebt“ zu sein – in irgendeine tolle Frau.

Eine wie Joslyn Kirk beispielsweise. Er spürte eine Regung unter der Gürtellinie, die nicht unbedingt ideal war, um damit in nächster Zeit aus dem Pick-up auszusteigen. Zumindest nicht mitten in der Stadt, wo überall Menschen waren.

„Ich reserviere dir ein Zimmer im ‚Best Western‘-Hotel“, versprach er. „Wann habt ihr vor, zu kommen?“

„Übermorgen?“

Slade unterdrückte ein Seufzen. „Soll ich euch vom Flughafen in Missoula abholen?“

„Auf keinen Fall“, antwortete Layne fröhlich. „Wir nehmen einen Mietwagen.“

„Gut. Ich buche das Zimmer. Schick mir eine SMS mit eurer voraussichtlichen Ankunftszeit, sobald du Bescheid weißt.“

„Wird gemacht.“

Slade wollte sich gerade verabschieden und auflegen, als er Layne leise seinen Namen sagen hörte.

„Ja?“, fragte er.

„Danke“, sagte sie. „Ich bin bei Shea mit meinem Latein am Ende.“

Slade war kein gesprächiger Mann. Er war intelligent und gebildet, doch die Leute sagten von ihm, dass er mit Worten genauso knausrig war wie ein Geizkragen mit dem Geld. Slade konnte das nicht bestreiten. „Alles wird gut“, versicherte er ihr.

Nachdem das Telefonat beendet war, machte er sich auf den Weg zu Kendra.

Wenig später parkte er den Wagen auf der geradezu blendend weißen Auffahrt neben dem Herrenhaus und wandte sich an Jasper.

„Es wird nicht lange dauern“, erklärte er dem Hund. „Benimm dich, bis ich wieder da bin.“

Jasper stieß nur ein Schnauben aus.

Slade ging in das große Haus und stellte fest, dass Kendras Büro leer war.

„Hallo?“, rief er, nur um sich zu vergewissern, dass wirklich niemand da war.

Von etwas weiter weg hörte er eine Frauenstimme, die allerdings nicht Kendra gehörte.

„In der Küche!“, rief jemand. Joslyn Kirk?

Du lieber Himmel, sagte Slade im Stillen. Er hatte nicht damit gerechnet, ihr zu begegnen. Obwohl er es eigentlich hätte tun sollen, denn immerhin wohnte sie auf diesem Anwesen, und sie und Kendra waren gute Freundinnen. Er räusperte sich, während er überlegte, ob er bleiben oder schleunigst abhauen sollte.

Ehe er sich für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden konnte – er hatte zur ersten tendiert, da die zweite ihm ziemlich feige vorkam –, erschien Joslyn in dem großen Türbogen zwischen Büro und Esszimmer.

Sie hatte Mehl in den Haaren. Slades Herz machte erst einen merkwürdigen kleinen Sprung und setzte dann einen Schlag lang aus.

„Oh.“ Joslyn sah ihn mit großen Augen an und errötete. „Du bist es.“

Heiser lachte Slade. „Ich bin’s, genau. Ist Kendra da?“

Joslyn schüttelte den Kopf. Dabei schien ihr weiches braunes Haar um ihr herzförmiges Gesicht regelrecht zu tanzen. Ihre Lippen waren voll …

Warum dachte er über ihre Lippen nach?

„Sie hat endlich die Hühnerfarm verkauft“, erzählte Joslyn. „Sie bringt den Leuten gerade die Verträge.“ Sie zögerte und befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge – eine Geste, die sofort ein Feuer in Slade entfachte. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

Und ob, stellte Slade grimmig fest. Aber wahrscheinlich ist es nicht die Art von Hilfe, die du im Sinn hast.

„Ich wollte mit ihr über das Kingman-Haus reden und mich erkundigen, ob sie die Besitzer schon gefragt hat, ob sie es an mich vermieten würden. Aber ich rufe sie einfach später an.“

Joslyn schluckte. Nickte. Er wollte seinen Mund auf die pulsierende Ader an ihrem Hals pressen.

Slade war froh, dass er seinen Hut mitgenommen und nicht im Auto gelassen hatte. Er hielt ihn mit beiden Händen auf Höhe seiner Gürtelschnalle und hoffte, dass es ungezwungen wirkte.

„Ich richte ihr aus, dass du da warst“, bot Joslyn an.

Es tröstete ihn ein wenig, dass er ganz offensichtlich nicht der einzige nervöse Mensch hier war.

„Das wäre toll“, antwortete er. Es war der perfekte Zeitpunkt zu gehen, doch aus vermutlich demselben Grund, der ihn seinen Hut in dieser strategisch wichtigen Position halten ließ, rührte er sich nicht.

„Ich weiß nicht, wie die Eigentümer zu erreichen sind. Aber wenn du das Ranchhaus noch einmal besichtigen willst, kann ich den Schlüssel für den kleinen Kasten, in dem vor Ort die Schlüssel für das Haus hinterlegt sind, suchen. Dann kann ich dir aufsperren.“

Sie wirkte plötzlich verlegen – als hätte sie nicht vorgehabt, so etwas vorzuschlagen.

Slade brauchte nicht noch einen Rundgang durch das Ranchhaus. Er war mit Kendra ein Dutzend Mal dort gewesen, kannte jeden Zentimeter des Hauses und wusste, welche Holzdielen quietschten und in welchem Zustand die Rohrleitungen waren. Er hatte auch schon klare Vorstellungen davon, wie jeder Raum aussehen würde, wenn er mit den notwendigen Renovierungsarbeiten fertig war, die er bereits im Detail geplant hatte.

„Das wäre fantastisch.“ Slade achtete darauf, seinen Blick nicht von ihrem Hals abwärts schweifen zu lassen. Er war der Situation ohnehin schon nicht mehr gewachsen. Es hatte keinen Sinn, alles noch schlimmer zu machen.

5. KAPITEL

Joslyn war keine Immobilienmaklerin; sie war, ermahnte sie sich streng, als eine Art Assistentin angestellt – ein Job, mit dem sie außerdem offiziell noch nicht einmal begonnen hatte. Dennoch hatte sie gerade die Schlüssel an einem Haken in der kleinen Kammer gefunden, in dem Kendras Büromaterial lagerte. Und sie war im Begriff, Slade Barlow ein Haus zu zeigen. Ein Haus, das er wahrscheinlich schon unzählige Male besichtigt hatte.

