Das Geheimnis der antiken Kette

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Eine unglaubliche Reise in die Vergangenheit unternimmt die temperamentvolle Reporterin Rue, als sie im Haus ihrer verstorbenen Tante eine antike Halskette berührt. Eine fantastische Zeitmaschine katapultiert sie in das Jahr 1892 - und in die starken Arme des Marshals Farley Haynes. Dieser widersprüchliche Mann küsst Rue und verhaftet sie anschließend, entlässt sie wieder aus dem Gefängnis und landet nach einer leidenschaftlichen Nacht mit ihr in der Gegenwart. Farley ist glücklich auf Rues Ranch. Aber bevor er Rue heiratet, will er noch einmal in seine alte Welt zurückkehren. Verzweifelt versucht Rue, ihn aufzuhalten, denn sie hat in einem alten Brief gelesen, dass Farley ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag angeschossen wird ...


  • Erscheinungstag 10.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955764593
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Lael Miller

Das Geheimnis der antiken Kette

Aus dem Amerikanischen von M.R. Heinze

MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg


Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH


Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: 

Here and then

Copyright © 1992 by Linda Lael Miller

erschienen bei Silhouette Books, Toronto


Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l


Konzeption: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildungen: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Redaktion: Mareike Müller


ISBN eBook 978-3-95576-459-3


www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

Tante Veritys antike goldene Halskette lag unschuldig schimmernd auf dem Fußboden des Korridors im ersten Stock. Als Rue Claridge vor einer Stunde ihr Gepäck in den ersten Stock gebracht hatte, war die Kette noch da gewesen.

Stirnrunzelnd ließ Rue sich auf die Knie sinken und griff nach der Halskette, während ihr verwirrter Blick sich zu der mysteriösen versiegelten Tür in der Außenwand hob. Dahinter befand sich nichts als leere Luft. Jener Teil des Hauses, in den sie einst geführt hatte, war vor einem Jahrhundert ausgebrannt und nie wieder aufgebaut worden.

Tante Verity hatte im Verlauf der Jahre Andeutungen auf unheimliche Vorgänge in diesem Haus gemacht, und ihre Geschichten hatten sich sowohl auf die Tür als auch auf die Halskette bezogen. Rue hatte diese Fantasien genossen, aber als praktisch veranlagte Natur hatte sie sie auch sofort wieder aus ihren Gedanken gestrichen.

Rues verschwundene Cousine Elisabeth hatte die Halskette und die Tür in jenen sonderbaren Briefen erwähnt, in denen sie versucht hatte zu schildern, was mit ihr geschah. Sie hatte behauptet, ein Mensch könne mithilfe dieser Halskette durch die Zeit reisen.

Tatsächlich hatte Elisabeth – sanfte, vernünftige Elisabeth – behauptet, sie habe die Halskette lediglich umgelegt und sich gleich darauf in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts befunden, umgeben von lebenden, atmenden Menschen, die schon seit hundert Jahren tot sein sollten.

Kälte legte sich wie ein Schleier über Rues Rücken, während sie sich an Teile von Elisabeths verzweifelten Briefen erinnerte.

Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der mir vielleicht, aber auch nur vielleicht, glauben könnte. Diese wundervollen Spukgeschichten, die uns Tante Verity an verregneten Abenden erzählte, waren wahr. Es gibt tatsächlich eine andere Welt auf der anderen Seite dieser Tür im ersten Stock, und sie ist genauso solide und real wie die Welt, die Du und ich kennen, und ich habe sie erreicht. Ich war da, Rue, und ich habe den Mann getroffen, der dazu bestimmt ist, mein Leben mit mir zu teilen. Sein Name ist Jonathan Fortner, und ich liebe ihn mehr als meinen nächsten Herzschlag, meinen nächsten Atemzug.

Kopfschmerzen hämmerten hinter Rues rechter Schläfe, und sie erhob sich mit einem langen Seufzer. Ihre Finger pressten die Halskette tief in die Handfläche. Mit der anderen Hand schob sie eine Locke ihres hellblonden, schulterlangen Haares aus dem Gesicht und starrte auf die versiegelte Tür.

