Der Highlander und die irische Braut

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Als ein Skandal ihren Ruf bedroht, verbannen ihre Eltern die lebenslustige Miss Kathleen Calvert auf ein abgelegenes Anwesen in den Highlands. Dort soll die junge Irin endlich damenhaftes Benehmen lernen. Doch Kathleen fürchtet, vorher vor Langeweile zu sterben! Sogar die schottischen Männer findet sie einschläfernd – besonders Grant Kendrick, ihren einzigen Bekannten. Zwar sieht er aus wie ein unbezwingbarer Highlandkrieger, aber leider ist er lediglich ein überaus nüchterner Geschäftsmann. Als jedoch ihre Kutsche von Dieben überfallen wird und er ihr zu Hilfe eilt, muss Kathleen ihre Meinung ändern. Könnte ihre Zeit in den Highlands womöglich abenteuerlicher werden als gedacht?


  • Erscheinungstag 09.09.2023
  • Bandnummer 395
  • ISBN / Artikelnummer 0871230395
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

1. KAPITEL

Mayfair, London,

September 1823

Aber wenigstens trugen Denny und ich keine echte Toga.“ Kathleen Calvert wusste genau, dass ihre dümmliche Bemerkung das drohende Unheil nicht würde abwenden können.

„Ich hätte Togen lustig gefunden“, meinte Jeannie schwärmerisch.

„Leider sind sie nicht sehr praktisch.“ Caras Erwiderung klang, als führten sie eine ganz und gar normale Unterhaltung. „Ich kann mir jedenfalls bis heute nicht erklären, wie es den Römern damit gelang, ihren Alltag zu bestreiten.“

Kathleen seufzte unhörbar. Es war lieb von ihren Stiefschwestern, dass sie versuchten, ihr das Donnerwetter, das vor ihr lag, zu ersparen.

Besagtes Donnerwetter war im Begriff, in Gestalt von Lady Helen Gorey über sie hereinzubrechen, Kathleens Stiefmutter und der Fluch ihres Daseins.

Helen starrte ihre Töchter nieder, dann richtete sie ihren eisigen Blick auf Kathleen. Niemand beherrschte eisige Blicke besser als Baroness Gorey. Sie schrie nicht, schimpfte nicht, brachte kein einziges der perfekt liegenden Haare ihrer perfekten Frisur durcheinander. Sie begrub einen einfach unter ihrer kalten Verachtung, und dieses Mal würde sie Kathleen ganz bestimmt so weit fort und so lange verbannen, wie sie nur konnte.

„Deine unablässigen Versuche, dein skandalöses Benehmen herunterzuspielen, sind äußerst ärgerlich, Kathleen. Besonders für deinen armen Vater“, begann Helen ungnädig.

„In der Tat, mein liebes Kind“, ergriff ihr Vater das Wort. „Ich wünschte, du …“

„Das Gerede möchte ich mir gar nicht vorstellen“, unterbrach Helen ihn rücksichtslos. „Wahrscheinlich werden wir das Haus monatelang nicht verlassen können.“

Eine lächerliche Behauptung, aber es stimmte, dass sie sich praktisch in dem kleinen hinteren Salon versteckten. Der einladende Raum war mit dick gepolsterten chintzbezogenen Sesseln und einem ziemlich heruntergekommenen Samtsofa möbliert, das unter den Bergen von Kissen kaum zu erkennen war. Auf den Beistelltischen lagen Bücher und Handarbeiten neben den Blumenvasen, beim Fenster stand eine Staffelei mit einem halb fertigen Landschaftsgemälde, daneben ein Korb mit Zeichenutensilien. Alles zusammen schuf eine fröhliche Atmosphäre, doch auf Helens elegante Seele wirkte das behagliche Chaos wie eine Beleidigung, und so war der Salon zum privaten Refugium der Schwestern geworden, während die Baroness ihn nur höchst selten betrat.

Dieser Morgen jedoch war eine jener Gelegenheiten. Die Familie drängte sich um den Mahagoni-Teetisch, als gälte es, sich gegen eine Invasion feindlicher Streitkräfte zu wappnen, was nach Kathleens Meinung als eine ziemlich zutreffende Beschreibung für den ton durchgehen konnte.

Jeannie, die neben ihr auf dem Sofa saß, schnaubte bei der dramatischen Einschätzung ihrer Mutter. „Es ist ja schließlich nicht so, als wäre bei Kathleen im Oberstübchen etwas nicht richtig, Mama. Sondern bei dem blöden Denny Barlow. Kathleen kennt ihn noch aus Irland, und er ist ihr bester Kumpel. Das Rennen haben die beiden doch bloß aus Jux veranstaltet.“

Helen richtete ihren Basiliskenblick auf die Sechzehnjährige, und es war ein Wunder, dass die arme Jeannie nicht zu Stein erstarrte und in tausend Stücke zerbarst.

„Ich verbiete dir, solche schrecklichen Ausdrücke zu benutzen, Jeannette. Wenn du dich nicht anständig benehmen kannst, gehst du auf dein Zimmer. Auf unbestimmte Zeit.“

„Aber Mama“, protestierte Jeannie, „es ist doch so, dass …“

„Es ist doch so, dass ich einen kapitalen Fehler gemacht habe“, fiel Kathleen ihr ins Wort, „und es spielt keine Rolle, dass Denny dabei war. Es geht um das, was ich getan habe, und nicht darum, mit wem.“

„Aber ihr habt doch nur eine Dummheit gemacht“, meldete Jeannie sich wieder zu Wort. „Und euch nichts dabei gedacht.“

Kathleen musste sich zwingen, die Worte zu sagen, doch sie tat es für ihre Schwester. „Trotzdem war es falsch von mir.“

Von seinem Sessel vor dem Kamin her warf ihr Vater seiner Frau einen abwägenden Blick zu. Als er seufzte, verlor Kathleen den Mut. Ihr Vater legte sich nur selten mit Helen an, und darin würde er sich auch heute treu bleiben.

„Es freut mich, dass du so einsichtig bist.“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Aber leider löst es unser Problem nicht, Kathleen. Wir müssen uns dem Urteil deiner Stiefmutter fügen, da sie besser weiß, wie dieser Vorfall von unseren Freunden und von der Gesellschaft im Allgemeinen beurteilt wird.“

Cara rutschte unbehaglich auf ihrem gepolsterten Schemel hin und her und verzog das Gesicht. „Nicht gut, könnte ich mir vorstellen.“

Mit neunzehn verfügte Cara über eine anmutige Reife. Sie war groß gewachsen und biegsam, hatte blaue Augen wie ihre Mutter, weizenblondes Haar und ein sanftes Wesen, das ihr zusammen mit ihrem Aussehen bereits mehrere ernstzunehmende Bewunderer beschert hatte.

„Das, mein liebes Kind, ist eine gelinde Untertreibung“, erwiderte Helen schmallippig. „Ein solches Spektakel zu veranstalten, und dann auch noch vor Tau und Tag in Hampstead Heath und ausgerechnet mit diesem Tölpel Dennis Barlow! Das Verhalten deiner Stiefschwester ist inakzeptabel.“

Wie gewöhnlich betonte sie die überaus wichtige Vorsilbe Stief, um zu verdeutlichen, dass Kathleen die ungestüme irische Außenseiterin war und keine echte Gorey, jedenfalls soweit es Helen anging.

Kathleen konnte nicht anders und schlug zurück. „Ehrlich gesagt, Mutter, war es mehr als ein Spektakel. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen, bei dem die Peitschen knallten wie bei den Wagenlenkern im antiken Rom. Ich bin sicher, wir haben sämtliche Geschwindigkeitsrekorde gebrochen.“

In Wirklichkeit war es nicht mehr als eine Spritztour auf der Landstraße gewesen, verdammt unterhaltsam und eine willkommene Flucht aus der Langeweile. Dass sie so getan hatten, als handelte es sich um ein Wagenrennen, war nur ein dummer Scherz zwischen zwei alten Freunden. Doch gemessen an den Wellen, die die Sache jetzt schon schlug, hätte es sich genauso gut um eine antike Massenunterhaltung handeln können.

Jeannie ließ ein schelmisches Lächeln aufblitzen. „Habt ihr beim Kutschieren gestanden wie Wagenlenker?“

Kathleen war versucht, die Sache auszuschmücken, doch dann erhaschte sie einen Blick auf die Miene ihres Vaters. „Nein, meine Liebe, wir saßen, ganz wie es sich gehört. Schließlich wollten wir keinen Kutschenunfall oder eine Verletzung der Pferde riskieren.“

Sie konnte es dem armen Denny nicht verdenken, dass er versucht hatte, ihr die Idee auszureden. Es war ihm nie gelungen, Nein zu sagen, wenn sie ihn herausgefordert hatte, nicht einmal in ihrer Kindheit in Irland. Im Gegensatz zu Helen hatte Kathleens Mutter sich nie über ihre Streiche aufgeregt, sondern ihnen nur ans Herz gelegt, gut auf sich achtzugeben, ehe sie nach draußen gestürmt waren, um in den Wäldern und auf den Feldern von Greystone Court, dem Familiensitz der Goreys, zu spielen.

