Der Duke und die Prinzessin der Diebe

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Miss Adelaide Frampton beherrscht die hohe Kunst, sich unsichtbar zu machen: Ihre flammendroten Locken verbirgt sie unter einer unscheinbaren Haube, ihre schöne Gestalt unter langweiliger Kleidung. So gelingt es ihr, als wagemutige Diebin in gefährlichen Situationen unerkannt zu entkommen. Doch nun wird sie bei dem Versuch, ein wertvolles Schriftstück zu stehlen, überrascht. Von dem ungeheuer attraktiven Duke of Clayborn, der hinter demselben Dokument her ist! Als Adelaide mit dem Diebesgut flieht, jagt der Duke ihr hinterher – und raubt ihr einen heißen Kuss! Es ist der Beginn einer unwiderstehlich sinnlichen Feindschaft …


  • Erscheinungstag 17.02.2024
  • Bandnummer 400
  • ISBN / Artikelnummer 0871240400
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Sarah MacLean

Sarah MacLean wurde in Rhode Island geboren und besuchte die Harvard University, bevor sie ihren ersten historischen Roman schrieb. Bereits ihr Debüt landete auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Die zweimalige Gewinnerin des begehrten RITA Award verfasst regelmäßig Zeitungskolumnen über Liebesromane und engagiert sich zudem für Feminismus. Mit ihrem Ehemann lebt Sarah MacLean in New York.

1. KAPITEL

South Bank

Fünf Jahre später

Es gab unzählige Wörter, mit denen London Adelaide Frampton beschreiben könnte.

Nördlich des Flusses, im Hyde Park, in der Bond Street oder den Ballsälen von Mayfair wurde nur selten von der entfernten Cousine der Duchess of Trevescan gesprochen. Wenn, dann wurden Begriffe wie schlicht benutzt, auf Nachfrage würde man vielleicht noch ein hochgewachsen hinzufügen. Oder gewöhnlich. Der Begriff alte Jungfer war durchaus angemessen für die sechsundzwanzigjährige Frau ohne jede Aussicht auf dem Heiratsmarkt. Ihr flammend rotes Haar verbarg sie stets unter einer strengen Haube, ihre hochgeschlossenen Kragen waren völlig aus der Mode, ihre Kleider trist und ihr Gesicht ohne Rouge oder Kajal langweilig. Solange sie daran nichts änderte, würde sie niemals einen Galan finden.

Man sah sie kaum und hörte sie nur selten. Sie hatte weder Titel noch Vermögen, war niemals witzig und verfügte auch sonst über keinerlei Charme oder außergewöhnliche Fertigkeiten. Uninteressant. Bescheiden. Unauffällig und somit unbemerkt wurde sie in Mayfair nur aufgrund einer entfernten Verwandtschaft geduldet.

Südlich des Flusses jedoch, in den Lagerhäusern, Wäschereien und Arbeitshäusern, in den Elendsvierteln und Straßen, in denen sie nicht als Adelaide Frampton, sondern als Adelaide Trumbull aufgewachsen war, war sie eine Legende. In ganz Lambeth gingen kleine Mädchen abends ins Bett und klammerten sich an die Hoffnung und das Versprechen einer Zukunft. Ihre Mütter, Tanten und älteren Schwestern erzählten ihnen flüsternd die Geschichten von Adelaide Trumbull, der größte Taschendiebin, die South Bank je gesehen hatte. Ihre Finger waren so flink, dass sie nie erwischt wurde. Im Krieg der Bulls gegen die Boys hatte sie so klug gekämpft, dass ihr Vater König beider Banden wurde, bevor sie in eine Zukunft jenseits des Kohlenstaubs, der Schlammpfützen und des Drecks von Lambeth entschwunden war.

Addie Trumbull, lautete die Erzählung, ging als Prinzessin und wurde eine Königin.

Erstaunlich, wie solche Legenden ohne jeden Beweis wuchsen, selbst an Orten, wo die Erde versalzen war und die Äcker brachlagen. Oder vielleicht gerade dort.

Es spielte keine Rolle, dass Adelaide nie zurückgekehrt war. Die Schwester einer Freundin von der Cousine von jemandem arbeitete als Hausmädchen am Hof der neuen Königin, und sie hatte Addie dort gesehen. Sie war mit einem guten, reichen Mann verheiratet, schlief auf Daunenfedern, trug Seidenkleider und aß von goldenen Tellern.

Schlaft gut, ihr Kleinen; wenn ihr brav seid und früh lernt, zu stehlen und schnell zu rennen, könntet auch ihr eine Zukunft wie Addie Trumbull haben.

Legenden. Märchen. Seifenblasen.

Unvorstellbar.

Doch wie alle Gerüchte im Norden der Stadt und alle Geschichten von südlich des Flusses war die Wahrheit ein bisschen von beidem und viel von keinem. Aus diesem Grund blieb Adelaide an beiden Orten ein Geheimnis, was ihr sehr gut zupasskam. Unbemerkt und unvorstellbar zu sein schenkte ihr die einzige Eigenschaft, die ihr wirklich wichtig war – Unsichtbarkeit.

Denn Adelaide Frampton war die größte Diebin, die London je gesehen hat.

An diesem Oktobernachmittag des Jahres 1839 war ihre Unsichtbarkeit besonders gut zu sehen. Während die tiefstehende Herbstsonne über den Himmel kroch, betrat sie das Lagerhaus, das als offizielles Hauptquartier der größten Bande diente, die sich in London für Geld anheuern ließ – Alfred Trumbulls Bully Boys. Nach dem brutalen Zusammenschluss an ihrem missratenen Hochzeitstag hatte sich die Gang umbenannt, eine Wortschöpfung ihres Vaters, der sehr genau wusste, dass ein billiges Geschenk schlechte Männer von einer Sache überzeugen konnte.

Vor fünf Jahren hatte Adelaide das Innere des Lagerhauses zuletzt gesehen – vor fünf Jahren hatte sie Lambeth verlassen und ein neues Leben jenseits des Flusses begonnen. Doch sie erinnerte sich an den Ort, als sei seitdem keine Zeit vergangen. Es war immer noch bis unters Dach gefüllt mit dem Diebesgut der Bande – Schnaps und Juwelen, Seide und Silber, dazu eine stattliche Sammlung Feuerwaffen. Ein Wunder, dass sich die Boys nicht schon längst gegenseitig umgebracht hatten, denn es war allgemein bekannt, dass es der Bande an Vernunft mangelte.

In ihrem hochgeschlossenen, eng anliegenden blauen Mantel über einer dunklen Bluse und einem grauen Rock bewegte Adelaide sich unbemerkt durch das Gebäude. Die Aufmachung, zu der auch eine schmucklose graue Haube gehörte, die ihr Haar verbarg, sollte ihr bei solcherlei Aktivitäten möglichst viel Bewegungsspielraum verschaffen. Sobald sie sich in den Schatten zurückzog oder hinter Kisten mit Schmuggelware duckte, ließ ihre Kleidung sie einfach verschwinden.

Auf dem Weg zum obersten Stock, wo sich das Büro ihres Vaters befand, lief sie drei Patrouillen über den Weg. Im Moment war das Büro leer, denn Alfie Trumbull war zum „Tee“ im Wild Pheasant, wie jeden Nachmittag um vier Uhr. Dabei handelte es sich um ein Bordell in seinem Besitz, im Schatten des Lambeth Palace. Das Haus lag nur wenige Meter von der Residenz des Erzbischofs von Canterbury entfernt, was ohne Zweifel einen Teil der Anziehung ausmachte, den sein Bordell auf Alfie hatte. Er hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten.

Bei der ersten Patrouille versteckte sie sich hinter der Treppe im Erdgeschoss, vor der zweiten musste sie sich in einem dunklen Winkel verbergen. Die dritte hätte sie beinahe erwischt, doch sie schlüpfte ins Büro ihres Vaters und quetschte sich zwischen ein paar riesige Whiskyfässer, bis sie wieder verschwanden.

In den letzten fünf Jahren war in Alfies Heiligtum absolut alles beim Alten geblieben, obwohl sich die Welt außerhalb dieser Mauern in rasendem Tempo veränderte. Derselbe Schichtplan für die Patrouillen, dieselben Verstecke. Sogar die Unterhaltungen drehten sich um die gleichen Themen. Am Vorabend musste ein junger Bursche nach einem Kampf zum Arzt gebracht werden, doch vorher hatte er den Männern noch eine erkleckliche Summe eingebracht.

Adelaide wartete, bis sie schwerfällig davon geschlendert waren, und dankte im Stillen ihrem Vater, dass er bei seinen Wachleuten immer noch mehr auf Muskeln als auf Verstand setzte.

Sobald sie verschwunden waren, schlich Adelaide zu Alfies Arbeitsplatz und erstarrte überrascht.