Sie hätte ihm einfach die Schlüssel in die Hand drücken und ihn allein zu dem Kingman-Haus schicken können. Immerhin war er hier der Sheriff. Also jemand, den man vertrauensvoll in ein leer stehendes Haus lassen konnte. Aber ihn ohne Begleitung loszuschicken schien Joslyn auch irgendwie unpassend. In jedem Unternehmen gab es schließlich bestimmte Abläufe und Richtlinien, die man zu beachten hatte.

„Es wäre unsinnig, mit zwei Autos zu fahren“, sagte Slade pragmatisch, machte die Beifahrertür seines Pick-ups auf und schob Jasper, der vorne gesessen hatte, vorsichtig zwischen den Sitzen nach hinten auf die Rückbank. Dann errötete er und wischte rasch den Sitz ab, wobei eine kleine goldene Wolke aus Hundehaaren aufwirbelte.

Joslyn fand die Geste amüsant und merkwürdig rührend. Einen Moment lang vergaß sie ihre eigenen Bedenken. Mit einer Handbewegung gab sie zu verstehen, dass sie ein T-Shirt und alte Jeans anhatte und ihr ein bisschen Schmutz nichts ausmachte.

Slade, der seinen Hut immer noch in einer Hand hielt, trat einen Schritt zurück und wartete, bis sie eingestiegen war.

Als sie Probleme beim Angurten hatte, errötete sie bis unter die Haarwurzel.

Jasper stupste ihr zur Begrüßung mit seiner feuchten, kalten Nase an die Wange. Er freute sich sichtlich, sie wiederzusehen. Und das, obwohl er Joslyns vorübergehende Betreuung verschmäht und sich zu Slades Hund erklärt hatte.

„Auch dir einen schönen guten Tag, du Verräter“, sagte Joslyn liebevoll und lächelte, während Slade um die Motorhaube seines Pick-ups herum zur Fahrertür lief.

Joslyn hätte schon vorhin fast die Fassung verloren, als sie mit Slade allein in einem Raum gewesen war. Es war ein Gefühl gewesen, als hätte sie einen Draht angefasst, der unter Strom stand, oder einen Finger in eine Steckdose gesteckt. Mit diesem Mann auch noch im selben Wagen zu sitzen, Seite an Seite, ließ ihre ohnehin schon aufgewühlten Emotionen so intensiv werden, dass es ihr fast den Atem raubte.

Was hatte sie sich überhaupt bei ihrem Vorschlag gedacht, mit ihm gemeinsam das Haus anzusehen? Ganz zu schweigen davon, auf sein Angebot einzugehen, in seinem Wagen mitzufahren, statt ihr eigenes Auto zu nehmen? Die Antwort war nur allzu eindeutig: Ihr gefiel das aufregende, fast gefährliche Gefühl, so viel ruhiger, entschlossener Männlichkeit nahe zu sein. Joslyn war wie elektrisiert, ihr Herz klopfte, und sie spürte, wie in jeder Faser ihres Körpers alle möglichen Empfindungen erwachten – eine animalischer als die andere.

Joslyn konnte sich einen verstohlenen Blick in seine Richtung nicht verkneifen. Slade war von der Seite genauso attraktiv wie von vorn.

Für gewöhnlich war Joslyn nicht geschwätzig. Jetzt allerdings begann sie, einfach draufloszuplappern. „Ich fürchte, ich kann auf der Ranch nicht mehr tun, als dich ins Haus zu lassen“, sagte sie völlig unnötigerweise. Das Schweigen war einfach unerträglich gewesen. Zumindest für sie. Slade schien es überhaupt nicht zu stören. „Ich meine, ich bin keine Immobilienmaklerin. Das heißt, ich könnte keinen Vertrag …“

Um Slades rechten Mundwinkel zuckte es. Er blickte geradeaus und war ganz aufs Fahren konzentriert. Mit ihm locker Konversation zu betreiben würde vermutlich so schwer gehen wie das sprichwörtliche Kamel durchs Nadelöhr.

Mit ihm Sex zu haben aber …

Doch egal. Besser nicht daran denken. Gar nicht.

Nur leider konnte Joslyn nicht anders. Es war eine aufre- gende Vorstellung. Eine, die ihr wieder die Röte ins Gesicht trieb und sie innerlich förmlich dahinschmelzen ließ.

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich.

„Schon in Ordnung“, sagte Slade in dem lässigen, gedehnten Ton, der typisch für ihn war. Mittlerweile hatte Joslyn vergessen, worüber sie gerade geredet hatte. Slade schien es zu merken. „Schon in Ordnung, dass du mir die Ranch nicht verkaufen kannst, meine ich.“

Schweigen. Joslyn hatte das Gefühl, als würde sie sich auf dünnem Eis bewegen und müsste mit den Händen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und auszurutschen.

„Soviel ich weiß, hast du dir das Haus bereits angesehen“, meinte sie schnell und in möglichst neutralem Ton. Im nächsten Moment wünschte sie, sie hätte den Mund gehalten. Slade würde vielleicht annehmen, dass sie ihn für unentschlossen hielt; für einen „Gaffer“, wie man in der Immobilienbranche sagte.

Aber was machte es denn, wenn er das wirklich glaubte? Wen interessierte es schon, was Slade Barlow dachte? Außer dich selbst, meinst du? verspottete sie sich selbst.

Frustriert seufzte Joslyn. Sie führte anscheinend gerade zwei Gespräche gleichzeitig: eines mit Slade und eines mit sich selbst.

Das war ausgesprochen untypisch für sie. Sie war eine selbstbewusste Frau, die ihre Gefühle im Griff hatte. Warum sollte ihr die Meinung dieses Mannes wichtig sein? Geschweige denn, sie dermaßen durcheinanderbringen?

Er lachte leise und sah sie mit seinen unglaublich blauen Augen an. Fast kam es ihr so vor, als hätte er erraten, was sich in ihrem Kopf und in ihrem Körper abspielte.

Mittlerweile hatten sie schon fast den Stadtrand erreicht. Sie fuhren an der Highschool von Parable und dem – für Schüler günstig gelegenen– Lokal einer Hamburger-Kette vorbei. Dann waren sie auf dem Land.