„Ich weiß genau, was du getan hast.“ Helen machte eine wirkungsvolle Pause. „Immerhin erhielt ich eine peinlich genaue Beschreibung von Mrs. Carling – die eine nicht weniger detaillierte Beschreibung von ihrem Sohn erhielt.“

Der abstoßende Philip Carling und sein ebenso abstoßender Freund, Archibald Fenton, waren verantwortlich für Kathleens jetzigen Untergang. Die beiden Hornochsen hatten sich auf dem Heimweg von einer nächtlichen Sauftour befunden, und Philip war herangeritten und hatte offenen Mundes beobachtet, wie Kathleen ihren Phaeton zum Stehen brachte. Dann war er losgaloppiert, als wären alle Teufel hinter ihm her, und Archie hatte sich ihm an die Fersen geheftet.

Carling hatte es sofort seiner Mutter erzählt, Flegel, der er war. Mrs. Carling, eine der schlimmsten Klatschbasen des ton, hatte umgehend eine genüsslich entsetzte Nachricht an ihre liebe Freundin, Lady Gorey, gesandt, und kaum war Kathleen zu Hause eingetroffen, war die Hölle losgebrochen.

Zum Teufel mit Philip und seinem großen Maul.

Und zum Teufel mit ihr.

„Philip Carling ist kein Gentleman, wenn er Gerüchte verbreitet“, sagte ihr Vater zu Kathleens Überraschung. „Ein erwachsener Mann, der mit seiner dummen Mutter tratscht. Lächerlich.“

Helen presste sich eine Hand auf das spitzenbesetzte Mieder ihres modischen Morgenrocks. „Olivia Carling ist eine meiner besten Freundinnen, Liebster. Ich teile deine Meinung, was Philip angeht, doch seine Mängel sind kaum seiner Mutter anzulasten. Philips Vater ist viel zu nachsichtig mit ihm. Du dagegen würdest Richard niemals gestatten, so schändlich zu handeln.“

Richard, Kathleens älterem Bruder, der einmal den Titel erben würde, war das Familientreffen erspart geblieben. Er hielt sich in Wiltshire auf, wo er die Gastfreundschaft des Marquess of Bevington genoss.

Glückspilz.

Ihr Vater schnalzte leise mit der Zunge. „Nun ja, meine Liebe …“

„Und Olivia wollte mich lediglich warnen“, fügte Helen leidend hinzu. „Vorfälle wie dieser sprechen sich immer herum …“

„Dank ihrer Mithilfe“, konnte Kathleen sich nicht zurückhalten zu erwähnen.

Unter Helens Blick drohten die Korkenzieherlocken an Kathleens Schläfen zu gefrieren. Doch ihre Stiefmutter fasste sich schnell und setzte eine ebenso verletzte wie stoische Miene auf, als wäre sie es, die die Gesellschaft schneiden würde, nicht Kathleen.

„Wenn du das Gefühl hast, dass Olivia zu weit gegangen ist, mein Lieber, werde ich es ihr sagen. Es wird entsetzlich unangenehm sein, doch es liegt mir fern, gegen deine Wünsche zu handeln.“

Angst flackerte in den Augen ihres Vaters auf. „Oh, ich habe keine Ahnung, wie man am besten mit gesellschaftlichen Skandalen umgeht. Ich überlasse das ganz und gar dir, meine Liebe.“

Kathleen seufzte unhörbar. Wie gewöhnlich, hatte ihr Vater rasch vor seiner Ehefrau kapituliert.

Es nützte nichts, sich darüber zu ärgern.

„In Ordnung, Papa, wie soll ich für mein Vergehen büßen?“

Wieder schnalzte er leise mit der Zunge. „Kein Grund, dramatisch zu werden, meine Liebe. Schließlich ist es unseren Freunden nicht entgangen, dass du ein bisschen …“

„Exzentrisch bist?“, beendete Kathleen den Satz trocken.

„Nun ja, ungestüm“, korrigierte er freundlich.

Genervt stieß Helen die Luft aus. „Kathleens Benehmen ist mit Begriffen wie ungestüm und exzentrisch nicht mehr zu beschreiben. Die Folgen ihres Verhaltens könnten insbesondere für Richard verheerend sein.“

Ihr Vater runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, was du meinst, meine Liebe.“

„Wir haben allen Grund anzunehmen, dass Richard und Lord Bevingtons Tochter sich verloben.“ Helen straffte die Schultern. „Deshalb ist er nach Wiltshire gefahren, wie du dich sicher erinnerst.“

„Daran kann gar kein Zweifel bestehen“, mischte Kathleen sich ein. „Richard und Melina himmeln sich seit Wochen an. Denny meint, dass man bei White’s sogar auf die Verlobung wettet.“

Helen sah aus, als hätte sie einen Pfirsichkern verschluckt. „Wie schrecklich. Darf ich euch alle daran erinnern, dass Lord Bevington der Verbindung seinen Segen noch nicht erteilt hat? Er stellt außerordentlich hohe Ansprüche, und die Marchioness sogar noch höhere. Es ist sehr gut möglich, dass Seine Lordschaft Richards Bitte um die Hand seiner Tochter zurückweist, wenn unsere Familie in einen Skandal verwickelt wird.“

„Bestimmt nicht“, widersprach ihr Vater stirnrunzelnd. „Richard und Melinda passen außerordentlich gut zueinander.“

„Melinda gehört nicht zu den Mädchen, die ihren Eltern widersprechen.“ Helen musterte Kathleen mit einem ironischen Blick. „Sie ist eine brave, gehorsame Tochter und würde sich niemals auf eine Heirat einlassen, die ihr Vater nicht billigt.“

Kathleen verdrehte die Augen. „Hasenfuß.“

„Mama hat recht“, schaltete Cara sich ruhig ein. „Melinda gehorcht ihren Eltern aufs Wort.“

Kathleen war, als sackte ihr der Magen durch die Bodendielen und geradewegs in den Kartoffelkeller. „Wirklich?“

„Ich bin mit ihr zur Schule gegangen. Sie ist sehr fügsam.“

„Und angesichts ihres vorbildlichen Charakters und ihrer großzügigen Mitgift dürfen wir uns glücklich schätzen, wenn Seine Lordschaft Richards Werbung auch nur in Erwägung zieht.“

„Jetzt aber langsam.“ Kathleen klang ungehalten. „Die jungen Damen liegen Richard zu Füßen. Melinda ist es, die sich glücklich schätzen kann, wenn ihr mich fragt.“

„Dich fragt aber keiner“, erwiderte ihr Vater knapp.

Es hatte ihn eindeutig verunsichert zu hören, wie bedeutend die Verbindung war. Die Goreys waren alles andere als arme Schlucker, aber Melindas Familie besaß enorme Reichtümer und großen Einfluss. Für Richard mit seinen politischen Ambitionen würde sich diese Heirat wirklich lohnen.

„Es tut mir leid, Papa.“ Kathleens Murmeln war kaum zu hören.

„Cara und Jeannette wären auch davon betroffen“, meldete Helen sich abermals zu Wort. „Wenn eine Tochter sich so unsäglich benimmt …“

„Ich debütiere erst nächstes Frühjahr“, rief Jeannie ihrer Mutter in Erinnerung.

„Das spielt keine Rolle.“ Helen winkte ungeduldig ab. „Bis heute Abend hat sich die Geschichte in der ganzen Stadt herumgesprochen. Ich wäre nicht überrascht, wenn Besucher …“

An der Eingangstür wurde der Türklopfer betätigt.

„Verdammter Mist“, murmelte der Baron.

„Sag jetzt bitte bloß nicht, dass ich Denny heiraten soll“, flehte Kathleen verzweifelt. „Schon allein, weil er niemals einwilligen würde.“

„Was das angeht, so bezweifle ich ohnehin, dass dich ein anständiger Mann heiraten würde“, gab Helen bissig zurück.

„Mama!“ Jeannie sprang auf. „So etwas sagt man doch nicht. Wenn ich ein Mann wäre, ich würde Kathleen sofort heiraten.“

Sanft zog Kathleen ihre Schwester auf das Sofa zurück. „Schon in Ordnung, Liebes. Jeder weiß, dass ich dir und Cara nicht das Wasser reichen kann. Ihr seid beide viel hübscher und netter als ich.“

„Auch du hast deine Vorzüge, Kathleen. Wenn du dich nur nicht so unvorteilhaft kleiden würdest.“ Helen schüttelte den Kopf. „Allein dieses Kutschenkleid. Welche Frau, die ihre fünf Sinne beisammenhat, trägt ein weißes Kleid, um einen staubigen Phaeton zu kutschieren? Obwohl ich zugeben muss, dass dir die Farbe gut steht.“

Kathleen blinzelte ungläubig. Sollte das ein Kompliment sein?

