Drei Küsse für Aschenbrödel

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Weihnachtszeit in Fool’s Gold: Eine weiße Decke liegt über der Welt, köstliche Düfte erfüllen die Luft, und melodisch ertönt "Stille Nacht" … Einfach grässlich, findet Evie Stryker! Nur ihrer Familie zuliebe ist sie in die Stadt gekommen, um sich von einer Verletzung zu erholen, die ihre Karriere als Tänzerin zerstören kann. Um sich nicht mit ihrer nervigen Verwandtschaft beschäftigen zu müssen, stimmt Evie zu, die Tänzer für das Weihnachtsfestival zu trainieren. Dass Proben dafür unerlässlich sind, muss Dante Jefferson, dessen Büro direkt unter dem Tanzstudio liegt, eben akzeptieren! Der Anwalt würde das Getrampel über seinem Kopf am liebsten gerichtlich verbieten lassen. Wenn es nach Evie ginge, könnte er sie auch gleich noch zwingen, einen Mindestabstand zu ihm einzuhalten. Denn jedes Mal wenn sie in seiner Nähe ist, schimmern die Weihnachtslichter ein kleines bisschen heller ...


  • Erscheinungstag 10.11.2014
  • Bandnummer 13
  • ISBN / Artikelnummer 9783956493706
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

Susan Mallery

Drei Küsse für Aschenbrödel

Aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

A Fool’s Gold Christmas

Copyright © 2012 Susan Macias Redmond

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Illustration: Matthias Kinner, Köln

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN eBook 978-3-95649-370-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Was macht mehr Lärm: acht trappelnde Rentiere oder ein halbes Dutzend Kinder beim Holzschuhtanz? Dante Jefferson kannte die Antwort leider genau.

„Wiederhole das bitte noch einmal“, rief er und drückte das Telefon fester ans Ohr. „Ich habe Probleme, dich zu verstehen.“

Das dumpfe Dröhnen über seinem Kopf brach kurz ab, um gleich darauf mit ungebremstem Enthusiasmus fortgesetzt zu werden.

„Was ist denn da los?“, fragte Franklin über das Wummern und Klappern hinweg, das fast im Gleichtakt mit der nervtötenden Klaviermusik erklang. „Bauarbeiten?“

„Schön wär’s“, murmelte Dante. „Pass auf, ich ruf dich in ein paar Stunden noch mal an.“ Bis dahin war der Tanzunterricht vorbei – hoffte er zumindest.

„Klar. Ich bin hier.“ Franklin legte auf.

Dante warf einen Blick auf die rechte untere Ecke seines Computermonitors. Die Uhr verriet ihm, dass es Viertel nach sieben war. Abends. Was bedeutete, dass es in Schanghai jetzt Viertel nach elf am Morgen sein musste. Er war heute extra länger im Büro geblieben, um mit Franklin über einen internationalen Geschäftsabschluss zu sprechen, in dem ein paar Probleme aufgetaucht waren. Doch die Holzschuhtänzer hatten jede Form der Unterhaltung unmöglich gemacht.

Dante speicherte die Tabelle und wandte sich seinen E-Mails zu. Egal. Es gab noch genügend andere Projekte, die seiner Aufmerksamkeit bedurften.

Kurz vor acht hörte er die Holzschuhtänzer lachend und kreischend die Treppe herunterstürmen. Eine Stunde Tanztraining hatte sie offenbar noch immer nicht erschöpft. Er hingegen verspürte einen pochenden Schmerz hinter den Augen und den dringenden Wunsch, Rafe gleich morgen zu erwürgen. Sein Geschäftspartner hatte vorübergehend einige Arbeitsplätze in diesem Großraumbüro angemietet. Entweder war ihm dabei die Tanzschule im oberen Stockwerk nicht aufgefallen, oder es war ihm gleichgültig gewesen. Das Büro lag im älteren Teil von Fool’s Gold, und die Gebäude hier waren lange vor der Erfindung der Schallschutzböden erbaut worden. Rafe schien der Lärm nichts auszumachen, der jeden Tag pünktlich um drei anfing und bis weit in den Abend hinein andauerte. Dante hingegen stand kurz davor, den nächstbesten Richter um eine vorläufige Verfügung anzuflehen.

Entschlossen stand er auf und ging durchs Treppenhaus hinauf ins Tanzstudio. Er und Wer-auch-immer mussten jetzt unverzüglich zu einer Einigung gelangen. Die nächsten paar Wochen würde er damit zubringen, die Probleme mit dem Schanghai-Deal zu regeln. Was bedeutete, dass er Zugang zu seinem Computer, den Verträgen und den Bauzeichnungen brauchte. Einige davon konnte er nicht mit nach Hause nehmen. Außerdem musste es doch möglich sein, das Telefon in seinem Büro zu nutzen, ohne zu brüllen wie auf dem Fischmarkt.