„Ich hatte mich eigentlich schon beinahe entschlossen, das Kingman-Haus zu kaufen“, erklärte Slade. „Doch dann hat sich … nun ja … ist etwas anderes dazwischengekommen, das die ganze Sache etwas verkompliziert. Jetzt überlege ich, ob ich das Haus nicht besser kurzfristig mieten soll. Meine Stieftochter kommt den Sommer über nämlich zu mir, und ich habe praktisch keinen Platz für sie.“

Als sie bei „Mulligan’s“ und „Curly-Burly“ auf der anderen Seite des Highways vorbeifuhren, war Joslyn immer noch dabei, die – jedenfalls für Slades Verhältnisse – lange Rede zu verdauen. Beide Parkplätze vor den zwei Läden waren halb voll.

Slade drückte auf die Hupe – was offenbar als schneller Gruß für seine Mutter Callie im Frisiersalon gedacht war.

„Verstehe“, sagte Joslyn, obwohl sie es keineswegs verstand. Dieses merkwürdige aufgeladene Schweigen machte ihr langsam wirklich zu schaffen.

Es war ein Gefühl, als würde man barfuß auf einem heißen Blechdach tanzen. Ich hätte einfach in Kendras Küche und bei meiner Spezial-Focaccia mit Knoblauch und Rosmarin bleiben sollen. Dort hatte sie sich wenigstens nur mit den Geistern der Vergangenheit auseinandersetzen müssen; nicht mit einem großen, schlanken, heißblütigen Cowboy mit einer Ausstrahlung, bei der sie sich womöglich selbst die Kleider vom Leib riss, wenn sie nicht aufpasste.

Sie näherten sich einer Seitenstraße, an deren Rand ein Holzschild mit der Aufschrift „Zu verkaufen“ stand. Daneben befand sich ein typisch ländlicher Briefkasten, der sich bereits gefährlich nach rechts neigte. Slade schaltete herunter, blinkte und bog ab. Der Pick-up holperte über einen Weiderost.

„Was führt dich hierher zurück, Joslyn?“, fragte Slade, während er gekonnt die schmale kurvige Straße hinauffuhr. „Nach Parable, meine ich.“

Da ist sie also wieder, dachte Joslyn. Die Frage, die zwar, wie sie annahm, völlig verständlich war, bei der sich ihr jedoch jedes Mal förmlich die Haare sträubten.

„Ich habe eine Veränderung gebraucht“, antwortete sie. „Wovon?“

„Von meinem alten Leben.“ „Das du wo geführt hast …?“

„Ist das ein Verhör? Stehe ich unter Verdacht?“ Joslyns Frage war halb im Ernst gemeint, obwohl sie sich bemühte, freundlich zu bleiben.

Slade bedachte sie mit einem umwerfenden Lächeln. „Nein. Wenn es so wäre, hätte ich nur auf einer Computertastatur ein paar Tasten drücken müssen und alles herausgefunden, was ich wissen muss.“

Joslyn seufzte. Es war tatsächlich so, dass im Internet ein paar wesentliche Fakten mit interessanten Details zu ihrer Person zu lesen waren. Slade war neugierig, was sie in der Vergangenheit gemacht hatte – das war offensichtlich. Er hätte problemlos im Internet recherchieren können, doch stattdessen fragte er sie gerade persönlich. Interessanter Ansatz.

Aber es war natürlich möglich, dass er bereits Informationen über sie eingeholt hatte und jetzt bloß ihre Version hören wollte.

Joslyn grübelte immer noch darüber nach, als sie den letzten Hügel hinauffuhren und plötzlich das alte Haus und der Stall vor ihren Augen auftauchten. Auf der Rückbank hinter ihnen gab Jasper ein fröhliches, erwartungsvolles Kläffen von sich. Im Gegensatz zu seinem Herrchen war der Hund bereits absolut begeistert von dem Anwesen.

„Nach dem College bin ich nach Phoenix gezogen und habe seither dort gelebt“, erklärte Joslyn ruhig, weil sie wusste, dass sie der Frage, wo sie all die Jahre gewesen war, nicht ausweichen konnte.

„Und jetzt bist du wieder in Parable.“ Slade hielt den Pickup zwischen den beiden baufälligen Gebäuden an, die sich so aneinanderzulehnen schienen, als würden sie sich flüsternd ihre Geheimnisse anvertrauen.

Weder Slade noch Joslyn machten Anstalten auszusteigen.

Jasper begann, ungeduldig auf der Rückbank hin und her zu springen und mit den Pfoten auf den Ledersitzen zu scharren. Er hatte es offensichtlich eilig, das Grundstück auf eigene Faust zu erkunden.

Joslyn war wegen Slades Bemerkung immer noch ein wenig gereizt.

Und jetzt bist du wieder in Parable.

„Gibt es irgendein Gesetz, das mir den Aufenthalt hier verbietet, Sheriff Barlow? Eine städtische Verordnung vielleicht? ‚Niemand, der auch nur im Entferntesten in Verbindung mit Elliott Rossiter gebracht werden kann, darf jemals wieder einen Fuß in unser ehrbares Städtchen setzen‘?“

Slade zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. Um seinen Mund zuckte es fast unmerklich.

Was, wunderte sich Joslyn, fand er denn so wahnsinnig komisch?

Mittlerweile wurde der Hund von Sekunde zu Sekunde immer unruhiger, sodass Slade endlich ausstieg und die hintere Tür aufmachte, damit Jasper herausspringen konnte. Dann sah er zu, wie der Vierbeiner aufgeregt auf dem verwilderten Rasen vor dem Haus herumlief und ausgelassen bellte.

„Kommst du mit rein oder wartest du hier?“, erkundigte sich Slade ruhig. Und das, nachdem er sie wegen ihrer Rückkehr nach Parable praktisch ins Kreuzverhör genommen hatte.

Joslyns Stolz ließ es nicht zu, im Wagen sitzen zu bleiben, obwohl die Vorstellung einen gewissen Reiz hatte. Also öffnete sie die Beifahrertür, schnappte sich ihre Handtasche und kramte dann im Gehen nach dem Schlüssel für den Schlüsselkasten.

Sie war so in die Schlüsselsuche vertieft – oft hatte sie ihre Tasche schon als Tor in ein Paralleluniversum bezeichnet, in dem Dinge auf Nimmerwiedersehen verschwanden –, dass sie früher ihr Ziel erreichte als erwartet. Und prompt fast mit Slade zusammenstieß.