Nicht alles war unverändert geblieben. Ihr Vater hatte sich ein Schreibpult gekauft, mit Schubladen und Schlössern und einer hell glänzenden Oberfläche, die ihn vermutlich jedes Mal mit Stolz erfüllte, wenn er dahinter Platz nahm.

Er würde gar nicht glücklich sein, wenn er begriff, dass seine Schlösser für eine Diebin keine Herausforderung darstellten.

Rasch holte Adelaide eine Schnupftabakdose aus der tiefen Innentasche ihres Mantels und zog eine lange Goldkette unter dem Kragen ihrer Bluse hervor. Am Ende der Kette baumelte eine kleine Messingröhre, deren Deckel Adelaide abschraubte. Sie öffnete die Dose und betrachtete aufmerksam ein Dutzend Messingschlüssel. Binnen Sekunden hatte sie den richtigen ausgewählt und ihn auf das Messingpendant gesetzt.

Sie drehte ihren neuen Schlüssel im Schloss des Schreibpults, lauschte befriedigt dem deutlichen Klick und begann mit der Suche. In den ersten beiden Schubladen fand sie nicht, wonach sie suchte, auch nicht in der tiefen, verschlossenen Lade am Boden des schweren Pults. Es sei denn …

Die Schublade lief gut ausbalanciert auf Rollen – ihr Vater hatte keine Kosten gescheut. Sie nahm drei schwere Kontobücher heraus und legte sie auf die Schreibplatte. Mit einem Blick maß sie ihre Höhe, schob den Stuhl zurück und musterte die Schublade von außen. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Alfie Trumbull vertraute seinen Jungs also doch nicht.

Adelaide tastete das Innere der Schublade ab, fand nach wenigen Sekunden den verborgenen Riegel und öffnete das Geheimfach unter dem doppelten Boden der Schublade.

„Da bist du ja“, flüsterte sie. Ein Triumphgefühl erfasste sie, als sie das winzige schwarze Buch herausnahm. Es war klein genug, um in die Tasche eines Gentlemans zu passen. Sie öffnete es, überzeugte sich, dass es das war, wonach sie gesucht hatte: Die genauen Orte der elf Munitionslager der Bully Boys, verteilt über die ganze Stadt. Dazu die Namen der Boys, die jedem Depot zugeteilt waren, die Pläne für den Wachwechsel und die Herkunft jeder Waffe in den Lagern. Alles peinlich genau notiert von Alfie Trumbull persönlich.

Adelaide schob das Buch in ihre eigene Tasche und wollte sich gerade daran machen, die Schublade wieder in seinen Originalzustand zu bringen, als ihr Blick auf den anderen Gegenstand im Geheimfach fiel.

Ein ganz gewöhnlicher Holzklotz.

Stirnrunzelnd griff sie danach und nahm den etwa fünfzehn Zentimeter großen Würfel heraus. Ihre lebenslange Erfahrung als Diebin hatte Adelaide gelehrt, dass gewöhnliche Dinge selten gewöhnlich waren – schon gar nicht, wenn ihr Vater sie in einer Schublade mit doppeltem Boden aufbewahrte. Also tat sie, was sie häufig tat, wenn etwas ihre Neugier erregte.

Sie nahm es mit.

Das Licht im Inneren des Gebäudes ließ rasch nach, also arbeitete sie schnell. Sie setzte den Boden wieder ein, legte die Kontobücher zurück und baute ihren Schlüssel wieder auseinander. Sie stand auf, verstaute ihre Schnupftabakdose an ihren Platz und klemmte sich den Holzblock unter den Arm.

„Das gehört nicht Ihnen.“

Ihr Herz machte einen Satz und schlug in ihrer Kehle, als sie zur Tür schaute. Ihre freie Hand glitt bereits in ihren Rock zur versteckten Tasche an ihrem Schenkel und tastete nach dem Messer, das sie dort verwahrte. Sie zog es vor, unsichtbar zu bleiben und auf ihren Missionen keine Unordnung zu hinterlassen, aber sie hatte keine Bedenken, einen Schläger auszuschalten, wenn es sein musste.

Er war alles andere als unsichtbar, hochgewachsen und schlank stand er im Schatten gleich hinter der Tür. Die tief in die Stirn gezogene Schirmmütze verbarg die scharfen Linien seines hübschen Gesichts kein bisschen. Eine lange, gerade Nase und ein kantiges Kinn, das aussah, als sei es von den besten Klingenschmieden geformt worden.

Das war keiner der Schläger ihres Vaters.

Er sah aus, als würde es ihm nie in den Sinn kommen, dass er nicht an diesen Ort gehörte, in ein düsteres Lagerhaus eines hartgesottenen Kriminellen. Doch selbst wenn sie es nicht an seiner vornehmen Aussprache herausgehört oder es an seiner Haltung erkannt hätte, selbst wenn er nicht aussehen würde, als hätte er in seiner Jugend Fechten anstatt Boxen gelernt … Seine Nase verriet ihn.

Er war noch nie hungrig ins Bett gegangen. Er hatte noch nie um sein Abendessen oder seine Sicherheit kämpfen müssen, war noch kein einziges Mal gezwungen gewesen, zu stehlen. Ganz offensichtlich war er in ein Leben geboren worden, in dem er alles hatte, was er brauchte.

Der Mann hatte Geld.

Und seinetwegen würden sie beide erwischt werden.

Adelaide stand auf und ging um das Schreibpult herum zur Tür. Sie weigerte sich, ihn anzusehen oder mit ihm zu sprechen, und erwog ihre Optionen. Sie konnte nicht einfach einen Mann mit Geld erstechen. Aber sie konnte ihm überraschend eine verpassen, falls er sie nicht aus dem Raum lassen wollte.

Als sie die Tür erreichte, hielt er sie tatsächlich auf. Er berührte sie nicht, sondern stützte einfach eine Hand an den Türrahmen und sagte: „Noch einmal, das gehört Ihnen nicht.“

„Ach nein?“, gab sie zurück. „Aber Ihnen gehört es?“

Bei diesen Worten versteifte er sich, als sei er beleidigt, weil sie sich dazu herabgelassen hatte, ihm zu antworten.

Er hatte eindeutig Geld. Und kein Recht, an diesem Ort zu sein. Aber er glaubte, er könnte ihr – Adelaide Frampton, der besten Diebin, die Lambeth je gesehen hatte – sagen, was sie stehlen durfte und was nicht? Dieser Mann sollte sie kennenlernen!

„Das tut es, allerdings.“

Überrascht hob sie den Kopf und musterte ihn genauer, die rauen Bartstoppeln und den tiefgezogenen Rand der Schirmmütze. Ein kläglicher Versuch einer Verkleidung, denn Adelaide erkannte ihn sofort. Und unterdrückte ein Stöhnen.

Er war nicht nur Geld. Er war nicht irgendein feiner Pinkel.

Und er sah auch überhaupt nicht gut aus.

Der Mann vor ihr war der Duke of Clayborn. Das absolut Schlimmste, was die Aristokratie zu bieten hatte, mit einer steifen Oberlippe und einem Stock in seinem …

„He!“

Der Ruf kam von außerhalb des Büros, wo Adelaide einen Klotz von einem Wachmann entdeckte. Er kam in ihre Richtung, die kleinen Augen waren direkt auf sie gerichtet.

So viel dazu, unsichtbar zu bleiben.

„Verdammt, Clayborn“, flüsterte sie und packte den Holzklotz fester. „Natürlich müssen Sie ausgerechnet hier auftauchen, damit wir beide umgebracht werden.“

Er konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Sie haben mich erkannt?“

Natürlich hatte sie das. Diesen speziellen Duke würde sie überall erkennen. Es war unmöglich, ihn nicht zu erkennen. Als er ihr das letzte Mal so nahe gewesen war, waren sie nördlich des Flusses im Herzen von Mayfair gewesen, und er hatte Adelaide auf vernichtende Weise getadelt – mit jener kalten Verachtung, die arrogante, reiche Männer mit einem Titel liebend gern jenen Frauen gegenüber zeigten, die weit unter ihrem Stand waren. Er hatte Glück, dass sie nicht die Gewohnheit hatte, beim Dinner das Messer zu schwingen.

Doch wenn irgendjemand sie dazu treiben könnte, dann dieser Mann.

Streng und kalt … und absolut unfähig, wenn es darum ging, unbemerkt zu bleiben.

„He, ihr da! Was treibt ihr da in Alfies Büro?“

Adelaide verlor keine Zeit. Sie rannte los, duckte sich unter seinem Arm und schoss den Flur hinunter, weg von der Wache.

„Scheiße, Jungs! Wir haben Eindringlinge hier oben!“

„Das ist mein Zeichen“, murmelte sie und stürmte die Treppe hinunter in den ersten Stock des Lagerhauses. Sie überschlug, dass sie weniger als eine Minute hatte, um sich in den Schatten zu verstecken. Wenn sie es bis zum anderen Ende des Gebäudes schaffte, wo das große Tor auf die düstere Gasse hinausführte, könnte sie vielleicht verschwinden.