„Jedenfalls müssen wir dankbar sein, dass du nicht das hässliche rote Haar geerbt hast, das bei den Iren so häufig vorkommt“, ergänzte ihre Stiefmutter seufzend und ruinierte alles. „Und wenn du deine Sommersprossen mit Zitronenwasser bleichen würdest, hättest du einen viel hübscheren Teint.“

Kathleens Mutter, eine wirkliche Schönheit, hatte leuchtend kupferfarbenes Haar und smaragdgrüne Augen gehabt. Kathleen war nicht so begünstigt vom Schicksal. Sie hatte ganz gewöhnliches braunes Haar und Augen, deren grauer Farbton changierte. Und während ihre Mutter nur ein paar wenige bezaubernde Sommersprossen gehabt hatte, sah Kathleen aus, als hätte Gott sie mit Zimt gesprenkelt.

„Kathleens Sommersprossen sind wunderschön“, erklärte Jeannie im Brustton der Überzeugung.

Kathleen drückte ihre Schwester an sich. „Eher das Gegenteil. Und es gibt in ganz England nicht genug Zitronen, um sie aufzuhellen.“

„Da dich in den nächsten Monaten ohnehin kaum jemand zu Gesicht bekommen wird, spielt es keine Rolle“, eröffnete Helen ihr streng.

Kathleen seufzte. „Dann werde ich also aufs Land geschickt?“

„Jawohl, aufs Land. So lange wie nötig.“

Kathleen erstarrte, dann begann ihr Gehirn wieder zu arbeiten. Sollte es wirklich so einfach sein?

„Ich nehme an, es ist das Vernünftigste, mich nach Hause nach Irland zu schicken“, bemerkte sie leichthin. „Dann bin ich komplett von der Bildfläche verschwunden, und niemand verschwendet auch nur einen Gedanken an mich.“

Wenn sie nach Greystone durfte, war das jede Demütigung wert.

Ein höhnisches Grinsen zuckte um Helens Mundwinkel. „Ohne eine anständige Chaperone? Auf keinen Fall.“

„Meine frühere Gouvernante, Mrs. Clyde, könnte mich begleiten. Es wäre absolut respektabel.“

„Nein.“ Helen schüttelte den Kopf. „Sie hatte dich damals nicht im Griff, und ich fürchte, auch jetzt nicht.“

Praktisch die erste Amtshandlung, nachdem Helen ihren Vater geheiratet hatte, war die Kündigung Rebecca Forsters gewesen, Kathleens geliebter Gouvernante. Zum Glück hatte Rebecca kurz darauf Mr. Clyde kennengelernt, einen geachteten Anwalt aus Dublin, und ihn geheiratet. Kathleen und sie waren in Verbindung geblieben, und Kathleen war sicher, dass Rebecca für eine Zeitlang gern als ihre Anstandsdame fungiert hätte.

Sie beschloss, auf stur zu schalten, weil es um etwas ging, für das zu kämpfen sich lohnte. „Vielleicht könnte ich in Dublin …“

Von draußen drang eine Art unterdrücktes Jaulen an ihr Ohr, dann flog die Salontür auf, und eine hochgewachsene junge Frau, nach dem neuesten Schrei der Mode gekleidet, segelte in den Raum. Der Butler folgte ihr händeringend.

Mitten im Raum blieb Gillian Penley, Duchess of Leverton, stehen. Ihr belustigter Blick glitt über die verdutzt dreinschauenden Goreys. Dann zwinkerte sie Kathleen zu.

„Und wie geht es der Familie Gorey heute? Ein perfekter Tag, um sich mit einem Skandal zu befassen, oder etwa nicht?“

2. KAPITEL

Helen erholte sich als Erste. Jedenfalls, wenn man aufgestellte Stacheln wie bei einem Igel als Erholung bezeichnen wollte. „Jensen, was hat das zu bedeuten? Wir sind heute Morgen für niemanden zu Hause.“

Der arme Butler sah aus, als würde er gleich verrückt. „My… Mylady, ich habe versucht, es Ihrer Gnaden zu erklären, aber …“

„Ihre Gnaden wollte nichts davon hören“, beendete die Duchess den Satz gut gelaunt. „Und es hat keinen Zweck, so zu tun, als würde meine Hilfe nicht gebraucht.“

„Wir nehmen Ihre Freundlichkeit zur Kenntnis“, erwiderte Helen frostig, „aber es handelt sich um eine Privatangelegenheit, die wir ganz und gar ohne Hilfe bewältigen können.“

Nachdenklich tippte Gillian sich ans Kinn. „Mein Gatte teilt Ihre Auffassung nicht. Der Duke zeigte sich außerordentlich besorgt um unsere liebe Kathleen und bat mich, so schnell wie möglich herzukommen und meine Unterstützung anzubieten. Und hier bin ich, bereit, sie zu leisten.“

Angesichts der allgemein bekannten Abneigung des Duke of Leverton gegen jedwede Art von Skandal nahm Kathleen an, dass das Hilfsangebot Gillians Idee war. Aber Seine Gnaden war ein mächtiger Mann, und Kathleen konnte nur dankbar sein für seinen Beistand.

Ihr Vater hievte sich aus seinem Sessel hoch. „Verzeihung, Euer Gnaden. Wir sind einigermaßen erstaunt, Sie unter den gegebenen Umständen hier zu sehen. Und dann auch noch so rasch.“

Helen, an ihre Manieren erinnert, erhob sich ebenfalls und knickste leicht. „In der Tat. So früh am Tag erwarten wir normalerweise keine Besucher.“

„Verflixt.“ Kathleen biss sich auf die Unterlippe. „Das Gerede hat schon begonnen.“

Gillian wedelte mit einer Hand. „Kaum, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Was wir brauchen, ist ein Plan.“

Gillian war fünf Jahre älter als Kathleen und die illegitime Tochter eines der königlichen Dukes. Aufgewachsen auf einem abgelegenen sizilianischen Landsitz, hatte sie, als sie schließlich nach England zurückgekehrt war, sehr unter den einschränkenden Regeln der Londoner Gesellschaft gelitten. Dass ihr Vormund der distinguierte Charles Penley, Duke of Leverton, war, hatte es Gillian leichter gemacht, sich an die kniffligeren Seiten ihres neuen Lebens zu gewöhnen. Wichtiger noch, Leverton hatte sich wahnsinnig in sein Mündel verliebt, und Gillian, inzwischen Ehefrau des Dukes und Mutter zweier bezaubernder Kinder, war eine der bekanntesten, wenn auch der unkonventionellsten Damen des gesamten ton.

Kathleen bewunderte die Duchess, die ihr eine verlässliche und treue Freundin geworden war.

Helens Blick glitt zu ihren Töchtern, die Gillian verblüfft anstarrten. „Steht auf, Mädchen, und begrüßt Ihre Gnaden.“

Cara erhob sich und versank in einem eleganten Knicks. „Entschuldigung, Madam. Es ist mir eine Freude, Sie zu sehen, wie immer.“

„Heute Morgen wahrscheinlich nicht, Cara, aber es ist lieb gemeint von dir.“

„Euer Gnaden.“ Jeannie knickste ungeschickt.

Gillian lächelte freundlich. „Ach, Jeannette! Du bist ganz schön gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, und du bist genauso schön wie deine Schwestern. Ich wette, du hast ganze Heerscharen von Bewunderern.“

„Ich habe noch nicht debütiert, und ich treffe auch nicht viele junge Männer. Sie sind manchmal so …“ Jeannie runzelte die Stirn.

„Verwirrend?“, schlug Gillian versuchsweise vor. „So sehe ich es jedenfalls.“

„Ehrlich gesagt, mir sind Pferde lieber“, gestand Jeannie leise.

„Ich persönlich finde, Pferde sind leichter zu trainieren als der durchschnittliche Mann“, erwiderte Gillian ernst. „Und intelligenter sind sie manchmal auch.“

Jeannie entschlüpfte ein Kichern. Cara ebenfalls, doch dann erhaschte sie einen Blick auf die Miene ihrer Mutter und versuchte es zu unterdrücken.

„Meine Güte“, ließ der Baron sich leise vernehmen.

„Mädchen, ihr dürft euch zurückziehen.“ In Helens Stimme lag ein Befehl.

„Aber …“ Jeannie wollte widersprechen.

„Komm schon.“ Cara zog ihre widerstrebende Schwester mit sich aus dem Zimmer.

„Das wäre dann alles“, wandte Helen sich an den immer noch wie gelähmt dastehenden Butler. „Und sehen Sie zu, dass wir nicht noch einmal gestört werden.“

Gillians Brauen schossen in die Höhe. „Was denn, kein Tee?“

Kathleen konnte praktisch hören, wie ihre Stiefmutter mit den Zähnen knirschte, während Jensen erschrocken die Augen aufriss.

„Nun, also …“, stotterte der Butler.

„Lassen Sie nur“, beruhigte Gillian ihn. „Fort mit ihnen, Jensen, ehe Ihre Dienstherrin einen Anfall bekommt.“

„Also wirklich, Euer Gnaden“, murmelte Helen beleidigt, als der Butler hastig den Raum verließ.