Er lachte – es war ein tiefes, raues Lachen – und hielt sie behutsam an den Schultern fest, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor. „Hoppla!“ Seine Augen blitzten übermütig. „Ich wollte vorhin doch nur Konversation machen. Wenn du mir nicht erzählen möchtest, was du hier im Schilde führst, musst du es doch nicht.“

Joslyn ärgerte sich schon wieder. Sie gab ihm den Schlüssel, den sie mittlerweile in einer Hand fest umklammert hielt, so unsanft, dass es fast einem Hieb mit einem Schlagring gleichkam.

„Was ich im Schilde führe?“ Sie bemühte sich, nicht allzu laut zu werden. „Was zum Teufel soll das denn bedeuten?“ Sie holte verärgert Luft. Als sie ausatmete, platzte es nur so aus ihr heraus. „Wahrscheinlich glaubst du, ich bin nach Parable zurückgekehrt, weil ich das Geld stehlen will, das meinem Stiefvater eventuell durch die Lappen gegangen ist?“

Slade nahm die Hände von ihren Schultern. Zu ihrer Schande musste Joslyn feststellen, dass sie seine Berührung tatsächlich vermisste. Und da war es wieder: das irritierende Zucken um seine Mundwinkel und dieses Funkeln in seinen Augen. Im Gegensatz zu ihr schien er die Situation eindeutig zu genießen – sehr sogar.

„Nein“, antwortete er gelassen. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und sah sie an. Dem Hund, der vor lauter Übermut außer Rand und Band war, durch das hohe Gras sprang und Schmetterlinge jagte, schenkte er keinerlei Beachtung. „Was Elliott getan hat, ist doch Schnee von gestern.“

„Was dann?“, hakte Joslyn nach. „Was könnte ich denn im Schilde führen?“

Slade seufzte wieder und fuhr sich durch die zerzausten Haare. „Ich weiß es nicht“, antwortete er ruhig. Vernünftig. „Darum habe ich dich ja gefragt.“

Dieser Mann trieb einen in den Wahnsinn.

Joslyn versuchte, sich wieder zu beruhigen. „Ich bin hier aufgewachsen, Slade“, sagte sie schließlich, nachdem sie sich jedes Wort gut überlegt hatte. „Genau wie du. Parable ist mein Zuhause.“

Er bekam einen angespannten Zug um den Mund, und seine Augen wurden dunkel. Die Farbe erinnerte Joslyn an einen eben noch blauen, klaren Himmel, an dem plötzlich graue Gewitterwolken aufzogen. „Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, konntest du damals gar nicht schnell genug von hier wegkommen“, entgegnete er.

Joslyn kniff die Augen zusammen und blickte ihn bestürzt an. Sie war also noch immer da, diese Feindseligkeit des Jungen aus dem „Arme-Leute-Viertel“.

„Ja“, antwortete sie kühl und straffte die Schultern, „man will nichts wie weg, wenn die Kamerateams aller vier großen Fernsehsender plötzlich im Vorgarten lauern.“ Der tiefe Fall ihres Stiefvaters war ein wahres Fressen für die Medien gewesen; alle hatten damals eine Stellungnahme von ihr, von ihrer Mutter und sogar von der armen Opal gewollt.

„Du hast oft genug angedeutet, dass du aus Parable fortwillst– und zwar schon bevor die Behörden Rossiter das Handwerk gelegt haben.“ Slade wollte anscheinend keinen Millimeter nachgeben. Die Gelassenheit, die er vorhin an den Tag gelegt hatte, musste gespielt gewesen sein. „Ich erinnere mich, wie du früher warst, Joslyn. Du hast allen verdammt klar zu verstehen gegeben, dass du dir zu gut für ein Kaff in Montana und den Großteil seiner Bewohner warst. Daher beschäftigt es mich wirklich, warum es dich jetzt plötzlich dermaßen stark hierher zurückzieht.“

Seine Worte waren für Joslyn wie ein Schlag ins Gesicht. Ja, sie war damals ein verwöhntes Gör gewesen, das konnte sie nicht leugnen. Sie hatte von allem zu viel gehabt: zu viel Geld, zu viel Anerkennung und Bewunderung als Rodeo-Queen, als Jahrgangssprecherin und Captain des Cheerleader-Teams. Aber das alles war viele Jahre her, und mittlerweile war sie erwachsen geworden. Sie hatte viel Gutes getan und war ein wirklich netter Mensch geworden.

„Menschen ändern sich“, erwiderte sie schnippisch.

„Nein, meiner Erfahrung nach nicht“, widersprach Slade sofort.

Dann drehte er sich um und ging zu dem Schlüsselkasten neben der Eingangstür des wackeligen alten Ranchhauses.

Joslyn kochte immer noch vor Empörung. Sie verfolgte, wie Slade die Stufen zur Veranda hinaufstieg, die um das ganze Haus herum verlief und deren Boden bereits etwas durchhing. Er schloss den Kasten auf und nahm den Hausschlüssel heraus, den Kendra hier hinterlegt hatte.

Einmal blickte er kurz in Joslyns Richtung, dann sperrte er die Haustür auf, öffnete sie und ging hinein. Jasper sprang ihm mit wedelndem Schwanz hinterher. Die Schmetterlinge waren vergessen.

„Idiot“, murmelte Joslyn. Und sie meinte nicht den Hund.

Im nächsten Moment schwirrte plötzlich eine lästige Wespe um sie herum und trieb sie ebenfalls zur Tür.

Nicht, dass sie einen Vorwand gebraucht hätte, das Haus zu betreten und sich darin umzusehen. Immerhin war sie – wenn auch nur inoffiziell – in Kendras Auftrag hier. Und außerdem: Wenn sie draußen blieb oder im Pick-up wartete, hätte Slade gewonnen – unabhängig von der Art des Spielchens, das er spielte.

Joslyn würde sich nicht von ihm einschüchtern lassen.

Also stieg sie rasch die Verandatreppe hinauf und ins Haus.

Schon auf der Schwelle blieb sie wie angewurzelt stehen, weil ein ganz merkwürdiges, wehmütig-nostalgisches Gefühl sie plötzlich überfiel. Obwohl sie noch nie hier gewesen war, hatte sie den Eindruck, als würde dieses Gebäude sie nach einer langen, schwierigen Reise wieder willkommen heißen.

Es war schön, doch gleichzeitig auch regelrecht gespenstisch.