Aber sie war nicht allein.

Der Duke of Clayborn folgte ihr auf den Fersen, leichtfüßig und schneller, als sie es bei einem Mann von seiner Größe für möglich gehalten hätte. Trotzdem blieb er schwer zu verstecken. Aber das war nicht ihr Problem.

Sie warf ihm einen Blick zu. „Hauen Sie ab, Duke.“

„Auf gar keinen Fall.“

Als sie die Treppe hinter sich ließen, schaute Adelaide zurück und seufzte gereizt. Ihr erster Verfolger war eine halbe Treppe höher, von unten näherten sich drei weitere. Sie unterdrückte einen Fluch und rannte eine lange Reihe aufgestapelter Kisten entlang, so weit sie es wagte, ehe sie sich hinter eine kauerte.

Der Duke schlüpfte neben sie und holte tief Luft. Offensichtlich wollte er etwas sagen.

Adelaide hielt ihm den Mund zu. Die Stoppeln seines Dreitagebarts unter ihren Fingern waren rau und weich zugleich. Nicht, dass es sie interessieren würde, wie er sich anfühlte. Das Feuer in seinen blauen Augen verriet, dass er sich genauso wenig dafür interessierte. Er war zweifelsohne wütend, weil sie das Kommando übernommen hatte. Nun, daran sollte er sich besser gewöhnen, wenn er unbeschadet hier herauskommen wollte.

Sie schüttelte den Kopf und deutete durch einen Spalt zwischen den Kisten, wo zwei von Alfie Trumbulls Wachen den Gang gründlich absuchten. Adelaide beugte sich vor und flüsterte kaum hörbar: „Können Sie kämpfen?“

Da sie ihre Hand nicht von seinen Lippen nahm, hob er eine Braue, seine beleidigte Antwort war mehr als deutlich. Natürlich kann ich kämpfen.

Wahrscheinlich waren seine Kampfkünste ein Witz – Aristokraten waren im Allgemeinen ziemlich nutzlos –, aber sie hatte keine Wahl. Adelaide war in sechzehn Jahren kein einziges Mal geschnappt worden, und sie hatte nicht vor, jetzt damit anzufangen. Die Männer kamen näher.

Sie ließ ihn los und sank vorsichtig auf ihre Fußballen. Sie griff in ihren Rock, nahm mit einer Hand ihr Messer aus der Scheide und umklammerte mit der anderen den Holzklotz. Sie lehnte eine Schulter gegen den Kistenstapel, der sie verdeckte.

Drei.

Der Duke bewegte sich mit ihr, folgte ihren Bewegungen, sah sie an, die Schulter an dem rauen Holz.

Zwei.

Das Leder seiner Handschuhe knarzte, als er die Faust ballte. Er würde sie brauchen. Was sie vorhatten, würde sämtliche Wachen auf den Plan rufen.

Eins.

Mit einem stummen Stoßgebet, dass er wirklich kämpfen konnte, nickte sie ihm einmal zu. Dann ein zweites Mal.

„Jetzt“, formte sein Mund. Gleichzeitig stießen sie zu und kippten den Kistenstapel auf die beiden Männer, als diese auf ihrer Höhe waren.

Zwei Schreie wurden von einem ohrenbetäubenden Krachen begleitet, doch Adelaide blieb nicht, um zu sehen, ob ihr Werk von Erfolg gekrönt war. Stattdessen rannte sie los, erreichte die Treppe an der Vorderseite des Lagerhauses, die nach draußen auf die Straße und in die Freiheit führte.

Clayborn war ihr auf den Fersen, und ohne zurückzuschauen, rief sie ihm zu: „Dies ist kein Ort für einen Duke.“

„Aber der ideale Ort für eine Dame, oder wie?“

Sie war keine Dame, aber sie korrigierte ihn nicht. Sie redete sich ein, dass sie zu beschäftigt damit war, die Treppe hinunterzurennen. Sie hielt auf die Tür zu, an der zwei Wachen warteten. Ohne zu zögern, schlug sie einem der Männer mit dem Holzklotz auf den Schädel. „Ich kam sehr gut zurecht, bevor Sie aufgetaucht sind.“ Sie duckte sich, als der andere Mann seine Faust von der Größe eines Schinkens in ihre Richtung schwang.

Sie hörte ein schweres Klatschen, und sie drehte sich nach etwas um, das sie gar nicht interessierte, um zu sehen, was passiert war.

Clayborn hatte den Schlag mit einer Hand abgewehrt. „Das war nicht sehr gentlemanlike“, sagte er, die Ruhe selbst. Sein Gegner riss die Augen auf. „Und Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie die Dame nicht getroffen haben.“ Er unterstrich seine Worte mit einem ausgezeichneten Kinnhaken, der den Galgenstrick in die Knie zwang.

Überrascht starrte Adelaide den bewusstlosen Mann an. „Was wäre denn passiert, wenn er mich getroffen hätte?“ Als der Duke nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Sie können ja tatsächlich kämpfen.“

Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. „Ich lüge nicht.“

Natürlich hatte er es als Beleidigung aufgefasst. Ehrlich, es war ein Wunder, dass nicht die gesamte South Bank in Flammen aufgegangen war, weil der Duke of Clayborn wie ein Racheengel hier aufgetaucht war.

Sie hatte kaum genug Zeit, die Augen zu verdrehen, bevor sie weiterrannten, raus aus dem Lagerhaus und auf die Gasse dahinter. Adelaide duckte sich rasch hinter einem Müllhaufen und verstaute ihr Messer wieder in seiner Scheide am Bein.

Clayborn beobachtete sie, und sie ignorierte die Hitze, die sein kühler Blick irgendwie verströmte. „Sie sind doch die Cousine der Duchess of Trevescan, nicht wahr?“

Sie verbarg ihre Überraschung, dass er sie erkannt hatte. Für eine Frau, die darin geübt war, unbemerkt und unsichtbar zu bleiben, war die ungeteilte Aufmerksamkeit des Duke of Clayborn ausgesprochen ärgerlich. Vor allem, weil jetzt ihr Geheimnis gelüftet war. Er war in der Lage, nach Mayfair zurückzukehren und ganz London zu erzählen, dass sie nie im Leben die Cousine einer Aristokratin war. Adelaide versuchte es trotzdem. „Haben Sie etwa keine merkwürdigen Früchte in Ihrem Stammbaum?“

Er musterte sie kurz, dann sagte er: „Nicht so merkwürdige wie Sie.“

Oh. Sie würde später über diese fünf Wörter nachdenken.

Doch jetzt musste Adelaide dringend weg. „Weiter kann ich Sie nicht mitnehmen, Duke. Bei Tageslicht werden die sich nicht an einem Aristokraten vergreifen, aber Sie sollten sich besser beeilen, wenn Sie nicht Lambeths Jungs in die Hände fallen wollen.“

Ehe er antworten konnte, war sie weg, verschwunden im Gedränge, denn sie wusste, dass sie kein Mitleid erwarten konnte, wenn man sie fassen würde.

Für Adelaide Frampton, geborene Trumbull, war das Tageslicht in Lambeth ein schwacher Trost, da ihr Vater mit den Bully Boys die gesamte South Bank beherrschte. Hier würde sie nirgendwo Hilfe finden. Nicht, weil sie keine Unterstützer hätte, sondern weil diese nicht stark genug waren, um gegen Londons stärkste Straßenbande zu bestehen.

Das wusste sie nur zur gut; sie selbst hatte erst die Kraft gefunden, gegen die Bully Boys zu kämpfen, als sie das Elend von Lambeth hinter sich gelassen hatte. Sie nahm es denjenigen, denen das nicht gelang, nicht übel.

Binnen weniger Minuten würden die außer Gefecht gesetzten Schläger aus dem Lagerhaus aufwachen und sich an ihre Fersen heften, also wandte Adelaide sich Richtung Norden. Sie wollte im Labyrinth der engen Gassen von South Banks untertauchen, jenem Straßengewirr, das ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, ehe sie ihren eigenen Namen schreiben konnte.

Leider hatten ihre Verfolger denselben Unterricht genossen.

Sie bog ein halbes Dutzend Mal ab, dann saß sie in der Falle, irgendwo zwischen St. George’s Circus und New Cut. Einer von Alfies Männern stand wie ein stummer, massiver Wachposten an einem Ende, und von hinten näherten sich zwei Männer mit gezückten Klingen.

Der große deutete mit einem Nicken auf den Holzklotz unter Adelaides Arm. „Du hast da was mitgenommen, was nicht deins ist, Mädel.“

Sie hob eine Hand zu ihrer Haube und hoffte, dass sie nicht erkannt wurde. Fünf Jahre Abwesenheit bescherten einem kein neues Gesicht und änderte auch nicht die Haarfarbe. „Na und?“

Sein Gefährte knurrte.