Vor vielen Jahren hatten sich auf der anderen Seite Räume befunden, doch gegen Ende des letzten Jahrhunderts war es zu einem tragischen Brand gekommen. Der Schaden war repariert worden, doch die ursprüngliche Struktur wurde für immer verändert. Die Tür war versiegelt worden, und jetzt war der Türknauf so alt und unbeweglich wie ein verrostetes Vorhängeschloss.

»Bethie«, flüsterte Rue und lehnte ihre Stirn gegen die kühle hölzerne Türfüllung. »Wo bist du?«

Es kam keine Antwort. Das alte ländliche Haus war gähnend leer, abgesehen von den massigen Möbeln aus dem vorigen Jahrhundert, die Tante Verity als Teil ihres Besitzes hinterlassen hatte, und abgesehen von einer Fülle Staubpartikeln, die jeden Raum erfüllten.

Mit dreißig Jahren war Rue eine erfolgreiche Fotojournalistin. Sie war den Kugeln und Bomben in Belfast ausgewichen, hatte das Massaker auf dem Tiananmen-Platz fotografiert und später auch darüber geschrieben, hatte über die Invasion in Panama berichtet und wäre beinahe in Bagdad gefangen genommen worden. Und während alle diese Erfahrungen sie erschüttert und teilweise tagelang körperlich krank gemacht hatten, hatte doch nichts sie so tief geängstigt wie Elisabeths Verschwinden.

Die Polizei und Elisabeths Vater glaubten, sie wäre einfach nach ihrer Scheidung aus der Gegend geflohen, würde jetzt an irgendeinem Strand liegen, exotische Drinks schlürfen und ihren Kummer von der Sonne wegbraten lassen. Aber weil sie ihre Cousine kannte und wegen der Briefe und der telefonischen Botschaften, die schon bei ihrer Rückkehr von einem Auftrag in Moskau auf sie gewartet hatten, betrachtete Rue die Lage viel düsterer.

Elisabeth wanderte irgendwo herum, sofern sie überhaupt noch lebte, und konnte sich vielleicht nicht einmal daran erinnern, wer sie war. Rue verbot sich, an all die anderen Möglichkeiten zu denken, weil sie das nicht ertragen hätte.

In der großen Küche im Erdgeschoss machte sie sich eine Tasse löslichen Kaffees in Elisabeths Mikrowelle und setzte sich an den großen Eichentisch in der Frühstücksecke, um noch einmal die lückenhafte Sammlung von Fakten durchzugehen. Vor ihr lagen die Briefe ihrer Cousine, sorgfältig geschrieben und ohne Anzeichen von gewöhnlichem Stress in der vertrauten fließenden Handschrift. Seufzend schob Rue den Kaffee weg und stützte ihr Kinn in die Hand. In dieses Haus, das die beiden Cousinen geerbt hatten, war Elisabeth gekommen, auf der Suche nach einer neuen Perspektive in ihrem Leben. Sie hatte geplant, sich außerhalb der kleinen Stadt Pine River im Staat Washington ein Zuhause zu schaffen und im Herbst an der örtlichen Volksschule zu unterrichten. Die beiden alten Ladys auf der anderen Straßenseite, Cecily und Roberta Buzbee, hatten Elisabeth bei mehreren Gelegenheiten gesehen. Es war Miss Cecily gewesen, die einen Krankenwagen rief, nachdem sie Elisabeth bewusstlos im Korridor des ersten Stocks gefunden hatte. Rues Cousine war ins Krankenhaus gebracht worden, wo sie relativ kurze Zeit blieb, und bald darauf war sie verschwunden.