Sie blinzelte ein paarmal, lauschte dem Geräusch von Jaspers Krallen auf dem Holzboden im Raum nebenan und hörte, wie Slade leise und liebevoll etwas zu dem Hund sagte. Was genau es war, konnte sie nicht verstehen.

Langsam schloss sie die Tür hinter sich und sah sich im Halbdunkel des mittelgroßen Wohnzimmers um.

Für ein leer stehendes Haus war der Raum erstaunlich sauber. Kendra oder die Besitzer mussten eine Reinigungsfirma beauftragt haben, in regelmäßigen Abständen zu putzen. Außerdem strahlte das Zimmer einen gewissen dezenten Charme aus. Der offene Kamin war aus roten Backsteinen gemauert, und darüber befand sich ein breiter Sims aus Holz. An einer der Außenwände gab es links und rechts der beiden Erkerfenster mehrere eingebaute Bücherschränke. Unter den Fenstern stand eine Sitzbank. Die Bretter des lackierten Holzbodens hatten die Farbe von warmem Nussbraun und waren nicht mit Nägeln, sondern mit Dübeln fixiert.

Es war leicht, sich diesen Raum mit Bildern an den Wänden, mit gemütlichen Möbeln im Shabby-Chic-Stil, unzähligen Büchern in den Regalen und einem Kaminfeuer vorzustellen, das knisterte, während vor den Fenstern dicke Schneeflocken vorbeiwirbelten. Selbst die Vorstellung eines glitzernden Weihnachtsbaums war alles andere als abwegig.

Joslyn schüttelte den Kopf, seufzte und zwang sich, mit dem Tagträumen aufzuhören. Einen Moment lang hatte sie sich dazu hinreißen lassen, aber jetzt ging es ihr wieder gut. Wirklich.

Wäre da nur nicht dieses Prickeln gewesen, das in ihrem Bauch begann und durch ihren ganzen Körper strömte. Sie drehte sich um und bemerkte, dass Slade in einer der Wohnzimmertüren stand und sie anschaute. Neben ihm saß der Hund.

Ein paar Sekunden lang sahen sie und Slade sich einfach nur an.

„Es tut mir leid, Joslyn“, meinte Slade irgendwann in der für ihn typischen direkten Art. „Das, was ich draußen zu dir gesagt habe, meine ich.“

Sie schluckte und versuchte zu lächeln. Es wollte ihr nicht recht gelingen. Die Wahrheit war, dass dieser Mann, auf dessen Meinung sie nichts geben wollte, sie verletzt hatte.

„Okay.“ Was für eine wahnsinnig geistreiche Antwort …

Er kam auf sie zu und schaute ihr direkt in die Augen.

Sie blickte zu ihm auf. Atmete den frischen Duft seiner Haut und seiner Kleidung ein. Ließ seine Hitze ihren Körper wärmen. Wenn er jetzt vorhatte, sie zu küssen, hätte sie nichts dagegen tun können.

Allerdings tat er es nicht. Er sah sie einfach nur lange an. Seinen Mund umspielte ein verschmitztes Lächeln, und seine Augen leuchteten. Und dann fragte er sie: „Was hältst du davon?“

Was hielt sie davon? Wovon? Geküsst zu werden? Nicht geküsst zu werden?

„Oh, was ich von dem Haus halte.“

Er schien sich wieder köstlich zu amüsieren. „Ja“, antwortete er grinsend. „Von dem Haus.“

„Es ist …“ Joslyn blickte sich um und seufzte leise. „Es ist wunderschön. Überhaupt nicht so, wie ich es mir von draußen vorgestellt hatte.“

„Komm.“ Er streckte ihr eine Hand entgegen. „Ich mache eine Führung mit dir.“

Er zeigte ihr alle Zimmer des Hauses. Sie schauten sich die große altmodische Küche, das Badezimmer mit seiner riesigen freistehenden Badewanne auf Löwenfüßen und schließlich das Schlafzimmer im Erdgeschoss an, in dem Joslyn sofort auffiel, wie wenig Platz für Schränke vorhanden war. Im Obergeschoss gab es drei weitere Schlafzimmer.

„Häuser wie dieses habe ich in Phoenix sehr vermisst“, vertraute Joslyn ihm an, nachdem sie ihren Rundgang – gemeinsam mit dem Hund – beendet hatten und wieder ins Wohnzimmer zurückkehrten.

Die Art, wie Slade eine Augenbraue hochzog, war so eindeutig die Frage nach dem Warum, dass er das Wort gar nicht aussprechen musste.

„Es gibt heutzutage so viele moderne Bauten“, erklärte sie und fühlte sich dabei wieder merkwürdig verlegen. „Alle Häuser scheinen nach dem gleichen Schema und mit den gleichen Materialien errichtet zu werden. Sie sehen alle auch ziemlich gleich aus. Häuser wie dieses hingegen … haben Charme und Charakter.“

„Da stimme ich dir zu.“

„Du hast eine Stieftochter?“ Das war Joslyn einfach so herausgerutscht. Schon seltsam, wie in Slades Gegenwart alles in ihrem Kopf durcheinanderwirbelte.

Sie bemerkte, dass seine Augen vor Stolz aufleuchteten. „Ja. Sie heißt Shea, ist sechzehn und wird viel zu schnell erwachsen.“

„Kendra hat erwähnt, dass du verheiratet warst.“ Mach ruhig so weiter, sagte eine Stimme in ihrem Kopf sarkastisch. Warum schmeißt du dich nicht sofort an ihn ran und fragst, ob er Lust auf ein bisschen Spaß hat?

„Ja, Layne und ich sind schon eine ganze Weile geschieden.“ Ohne Joslyn zu berühren, hatte er es irgendwie geschafft, sie zur Haustür zu dirigieren.

Sie vermisste seine starke Hand, mit der er ihre festgehalten hatte.

„Und du?“, wollte er wissen, als sie hinaus auf die Veranda traten und er anschließend absperrte. Jasper schnüffelte inzwischen auf der Wiese herum.

„Single. Ich hatte nie Zeit, mich zu verlieben.“

Während sie die wackelige Treppe hinuntergingen, legte er fürsorglich eine Hand auf ihren Rücken. „Dazu braucht man Zeit?“, stieß er schmunzelnd hervor. „Ich dachte immer, es ist etwas, das urplötzlich passiert. So, als würde man vom Blitz getroffen.“

Trotz ihrer Nervosität musste Joslyn lächeln.