„Ja, ich weiß, ich benehme mich unerhört.“ Anmutig ließ Gillian sich neben Kathleen nieder. „Aber ich bin wirklich hier, um zu helfen.“

Kathleen musterte sie neugierig. „Wie ist dir die Sache zu Ohren gekommen?“

„Charles hat am frühen Morgen einen Ausritt im Hyde Park gemacht und begegnete dort Mr. Carling, der es gar nicht erwarten konnte, ihm die Neuigkeiten mitzuteilen, die er gerade von seinem Sohn erfahren hatte.“

„Ich hätte nicht übel Lust, die ganze Familie umzubringen“, murmelte Kathleen verdrossen.

„Einverstanden, aber wir werden uns mit etwas weniger Drastischem begnügen müssen.“ Gillian lächelte schief. „Mit Skandalen kenne ich mich aus, wie du weißt.“

„Das ist wahrhaftig allgemein bekannt“, warf Helen schnippisch ein.

Der Baron sah aus, als wollte er jeden Moment im Boden versinken, doch die Duchess hob lediglich eine Braue und musterte Kathleens Stiefmutter mit einem Blick, der ebenso höflich wie verächtlich war. Die normalerweise durch nichts aus der Fassung zu bringende Helen wurde flammend rot.

„Ich verfüge über eine Menge Erfahrung, genau wie mein Ehemann“, erklärte Gillian ruhig. „Und er will helfen. Uns liegt viel an Kathleen.“

„Ihre Unterstützung ist uns sehr willkommen.“ Der Baron schoss Helen einen warnenden Blick zu. „Ich bin sicher, meine Gattin stimmt mir zu.“

Helen nestelte an ihren Röcken herum. „Verzeihen Sie, wenn ich einen anderen Eindruck erweckt habe, Euer Gnaden.“

Gillian kam von ihrem hohen Ross herunter. „Ich wette, Sie wünschen mich beide zum Teufel.“ Ihr Blick glitt zu Kathleen. „Den Zeitpunkt hast du nicht sonderlich gut gewählt, mein Liebes. Möglicherweise vermasselst du deinem Bruder die Verlobung.“

„Ja, ich … ich fürchte, daran habe ich keinen Gedanken verschwendet“, erwiderte Kathleen zerknirscht. In der Tat hatte sie nur an den Spaß gedacht, den sie bei dem Wettrennen haben würde.

Gillian tätschelte ihr den Arm. „Ein Rat für die Zukunft, meine Liebe. Vermeide Skandale, die andere mit hineinziehen. Dann erleidet wenigstens niemand außer dir selbst einen Schaden, wenn die Sache auffliegt.“

Kathleen musterte sie neugierig. „Hat es bei dir geklappt?“

„Meinem Ehemann zufolge nicht. Zum Glück liegen meine skandalösen Zeiten hinter mir.“ Gillian legte den Kopf schräg. „Ich glaube, es ist auch für dich Zeit, sie hinter dir zu lassen.“

„Dem können wir alle beipflichten“, ergänzte Helen trocken.

Kathleen hatte den Verdacht, dass sie auch in Zukunft noch für ein paar Skandale gut sein würde, doch sie gab sich Mühe, reumütig auszusehen.

Ihr Vater räusperte sich. „Wie hat der Duke auf Mr. Carlings Anschuldigungen reagiert, Euer Gnaden?“

„Er legte Carling nahe, seine wilden Spekulationen über Kathleen für sich zu behalten, und betonte, dass Carlings Sohn und dessen jämmerlicher Freund kaum als belastbare Zeugen angesehen werden können, zumal sie sturzbetrunken waren. Außerdem gedenkt der Duke, Lord Beverton eine entsprechende Nachricht zukommen zu lassen. Diesen Teil der Angelegenheit übernimmt er, keine Sorge.“

„Dann kann ich vielleicht doch in der Stadt bleiben?“, fragte Kathleen vorsichtig.

Nicht dass sie etwas dagegen gehabt hätte, London zu verlassen, aber wahrscheinlich würde sie zu einem von Helens furchtbaren Verwandten geschickt, die allesamt in den feuchten Gemäuern ihrer Anwesen in Yorkshire zu leben schienen, mit schlecht funktionierenden Kaminen und noch schlechteren Wasserleitungen.

„Oh nein, du wirst auf jeden Fall fortgeschickt“, erwiderte Gillian mitleidlos. „Solange der Täter nicht verschwindet, bleibt die Erinnerung an das Vergehen wach.“

„Und wenn ich mich so verhalte, dass niemand auch nur den leisesten Verdacht schöpfen wird?“ Kathleen überlegte. „Ich kann an den Wänden der Ballsäle sitzen wie das größte Mauerblümchen, das man je gesehen hat.“

„Im Gegenteil, die Leute werden schon jetzt einen Verdacht haben. Abgesehen davon ist es unmöglich, dich nicht zu bemerken.“ Gillian ließ ein Lächeln aufblitzen. „Das ist einer der Gründe, weshalb ich dich mag.“

Kathleen senkte den Blick. „Schön, dass es überhaupt jemand tut.“

„Kopf hoch, altes Mädchen.“ Gillian wandte sich zu Helen um. „Ich nehme an, Sie haben eine konkrete Vorstellung?“

„In der Tat. Sie soll den Winter in Schottland verbringen. Bei ihrer Cousine Sabrina.“

Kathleen fiel fast vom Sofa. Die schottischen Highlands im Winter? Das war ja noch schlimmer als Yorkshire. Selbst mit Sabrina.

Gillian nickte. „Hervorragend.“

Kathleen schnappte nach Luft. „Hervorragend? Es ist entsetzlich. Lieber gehe ich ins Gefängnis als in den Highlands für den ganzen verflixten Winter festzusitzen. Es ist das hinterletzte Nirgendwo.“

„Kathleen, achte auf deine Sprache!“ Ihr Vater klang ärgerlich. „Abgesehen davon magst du deine Cousine Sabrina doch.“

„Ja, aber …“

„Da Sabrina erst vor ein paar Monaten ihr Kind bekommen hat“, fiel Helen ihr ins Wort, „wird sie sich über deine Gesellschaft freuen. Wie sie es auf Lochnagar Manor aushält, verstehe ich nicht, aber dass das Anwesen so einsam liegt, kommt unseren Bedürfnissen sehr entgegen.“

Am Ende der Welt, und dann noch Babys.

Babys machten Kathleen Angst. Sie fürchtete immer, etwas falsch zu machen, sie am Ende auf ihre weichen kleinen Köpfchen fallen zu lassen.

„Auf keinen Fall“, erklärte sie fest. „Da will ich nicht hin.“

Helen ignorierte sie. „Sabrinas Charakter ist über jeden Verdacht erhaben, daher wird sie dafür sorgen, dass Kathleen das bisschen guten Ruf, das ihr nach diesem Vorfall noch geblieben ist, retten kann. Und bei dem Ausmaß des Schadens ist ein langer Aufenthalt unumgänglich.“

Mit zehn hatte Kathleen ihren Bruder einmal überredet, Preisboxkampf zu spielen. Es war ein großer Spaß gewesen, doch dann hatte Richard sie versehentlich in der Magengrube getroffen. Sie war keuchend zu Boden gegangen, und genauso fühlte sie sich auch jetzt. Die Tatsache, dass weder Gillian noch ihr Vater Helens harter Einschätzung ihres Rufs widersprachen, traf sie tief.

„Ich verstehe, dass ich fortmuss“, brachte sie schließlich hervor. „Aber Sabrina hat genug zu tun, auch ohne dass ich mich bei ihr einniste wie ein schlechter Geruch.“

Sabrinas Briefe bewiesen deutlich, dass sie glücklich war, aber auch alle Hände voll zu tun hatte mit ihren Pflichten als Ehefrau, Mutter und Herrin eines betriebsamen Anwesens.

Gillian schoss Kathleen einen kurzen Seitenblick zu, dann wandte sie sich zu ihren Eltern um und lächelte. „Lord Gorey, Lady Gorey, ich würde gern unter vier Augen mit Kathleen sprechen.“

Helens kratzbürstiger Ton wurde herrisch. „Die Entscheidung ist gefallen, Euer Gnaden. Ich wüsste nicht, was noch zu besprechen wäre.“

„Selbstverständlich, Euer Gnaden.“ Ihr Vater sprang auf und zog seine Gattin energisch auf die Füße. „Läuten Sie einfach, wenn wir wieder zurückkommen sollen.“

Er führte die widerstrebende Helen aus dem Zimmer.

Kathleen ließ sich gegen die Sofakissen sinken. Sie hatte Kopfschmerzen, wahrscheinlich brauchte sie dringend Kaffee.

Oder einen Brandy. Allerdings würde sie das Glas verstecken müssen, sonst bekäme Helen einen Anfall.

„Wie hältst du es nur mit ihr aus?“ Gillian schüttelte den Kopf. „Ich würde sie binnen eines Tages erstechen.“

Wenn auch nur die Hälfte der Geschichten über Gillian der Wahrheit entsprachen, handelte es sich nicht um eine leere Drohung.