Zwielicht senkte sich über den Obstgarten hinter dem Haus. Die Blätter auf den graubraunen Ästen wurden bereits weniger, da es Ende Oktober war. Rue sah einen einzelnen Stern am purpurnen Himmel aufleuchten. Oh, Bethie, dachte sie, als Bilder in ihren Gedanken entstanden … vor allem der Anblick der vierzehnjährigen Elisabeth … Bethie, wie sie von der Tür des Heubodens in dem wackeligen alten Stall auf Rue herunterblickte. »Mach dir keine Sorgen«, hatte Bethie fröhlich an jenem längst vergangenen Tag gerufen, an dem Rue hier verwirrt und zornig eintraf, um unter Tante Veritys Fittichen Zuflucht zu suchen. »Hier lebt es sich gut, und du wirst glücklich sein.« Rue sah sich selbst und Bethie angeln und im Fluss nahe der alten Brücke waten und zerschlissene Bibliotheksbücher lesen, oben in den höchsten Ästen des Ahornbaums, der die Hintertür beschattete. Sie hatten Veritys wundervollen Geschichten vor dem Wohnzimmerkamin gelauscht, das Kinn auf die angezogenen Knie gestützt, die Arme um die in Bluejeans steckenden Beine geschlungen.

Das Klingeln des Telefons riss Rue aus ihren Überlegungen, und sie murmelte vor sich hin, während sie zu dem Wandtelefon neben der Spüle ging. »Hallo«, schnappte sie gereizt, weil sie sich sekundenlang Elisabeth näher gefühlt und der Anrufer ihre Erinnerungen wie eine Schar bunter Vögel verjagt hatte.

»Hallo, Claridge«, antwortete eine trockene Männerstimme. »Hat man in eurer Schule nicht darüber gesprochen, wie man sich am Telefon richtig meldet?«

Rue ignorierte die Frage und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.

»Hi, Wilson«, sagte sie und sah Jeffs jungenhaftes Gesicht vor sich. Sie ging seit drei Jahren immer mal wieder mit ihm. Aber wenn sie ihn sah, tat ihr Herz nie diesen komischen kleinen Sprung, von dem sie gelesen hatte. Sie fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte.

»Schon was über deine Cousine herausgefunden?«

Rue lehnte sich unbeschreiblich erschöpft gegen die Theke. »Nein. Ich habe gleich mit der Polizei gesprochen, und sie stimmt mit Onkel Marcus überein, dass sie sich wahrscheinlich irgendwo versteckt und ihre Wunden leckt.«

»Du denkst nicht so?«

Unbewusst schüttelte sie den Kopf. »Ausgeschlossen. Bethie würde nie verschwinden, ohne irgendjemandem zu sagen, wohin. Sie ist der zuverlässigste Mensch, den ich kenne.« Ihr Blick wanderte zu den Briefen auf dem Küchentisch, den entnervend ruhigen Schilderungen von Reisen an einen anderen Punkt der Zeit. Rue schüttelte wieder den Kopf, um zu bestreiten, dass so etwas möglich war.

»Ich könnte mich in die nächste Maschine setzen und dir helfen«, bot Jeff an.

»Nicht nötig.« Sie schlang die Telefonschnur um ihren Finger. Jeff wäre ihr nur im Weg gewesen.

Ihr Freund seufzte dramatisch. »So sei es, Claridge. Falls du glaubst, ich könne von Nutzen sein, ruf mich an, ja?«

»Ich melde mich, wenn du helfen kannst.«

Nach dem Anruf zog Rue zu Jeans und Sweatshirt noch eine Jacke an und ging in den Schuppen, um abgelagertes Apfelholz zu holen. Als sie wieder hereinkam, fing die Halskette ihren Blick ein und schien ihr vom Küchentisch aus zuzublinzeln und zu funkeln. Stirnrunzelnd machte sie im Wohnzimmerkamin ein Feuer, kehrte in die Küche zurück und legte die Halskette an, ohne genau zu wissen, warum. Frierend stellte sie sich im Wohnzimmer an das Feuer.