Sowie sie zum Pick-up kamen, hielt Slade ihr die Wagentür auf und pfiff nach dem Hund.

„Nun ja“, fuhr Joslyn fort, als hätte es überhaupt keine Gesprächspause gegeben. „Man braucht tatsächlich Zeit dafür. Man muss ausgehen, neue Menschen kennenlernen und sich auf sie einlassen. Ich habe immer viel zu viel gearbeitet.“

Oder ich war zu feige, ein gebrochenes Herz zu riskieren.

Slade rührte sich nicht; er stand einfach nur da, einen Arm auf die offene Autotür gestützt, und schaute Joslyn an, während Jasper mit heraushängender Zunge zu ihnen trottete. Joslyn hätte schwören können, dass Slade etwas sagen wollte. Letztlich tat er es doch nicht.

Stattdessen hob er den Hund auf die Rückbank, schloss die Beifahrertür und setzte sich wieder hinters Steuer.

Sie waren bereits auf der Hauptstraße und in der Nähe der Stadt, als er wieder zu sprechen anfing. „Welche Arbeit hat dich denn so in Anspruch genommen, dass du keine Zeit hattest, dich zu verlieben?“, fragte er in einem Ton, den man als Plauderton hätte bezeichnen können, wenn es sich nicht um Slade Barlow gehandelt hätte.

Der Mann machte nicht gern „nur Konversation“, das hatte Joslyn bereits verstanden. „Ich war Software-Entwicklerin“, antwortete sie. „Computerspiele und dergleichen.“

Er schaltete vom zweiten in den dritten Gang. Joslyn sah aus einem Augenwinkel, wie dabei die Muskeln an seinem Unterarm hervortraten. Irgendwann hatte er die Hemdsärmel hochgekrempelt.

„Beeindruckend“, sagte er, ohne sie anzuschauen.

„Eigentlich nicht.“ Ihre Stimme krächzte fast beim Aussprechen dieser zwei einfachen, harmlosen Wörter. „Man muss nur Programmiersprachen lernen und sie üben, bis man sie sozusagen fließend beherrscht.“

Slade warf ihr einen kurzen Blick von der Seite zu. „Das ist alles?“ Seine Frage klang beiläufig, doch für Joslyn bestand kein Zweifel, dass sich die Rädchen in seinem Hirn gerade knirschend zu drehen begannen. „Muss eine interessante Arbeit sein.“

Joslyn nickte. „Interessant, allerdings auch anstrengend. Man steht unter großem Druck, wenn der nächste große Auftrag kommt, während der vorherige große Auftrag noch in Arbeit ist. Ich glaube, deshalb bin ich auch ein bisschen ausgebrannt.“

So, Sheriff Barlow. Darüber kannst du jetzt eine Weile brüten.

Seine Antwort überraschte sie. „Ich auch“, gestand er seufzend. „Früher einmal habe ich meinen Job als Sheriff geliebt. Aber mittlerweile würde ich jederzeit eine andere Arbeit machen.“

„Zum Beispiel?“, erkundigte sie sich neugierig – und sehr froh darüber, dass sie sich jetzt über sein Leben statt über ihres unterhielten.

„Rancher“, antwortete er. Warum viele Worte machen, wenn ein einziges Wort es doch auch tat?

„Das ist heutzutage kein leichter Job“, entgegnete Joslyn. „Rancher, meine ich.“

Als hätte sie auch nur den Hauch einer Ahnung von diesem Thema. Sie hatte seit Jahren auf keinem Pferd mehr gesessen – und wenn, dann hatte sie sich vor lauter Angst immer schrecklich ungeschickt angestellt.

„Heutzutage ist es in keiner Branche leicht“, erwiderte Slade.

Joslyns Gedanken schweiften ab. Sie dachte an das Haus, das sie gerade besichtigt hatten; dachte daran, wie anders es innen aussah, als man von draußen aufgrund der abgebröckelten Fassade, des durchhängenden Verandabodens und ein paar Dachschindeln hätte annehmen können.

Plötzlich wanderten ihre Gedanken zu Kendra. Äußerlich war ihre Freundin eine schöne, selbstbewusste Frau mit einem florierenden Unternehmen und einem tollen Haus. Innerlich aber war sie genauso unsicher wie alle anderen. Und sie hatte den Glauben an das verloren, was ihr scheinbar einmal am wichtigsten gewesen war: die Liebe.

„Du hast keine Lust mehr, Sheriff zu sein?“, hakte Joslyn nach.

Slade lachte leise. „Du bist in Gesprächen ganz schön sprunghaft, stimmt’s?“

„Ja“, gab Joslyn zu. „Meistens schon.“

Als sie an der Highschool vorüberfuhren, drosselte er die Geschwindigkeit auf das vorgeschriebene Tempolimit. Wieder traten seine Armmuskeln hervor. „Ich habe mich noch nicht offiziell dazu geäußert, ob ich wieder kandidiere“, erklärte er freundlich.

„Aber?“

„Aber“, fuhr Slade lächelnd fort, „ich bin nicht unbedingt begeistert von dem Mann, der meiner Einschätzung nach mein Nachfolger wird, falls ich aufhöre.“

Er blinkte, und sie bogen wieder in die Rodeo Road ein.

„Wer wäre denn dieser Nachfolger?“, erkundigte sich Joslyn.

Slade zögerte. Er parkte den Pick-up vor Kendras palastähnlichem Zuhause und Firmensitz. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, während er über seine Antwort nachdachte. Wenn er denn überhaupt vorhatte, eine zu geben.

„Vergiss es“, sagte er schließlich. „Du kennst ihn nicht.“

„Vielleicht doch“, entgegnete Joslyn. Sie ärgerte sich schon wieder über ihn.

„Ich habe alles gesagt, was ich zu diesem Thema sagen wollte.“ Slade machte die Fahrertür auf.

Sie wartete nicht, bis er ihr die Beifahrertür aufhielt, sondern schnallte sich ab und stieg aus, während er noch um den Wagen herumging. „Dann hättest du meiner Meinung nach das Thema gar nicht erst anschneiden sollen“, stellte sie säuerlich fest, als sie den Riegel von Kendras Gartentor aufschob.

„Du hast recht. Das hätte ich nicht tun sollen.“ Slade blieb auf dem Bürgersteig stehen.

Joslyn drehte sich zu ihm um. Sie ärgerte sich zwar gerade wieder entsetzlich über ihn, nahm sich aber vor, freundlich und höflich zu bleiben. Zumindest sachlich.