„Jedenfalls hast du Helen in die Schranken gewiesen, insofern ist es glücklicherweise nicht nötig, sie zu erstechen.“

„Von meinem Ehemann weiß ich, dass Worte oder auch nur Blicke oft wirkungsvoller als Waffen sind. Nicht dass ich nicht stets ein Messer dabeihätte. Du würdest dich wundern, wie oft eine scharfe Klinge genau das Richtige ist.“

Kathleen brach in Gelächter aus, wahrscheinlich, weil ihre Nerven blanklagen. Es fühlte sich gut an nach diesem grässlichen Morgen.

„So ist es schon viel besser.“ Gillian grinste. „Sollen wir uns jetzt mit den harten Tatsachen befassen? Ich denke, wir müssen.“

Kathleens Erheiterung legte sich. „Es ist ziemlich schlimm, nicht wahr?“

„Jawohl, und das haben wir dem schwachköpfigen Philip Carling und seiner Mutter zu verdanken. Selbst Charles wird es nicht gelingen, die eklige alte Kröte lange in Schach zu halten.“

Kathleen stützte den schmerzenden Schädel in eine Hand. „Ich weiß noch nicht einmal mehr, warum ich es überhaupt getan habe. Es war so dumm.“

„Du hattest Langeweile, nehme ich an. Ich verstehe das gut.“

„Da bist du wahrscheinlich die Einzige.“

„Hast du wenigstens gewonnen?“

„Natürlich. Denny hat sich mächtig darüber geärgert.“

Gillian lachte. „Wenigstens das. Aber wir müssen dich aus der Stadt herausschaffen.“

„In Ordnung, nur nicht nach Schottland. Ich habe Sabrina wirklich gern, aber den ganzen Winter in einem eiskalten Winkel der Highlands zu verbringen …“ Sie erschauderte bei dem bloßen Gedanken.

Wenn sie nur nach Irland zurückgedurft hätte, mit seiner herrlich weichen Luft, der dunstig verhangenen grünen Landschaft und der stillen Schönheit von Greystone Court.

„Sabrina ist wundervoll“, wandte Gillian ein, „und ihr Mann ist alles andere als langweilig. Immerhin ist er ein Kendrick.“

„Ich bin sicher, ich wäre im Weg. Denn im Grunde sind die beiden doch praktisch noch in den Flitterwochen. Ich käme mir vor wie … wie …“

„Das fünfte Rad am Wagen?“

Die meisten von Kathleens Cousinen und Freundinnen waren inzwischen verheiratet und hatten sich in ihrem Leben als junge Matronen in der Gesellschaft eingerichtet. Nicht dass sie selbst keine Bewunderer gehabt hätte, aber keiner war wirklich der Richtige gewesen. Abgesehen davon war sie nicht besonders erpicht darauf zu heiraten. Vor die Wahl zwischen Irland und einem Ehemann gestellt, hätte sie sich jederzeit für Irland entschieden.

Mit einem Zeigefinger tippte Gillian sich gegen die Unterlippe. „Ich habe eine Idee, die die Aussicht vielleicht erträglicher macht und deinen Eltern trotzdem gefällt.“

Fragend hob Kathleen eine Braue.

Die Freundin lächelte. „Du fährst nach Schottland, aber mit mir.“

Wenn das keine Überraschung war. Kathleen räusperte sich. „Wie kommst du darauf?“

„Wie du weißt, ist Victoria Kendrick, die Countess of Arnprior, Sabrinas Schwägerin und meine Cousine. Vicky ist die Einzige in meiner Familie königlicher Bastarde, die ich noch nicht kennengelernt habe, und das möchte ich so schnell wie möglich ändern.“

Kathleen zögerte. „Werden der Duke und die Kinder dich begleiten?“

Gillian krauste die Nase. „Charles hat es mir ausgeredet, weil es ein schrecklich kompliziertes Unterfangen wäre mit zwei kleinen Kindern. Aber ich denke schon seit einiger Zeit über eine Reise nach Glasgow nach. Da ist es ein glücklicher Zufall, dass die Pläne deiner grauenhaften Stiefmutter sich mit denen von Charles und mir überschneiden.“

„Aber der Duke kann nicht ernsthaft wollen, dass du so lange fort bist. Was wird aus euren Kindern?“

„Charles ist ein ausgezeichneter Vater, und eine kurze Trennung werden wir alle problemlos überstehen. Such nicht nach weiteren Ausflüchten, Kathleen.“

Kathleen seufzte. „Glasgow hört sich gut an, aber sobald du nach London zurückfährst, heißt es für mich, ab in die verdammten Highlands.“

„Bis dahin erinnert sich deine Stiefmutter wahrscheinlich kaum noch an dich, und ich wette, Victoria freut sich, wenn du in Glasgow bleibst, solange du willst.“

„Hoffentlich.“ Kathleen seufzte. Es hörte sich alles schrecklich unsicher an, aber sie hatte wohl keine andere Wahl. Und Zeit mit Gillian zu verbringen war um Längen besser als alles, was Helen sonst anordnen könnte.

Gillian stand auf. „Dann sind wir uns einig. Ich bereite alles vor, und du musst nur packen und morgen in aller Frühe abreisebereit sein.“

Kathleen erhob sich ebenfalls, zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Danke. Wirklich.“

Gillian drückte sie verständnisvoll an sich. „Wir werden viel Spaß haben, warte nur ab.“

„Solange ich mich nicht in Schwierigkeiten bringe.“

Wenn etwas schiefging, da war Kathleen sicher, würde sie den Rest ihres Daseins in einem Winkel von Schottland fristen, der auf praktisch keiner Landkarte verzeichnet war.

„Wenn du erst aus der Stadt bist, wird sich das Gerede legen, und man wird schnell vergessen, was passiert ist. Mit ein bisschen Glück kannst du vielleicht schon zu Weihnachten nach Hause kommen.“

Glück.

Kathleen wurde das Gefühl nicht los, dass das Glück sie verlassen hatte – für immer.

3. KAPITEL

Kathleen schob den Frühstücksteller mit den Rühreiern und dem Räucherschinken beiseite. Die Reisekutsche der Levertons war luxuriös und hervorragend gefedert, aber sie durfte das Schicksal nicht herausfordern. Außer wenn sie selbst kutschierte oder im Sattel saß, ging es ihr auf Reisen so schlecht, als hätte sie einen ausgewachsenen Kater.

Was die Sache noch schlimmer machte, war, dass sie nach nur wenigen Tagen unterwegs ihre Schwestern schmerzlich vermisste. Jeannie hatte sich über die Trennung besonders untröstlich gezeigt. Sie war überzeugt, dass ihre Mutter noch mehr Strenge würde walten lassen, wenn sie ihre schlechte Laune nicht an Kathleen auslassen konnte, und damit lag das Mädchen vermutlich richtig. Sicher würde Helen beim geringsten Anzeichen unangebrachten Verhaltens umgehend mit gnadenloser Kritik reagieren.

Die Tür ging auf, und Gillian trat in den Privatsalon. Sie trug ein elegantes flaschengrünes Reisekleid. „Guten Morgen, meine Liebe. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“

„Wunderbar, danke.“

Gillian musterte sie prüfend. „Flunker nicht, Kathleen. Du wirkst nicht sehr ausgeruht. Wie auch gestern und die Tage davor.“

„Wegen der Tränensäcke unter meinen Augen? Sie sind fast so groß wie mein Handkoffer.“

„Du siehst hinreißend aus, wie immer. Nur ein wenig blass.“

„Ach so, meine Sommersprossen haben mich verraten.“

Je blasser Kathleen war, desto deutlicher hoben sich ihre Sommersprossen ab. Das hasste sie am meisten an ihnen, und außerdem die Tatsache, dass sie praktisch glühten, wenn sie errötete. Glaubte man Helen, so waren sie der Fluch ihres Lebens.

„Ich liebe deine Sommersprossen“, versicherte Gillian ihr lächelnd. „Man könnte glauben, du wärst mit Kakao bestäubt. Ich bin sicher, die Männer sind absolut hingerissen davon.“

Kathleen schnaubte. „Mein Bruder fand, es sieht aus, als hätte das Zimmermädchen ihr Staubtuch über meinem Kopf ausgeschüttelt.“

„Meine Güte, ich werde Richard ein Bein stellen, wenn ich ihn das nächste Mal treffe.“

„Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass er zwölf war damals.“

„Ich werde ihn trotzdem bestrafen.“ Gillian lächelte der Schankmagd zu, die frischen Tee brachte. „Danke. Nehmen Sie Miss Calverts Teller mit und bringen Sie ihr ungebutterten Toast. Und vielleicht ein Glas Marmelade.“

Das Mädchen machte einen Knicks. „Darf es sonst noch etwas sein?“

„Ich nehme Scones und dicke Sahne. Und Kaffee.“

Kathleen atmete erleichtert auf. Beim Geruch von geräuchertem Schinken drehte sich ihr der Magen um.