Rue unterdrückte Tränen der Frustration und Angst, und sie lehnte ihre Stirn gegen den Kaminsims, als sie das ferne Klingen eines Klaviers vernahm. Sie war allein in dem Haus, und sie war sicher, dass kein Radio und kein Fernseher lief …

Ihre grünen Augen weiteten sich, als sie in den kunstvoll gerahmten Spiegel über dem Kamin blickte. Die Kehle schnürte sich ihr zusammen. Der Raum im Spiegelbild war anders eingerichtet, und er wurde von dem sanften Schimmer einer Laterne erhellt. Rue erhaschte einen Blick auf eine schlichte Frau in einem langen Rock, die mit einem Tuch über die Tasten eines Klaviers strich, bevor die Vision verblasste und der Raum wieder normal aussah.

Langsam drehte Rue sich um und rieb sich die Augen. Und sie musste an Elisabeths Briefe denken, in denen eine Welt wie jene beschrieben wurde, die sie soeben für einen Sekundenbruchteil im Wohnzimmerspiegel gesehen hatte.

»Du brauchst Urlaub«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Du hast Halluzinationen.«

Mit einer weiteren Tasse Kaffee und den Briefen setzte sie sich vor den Kamin und las und analysierte jedes Wort auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, wo sie mit der Suche nach ihrer Cousine beginnen sollte. Allerdings hatte sie noch immer nicht die geringste Ahnung, als sie zu Bett ging, ohne die Halskette abzunehmen.

Die Laken waren kalt, und Rue wickelte sich frierend fest ein. Unter anderen Umständen wäre sie froh gewesen, wieder in diesem alten Haus zu sein, in dem es nur gute Erinnerungen gab. Wie Ribbon Creek, die Montana-Ranch, die sie von den Eltern ihrer Mutter geerbt hatte, war Tante Veritys Haus ein Ort, an dem man sich verkriechen konnte, wenn man eine wichtige Story schreiben oder eine Entscheidung fällen musste. Sie hatte immer den wohligen Schauer bei der Vorstellung geliebt, dieses viktorianische Überbleibsel würde von freundlichen Geistern heimgesucht werden.

Sobald ihr Körper die frischen Laken erwärmte, sank sie in einen ruhelosen Schlaf, der von furchterregenden Träumen gestört wurde. Der letzte war so schrecklich, dass er sie dem Bewusstsein entgegenschleuderte, und als sie daraus auftauchte, fand sie sich im Morgenlicht wieder und rang schluchzend nach Luft. Tränen strömten über ihr Gesicht.

Und sie hörte deutlich eine Frauenstimme singen: »Am Ufer wollen wir uns seh’n!«

Das Herz hämmerte in ihrer Brust. Rue schleuderte die Decken zurück, sprang aus dem Bett und folgte dem Klang auf den Korridor, blickte nach links, dann nach rechts. Die Stimme schien aus dem Fußboden zu dringen und kam doch auch gleichzeitig von der anderen Seite der versiegelten Tür in der Außenwand.

Rue legte die Hände gegen das Holz und erinnerte sich an Elisabeths Briefe. Es gab einen Raum auf der anderen Seite, hatte Bethie geschrieben, einen festen Raum mit Fußboden und Wänden und einer eigenen Treppe, die in die Küche führte.

»Wer ist da?«, rief Rue, und das Singen verstummte augenblicklich und wich einer Art verblüfften Stille. Sie lief den Korridor entlang, warf einen Blick in jedes der drei Schlafzimmer, eilte dann die hintere Treppe hinunter und durchsuchte die Küche, den Abstellraum, das Speisezimmer, das Bad und beide Wohnzimmer. Niemand war im Haus, und kein Türschloss und kein Fenster war angefasst worden.

Frustriert stürmte Rue zu dem Klavier, an dem sie und Elisabeth endlos gespielt hatten, schleuderte die Abdeckung beiseite und hämmerte herausfordernd die ersten paar Takte von »Am Ufer wollen wir uns seh’n«.

»Komm schon!«, schrie sie über die donnernden Akkorde hinweg. »Zeig dich, verdammt! Wer bist du? Was bist du?«

Rue hetzte wieder die Treppe hinauf, weil die Stimme von oben gekommen war, erreichte die versiegelte Tür, packte den Knauf und rüttelte hart daran. Überraschung durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag, als die Tür nachgab.