„Soll ich Kendra ausrichten, dass sie dich anrufen soll?“ Da Kendras Auto nicht in der Einfahrt stand, nahm Joslyn an, dass ihre Freundin noch unterwegs war.

Slade schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Ich melde mich heute Abend bei ihr.“ Dann stieg er wieder in seinen Pick-up ein und fuhr davon.

Joslyn ging rasch ins Haus, lief in die Küche und wusch sich die Hände. Dann band sie sich die Schürze um, die sie getragen hatte, bevor Slade sie unterbrochen hatte, und machte sich wieder an ihr Back-Projekt für das morgige Grillfest.

Als Kendra ungefähr eine Stunde später zurückkam, war Joslyn größtenteils über das Treffen mit Slade hinweg, und in der Küche duftete es bereits nach frischem Brot und Kräutern.

Kendra hielt in jedem Arm eine Einkaufstüte. Rasch nahm Joslyn ihr die Tüten ab und stellte sie auf die nächstbeste Anrichte. Anschließend trugen sie die restlichen Einkäufe ins Haus, die Kendra in allen verfügbaren Ecken und Winkeln ihres kleinen Wagens verstaut hatte. Wenn Kendra eine Party schmiss, dann richtig.

Sie hatte Saft für die Kinder, Wein und Bier für die Erwachsenen und so viele Steaks, Hamburger und Hotdogs gekauft, dass es für die gesamte Besetzung eines Sandalenfilms gereicht hätte. Auch an Gewürze, Papierservietten, Plastikbecher und-besteck hatte Kendra selbstverständlich gedacht.

„Der Rest wird geliefert“, erklärte sie Joslyn, nachdem sie alles ins Haus gebracht hatten.

„Der Rest?“ Joslyn schmunzelte. „Was könnte man denn noch brauchen?“

„Kartoffelsalat natürlich“, antwortete Kendra fröhlich. „Der wird bei ‚Mulligan’s‘ extra zubereitet, ebenso wie ein paar Nachspeisen.“

„Du lieber Himmel“, murmelte Joslyn, während sie die Einkäufe auspackte und im Kühlschrank verstaute. Glücklicherweise handelte es sich um ein großes Gerät, in dem – da Kendra nur von Joghurt und Käse zu leben schien – viel Platz war. „Du hast wohl die halbe Stadt eingeladen.“

Kendra lächelte und streifte – mit einem sichtlichen Gefühl der Erlösung – ihre High Heels ab.

„Ich habe heute mit einem Interessenten ein Haus besichtigt“, erzählte Joslyn.

Kendra tapste barfuß zu einem Geschirrschrank, holte ein großes Glas heraus, nahm sich Eis aus dem Kühlschrank und schenkte sich eine zuckerfreie Limo ein. „Davon habe ich schon gehört.“ Sie klang eine Spur belustigt. „Ich bin vorhin bei ‚Mulligan’s‘ zufällig Slade begegnet. Er hat gerade Hundefutter gekauft. Jasper hat sich beim Fressen nämlich als ziemlich wählerisch entpuppt.“

Als sie Slades Namen hörte, stellte sich bei Joslyn sofort wieder das mittlerweile vertraute merkwürdige Kribbeln im Bauch ein. Um es zu überspielen, widmete sie sich dem Verstauen der Lebensmittel mit noch größerer Geschäftigkeit. „Jasper“, meinte sie, „ist eine Naturgewalt.“

Kendra kicherte. „Slade auch. Natürlich habe ich ihn zur Grillparty eingeladen. Shea und ihre Mom auch, falls die beiden rechtzeitig ankommen.“

Joslyn brauchte einen Moment, bis sie das verdaut hatte. Natürlich hatte Kendra Slade eingeladen. Er war ein alter Freund, ein Nachbar und in Parable eine Stütze der Gesellschaft. Wenn Joslyn bei dem Gedanken, dass er zur Party kam, ein wenig nervös wurde, war das ihr Problem. Oder?

„Hat er sich bei dir erkundigt, ob er das Ranchhaus mieten oder pachten kann?“ Joslyn hoffte, dass ihre Frage beiläufig klang.

„Die Sache ist schon geritzt“, antwortete Kendra, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte. „Ich habe die Erben angerufen. Sie sind entfernte Cousins des ursprünglichen Besitzers und haben überhaupt kein Interesse an einer heruntergekommenen Ranch in Montana. Und sie sind mit einem auf sechs Monate befristeten Mietvertrag einverstanden.“

„Klingt gut.“

„Hör endlich auf, an diesen Tüten herumzufummeln“, befahl Kendra freundlich, „und setz dich für eine Minute hin. Ich brauche eine Pause. Und du offensichtlich auch.“

Joslyn nahm an dem eleganten Tisch Platz, obwohl ihr im Augenblick ganz und gar nicht danach war.

Kendra betrachtete sie neugierig und ein wenig amüsiert.

„Was?“, stieß Joslyn schließlich ungeduldig hervor.

Kendra schmunzelte. „Dacht’ ich’s mir doch.“

Was?“, fragte Joslyn wieder. Am liebsten wäre sie unter irgendeinem Vorwand aufgesprungen und hätte die Flucht ergriffen.

Kendra wirkte hocherfreut. „Du hast dich in Slade Barlow verguckt.“

6. KAPITEL

Ich habe mich nicht in Slade Barlow ‚verguckt‘“, protestierte Joslyn eine Spur zu hastig. „Sagst du!“ Kendra lächelte und schüttelte gelassen die Eiswürfel in ihrem fast leeren Glas hin und her. „Du wirst jedes Mal rot, wenn du den Namen dieses Mannes hörst. Und wenn ihr beide zufällig allein im selben Zimmer seid, dann …“

Der Küchentimer des supermodernen Herds – ein aus England importiertes Ungetüm mit sechs Flammen – piepte. Joslyn war dankbar, dass sie einen Anlass hatte, vom Tisch aufzuspringen, um rasch vier duftende Brotlaibe aus der Backröhre zu nehmen. „Unsinn“, widersprach sie. Es klang wenig überzeugend, sogar für sie selbst.

„Er ist zu haben, weißt du.“ Kendra schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Slade, meine ich. Und er ist eines jener seltenen männlichen Exemplare, die sogar gern verheiratet sind.“

Joslyn schob vier weitere Backformen mit Brotteig in den Ofen, stellte den Timer und machte sich schweigend wieder ans Auspacken der Einkaufstüten.