Adelaide würde alles verwetten, was sie besaß, dass diese beiden keine Ahnung hatten, was sie bei sich hatte. Sie hatte selbst keine Ahnung, und sie war mit Sicherheit die Klügste in dieser Versammlung hier.

Der Schläger hinter ihr rief: „Leg’s auf den Boden, Mädel, und niemand wird verletzt.“

Jetzt würde sie den Holzklotz erst recht nicht wieder hergeben. Adelaide zog ihre Uhr hervor. Verdammt. Sie würde zu spät kommen. „Ich glaube, wenn ich das absetze, wird auf jeden Fall jemand verletzt.“

Er grinste, wobei er mehrere fehlende Zähne zeigte, zweifelsohne ausgeschlagen. „Warum versuchst du es nicht und siehst, was passiert?“

Das Trio kam rasch näher, um ihr weniger Zeit zu geben, ihre nächsten Schritte zu planen – doch Adelaide war keine gewöhnliche Gegnerin. Nach wenigen Sekunden wusste sie, wie kräftig sie ausholen musste, um den Zahnlosen auszuschalten, wie lange die andern beiden brauchen würden, bis sie bei ihr waren, und was sie tun musste, um sie zu Boden zu bringen. Sie maß die Winkel, berechnete Kräfte und überschlug Zeiten.

Sie ging auf ein Knie. Stellte den Holzklotz auf den Boden.

„So ist es brav, Süße“, sagte Mr. Zahnlos und kam näher. Ihre Hand tastete nach der versteckten Tasche in ihrem Rock, suchte nach dem Messer. Und dann …

„Warte …“, sagte er leise in verändertem Tonfall, nicht länger voller Verachtung.

Sondern voll mit etwas anderen, etwas weit Gefährlicherem.

Wiedererkennen.

„Du bist …“, begann er, doch ehe er seinen Satz zu Ende bringen konnte, brach die Hölle los.

Die Aufmerksamkeit von Mr. Zahnlos richtete sich auf etwas über Adelaides Kopf, während sie sich nach dem Tumult hinter ihrem Rücken umdrehte. Die zwei Schläger, die auf dem Weg zu ihr gewesen waren, sahen sich unvermittelt in einen Kampf mit dem Duke of Clayborn verwickelt.

Verdammt. Dieser Mann hatte ein Haus in Mayfair und einen Sitz im House of Lords. Hatte er nichts Besseres zu tun, als sie durch halb London zu verfolgen?

Sie widmete sich wieder naheliegenderen Problemen. Sie griff nach dem Holzklotz zu ihren Füßen, umklammerte ihn mit beiden Händen, sprang auf und ließ ihn auf Mr. Zahnlos niedersausen. Adelaide rannte los, noch bevor er mit dem Schädel auf dem Pflaster aufschlug.

Hinter ihr ertönte ein Schrei.

Sie sollte nicht zurückschauen. Sie hatte Clayborn nicht darum gebeten, sich einzumischen. Sie brauchte ganz gewiss keinen Beschützer. Das geschah ihm ganz recht.

Außerdem musste sie hier weg, bevor sie noch jemand erkannte.

Sie schaute trotzdem, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie einer der Bully Boys dem Duke of Clayborn einen heftigen Schlag mitten ins Gesicht verpasste.

Er wehrte sich gegen den Hieb, als hinge sein Leben davon ab. Wahrscheinlich tat es das auch; die Männer ihres Vaters waren nicht für ihre Milde bekannt. Doch der Duke hielt sich wacker, landete einen Treffer nach dem anderen und schickte einen seiner Gegner in die Knie, ehe er sich dem anderen zuwandte. Ein gemeiner Haken von unten brachte den Mann so aus dem Gleichgewicht, dass er rückwärts an die nächste Hauswand taumelte und dort langsam zu Boden rutschte.

Adelaide sah zu, bis der Mann zur Seite kippte, dann sah sie Clayborn an. „Beeindruckend.“

Im nachmittäglichen Schatten konnte sie seine Augen nicht sehen, doch sie spürte seinen Blick auf sich. Als er sprach, waren seine Worte so gesetzt und ruhig, dass man nicht glauben würde, dass er soeben in eine Straßenschlägerei verwickelt gewesen war. „Gern geschehen.“

Er war und blieb derselbe arrogante Stinkstiefel. Sie kniff die Augen zusammen. „Erwarten Sie etwa Dank von mir?“

„Ja.“ Ein Muskel an seinem Kinn zuckte, als er mit graziösen, geschmeidigen Bewegungen über einen seiner Gegner hinwegstieg. Nicht, dass es Adelaide auffallen würde. Überhaupt nicht.

„Wofür?“

Er deutete lässig auf den Boden. „Ist das nicht offensichtlich?“

Sie musterte die Männer, die sich zu seinen Füßen wanden. „Ach, ich soll Ihnen also für Ihre Gabe danken? Als wären Sie ein Kater, der mir eine fette Ratte vor die Küchentür legt?“

„Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht dafür danken, dass ich Ihren hübschen A…“

Als er die letzten Worte verschluckte, legte sie den Kopf schräg. „Euer Gnaden, wollten Sie etwa gerade einen Kraftausdruck verwenden?“

Er sah sie finster an. „Ich gestehe, Sie führen mich in Versuchung.“

Ich würde dich gerne in Versuchung führen.

Wo kam das denn her?

Er streckte die Hand nach ihr aus. „Mein Kästchen, bitte.“

Es war also ein Kästchen. Natürlich war es das. Sie schaute auf den Holzklotz hinunter, drehte ihn in den Händen hin und her, während sie zum Ausgang der Gasse zurückwich. Vorsichtig stieg sie über den schlaffen Körper ihres eigenen Gegners und vergrößerte den Abstand zwischen sich und dem Duke. „Was ist darin?“

Seine Lippen wurden zu einer dünnen Linie, doch sie ignorierte, wie sehr ihr das auffiel. „Nichts von Bedeutung.“

„Alfie Trumbull hielt es für bedeutend genug, um es zu stehlen.“

„Alfie Trumbull dachte, es würde genug Geld einbringen, um es zu stehlen.“

Doch woher hatte Alfie gewusst, dass so ein einfaches Kästchen überhaupt von Wert sein könnte? Und zwar einen ganzen Haufen Geld, wenn ihr Vater das Risiko eingegangen war, dafür einen Duke zu bestehlen.

Selbst, wenn es kein Geld einbrachte – es hatte den Duke nach Lambeth geführt. Was immer sich also darin befand, musste ein Geheimnis sein, das sich zu kennen lohnte.

Adelaide verbrachte ihr Leben damit, mit den Geheimnissen mächtiger Männer zu handeln, und zufällig war sie gerade sehr an den Geheimnissen interessiert, die diesen speziellen mächtigen Mann betrafen. Sie war also ganz und gar nicht bereit, das Kästchen so schnell herzugeben. Sie warf Clayborn einen schiefen Blick zu. „Wir sind hier auf der South Bank, Duke. Und hier spielen wir nach einfachen Regeln. Wer’s findet, darf’s behalten.“

Damit rannte sie erneut los, in scharfem Tempo steuerte sie auf das Ende der Gasse zu. Ihr Ziel war der Hafen.

Natürlich folgte er ihr. „Es ist vertraulich“, rief er, während er mit ihr Schritt hielt. Die Worte klangen gequält, als würde er sie nur widerwillig aussprechen. Natürlich widerstrebte es ihm, denn er war kein Mann, der sich dazu herablassen würde, jemanden so Gewöhnliches wie Adelaide ins Vertrauen zu ziehen.

„Das ist mir schon klar, sonst würden Sie wohl kaum in Faschingsverkleidung in einem gut bewachten Lagerhaus herumschleichen.“ Sie warf ihm einen raschen Blick zu. „Sie können unmöglich geglaubt haben, niemand würde Sie bemerken.“

Er strich mit einer Hand über den Bart. „Verzeihen Sie, dass ich nicht so geschickt im Verkleiden bin wie Sie.“ Er betrachtete sie kühl von Kopf bis Fuß, doch Adelaide fühlte sich unter seiner kritischen Musterung alles andere als kühl. „Haben Sie wirklich geglaubt, Sie könnten einfach dort einsteigen, den Anführer einer der mächtigsten Banden Londons bestehlen und wieder verschwinden?“

„Genau das habe ich getan, bis Sie alles vermasselt haben.“

„Ich habe Sie beschützt!“, knurrte er. Seine Verärgerung stand ihrer in nichts nach.

Bei diesen festen und direkten Worten regte sich etwas in ihr, und sie fragte sich plötzlich, wann sie das letzte Mal den Beschützerinstinkt eines Mannes geweckt hatte. Ihrer Erfahrung nach überließen Männer sie eher sich selbst. Ehrlich gesagt war sie nicht sicher, wie sich die Alternative anfühlte. Ungewohnt. Wohlig.