Rue stieß einen Ruf aus, als sie durch die Öffnung in eine verkohlte Brandruine spähte. Ihre Knie begannen zu zittern, während sie die geschwärzten Balken betrachtete, die gar nicht vorhanden sein konnten.

Im nächsten Moment fasste sie sich so weit, dass sie von der Tür zurückwich, sie weit offenstehen ließ und die vordere Treppe hinunterrannte, zur Haustür hinaus und um das Haus herum. Doch an der Seite des Hauses war nichts zu sehen als der Wintergarten, genau da, wo er immer gewesen war, und ohne ein Anzeichen des verbrannten Teiles.

Rue bekam kaum Luft, umrundete einmal das Haus und jagte wieder nach drinnen und die Treppe hinauf. Die Tür stand noch immer offen, und dahinter lag eine andere Zeit oder eine andere Dimension.

»Elisabeth!«, schrie Rue, klammerte sich an dem rußbedeckten Türrahmen fest und starrte durch die Ruine nach unten.

Ein kleines Mädchen in einer Schürze und mit altmodischen schwarzen Schuhen erschien in dem verwilderten Gras, beschattete die Augen mit einer schmutzigen Hand und blickte zu Rue hoch. »Bist du eine Hexe wie sie?«, rief das Kind herzlich und gar nicht ängstlich.

Rues Herz hämmerte so laut, dass es in ihren Ohren dröhnte. Sie wich zurück, trat vor, wich wieder zurück, taumelte blindlings in ihr Zimmer und zog Jeans, T-Shirt, Socken und Laufschuhe an. Sie nahm sich keine Zeit, ihre vom Schlafen zerzausten Haare zu kämmen, und kletterte schon durch die Ruine hinunter, bevor sie auch nur einen Moment die Konsequenzen überlegen konnte.

Das Kind, das aus der Entfernung so mutig gewesen war, taumelte jetzt blass zurück, die Augen weit aufgerissen.

Großartig, dachte Rue leicht hysterisch, jetzt erschrecke ich schon kleine Kinder!

»Bitte, lauf nicht weg«, stieß sie hervor. »Ich werde dir nichts tun.«

Die Angst schwand aus dem Gesicht des Mädchens, aber in diesem Moment kam eine Frau um die Ecke des Hauses gelaufen, kreischte und wedelte mit ihrer Schürze in Rues Richtung, als wollte sie sie wie ein Huhn verscheuchen.

»Wagen Sie nicht, dieses Kind anzufassen!«, schrie sie, und Rue erkannte in ihr die schlichte Seele, die sie am Vorabend im Wohnzimmerspiegel gesehen hatte, als sie die Klaviertasten abstaubte.

Rue hatte schon viel energischeren Einschüchterungsversuchen während ihrer Reisen als Reporterin widerstanden. Sie wich nicht zurück. Ihr Verstand speicherte so rapide Material, dass es ihr kaum bewusst war. Die Erkenntnis, dass Elisabeth recht hatte, was die Halskette und die Tür anging, und die Vermutung, dass sie selbst nahe daran war, ihre Cousine zu finden, wirkten berauschend wie ein Fallschirmsprung.

»Woher sind Sie gekommen?«, fragte die schlichte Frau und schob das Kind hinter sich.

Rue dachte gar nicht daran, irgendetwas zu erklären. Erstens würde ihr niemand glauben, und zweitens verstand sie selbst nicht, was da vor sich ging. »Von da«, sagte sie und deutete mit dem Daumen zu der offenen Tür über ihr. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Hände und die Knie ihrer Jeans mit Ruß bedeckt waren. »Ich suche meine Cousine Elisabeth.«

»Die ist nicht da«, lautete die grimmige Antwort. Die Frau schob das kleine Mädchen zur Straße. »Lauf los, Vera. Ich habe vorhin Farley zu eurem Haus reiten gesehen. Wenn du ihn triffst, sag ihm, er soll herkommen und sich mit dieser Lady unterhalten.«

Vera schätzte Rue mit ungewöhnlich schlauen Augen ein – sie konnte nicht älter als acht oder neun sein – und lief dann durch das tiefe Gras davon.