„Es tut mir leid, wenn ich dir Umstände mache, Gillian.“

„Unsinn. Reisen verlangt einem empfindlichen Magen viel ab.“

„Sagt die Frau, die gestern Abend einen herzhaften Rindfleischeintopf gegessen hat.“

„Ich habe eine abstoßend robuste Gesundheit. Als unser gesamter Haushalt mit einer Grippe darniederlag und sogar Charles ganz grün um die Nase war, habe ich nicht einmal geniest.“

„Glück gehabt.“

„Davon kann keine Rede sein. Abgesehen von der Köchin und einem Pferdeknecht war unser Butler der einzige andere, der nicht krank wurde, und er und ich mussten uns um die Bettlägrigen kümmern. Die schmutzigsten Aufgaben habe ich selbst übernommen, weil ich Angst hatte, er würde kündigen.“

Kathleen lachte. „Das klingt ja schrecklich.“

„Wenigstens fand ich bei der Gelegenheit heraus, dass ich eine brauchbare Krankenpflegerin abgebe.“ Gillian verengte die Augen. „Was mich auf den Gedanken bringt, dass du nicht nur unter einem empfindlichen Magen leidest. Du machst dir Sorgen.“

Angelegentlich schenkte Kathleen sich noch eine Tasse Tee ein. „Du hast recht, ich habe nicht viel geschlafen. Mein Zimmer geht hinaus auf den Stallhof.“

„Ach so. In diesen großen Umspannstationen ist immer schrecklich viel los. Und die Bedienung ist irritierend langsam, nicht wahr? Wenn das Mädchen nicht bald mit meinem Kaffee kommt, werde ich die Küche stürmen.“

„Nicht mit gezogenen Messern, hoffe ich.“

„Menschen, die Essen zubereiten, drohe ich nicht.“ Gillian runzelte die Stirn. „Du meine Güte, was ist das für ein Lärm in der Eingangshalle?“

Ein dumpfer Aufprall folgte, dann ein Protestschrei. Kathleen und Gillian tauschten einen verblüfften Blick.

Kathleen stand auf. „Ich gehe nachseh…“

Die Tür flog auf, und einer der Pferdeknechte der Levertons marschierte herein, die Hand schwer auf der Schulter eines Stalljungen, der seinerseits versuchte, sich aus dem festen Griff herauszuwinden.

Nur dass es sich nicht um einen Stalljungen handelte.

„Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, Euer Gnaden.“ Der Pferdeknecht deutete eine Verneigung an. „Aber wir haben ein kleines Problem.“

„Das sehe ich.“ Gillian wandte sich zu Kathleen um. „Meine Liebe, ich glaube, das ist …“

„Meine Schwester Jeannie“, beendete Kathleen den Satz.

„Lassen Sie mich los, Sie Grobian.“ Wieder versuchte Jeannie, sich aus dem Griff zu befreien.

Kathleen presste sich eine Hand auf den unruhigen Magen. „Du lieber Himmel.“

„Es ist gut, Simmons.“ Gillian nickte. „Sie können Miss Calvert loslassen.“

Simmons ließ nicht los, hielt Jeannie jedoch auf Armeslänge Abstand. „Sie hat mir einen ziemlich heftigen Tritt gegen das Knie verpasst, als ich ihr aus dem Gepäckfach half. Fast wäre ich zu Boden gegangen.“

„Sie haben mir nicht herausgeholfen“, blaffte Jeannie erbost. „Sondern mich herausgezerrt.“

Der Pferdeknecht zog die Brauen zusammen. „Nur weil du nicht herauskommen wolltest.“

Kathleen eilte zu ihrer Schwester. „Jeannie, man soll nicht treten.“

„Das wäre dann alles, Simmons“, griff Gillian ein. „Sagen Sie dem Kutscher, dass wir später losfahren. Ach ja, und suchen Sie die verflixte Schankmagd und sagen Sie ihr, sie soll mir endlich meinen Kaffee und noch eine Kanne Tee bringen.“

Der Pferdeknecht ließ Jeannie los und machte ein paar Schritte rückwärts, als wäre sie ein Wolf. „Sehr wohl, Euer Gnaden.“

Er humpelte aus dem Raum, und Kathleen packte ihre Schwester bei den Schultern. „Alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt?“

Jeannie verdrehte die Augen. „Übertreib nicht, Kathleen. Mir geht es gut.“

„Meinem Pferdeknecht dagegen nicht, wie mir scheint“, ließ Gillian sich hinter ihnen vernehmen.

„Er hätte mich nicht so grob aus dem Gepäckfach zerren sollen“, entgegnete Jeannie aufgebracht. „Ich habe es ihm gesagt, aber er wollte nicht hören.“

„Wie schrecklich gemein von ihm. Fortan werde ich meine Pferdeknechte anweisen, blinde Passagiere im Gepäckfach zu ignorieren. Dort hast du dich versteckt, seit wir von London aufgebrochen sind, richtig?“

Kathleen starrte die Schwester ungläubig an. „Du warst zwei Tage lang im Gepäckfach?“

Jeannie wand sich. „Kein Grund, so zu schreien. Mir fehlt nichts. Ich habe bloß Hunger.“

Wie auf ein Stichwort ging die Tür auf, und die Schankmagd eilte mit einem voll beladenen Tablett in den Raum.

„Kaffee. Endlich.“ Gillian nickte der jungen Frau zu. „Und bringen Sie bitte noch eine Portion Eier und Schinken für …“

„Den Burschen hier“, fiel Kathleen ihr ins Wort.

Die Schankmagd wirkte perplex. „Sie wollen, dass ich so jemand wie ihn bediene? Hier drinnen, bei Ihnen?“

Jeannie, die ihr dickes blondes Haar unter einer alten Strickmütze verborgen hatte, trug ein Paar schmutzige Hosen und einen Kittel, darüber ein Lederwams, das ihr viel zu groß war. Kathleen fragte sich, wo ihre Schwester die abstoßenden Kleidungsstücke herhatte, und nickte lebhaft. „Ich bitte darum. Er ist der Sohn unseres Kutschers, und da er unter Wetterfühligkeit leidet, braucht er ein ordentliches Frühstück, das ihn ein wenig aufbaut.“

Die junge Frau zuckte abfällig mit den Schultern und knallte das Serviertablett auf den Tisch.

„Das war sehr geistesgegenwärtig von dir, Kathleen.“ Gillian nickte anerkennend, als die Schankmagd gegangen war.

„Was macht es denn schon aus, wenn die Leute erfahren, dass ich ein Mädchen bin?“ Jeannie ließ sich auf einen Stuhl fallen und goss sich Tee ein. „Es weiß doch sowieso niemand, wer ich bin.“

„Die Leute hier wissen, wer ich bin, und die Duchess of Leverton kennen sie auch.“ Kathleen hatte sich immer noch nicht von dem Schock erholt. „Der ganze Sinn und Zweck meiner Verbannung ist es, einen Skandal zu vermeiden, nicht, einen neuen zu verursachen.“

Jeannie trank einen großen Schluck Tee, dann griff sie nach ihrer Mütze, um sie sich vom Kopf zu ziehen.

Kathleen umfasste ihr Handgelenk. „Nicht bitte. Du musst diese schreckliche Verkleidung anbehalten, solange wir hier sind.“

„Weshalb? Es ist ja nicht so, als ob jemandem etwas an mir liegen würde.“ Jeannie klang unwirsch. „Schließlich bin ich nicht du oder Cara.“

Gillian tätschelte ihr den Arm. „Kathleen bist du wichtig, Liebes. Sie will nicht, dass man schlecht über dich redet.“

Jeannie schnitt eine Grimasse. „Es ist nicht gerecht. Kathleen hat etwas angestellt, aber Mama tut, als wäre ich genauso schlimm. Sie drohte mir mit Zimmerarrest. Welche andere Wahl als wegzulaufen hatte ich denn?“

Schuldgefühle brachen über Kathleen herein. Trotzdem, es war nicht die Zeit, sich über unbeabsichtigte Folgen zu ärgern oder zu zaudern. Leider hatte sie das Gefühl, dass sie im Augenblick mit der Aufgabe, Jeannie sicher nach Hause zu schaffen, heillos überfordert war.

„Denk nach!“, befahl sie sich flüsternd und presste sich eine Faust gegen die Stirn.

„Kathleen“, hörte sie Jeannie sagen, „ist alles in Ordnung mit dir?“

„Nicht wirklich.“ Kathleen setzte sich. „Du dagegen erscheinst mir bemerkenswert lebhaft für jemanden, der gerade zwei Tage im Gepäckfach einer Kutsche verbracht hat. Wie hast du das überhaupt gemacht?“

„Ach, es war …“

Kathleen hob warnend eine Hand, als die Schankmagd erneut mit einem Tablett hereintrat. Sie stellte es ab und warf Jeannie einen neugierigen Blick zu, dann verteilte sie die Teller mit Eiern, Schinken und Scones auf dem Tisch.

Gillian nickte. „Das wäre dann alles.“

Die junge Frau knickste, sah jedoch misstrauisch über die Schulter, ehe sie die Tür hinter sich schloss.