Nicht, dass sie das jemals zugeben würde. „Ach ja? Und wie haben Sie das angestellt?“

„Ist Ihnen etwa entgangen, dass ich mehrere Männer von den Ausmaßen eines Kleiderschrankes niedergestreckt habe? Oder brauchen Sie eine neue Brille?“

Adelaide schob ihre Augengläser auf der Nase etwas höher und bog nach rechts ab, dann schnell nach links und schlüpfte in eine andere Gasse. „Mein Augenlicht ist einwandfrei.“ Allmählich schwanden ihre Kräfte. Der Rock war schwer und sperrig – eine weitere Methode, wie die Welt Frauen kleinhielt. Sie legte eine Hand auf die Taille, die von breiten Seidenbändern eingedrückt wurde.

Er hielt mühelos mit ihr Schritt. „Und überhaupt – Sie wollten es mit einem Lagerhaus voller Schläger aufnehmen, die Sie gerade bestohlen haben?“ Mit einem Nicken deutete er auf den Holzblock in ihrem Arm. „Mit dieser armseligen Waffe?“

Sie musste ihn loswerden. Er hatte zu viel gesehen, und er fragte zu viel. Sie könnte ihm das Kästchen geben und sich aus dem Staub machen. Es war nicht so, dass sie das Kästchen unbedingt bräuchte. Sie hatte es nur mitgenommen, weil es sie neugierig gemacht hatte.

Das Problem war, dass sie jetzt, wo sie wusste, dass es ihm gehörte, noch viel neugieriger war.

Was offen gesagt genauso ärgerlich war wie er. Sie klemmte sich die Kiste unter den Arm und lief schneller. „In diesen modernen Zeiten muss eine Frau sehen, wie sie zurechtkommt. Es tut mir überaus leid, Duke, aber ich habe eine wichtige Verabredung, und ich habe keine Zeit für Sie.“

Mit einem Ruck löste sie die letzte Öse ihres schlichten grauen Rocks, und der Stoff flatterte hinter ihr her. Darunter trug sie eine eng sitzende blaue Hose mit einem Schenkelholster für ihr Messer und dazu hohe Lederstiefel, die es ihr erlaubten, ungehindert loszurennen.

Hinter ihr stieß der Duke einen überraschten Laut aus, und sie hätte sich liebend gern umgedreht und den Schrecken in seinem strengen Gesicht gesehen. Doch Adelaide widerstand der Versuchung, schlüpfte durch den engen Spalt vor sich, dankbar für das Überraschungsmoment und ihre bessere Beweglichkeit, nachdem sie den Rock losgeworden war. Sie hatte genug Vorsprung, um einen Stapel Fässer umzuwerfen und ihren Gentlemangauner dahinter zurückzulassen.

Nicht ihr Gentlemangauner. Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben.

Sein Fluch folgte ihr, aber nicht er.

Triumphierend trat Adelaide vom Dämmerlicht der Gasse in die Nachmittagssonne an der Themse. Hier herrschte emsiges Treiben, am Ufer drängten sich die Boote, und die Menschen beeilten sich, ihre Arbeit vor Einbruch der Dunkelheit zu erledigen. Erleichtert schaute Adelaide flussaufwärts. Sie würde es doch noch zu ihrer Verabredung schaffen.

Sie lief langsamer, zog ihren Mantel aus, nahm die Haube ab und warf beides hinter einen Stapel Holzkisten. Ihre Schnupftabakdose und Alfies Buch schob sie in die Hosentaschen, ehe sie die Schirmmütze hervorzog, die hinter dem Taillenband der Hose gesteckt hatte. Sie zog den Schirm tief in die Stirn und begann, breitere Schritte zu machen. Die Frau im grauen Kleid war verschwunden, ersetzt durch einen gewöhnlichen Hafenarbeiter, hochgewachsen und schlank, der direkt auf das Ufer zusteuerte und mit der Menge verschmolz.

Vom Ufer aus sprang sie auf den nächsten Kahn – schwer und bis an den Rand mit Kohle beladen. Einer der Männer am anderen Ende des Bootes stieß einen überraschten Ruf aus, doch Adelaide war bereits auf den nächsten Kahn gesprungen, der säckeweise Mörtel geladen hatte.

Sie hatte keine Zeit für so etwas. Keine Zeit, sich von den Bully Boys jagen zu lassen. Und ganz gewiss keine Zeit, um über kantige Kinne und Dukes nachzudenken, die sich ins Kampfgetümmel stürzten.

Keine Zeit für Ablenkungen durch Männer, die dieses Getümmel verursacht hatten.

Noch ein Sprung. Ein weiteres Boot, das seine Ladung bereits zur Hälfte gelöscht hatte. Nirgendwo herrschte so viel Verkehr wie auf der Themse, wenn die Flut einsetzte. Es gab keinen besseren Ort, um zu verschwinden. Das hatte Adelaide schon früh gelernt.

Sie duckte sich hinter einen hohen Kistenstapel, schaute auf ihre Uhr und dann flussaufwärts.

Der Lastkahn schwankte, als jemand an Deck sprang.

Adelaide erstarrte, zog ihr Messer aus der Scheide an ihrem Oberschenkel und legte ihre Beute ab. Verdammt. Ihr ganzes Leben lang hatte sie es geschafft, in der Menge unterzutauchen, doch plötzlich hatte sie diese Fertigkeit verloren.

Der Duke of Clayborn hatte es irgendwie ruiniert, als könnte jetzt, wo er sie sehen konnte, auch der Rest der Welt sie sehen.

Sie packte ihr Messer fester und versuchte, die schweren Schritte ihres Verfolgers über das laut plätschernde Wasser des Flusses auszumachen.

Sie spähte um den Rand einer Kiste herum.

„Verdammt“, murmelte sie, bevor sie ihn genauer musterte. Groß und schlank wie eh und je, sah er nicht im Geringsten mitgenommen aus, obwohl er sich seit einer Dreiviertelstunde im Hafen herumtrieb. „Sie haben den Abzweig nach Westminster verpasst, Duke.“

„Hm“, sagte er. Das Geräusch kam tief aus seiner Kehle und war ziemlich anziehend, wenn sie ehrlich war. Es sollte ihr nicht gefallen. Er war der Duke of Clayborn. Sie hatte ein Jahr damit verbracht, ihn zu verabscheuen.

Er kam zu ihrem Versteck und hob die Holzkiste zu ihren Füßen auf. „Diebstahl ist ein Verbrechen.“

„Werden Sie die Polizei rufen?“

„Nein“, sagte er leise. „Aber was hat Sie zum Stehlen verleitet?“

Er stand so nahe, dass sie ihn berühren könnte, und Adelaide wusste, dass sie einen Schritt zurückweichen sollte. Auch wenn er kein Duke wäre, war es immer noch taghell, und die halbe Themse konnte sie sehen.

Niemand auf der Themse sah zu ihnen.

„Wer sagt denn, dass ich etwas gestohlen habe?“

Er hatte etwas an sich. Diese ganze Sache hatte etwas an sich. Etwas Wildes, Entfesseltes, Aufregendes … und Gefährliches. Er trat näher, seine Worte waren tief und dunkel. „Sie brauchen es nicht zuzugeben. Ich erkenne einen Dieb, wenn ich einen sehe.“ Er griff nach ihr, und sie hielt den Atem an. Würde er sie berühren? Wie würde sich das Leder seiner Handschuhe auf ihrer Haut anfühlen?

Doch er berührte ihre Haut nicht. Stattdessen sagte er leise: „Rot.“

Einen Moment lang begriff sie nicht, was er meinte, dann spürte sie ein Ziehen an ihrer Schläfe, wo eine Locke ihres Haars entwischt war. Sie schlug seine Hand weg und schob die Strähne hinter ihr Ohr.

Mit einem Blick, aus dem sie nicht klug wurde, beobachtete er ihre Bewegungen. Adelaide wurde heiß, einmal wegen seiner Entdeckung und dann wegen der plötzlichen Erkenntnis, dass er ihr ganz nah war und warm war und frisch roch, nach Zitronen … ein Duft, der nicht zu South Bank gehörte.

Es war kein Duft für Adelaide.

Adelaide Frampton war eine Frau für werktags, und sie wusste genau, was das bedeutete. Auf was sie hoffen durfte. Dieser Mann war nichts für sie, was ihn zu einer starken Versuchung machte, wie Naschwerk und Seide, Geldbörsen und Taschenuhren. Zu stark, als dass eine Diebin widerstehen könnte.

Also reckte sie ihm das Gesicht entgegen und bestahl ihn. Für die Dauer eines Herzschlags.

Mit der Absicht, es ihm zurückzugeben.