Rue trat einen Schritt auf die Frau zu. »Kennen Sie Elisabeth McCartney?«, drängte sie.

Die Frau knetete ihre Kattunschürze zwischen starken, von Arbeit geröteten Fingern. »Ich habe den Namen noch nie gehört.«

Rue glaubte ihr keinen Moment, aber ein Instinkt warnte sie. »Ich komme wieder«, sagte sie und kletterte nach oben, in der Hoffnung, auf der anderen Seite der Tür würde ihre eigene Welt warten.

Sie schob sich über die Schwelle und fand sich auf einem harten Holzfußboden mit einem scheußlichen persischen Läufer wieder. Der Korridor in dem Haus der Gegenwart hatte einen Teppichboden.

»Oh nein«, stöhnte sie. Der Zeitvorhang hatte sich offenbar geschlossen. Möglicherweise war sie in dieser Wiederholung von »Bonanza« gefangen. »Verdammt«, stöhnte sie, stemmte sich hoch und betrachtete eine Reihe von Bildern an der Wand. Sie blickte in das finstere Gesicht eines alten Mannes mit einem buschigen weißen Bart und einer fanatisch selbstgerechten Miene. »Ich hoffe doch, dass du nicht hier irgendwo bist«, murmelte sie.

Als nächstes öffnete sie vorsichtig die Tür des Zimmers, in dem sie in der Nacht zuvor geschlafen hatte – aber es war nicht mehr dasselbe. Alle Möbel waren offenbar antik, auch wenn sie neu aussahen. Rue wich zurück und schob sich den Korridor entlang.

»Ich bin durch den Spiegel gegangen«, sagte sie zu sich selbst. »Jeden Moment müsste ich jetzt ein sprechendes Kaninchen mit einer Taschenuhr und einem Wams treffen.«

»Oder einen US-Marshal«, sagte eine tiefe Männerstimme.

Rue wirbelte herum und sah ungläubig zu, wie ein großer, breitschultriger Cowboy mit einem Stern an der Weste die letzten Stufen der vorderen Treppe heraufkam. Seine zerzausten braunen Haare waren eine Spur zu lang, seine türkisfarbenen Augen misstrauisch verengt, und er brauchte dringend eine Rasur.

Der Kerl stammte direkt aus einem Mitternachts-Western, aber seine Anziehungskraft war absolut Hightech.

»Wie heißen Sie?«, fragte er mit seiner beunruhigend raue Stimme.

Rue konnte sich nicht gegen den Gedanken wehren, was für ein Hit dieser Kerl in einer Singles-Bar gewesen wäre. Er sah nicht nur auf eine raue, harte Art gut aus, sondern hatte den Macho zur Kunstform entwickelt. »Rue Claridge«, sagte sie eine Spur zu herzlich und streckte die Hand aus.

Der Marshal blickte auf ihre Hand, ergriff sie jedoch nicht. »Schleichen Sie für gewöhnlich in anderer Leute Haus herum?«, fragte er. Seine wunderbaren Augen weiteten sich, als er ihre Jeans, das T-Shirt und die Laufschuhe betrachtete.

»Ich suche meine Cousine Elisabeth.« Sie klammerte sich an ihr Lächeln wie jemand an eine Felskante, von der er baumelte. »Ich vermute, sie könnte … hier in der Gegend sein.«

Der Mann des Gesetzes lehnte sein Gewehr gegen die Wand. »Wer sind Sie?«

»Ich sagte doch, mein Name ist Rue Claridge, und ich suche meine Cousine, Elisabeth McCartney.« Rue zeigte mit ihrer Hand ungefähr ihre eigene Größe an. »Sie ist eine hübsche Blondine mit blaugrünen Augen und einem sanften Wesen.«

Der Marshal zog die Augenbrauen zusammen. »Lizzie?«

Rue zuckte die Schultern. Sie hatte nie gehört, dass Elisabeth sich Lizzie nannte. »Sie hat mir geschrieben, dass sie sich in einen Mann namens Jonathan Fortner verliebt hat.«

Jetzt lächelte der Marshal. »Die sind nach San Francisco, Jon und Lizzie. Haben vor ein paar Monaten geheiratet, gleich nachdem Lizzies Prozess vorüber war.«

Rue trat einen Schritt näher. »Prozess?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Die sagenhaften Augen streiften über ihre Kleider. »Wo, zum Teufel, haben Sie die Klamotten her?«

Rue holte tief Atem und stieß ihn wieder aus. »Ich komme von … einem anderen Ort. Wie heißen Sie eigentlich?«

»Farley Haynes«, antwortete der Cowboy.