„Können wir uns darauf verlassen, dass deine Dienerschaft nicht mit den Angestellten des Gasthofs tratscht?“, erkundigte Kathleen sich besorgt.

Gillian schüttelte den Kopf. „Ich würde sie umbringen, wenn sie es täten, und das wissen sie.“

Jeannie kicherte. „Wirklich?“

„Hoffentlich nicht.“ Kathleen häufte Essen auf den Teller ihrer Schwester. „Und jetzt erzähl uns, wie du auf diese verrückte Idee gekommen bist.“

„Es war ganz einfach.“ Jeannie schob sich eine Gabel voll Spiegelei in den Mund.

„Gib acht, dass du nicht erstickst, Liebes“, mahnte Gillian sie sanft. „Es besteht kein Grund zur Eile.“

Kathleen verzog das Gesicht. „Ich fürchte doch. Wir müssen sie so schnell wie möglich nach London zurückbringen.“

Im Begriff, die nächste Gabel voll Spiegelei zum Mund zu führen, hielt Jeannie mitten in der Bewegung inne. „Ich will nicht zurück.“

„Hast du unseren Eltern wenigstens eine Nachricht dagelassen?“

„Ja, aber sie wissen nicht, dass ich mit dir fahre, Dummkopf. Sie wären mir sofort gefolgt.“

„Sind sie das nicht ohnehin?“ Gillian hob die Brauen. „Ich bin überrascht, dass uns nicht schon ein Reiter eingeholt hat. Immerhin reisen wir mit zwei schwerfälligen Kutschen.“

Jeannie schnitt sich ein Stück Schinken ab. „Deshalb habt ihr mich nicht entdeckt. Ich war im Gepäckfach der zweiten Kutsche. Dort musste niemand ans Gepäck, und in der Kutsche saß nur die Zofe der Duchess. Ich habe mich sehr ruhig verhalten und war vorsichtig, damit weder sie noch die Pferdeknechte Verdacht schöpften.“

„Kluges Mädchen.“ Gillian nickte anerkennend.

„Das erklärt nicht, warum man uns anscheinend niemanden hinterhergeschickt hat“, meinte Kathleen stirnrunzelnd. „Oder wie du dich überhaupt aus dem Haus geschlichen hast.“

„Ich habe mir ein paar alte Kleider aus den Ställen geholt, dann sagte ich dem Zimmermädchen, dass ich mich nicht wohlfühle und den ganzen Tag im Bett bleiben will. Anschließend habe ich mich umgezogen und bin nach draußen gehuscht, um auf die Kutschen zu warten. Ich musste mich in einen der Fensterschächte ducken, bis sie vor dem Haus vorfuhren. Zum Glück regnete es, und alle hatten es eilig, das Gepäck einzuladen. Niemand sah mich, als ich zu der zweiten Kutsche lief und mich im Gepäckfach versteckte.“ Jeannie seufzte. „Es war ziemlich eng da drinnen, und ich bin froh, wieder draußen zu sein.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Gillian nickte. „Aber Hut ab, dass du deinen Plan in die Tat umgesetzt hast.“

Kathleen warf der Freundin einen fassungslosen Blick zu. „Meinst du das ernst?“

Gillian zuckte mit den Schultern. „Sicher. Denn es ist genau das, was ich auch getan hätte – oder du, wenn du ehrlich bist.“

„Das stimmt, Kathleen“, pflichtete Jeannie der Duchess bei. „Jedes Mal, wenn ich in Schwierigkeiten bin, versuche ich mir vorzustellen, was du wohl an meiner Stelle tun würdest.“

Kathleen widerstand dem Drang zu fluchen. „Aber warum ist uns niemand gefolgt?“

„Ich habe eine Notiz dagelassen, dass ich nach Hause, nach Irland zurückkehre.“ Jeannie nahm sich ein Scone. „Mama weiß, dass ich Irland liebe, darum fand ich es plausibel, sie in diese Richtung zu lenken.“

„Aber …“ Jetzt war es Kathleen, die seufzte. „Eine brillante Idee, wie ich zugeben muss.“

Jeannie grinste. „Dachte ich mir.“

„Aber Papa und Helen sind bestimmt außer sich vor Sorge“, warf Kathleen ein. „Das hast du nicht gut gemacht.“

Ihre Schwester reckte aufsässig das Kinn. „Sie waren beide gemein zu uns. Sie verdienen einen ordentlichen Schrecken.“

Jeannie war groß gewachsen und im Begriff, zu einer wirklichen Schönheit zu erblühen, daher vergaß man leicht, wie jung und naiv sie noch war. Als Kind hatte Kathleen viel Freiheit genossen, die Gegend mit ihrem Bruder oder Denny erkundet, sie war geritten, auf Bäume geklettert und durch die umliegenden Dörfer gestreunt. Zusammen mit anderen Kindern hatte sie eine ganze Reihe gefährlicher Abenteuer bestanden und gelernt, gut auf sich achtzugeben. Jeannie dagegen hatte eine behütete und streng überwachte Kindheit hinter sich. Dass sie imstande war, eine so kühne Flucht zu bewerkstelligen, hatte etwas Erschreckendes.

„Gemein oder nicht, sie lieben dich“, erwiderte Kathleen ernst. „Und wenn dir etwas passiert wäre …“

Es war zu schrecklich, sich vorzustellen, dass die Sache auch hätte danebengehen können.

„Das einzig Schwierige war, aus dem Gepäckfach zu kommen, wenn die Kutschen hielten, damit ich austreten und mir etwas zu essen besorgen konnte.“

„Bist du sicher, dass dich niemand gesehen hat?“ Kathleen musterte sie besorgt.

„Niemand, auf den es ankäme, jedenfalls. Ich habe Geld dabei und konnte mir Kuchen oder eine Pastete kaufen, wenn die Kutsche bei einer Umspannstationen hielt.“ Jeannie zuckte mit den Schultern. „Alle dachten, ich wäre ein Junge.“

Gillian nickte. „Die Menschen pflegen zu sehen, was sie zu sehen erwarten. Jeannies Verkleidung ist ziemlich überzeugend und lenkt wirkungsvoll von ihren … nun, ihren gegenteiligen Attributen ab.“

Womit Jeannies weibliche Figur gemeint war.

„Jedenfalls sind wir jetzt zusammen, Kathleen.“ Jeannie lächelte. „Und du musst nicht allein in diese trübsinnigen Highlands. Ist das nicht großartig?“

Kathleen stählte sich gegen den flehenden Blick ihrer Schwester. „Wir müssen eine Kutsche mieten, Gillian. Vielleicht könnte deine Zofe Jeannie nach London begleiten?“

„Natürlich, wenn es das ist, was du wirklich willst.“

„Es ist überhaupt nicht das, was ich möchte“, protestierte Jeannie entrüstet. „Und ihr könnt mich nicht zwingen.“

Kathleen versuchte es anders. „Willst du wirklich den ganzen Winter in einem modrigen alten Herrenhaus verbringen? Es wird furchtbar, ich schwöre es dir, und am Ende würden wir uns sicher hassen.“

„Es sind nur drei Monate. Ich habe gehört, wie du mit Papa geredet hast.“

„Du meinst, du hast gelauscht.“

„Wenn ich Papa richtig verstanden habe, darfst du nach London zurück, wenn du dich in dieser Zeit nicht in Schwierigkeiten bringst.“

Kathleen hatte ihrem Vater sogar ein noch größeres Versprechen abgerungen, doch davon konnte Jeannie nichts ahnen. Nach einer beschämend freimütigen Diskussion über ihre mangelnde Eignung für den Heiratsmarkt waren sie zu einer Übereinkunft gekommen. Wenn sie die drei Monate auf Lochnagar klaglos und ohne weitere Skandale herumbrachte, würde ihr Vater sie nach Irland zurückkehren lassen, für eine Art Probelauf eines zurückgezogenen Lebens auf Greystone.

Allerdings hatte er darauf bestanden, dass sie nicht in Schwierigkeiten geriet. Sonst würde ihre Absprache null und nichtig sein.

„Jeannie, was denkst du, wie Helen reagiert, wenn ich dich einfach nach Schottland entführe?“

„Alles, was meine Mutter interessiert, sind Cara und Richard und ihre Verheiratung. Ich bin bloß im Weg.“

Bedauerlicherweise steckte mehr als ein Körnchen Wahrheit in der Bemerkung.

„Aber was ist mit den Planungen für deine Einführung in die Gesellschaft im Frühjahr? Die willst du doch sicherlich nicht verpassen.“ Kathleen lächelte aufmunternd.

„Es ist mir egal“, erwiderte Jeannie ausdruckslos. „Und ich schwöre dir, ich laufe wieder fort, wenn du mich zwingst zurückzukehren. Zumal ich jetzt weiß, wie es geht.“

Kathleens Herz machte einen Satz. „Das wäre über die Maßen dumm – und außerdem gefährlich.“

„Ich glaube, du willst mich nicht dabeihaben, weil du Angst hast, dass ich dir Schwierigkeiten bereite.“

Jeannie senkte den Blick, und ihr Trotz fiel in sich zusammen. Als Kathleen sah, dass das Mädchen Tränen fortblinzelte, hätte sie am liebsten mitgeweint.