Doch es währte nicht nur einen Herzschlag lang. Es wäre vielleicht dabei geblieben, wenn er erstarrt wäre und sich versteift hätte, sobald ihre Lippen die seinen berührt hätten. Stattdessen schnappte er nach Luft – und sog dabei ihren Atem ein. Hatte sie einen Fehler gemacht? Würde er sie jetzt an den Armen packen und fortstoßen?

Das würde sie nicht überraschen. In aller Öffentlichkeit mitten in London jemanden zu küssen, passte nicht zu Adelaide Frampton, der unscheinbaren grauen Maus. Und auch nicht zu Adelaide Trumbull, der unvorstellbaren Legende.

Doch als er eine Hand auf sie legte, stieß er sie nicht fort. Für einen Moment spürte sie zwar sein Zögern, als würde er es in Erwägung ziehen. Doch dann übernahm er.

Sein kräftiger Arm legte sich um ihren Rücken, ohne das Holzkästchen loszulassen, und zog sie an sich. Die andere Hand hob er zu ihrem Gesicht und strich mit dem Daumen erst über ihr Kinn, dann über ihre Wange. Schließlich drehte er ihren Kopf so, dass er besser an ihren Mund herankam.

Plötzlich fühlte es sich eher so an, als wäre er der Dieb und sie die Beute.

Und Adelaide ließ sich bestehlen, dort, am Ufer der Themse, für alle arbeitenden Londoner gut zu sehen. Sie gab sich diesem Kuss hin, den sie angefangen und den er aufgegriffen hatte. Nie zuvor hatte sie so einen Kuss erlebt.

Dieser strenge, kühle Mann küsste wie ein geübter und ranghoher Gauner.

Nicht, dass Adelaide sich beschweren wollte.

Im Gegenteil, sie drängte sich enger an ihn, legte eine Hand auf seine Brust, die wärmer und breiter war, als es unter der Weste und dem feinen Hemd den Anschein hatte. Sie seufzte, als sie seinen Atem spürte. Als sein rauer Bart an seinem kantigen Kinn sie kratzte. Als sie seine Lippen spürte und die Versuchung, die sie verhießen.

Er nutzte dieses Seufzen aus, strich mit der Zunge über ihre geöffneten Lippen, sog ihre Unterlippe ein und hielt sie mit den Zähnen fest, bevor er sie mit der Zunge liebkoste und daran leckte – nur einmal, als wüsste er genau, dass er das nicht tun sollte. Als könnte er nicht widerstehen.

Genau wie Adelaide wusste, dass sie es nicht tun sollte.

Genau wie Adelaide nicht widerstehen konnte.

Verdammt sei das Tageslicht, verdammt sei der Hafen, verdammt sei der Duke.

In der Ferne ertönte eine Glocke.

Verdammt.

Bei diesem Geräusch löste sie sich von ihm. Ein Laut des Unmuts stieg tief aus seiner Brust auf, während er ihre Lippen noch einen Augenblick lang liebkoste, als wäre ihr Rückzug ein Fehler.

Auf jeden Fall fühlte es sich so an.

Denn plötzlich wirkte er gar nicht mehr wie ein Duke.

Vielleicht lag es am Sonnenuntergang, der den ganzen Fluss in goldenes Licht tauchte und die Wirklichkeit verschwinden ließ. Nur dieser Mann blieb noch übrig, der alles andere war als der steife, widerwärtige Duke. Er war groß, sah unglaublich gut aus und küsste, als wollte er nie wieder aufhören.

Was ihr mehr als recht wäre.

Adelaide rückte ihre Brille gerade, die bei ihrer Umarmung verrutscht war, und fragte sich, ob sie wahnsinnig geworden war. Es lag ihr auf der Zunge, vorzuschlagen, dass er nicht aufhören sollte, als er sagte: „Ich hätte das nicht tun sollen.“

Das Licht veränderte sich, und mit der Wirklichkeit kehrte die unerfreuliche Bestätigung dessen zurück, was Adelaide schon immer gewusst hatte: Sie war Adelaide Frampton, und er war der Duke of Clayborn. Was immer das gerade gewesen war, es war ein Riesenfehler gewesen. Für sie beide. Ein Fehler, der, sobald man in Mayfair davon erfuhr, mehr ruinieren würde als Adelaides Aussicht auf weitere Dinnereinladungen.

Zum Glück hatte sie eine gute Möglichkeit, diesen Mann zum Schweigen zu bringen.

Sie strich mit der Fingerspitze über seine Lippen, wobei es ihr gefiel, wie er die Augen schloss und seine unglaublich langen Wimpern leise flatterten. „Nein“, sagte sie leise, fast traurig. „Das hätten Sie nicht tun sollen.“ Dann löste sie sich aus seiner Umarmung, strich mit der Hand an den sehnigen Muskeln seines Arms entlang bis zur geheimnisvollen Holzkiste in seiner Hand – diejenige, die sie bereits gestohlen hatte und die daher von Rechts wegen ihr gehörte.

Sie nutzte das Überraschungsmoment aus, riss das Kästchen an sich und rannte zum Rand des Kahns. Mehrere Meter unter ihr wartete das dunkle, aufgewühlte Wasser der Themse auf sie – auch ohne Rock würde der Fluss sie fortreißen.

„Was …“ Seine Frage ging in einem schroffen Schrei unter, als sie sprang. „Nein! Adelaide!“

Sie landete auf dem Deck eines kleinen Flussschiffs, als er die letzten Worte rief. Der breitschultrige Mann am Steuer ihres neuen Transportmittels stieß mit einer langen Stange vom Kahn ab und brachte so viel Fluss zwischen die beiden Fahrzeuge, dass niemand ihr folgen konnte.

Nicht einmal ein Mann mit so langen Beinen wie Clayborn.

Sie nickte dem Kapitän des Schiffes dankbar zu, und der tippte sich an den Hut. Niemand nannte den Namen des anderen. Auf dem Fluss gab es zu viele aufmerksame Augen und Ohren.

Vor allem von einer Person.

Er hatte sie Adelaide genannt.

Adelaide duckte sich unter dem Verdeck, das den Rest des Bootes von der Welt abschirmte. Sie musste sich gewaltig zusammenreißen, um nicht zurückzublicken. Um sich nicht zu vergewissern, dass er ihr nachschaute.

Seine eifrige Aufmerksamkeit auf sich zu spüren.

Es war schön, wahrgenommen zu werden.

2. KAPITEL

Geduckt betrat Adelaide die schwach beleuchtete Kabine des kleinen Flussschiffes. Die ganze Welt musste es für einen ganz normalen Kahn halten, der seinen Geschäften nachging: der Auslieferung von Kohle oder Weizen oder irgendeiner anderen gewöhnlichen Fracht. Von außen schien es unvorstellbar, dass dieses winzige Gefährt etwas Interessantes an Bord hatte, und schon gar nicht vier interessante Dinge.

Doch wie der Tag bereits gezeigt hatte, konnte der Schein trügen.

Im Inneren stapelte sich keine Fracht auf ihrem Weg nach Richmond. Keine Kohlen, die zu den luxuriösen Herrenhäusern östlich der City befördert wurden. Keine Bündel, die am Hafen von London entladen wurden.

Stattdessen verbarg sich im Inneren des Bootes, versteckt hinter Sichtblenden, ein verschwenderisch ausgestatteter Raum. Niemand sollte die Seiden- und Satinbespannungen an den Wänden sehen oder die beeindruckenden Möbel und weichen Kissen, die den Raum ausfüllten und ihn zu einem idealen Gefährt machten, um sich still und unbemerkt durch die Stadt zu bewegen. Und so bekam niemand mit, dass sich vier der mächtigsten Frauen Londons darin aufhielten.

Natürlich würden die meisten Londoner nicht wissen, dass die vier fraglichen Frauen überhaupt mächtig waren, und die fraglichen Frauen hatten auch nicht die Absicht, das richtigzustellen.

Geringe Erwartungen halfen vorzüglich dabei, Dinge geheim zu halten.

„Perfekter Zeitplan, wie immer“, sagte Adelaide und zog das Notizbuch aus der Tasche, das sie den Bully Boys gestohlen hatte. Sie legte es auf den niedrigen Tisch und ließ sich auf ein Sofa direkt an der Tür fallen. Lady Sesily Calhoun, ihre Freundin und Vertraute – und Gemahlin des Kapitäns des Gefährts – reichte ihr eine Tasse Tee.

„Bist du dir sicher, was den Zeitplan angeht?“, fragte Sesily beiläufig.

Adelaide trank. „Dass es perfekt war? Das bin ich.“

„Wenn man flüchten will, kann das vielleicht sein“, sagte Sesily. „Aber ich muss dir sagen …“

„Es hatte nicht den Anschein, als würdest du gerne flüchten, Adelaide.“ Die wilden schwarzen Locken von Lady Imogen Loveless zitterten vor Aufregung, als sie sich auf ihrem Platz auf der anderen Seite der Kabine vorbeugte.