»Nun, Mr Haynes«, erwiderte sie fröhlich, »tut mir leid, dass Sie umsonst gekommen sind. Wissen Sie, Elisabeth – Lizzie – möchte, dass ich hier in diesem Haus bleibe.«

Haynes stülpte den verbeulten alten Hut auf seinen Kopf zurück und betrachtete Rue. »Sie hat keine Cousine erwähnt. Vielleicht kommen Sie besser mit mir in die Stadt und beantworten noch ein paar Fragen.«

Rues erster Impuls war, sich dagegen zu wehren, aber sie war eine erfahrene Journalistin, und abgesehen davon, dass sich in ihrem Kopf noch alles von dem Schock des plötzlichen Wechsels von einer Zeit in die andere drehte, war sie brennend neugierig.

»Welches Jahr haben wir eigentlich?«, fragte sie und erkannte erst, wie sonderbar die Frage klang, als sie schon über ihre Lippen gekommen war.

Der Gesetzeshüter legte seine Hand leicht an ihren Ellbogen, während er sie die Vordertreppe hinunterführte. In der anderen Hand trug er sein Gewehr. »1892«, antwortete er mit einem Seitenblick. »Oktober.«

»Vermutlich wundern Sie sich, wieso ich das nicht wusste«, redete Rue drauflos, als der Marshal sie durch die Haustür schob. Ein großer rotbrauner Wallach wartete hinter dem weißen Gartentor. »Ich … ich hatte ein Fieber.«

»Auf mich wirken Sie gesund.« Er öffnete das Tor.

Die Nähe des Pferdes spendete ihr Trost. Sie hatte immer Tiere geliebt, und die glücklichsten Zeiten ihres Lebens hatte sie in Ribbon Creek im Sattel verbracht. »Hallo, großer Junge«, sagte sie und tätschelte den Hals des Wallachs.

Im nächsten Moment wurde Rue um die Taille gepackt und in den Sattel gehoben. Bevor sie auf irgendeine Weise reagieren konnte, hatte Marshal Haynes sein Gewehr in das Sattelhalfter geschoben, den Fuß in den Steigbügel gesteckt und sich hinter ihr auf das Pferd geschwungen.

Als Reaktion darauf verspürte Rue ein Beben an ihrem Rückgrat hochlaufen.

»Stehe ich unter Arrest?«, fragte sie. Er fasste um sie herum nach den Zügeln, und erneut wurde Rue von den heftigen Reaktionen ihres Körpers überrascht. Cowboyfantasien waren die eine Sache, ermahnte sie sich, aber dies war ein Ausflug in die Zwielicht-Zone, und sie hatte das schreckliche Gefühl, dass auf ihrem Ticket HINFAHRT stand und nicht auch RÜCKFAHRT.

»Kommt darauf an, ob Sie erklären können, wieso Sie Mrs Fortners Halskette tragen«, murmelte der Marshal an ihrem Nacken.

Leder knarrte, als Rue sich umdrehte und in dieses scharf geschnittene Gesicht blickte. »Meine … unsere Tante hat jeder von uns eine solche Halskette geschenkt«, log sie. »Elis… Lizzie trägt wahrscheinlich ihre Kette.«

Farley blickte skeptisch drein. »Übrigens, die Presbyterianerinnen werden sich ganz schön aufregen, wenn sie Ihre Kleidung sehen. Es schickt sich nicht für eine Lady, Hosen zu tragen.«

Rue wäre vielleicht über seine Bemerkungen amüsiert gewesen, wäre nicht Panik in ihr hochgestiegen. Nichts in ihren reichlich wilden Erfahrungen hatte sie darauf vorbereitet, so einfach ins Jahr 1892 gestoßen zu werden. »Ich habe sonst nichts anzuziehen«, sagte sie mit einer untypischen dünnen Stimme.