Was für ein Riesendurcheinander, das du da angerichtet hast, Kathleen, altes Mädchen.

„Kei…keiner will mich“, flüsterte ihre Schwester erstickt. „Und ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.“

Kathleen sprang auf, ging vor Jeannie in die Hocke und zog das Mädchen in eine feste Umarmung. „Ich habe dich so gern, mein Schatz, und ich wäre froh, wenn du bei mir bleiben könntest.“

Gillian beugte sich vor. „Darf ich einen Vorschlag machen?“

Erleichtert wandte Kathleen sich zu ihr um. „Bitte.“

„Gestatte mir, meinem Ehemann einen Eilbrief zu schicken, in dem ich ihm die Lage erkläre. Ich bin sicher, er kann mit deinen Eltern reden und die Dinge entspannen.“

„Ich will trotzdem nicht nach Hause zurück“, erklärte Jeannie mit zitternder Stimme. „Bitte zwing mich nicht dazu, Kathleen.“

„Ich schlage vor, dass Jeannette uns nach Glasgow begleitet“, fuhr Gillian ruhig fort. „Auf die Art vermeiden wir einen Skandal, denn Charles und deine Eltern können es so hinstellen, als hätte sie sich uns in letzter Minute angeschlossen. Sie kann mit mir nach London zurückfahren.“

Jeannie richtete ihren tränenverschleierten, flehentlichen Blick auf Kathleen. „Oh, bitte, sag Ja, Kathleen. Bitte. Lass mich wenigstens für einen Besuch bleiben.“

Kathleen schwankte unsicher, ob sie auf Gillians Vorschlag eingehen sollte. Jeannie konnte manchmal ziemlich schwierig sein. „Nun …“

„Sowohl ich als auch Lady Arnprior werden da sein, um auf Jeannie aufzupassen.“ Gillian schien Gedanken lesen zu können. „Victoria war Gouvernante und weiß genau, wie man … nun, aktive junge Damen beschäftigt.“

Jeannie hopste auf ihrem Stuhl auf und ab. „Ich bin auch ganz brav, versprochen.“

Kathleen verdrehte die Augen. „Und der Duke wäre wirklich willens, meinen Eltern die Sache zu erklären?“

Gillian zwinkerte ihnen zu. „Ich lasse ihm keine Wahl.“

Kathleen war der verzweifelte Eifer in Jeannies Miene nicht entgangen. Das Mädchen wollte geliebt und akzeptiert werden und wissen, dass sie wirklich willkommen war. Kathleen hatte sich öfter als ihr lieb war genauso gefühlt.

Wie in aller Welt hätte sie Nein sagen können?

Sie nickte. „Danke, Gillian. Das wäre fabelhaft von euch beiden.“

„Hurra!“ Jeannie sprang von ihrem Stuhl auf und tanzte im Raum herum.

Mit einem ausgestreckten Finger deutete Kathleen auf sie. „Aber du musst versprechen, dass du auf mich hörst. Und nicht fortläufst oder andere dumme Sachen anstellst.“

Abrupt hörte Jeannie auf, sich um die eigene Achse zu drehen, und verschränkte die Hände wie zum Gebet. „Ich werde ein absoluter Engel sein, Kathleen. Versprochen. Jetzt, da wir zusammen sind, was soll da schon schiefgehen?“

4. KAPITEL

Glasgow,

September 1823

Gelangweilt.

Grant Kendrick wusste, dass das Gefühl wieder vergehen würde. Er war zu beschäftigt, um albernen Anfällen von Unzufriedenheit allzu große Beachtung zu schenken.

Und dennoch …

Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und warf einen angewiderten Blick auf den Aktenordner, der vor ihm lag. Die Zahlenkolonnen auf den aufgeschlagenen Seiten sahen aus wie Soldaten in Schlachtordnung. Genau genommen war das Geschäft tatsächlich eine Art Schlacht, wenn auch eine, die mit Verstand, Spürsinn und Zahlen geschlagen wurde.

Ständig Zahlen, unerbittlich und genau.

Auch Grant war genau, angefangen von den ordentlich aufgeräumten Bücherregalen in seinem Büro bis hin zu seinem täglichen Erscheinungsbild in einem schlichten dunkelblauen oder dunkelgrünen Gehrock mit grauer Weste, hellen Breeches und Reitstiefeln. Warum etwas anderes tragen? Er verbrachte den größten Teil seiner Zeit im Warenlager oder unten am Hafen, wenn ein Schiff entladen wurde, daher gab es keinen Grund, sich auffällig anzuziehen.

Er schloss den Ordner und stand auf, streckte die Arme, um die Verspannungen loszuwerden, und berührte dabei um ein Haar die massiven Deckenbalken. Dann nahm er den Rest der ledergebundenen Akten, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten, und trug sie zu einem der Eichenschränke an der gegenüberliegenden Wand. Er brauchte kaum hinzusehen, um sie zurückzustellen, da jeder Ordner, jeder Hefter, jeder Fetzen Papier seinen festen Platz hatte, damit die gesuchte Information zur Hand war, wann immer er sie brauchte.

Er war gut darin, Dinge zu organisieren, und im Verlauf der drei Jahre, die er nun für seine Brüder arbeitete, hatte er herausgefunden, dass er auch gut darin war, Geld zu verdienen. Jedes einzelne Mitglied seiner Familie verfügte über ein spezielles Talent, und Geld verdienen, so hatte sich herausgestellt, war seines. Dafür zu sorgen, dass Kendrick Shipping and Trade, das Familienunternehmen, expandierte – für seine Nichten und Neffen –, war eine großartige Sache. Grant hatte sich ein nützliches, erfülltes Leben aufgebaut, und es gab nichts, worüber er sich hätte beschweren können.

Außer dass er zu Tode gelangweilt war.

„Du bist nicht mehr ganz gescheit“, murmelte er vor sich hin und schob die Hefter an ihren Platz.

So war es nicht immer gewesen. Jahrelang hatten er und sein Zwilling, Graeme, keine Gelegenheit ausgelassen, Ärger zu machen. Aber inzwischen war Graeme verheiratet. Er hatte seine unbekümmerten Jugendtage hinter sich und führte ein respektables Leben auf einem kleinen Anwesen in den Highlands. Wobei Respektabilität in Graemes Fall etwas Komisches hatte, weil er der wirklich Ungezähmte in der Familie und praktisch unverbesserlich gewesen war.

Er selbst dagegen, Grant? Bei ihm war Wildheit kein Teil seines Wesen, und das Leben, das er jetzt führte, passte zu ihm wie nichts sonst. Alles war genau, wie es sein sollte. Nach Jahren voller Herzeleid und Schicksalsprüfungen hatten die Kendricks endlich Frieden gefunden.

Bloß dass er sich nicht so fühlte.

Er verzog das Gesicht und ordnete einige der Hefter um.

„Was ist los, mein Junge?“ Die Stimme kam von der Tür. „Hast du dich verrechnet?“

Grant drehte sich um. Sein Großvater Angus lehnte im Türrahmen. In seinem zerschlissenen Kilt, den abgewetzten Stiefeln und der zerfledderten Mütze, die er seit dem Besuch König Georges in Schottland im vergangenen Jahr nicht mehr abgesetzt zu haben schien, sah er noch schäbiger aus als sonst. Sein Erscheinungsbild, dazu die buschigen weißen Brauen und das dichte, wild abstehende weiße Haar ließen ihn aussehen wie einen vorsintflutlichen Highlander, der einen Amoklauf in den Glens hinter sich hatte.

In Wirklichkeit war sein Großvater ein außerordentlich gewitzter Mann. Zwar nicht gelehrt, aber niemand zog Angus über den Tisch. Jeder einzelne der Kendrick-Brüder hatte es mehrfach versucht, doch alle waren gescheitert.

„Vielleicht solltest du mich einen Blick auf deine Rechnungen werfen lassen“, fügte der alte Bursche hoffnungsvoll hinzu.

Grant verbiss sich einen Seufzer. Angus war ein Wunder, außer wenn es um Zahlen ging. Als er Castle Kinglas, den Familiensitz des Clan Kendrick, verwaltet hatte, hatte er ein massives finanzielles Desaster angerichtet. Nick, Grants ältester Bruder und Clanoberhaupt, war am Ende gezwungen gewesen, den Großvater aus dem Büro zu verbannen, außer er selbst war gleichzeitig anwesend.

Doch auch diese drastische Maßnahme hatte Angus nicht von der Überzeugung abbringen können, dass er ein Fin...

Autor

Vanessa Kelly
<p>Bereits auf der Universität konzentrierte Vanessa Kelly sich auf die englische Literatur des 18. Jahrhunderts. Ihren Job im öffentlichen Dienst gab sie auf, um hauptberuflich zu schreiben. Inzwischen sind ihre Romane, die meist zur Zeit des Regency spielen, regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten zu finden und wurden bisher in neun...
Mehr erfahren