Sie hatten den Kuss gesehen. Adelaide trank noch mehr Tee, bedachte ihre Antwort und entschied sich schließlich für ein lahmes: „Ich weiß nicht, was ihr meint.“ Sie stellte die Tasse auf die Untertasse und beugte sich vor. Demonstrativ schaute sie auf den blauen Aktendeckel auf dem Tisch, verziert mit einer indigofarbenen Glocke. Sie öffnete ihn und betrachtete das Dokument darin. Es handelte sich um ein vollständiges Dossier über einen gewissen Lord John Carrington. Er war zufällig der jüngere Bruder eines gewissen Henry Carrington, des Duke of Clayborn, den Adelaide gerade im Hafen geküsst hatte.

Zufällig war der entscheidende Punkt. Es gab keinen Grund, mit ihren Freundinnen über diesen Kuss zu diskutieren. Nicht den geringsten. Er hatte nichts mit dem Dossier in ihren Händen zu tun.

Außerdem würden sie ihr diesen Moment der Schwäche stets vorhalten. Und genau das war es gewesen: ein Moment der Schwäche. Sie sah sich das Dossier wirklich nur an, um sich mit Clayborns Bruder vertraut zu machen. Ganz gewiss suchte sie nicht nach Informationen über den Duke.

Warum sollte sie?

Ihr Herz begann zu pochen, und sie zwang sich, ruhig zu fragen: „Wie spät ist es?“

„Wir haben noch genügend Zeit und werden rechtzeitig dort sein“, sagte Sesily und zerrte alles hervor, was Adelaide verbergen wollte. „Wer war das?“

Hatten sie ihn etwa nicht erkannt? Seine Bartstoppeln taugten wenig, um seine wahre Identität zu verbergen, und sie hatte auf der Stelle gewusst, wer er war. So wie er mich erkannt hat. Trotzdem fragte sie unverfroren: „Wer war was?“

Ihre Freundinnen taten nicht einmal so, als hätte sie die Frage gehört. Natürlich nicht. Sie hatten zu viel gesehen, zu viel begriffen. Das war schließlich ihre Aufgabe, nicht wahr?

„Das war kein Bully Boy“, sagte Imogen.

Adelaide erschauderte. „Gott bewahre!“ Er hatte gesagt, er hätte sie beschützt.

„Ein alter Freund?“, bot Sesily an.

„Ganz und gar nicht“, sagte Adelaide, und das entsprach immerhin der Wahrheit. Auf der Nordseite des Flusses hatte sie nicht mehr als zwanzig Worte mit dem Duke of Clayborn gewechselt, und während dieser kurzen, grässlichen Momente hatte sie geschworen, niemals mit diesem schrecklichen Mann Freundschaft zu schließen. Stattdessen hatte sie mehr Zeit als üblich damit verbracht, hinter das Geheimnis des Mannes zu kommen, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben.

Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass seine einzigen Geheimnisse gar nicht seine eigenen waren, sondern die seines Bruders, und die wurden in diesem Dossier in ihrer Hand aufgezählt. Demonstrativ blätterte Adelaide die Seiten durch, als hätte sie sich nicht längst jedes Detail gemerkt. „Er war … niemand.“

Blinzelnd und mit ausdrucksloser Miene sahen die beiden sie an, ehe Sesily zu lachen begann. „Wir sollen dir also glauben, dass du, Adelaide Frampton, irgendeinen … Niemand geküsst hast?“

„Ohne jeden Grund?“, fügte Imogen hinzu.

„Am helllichten Tag?“ Sesily schon wieder.

„Es war schon dämmrig“, wandte Adelaide ein.

„Während du darauf gewartet hast, dass wir dich einsammeln?“, erwiderte Imogen.

„Nachdem du ein klitzekleines Verbrechen begangen hast?“

Adelaide setzte ihre Teetasse ab und stand auf, nahm ihre Schirmmütze ab und öffnete die Knöpfe an der maßgeschneiderten Weste, die die Näherin der Gruppe für sie entworfen hatte.

Sesily beobachtete sie einen Moment, ehe sie hinzufügte: „… in Hosen.“

Adelaide rückte ihre Brille zurecht. „Ich war perfekt getarnt.“

„Natürlich. Niemand achtet auf eine Dame, die in Hosen am Fluss entlangrennt“, neckte Sesily mit einem boshaften Grinsen. „Schon gar nicht, wenn sie in der Dämmerung gut aussehende Männer küsst.“

„Warum sollten sie?“, fragte Adelaide schnippisch. „Du hast das doch auch schon gemacht.“

Sesilys Lächeln wurde breiter, eine Reihe schimmernder weißer Zähne blitzte auf. „Das habe ich in der Tat. Aber von mir erwartet man es auch.“

Das stimmte, Sesily war bekannt für ihre Skandale. Sie war die Tochter eines frisch gebackenen Earls und seiner dreisten Countess. Bis vor wenigen Monaten war sie unverheiratet gewesen, dreißig Jahre alt, reich, wunderschön und mit der absoluten Furchtlosigkeit, nach der jede Frau streben sollte. Natürlich mochte die feine Gesellschaft keine furchtlosen Frauen, also hatte sie jahrelang versucht, Sesily auszuschließen. Hinter ihrem Rücken nannte man sie Sexily, ohne zu begreifen, dass der Name ihr noch mehr Freiheiten gewährte. Noch mehr Macht.

Doch Sesily küsste nicht länger gut aussehende Männer in der Dämmerung. Sie küsste einen gut aussehenden Mann. Caleb Calhoun, der auf dem Deck stand und das Boot steuerte.

Adelaide warf ihrer Freundin einen vernichtenden Blick zu. „Glaubst du etwa, ich habe am Hafen gestanden, auf euch gewartet und mich gefragt ‚Nun, Adelaide, was würde Sesily tun?‘“

Sesily lachte. „In diesem Fall hast du es genau richtig gemacht.“

„Wenn ihr beide dann fertig wärt“, erklang eine neue Stimme von der anderen Seite der Kabine. Die Duchess of Trevescan war in vielen feineren Kreisen von Mayfair schlicht als die Duchess bekannt, als wäre sie die einzige Vertreterin dieses Titels – schön, anmutig, reich, mächtig. Ihre Freundinnen dagegen nannten sie schlicht Duchess. Der Duke glänzte durch lange Zeiten der Abwesenheit, und er interessierte sich keinen Deut dafür, was seine Gemahlin mit ihrer Zeit oder ihren Mitteln anstellte, wie das Fahrzeug bewies, in dem sie in diesem Moment so behaglich reisten.

Als Adelaide sich zur Duchess umdrehte, fiel ihr Blick auf die Zeitung in der Hand der Frau, die mit einer fetten Schlagzeile aufmachte.

Unterrock-Justiz? Oder hübscher Selbstschutz?

„Sie schreiben uns immer noch sämtliche Verbrechen in ganz London zu, wie ich sehe“, sagte Adelaide. „Also ist die Welt noch in Ordnung.“ Mehrere Jahre hatten die vier unbemerkt von Scotland Yard gearbeitet, bis sie vor einem Jahr einen kleinen Aufstand organisiert hatten, mit dem sie die Aufmerksamkeit der Metropolitan Police und daraufhin auch der Zeitungen auf sich gezogen hatten. Es gab wohl niemanden, der lieber Gerüchte über Damen hörte, als ein Zeitungsreporter.

„Heute geht es nicht um irgendein Verbrechen“, sagte Duchess. „Sondern um ein ganz besonderes.“

„Welches?“

„Lord Dravens Missgeschick auf dem Ball der Beaufetheringstones.“ Es war eine freundliche Umschreibung der Tatsache, dass der Mann drei Stockwerke tief in den Tod gestürzt war. „Offenbar hatte man eine Frau vom Tatort fliehen sehen“, fuhr Duchess fort. „Wie wir alle wissen.“

Lady Helene, die Tochter des Marquess of Havistock, war vor zwei Wochen ebenfalls vor Ort gewesen, als ein gewisser Lord Draven – ein abstoßender, unangenehmer Mann – mausetot in Lady Beaufetheringstones preisgekrönten Rosen gelegen hatte.

Der Vater der Dame war nicht nur ebenfalls am Tatort gewesen – er hatte den Mord begangen. Havistock entstammte einer adligen Familie, die ihr Vermögen der Misshandlung und Ausbeutung von Menschen überall auf dem Globus verdankte. Allein in London besaß er mehrere Fabriken, in denen die Menschen unter verabscheuungswürdigen Bedingungen schufteten. Oftmals waren diese „Arbeiter“ ausgeliehen aus den Armenhäusern von South Bank. Doch das waren keine Arbeiter. Es waren Kinder, verletzlich und vergessen. In den Augen von Männern wie Havistock waren sie vollkommen entbehrlich.