Nach einem staubigen Ritt erreichten sie Pine River. Auch hier war die Zeit zurückgedreht. Es gab Saloons mit Schwingtüren, und eine große Sägemühle am Fluss kreischte und schleuderte Sägemehl in die Luft. Leute gingen auf hölzernen Bürgersteigen und fuhren in Einspännern und Pferdewagen. Rue konnte nur starren.

Marshal Haynes hob sie vom Pferd und schob sie zu dem Bürgersteig. Bronzefarbene Buchstaben auf dem Gebäude verkündeten PINE RIVER GEFÄNGNIS, FARLEY HAYNES, MARSHAL.

Tapfer beschloss Rue hierzubleiben, bis Elisabeth wiederkam. Trotz der Briefe wollte sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihrer Cousine gut ging, bevor sie diese andere Welt – oder was immer es war – hinter sich ließ.

»Glauben Sie an Geister, Farley?«, fragte sie kameradschaftlich, sobald sie drinnen waren und der Marshal die kleine Tür in dem Gitter geöffnet hatte, das seinen Schreibtisch, den Schrank und den Ofen von der einzelnen Gefängniszelle trennte.

»Nein, Ma’am«, antwortete er seufzend und betrachtete sie. »Aber ich glaube daran, dass in dieser Welt seltsame Dinge vor sich gehen, die man nicht so leicht erklären kann.«

Rue betrachtete die Steckbriefe und die altmodischen Gewehre in einem Ständer. »Da werden Sie von mir keinen Widerspruch hören«, antwortete sie endlich.

2. KAPITEL

Der Marshal deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, und Rue setzte sich. »Wie erklären Sie Ihre Kleider?«, fragte er.

Sie holte bebend Luft. »Wo ich herkomme, ziehen sich viele Frauen so an.«

»Und wo ist das?«, fragte er herablassend.

»Montana. Ich habe dort eine Ranch.«

Farley kratzte sich im Nacken, aber Rue fühlte unter seinem lässigen Benehmen eine tödliche Energie, eine gewaltige körperliche und emotionale Kraft, die kaum gezügelt wurde. Bevor sie es verhindern konnte, sprangen ihre Gedanken zu der Frage, wie es wäre, von diesem Mann in den Armen gehalten und gestreichelt zu werden.

Allein schon die bloße Vorstellung verschaffte ihr einen ängstlichen Genuss.

»Stört es denn Ihren Mann nicht, dass seine Frau wie ein gewöhnlicher Cowboy herumläuft?«, fragte er ruhig.

»Ich habe keinen Mann.« Sie glaubte, eine Reaktion in seinen unglaublichen Augen flackern zu sehen.

»Dann Ihr Daddy?«

»Ich stehe meinen Eltern nicht nahe.« Das stimmte. Rues Eltern hatten sich vor Jahren scheiden lassen und waren getrennter Wege gegangen. Ihre Mutter steckte jetzt vermutlich in irgendeinem schicken Kurort und bereitete sich auf die Skisaison vor, und ihr Vater hatte die letzte Postkarte aus Monaco geschickt. »Ich bin allein. Abgesehen von Elisabeth.«

Der Marshal betrachtete sie eine Weile, ehe er sich vorbeugte. »Ich lasse Sie erst einmal laufen, aber wenn Sie sich irgendwelchen Ärger aufhalsen, Ma’am, kriegen Sie es mit mir zu tun.«

Ein paar Sprüche fielen ihr als Antwort ein, aber sie hielt sie zurück. »Ich … gehe jetzt«, sagte sie befangen, ehe sie aus dem Gefängnis auf die Straße jagte.

Autor

Linda Lael Miller
<p>Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.</p>
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