„Slade glaubt vielleicht, dass du noch an Hutch Carmody interessiert bist“, fuhr Kendra fort. „Und du hast sicher nicht vergessen, dass die beiden Probleme miteinander haben.“

Joslyn, die gerade mit einer Hand in einer Tüte voller Brötchen für Hotdogs und Hamburger gegriffen hatte, hielt abrupt inne. Sie wusste, dass Slade und Hutch Halbbrüder waren. Alle wussten das. Und sie erinnerte sich, dass die beiden als Jugendliche oft aneinandergeraten waren. Aber mittlerweile waren sie zwei erwachsene Männer und über Kinderkram dieser Art doch bestimmt längst hinweg.

„Ein für alle Mal, Kendra“, sagte sie ruhig. „Es ist mir egal, was Slade Barlow denkt.“

Das glaubst du doch selber nicht, spottete die lästige Stimme in ihrem Kopf.

„Das nehme ich dir nicht ab.“ Kendra trat zu Joslyn an die lange Küchentheke, auf der immer noch eine randvolle Einkaufstüte neben der anderen stand.

„Außerdem“, fuhr Joslyn fort und raschelte wieder geschäftig mit den Tüten, „waren Hutch und ich auf der Highschool zusammen. Also vor ungefähr hundert Jahren. Er ist für mich immer noch ein guter Freund, aber das, was uns als Teenager zueinander hingezogen hat, ist längst nicht mehr da.“

Kendra wirkte sichtlich erleichtert, obwohl sie es sich nicht anmerken lassen wollte. Vielleicht war es ihr bei diesem ganzen Gespräch auch nur darum gegangen herauszufinden, ob Joslyn noch Gefühle für Hutch hatte.

Der Gedanke, dass es so sein könnte, heiterte Joslyn ein wenig auf. Okay, Kendra behauptete, sie würde nicht mehr an die Liebe glauben. Allerdings kam Joslyn diese Einstellung so vor, als würde jemand nicht glauben, dass es die Schwerkraft oder Mondphasen gab. Manche Dinge gab es einfach – egal, ob man nun daran glaubte oder nicht.

„Mir ist klar, dass du dich zu Hutch hingezogen fühlst“, sagte sie sanft zu Kendra. „Ihr seid beide erwachsen, offenbar beide ungebunden … Warum also nicht?“

Kendra biss sich auf die Unterlippe und wich Joslyns Blick aus. „Wir sind zu verschieden, Hutch und ich.“

Joslyn zog lediglich beide Augenbrauen hoch und wartete.

Auf Kendras Wangen bildeten sich kleine rote Flecken. „Ich gebe zu, dass es zwischen uns ein gewisses, nun ja, ein gewisses Knistern gibt.“

„Ach was?“, neckte Joslyn sie.

Kendra seufzte. „Aber wir haben über dich und Slade geredet, bevor du geschickt das Thema in eine andere Richtung gelenkt hast.“

„Es gibt kein ‚Slade und mich‘“, widersprach Joslyn. „Ja, er ist sexy. Ja, ich habe daran gedacht, wie es wohl wäre, mit ihm ins Bett zu gehen. Aber ich bin glücklicherweise wieder zur Vernunft gekommen. Er hat eine Art Komplex, Kendra. Für ihn bin ich nämlich immer noch das verwöhnte reiche Mädchen, das in einem Cabrio durch die Stadt fährt und auf alle anderen herabblickt.“

„Hat er das wirklich so gesagt?“, fragte Kendra, nachdem sie tief Luft geholt hatte. Offensichtlich hatte sie zwischendurch das Atmen vergessen.

„Ganz unmissverständlich, ja.“ „Oh.“ Kendra klang ernüchtert.

Joslyn tätschelte ihr den Arm. „Komm, räumen wir die Lebensmittel weg.“

Sie arbeiteten gut zusammen. Schnell, effizient und ohne ein weiteres Wort über Slade Barlow oder Hutch Carmody zu verlieren.

„Ich bin dir wirklich dankbar für deine Hilfe, Joss“, meinte Kendra, als der letzte Laib Brot auf der Anrichte auskühlte und sie alle Tüten ausgeräumt, zusammengefaltet und in die Papiertonne gesteckt hatten. „Bleibst du zum Abendessen?“

Joslyn schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein danke. Vielleicht esse ich später eine Schüssel Müsli oder ein Sandwich, doch momentan habe ich genug vom Essen. Alles, was ich jetzt möchte, ist ein Schaumbad und ein gutes Buch.“

Kendra lächelte ebenfalls und nickte. „Klingt gut.“

Nachdem sie einander leise Gute Nacht gewünscht hatten, ging Joslyn durch die Hintertür nach draußen auf die verglaste Veranda, die lange Zeit der Lieblingsplatz ihrer Mutter gewesen war. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihre Mutter und auch Opal immer noch vermisste. Gleichzeitig hatte sie plötzlich das höchst seltsame Gefühl, zwei voneinander völlig verschiedene Leben geführt zu haben – das der jungen, egozentrischen Joslyn und das der Frau, die sie heute war.

Mittlerweile war es später Nachmittag, und als Joslyn durch den Garten zur Hintertür des Gästehauses eilte, ließen die Blumen bereits ihre Köpfchen hängen.

Ein paar Meter vor der Tür blieb sie überrascht stehen. Auf der Fußmatte saß eine kräftige graue Katze, die sich gerade eine Vorderpfote putzte. Das Tier hatte einen buschigen Schwanz, der wie eine Boa hin- und herzuckte, und faszinierende bernsteinfarbene Augen.

Die Katze blickte Joslyn gelassen an – so, als wollte sie sagen: „Da bist du ja endlich. Wurde aber auch Zeit, dass du kommst.“

Erst Jasper, und jetzt diese Katze. Was bin ich? dachte Joslyn. Eine Art Magnet für herumstreunende Vierbeiner?

Im Gegensatz zu Jasper hatte die Katze kein Halsband. Sie sah allerdings sauber und wohlgenährt aus, was bedeutete, dass sie bestimmt jemandem gehörte.

Die Katze gab ein geselliges „Miau“ von sich.

„Ab nach Hause“, befahl Joslyn bestimmt, aber nicht unfreundlich. „Irgendjemand sucht dich wahrscheinlich schon.“

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