Wie viele andere stand der Marquess of Havistock seit Jahren auf Adelaides Liste. Sie hatte darauf gewartet, dass der Mann etwas tat, das ihm für immer den Garaus machen würde, und hier war die Gelegenheit. Die meisten Adligen vergaßen nur zu gern, wie Havistock an sein Vermögen gekommen war, aber dass er einen der Ihren getötet hatte, würden sie ihm nie verzeihen.

Alles, was die Gruppe brauchte, war ein Beweis. Und den konnte ihnen Lady Helene, Havistocks eigene Tochter, liefern, sobald sie sie aus dem goldenen Käfig im Londoner Haus ihres Vaters befreit hatten.

„Sie glauben also, wir hätten Draven gestoßen.“ Als die Duchess nickte, fügte Adelaide hinzu: „Und du hast dafür gesorgt, dass sie es denken.“

„Ich habe Mr. und Mrs. West am letzten Dienstag meine Aufwartung gemacht.“ Duncan West, der Besitzer der News of London, und seine Gattin kannten jeden, den man in Großbritannien zu kennen wünschte. „Es könnte mir herausgerutscht sein, dass ich gehört habe, nicht eine einzelne Frau, sondern eine ganze Meute von ihnen hätte den Tatort verlassen.“

Sesily hob eine Braue. „Wir haben doch gewiss etwas Besseres verdient als Meute.“ Sie hielt kurz inne. „Rudel? Schwarm?“

„Eine Gruppe Raben nennt man ein Ärgernis“, schlug Imogen vor.

Sesily hob eine Braue. „Das gefällt mir.“

Adelaide lachte, ließ jedoch Duchess nicht aus den Augen. „Ich habe Havistock an dem Abend bestohlen. So sind wir an die Abrechnungen seiner Fabriken gekommen.“ Der Marquess hatte das kleine Büchlein, nicht unähnlich jenem, das sie gerade in Lambeth gestohlen hatte, kaum aus den Augen gelassen. Es enthielt Informationen über seine fünf Fabriken, einschließlich der Anzahl der Arbeiter, Schichtpläne, den Zahlungen an die Armenhäuser für die Überlassung der Kinder und mehr.

„Und aus Whitehall kommt kein Ton dazu“, sagte Sesily. „Havistock hat sich zweifelsohne entschieden, unser kleines Verbrechen nicht zu melden, um nicht die Aufmerksamkeit für sein großes auf sich zu ziehen. Ehrlich, ich bin ein wenig beleidigt. Wenn wir jemanden loswerden wollen, machen wir das öffentlich. Nicht, indem wir jemanden vom Balkon werfen.“ Adelaide stimmte ihr zu. Die Gruppe hatte ihren Spaß daran, Männer zu bestrafen, die denjenigen übel mitspielten, die weniger Macht hatten als sie. Aber sie taten alles, um eine Mordanklage zu vermeiden.

„Gleichwohl gefällt den Zeitungen die Geschichte von den geheimnisvollen Frauen, die von allen verachtet werden“, sagte Duchess.

Adelaide schnaubte. „Als würde man die Wahrheit über die Welt nur erkennen, wenn man von einem Mann verachtet wird.“

„Als würde man geheimnisvoll, wenn man verachtet wird“, fügte Sesily hinzu.

„Sind wir denn geheimnisvoll?“, fragte Imogen.

„Nicht, wenn du etwas dazu zu sagen hast, Imogen“, erwiderte Adelaide.

Imogen, die versessen war auf alles, was in die Luft flog, lächelte breit. „Ich liebe große Auftritte.“

„Du lässt es gerne krachen“, sagte Duchess. „Zum Glück für dich rechnet niemand damit, dass du tatsächlich dazu imstande bist.“ Adelaide konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie die Worte hörte. Niemand kam jemals auf die Idee, dass Frauen richtigen Schaden anrichten könnten.

Niemand rechnete mit Frauen, niemals.

„Das Problem ist“, fügte Duchess hinzu, „dass Havistock nicht nur wahnsinnig, sondern auch gerissen ist. Vermutlich wird er nicht eher ruhen, bis er herausgefunden hat, wer seinen Mord an Lord Draven beobachtet hat. Diese Person, Lady Helene, ist in Gefahr. Es wird keine Rolle spielen, dass sie seine Tochter ist, er wird sie umbringen, wenn er herausfindet, was sie gesehen hat. Und wenn er feststellt, dass sie davongelaufen ist … Er wird vor nichts zurückschrecken, um sie zurückzubekommen.“

Adelaide zuckte bei den Worten zusammen und erschauderte, als sie den Gedanken weiterspann. „Oder um sie zum Schweigen zu bringen.“

Das Quartett verstummte. Seit Jahren kämpften sie gegen die übelsten Bewohner Londons, diejenigen, die ihr Geld und ihre Macht missbrauchten, um alle, die schwächer waren, weiterhin zu unterdrücken. In dieser Zeit waren sie mehr Männern begegnet, die aus Machtgier ihr eigenes Kind verschwinden lassen würden, als sie zählen konnten.

Lady Helene wusste, wozu ihr Vater fähig war, und hatte sich an sie gewandt. Sie war den Gerüchten über ein geheimnisvolles Quartett von Frauen gefolgt, die an jenen Männern Gerechtigkeit übten, die zu mächtig waren, um sie auf dem üblichen Weg zu belangen.

Wie Dutzende junger Frauen vor ihr, die Zeuginnen schrecklicher Geschehnisse geworden waren, hatte Helene ihnen über eine vertrauenswürdige Dienstbotin eine Nachricht zukommen lassen, weitergereicht von einem Hausmädchen zum nächsten, bis sie schließlich die Duchess of Trevescan erreicht hatte. Diese war sofort tätig geworden und hatte dafür gesorgt, dass die junge Dame nie wieder unter dem Dach ihres Vaters schlafen musste.

Die Duchess hatte die Nachricht umgehend beantwortet und Lady Helene angewiesen, sich um Punkt sieben Uhr an diesem Abend bereitzuhalten. Sie sollte mit einer Tasche warten und würde dann von Havistock House fortgebracht werden.

Als Ablenkungsmanöver würde sich Adelaide zur gleichen Zeit mit der Mutter der jungen Frau treffen, damit Lady Helene einen Vorsprung hatte, bevor der gesamte Haushalt der Havistocks sich auf die Suche nach ihr machte. Einschließlich ihres schrecklichen Vaters.

Wenn London begriff, dass die junge Frau verschwunden war, würde sie längst im Stadthaus der Duchess in Mayfair Unterschlupf gefunden haben. Niemand aus der feinen Gesellschaft würde erfahren, dass sie bei Scotland Yard eine Zeugenaussage gemacht hatte. Und während sie nichts anderes zu tun hatte, als es sich mit dem Mann, den sie heiraten würde, behaglich zu machen, würden Duchess, Sesily, Adelaide und Imogen die Arbeit von mehreren Monaten zu Ende und ihren Vater vor Gericht bringen.

Wenn alles nach Plan verlief, war die Sache in zehn Tagen erledigt, und natürlich würde alles glattgehen. Kein Plan widersetzte sich der Duchess.

„Also, wie sieht es aus? Adelaide, ich gehe davon aus, dass dein Besuch bei den Bully Boys ein Erfolg war?“

Adelaide griff nach dem kleinen Buch auf dem Tisch und warf es Duchess zu, die es geschickt auffing. „Gut gemacht“, sagte Duchess und blätterte durch die hingekritzelten Notizen. Imogen beugte sich vor und nahm das Holzkästchen, während Sesily Adelaide beim Umkleiden half. „Ich denke, Alfie Trumbull wird es gar nicht gefallen, die Pläne sämtlicher Waffenlager im Umkreis von zwanzig Meilen verloren zu haben.“ Sie schaute auf. „Irgendwelche Probleme?“

„Ein paar Überraschungen, aber nichts, mit dem ich nicht klargekommen wäre.“

Die blauen Augen der Duchess wurden schmal. „Was für Überraschungen?“

Der Duke of Clayborn war dort.

Sie sollte es sagen, es war wichtig. Er war kein Narr. Sie hatte sein geheimnisvolles Holzkästchen an sich genommen, und es würde nicht lange dauern, dann würde er anfangen, Fragen über sie zu stellen. Er würde versuchen, zu verstehen, was genau sie mit South Bank verband – Fragen, die sie alle und ...

Autor

Sarah Mac Lean
<p>Sarah MacLean wurde in Rhode Island geboren und besuchte die Harvard University, bevor sie ihren ersten historischen Roman schrieb. Bereits ihr Debüt landete auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Die zweimalige Gewinnerin des begehrten RITA-Awards verfasst regelmäßig Zeitungskolumnen über Liebesromane und engagiert sich zudem für Feminismus. Mit ihrem Ehemann lebt Sarah MacLean in...
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