Vor der Tür zum Studio blieb er stehen. Sie war so altmodisch wie der Rest des Gebäudes, mit einer Milchglasscheibe, auf der in verschnörkelter goldener Schrift der Name stand: Dominiques Tanzschule. Er drückte die Tür auf und trat ein.

Den Eingangsbereich konnte man allenfalls als zweckmäßig bezeichnen. Auf einem niedrigen Tisch stand ein Computer, der vor zehn Jahren schon veraltet gewesen war. Die Wände säumten schlichte Holzbänke und Kleiderhaken. Weiter hinten befand sich das Studio, ein rechteckiger Raum mit Spiegeln, einer an der Wand befestigten Stange und – natürlich – Holzfußboden. Als er nirgendwo ein Klavier entdeckte, wurde Dante klar, dass das nervige endlose Lied, das ihn in den Wahnsinn getrieben hatte, wohl aus der Kompaktanlage gekommen war, die in einer Ecke stand.

Er massierte sich die Schläfen und wünschte, das Hämmern würde aufhören. Dann marschierte er ins Studio. Immerhin war er ein kaltherziger Schweinehund von einem Anwalt – so bezeichneten ihn zumindest seine Gegner. Also würde er jetzt seinem Ruf gerecht werden und die Tanzlehrerin in ein vor Angst zitterndes Bündel verwandeln. Er würde sie dazu bringen, sofort mit dem Lärm aufzuhören. Und dann konnte er endlich zu seinem Anruf zurückzukehren.

„Wir müssen reden“, verkündete, sobald er in der Mitte des Raumes stehen blieb.

Drei der Wände waren verspiegelt, sodass er sich aus mehreren unvertrauten Winkeln sah. Sein Hemd war zerknittert, die Haare waren zerzaust. Ich sehe müde aus, dachte er kurz, bevor er seine Aufmerksamkeit auf …

Dante unterdrückte einen Fluch, als er die große schlanke Frau sah, die lediglich ein schwarzes Trikot und eine hauchdünne schwarze Strumpfhose trug. Obwohl sie vom Schlüsselbein bis zu den Zehen bedeckt war, blieb bei dem engen Outfit nichts der Fantasie überlassen. Verdammt! Er fühlte sich so unbehaglich, als hätte er sie beim Umziehen überrascht. Eine sexy Frau mit großen grünen Augen und honigblonden Haaren. Eine Frau, die aus vielen Gründen vollkommen unberührbar war.

Er biss die Zähne zusammen. Warum hatte Rafe nicht erwähnt, dass seine kleine Schwester jetzt hier arbeitete? Doch selbst wenn sein Geschäftspartner ihn nicht fürs bloße Hinschauen umbringen würde, hatte Dante eine Liste mit festen Regeln. Keine emotionale Bindung stand darauf an oberster Stelle. Also war hier Vorsicht geboten. Denn jemand, der freiwillig einem Haufen Kinder das Tanzen beibrachte, musste ein weiches Herz haben. Und diese Art von Weichherzigkeit führte nur zu Problemen.

„Was machst du denn hier?“, fragte Evangeline Stryker.

Tatsächlich, dachte er, während er sie weiter anstarrte.

Rafes Schwester war für den Albtraum verantwortlich, der momentan sein Leben bestimmte. Sie und diese unglaublich lauten Minitänzer, die sie unterrichtete.

„Dante?“

„Sorry.“ Er bemühte sich, das gereizte Knurren zu unterdrücken, das aus seiner Kehle aufstieg. „Ich wusste nicht, dass du hier arbeitest.“

Evie schaute ihn aus großen Augen an, dann stieß sie ein seltsames Geräusch aus, das wie eine Mischung aus Weinen, Lachen und einem hysterischen Anfall klang. „Ja, ich arbeite hier. Ich unterrichte Tanz. Ich Glückliche.“

Dante wusste, dass Evie sich vor mehreren Monaten ein Bein gebrochen hatte. Doch er konnte sich nicht erinnern, etwas von einer Kopfverletzung gehört zu haben. „Geht es dir gut?“

„Nein“, gab sie kurz angebunden zurück und stemmte die Hände in die Hüften. „Sehe ich so aus, als ob es mir gut ginge?“

Er machte einen Schritt zurück, weil er keinerlei Bedürfnis verspürte, sich in einen emotionalen Tumult hineinziehen zu lassen. „Ich bin nur nach oben gekommen, weil ich so nicht weiterarbeiten kann. Das ist ja nicht auszuhalten: dieses Wummern und dazu die immer gleiche Musik. Ich muss heute Abend mit Schanghai telefonieren, und dafür brauche ich Ruhe und Frieden, nicht irgendwelche tobenden Holzschuhtänzer.“ Er hob beide Hände und sagte so gelassen wie möglich: „Das muss aufhören.“

„Das muss aufhören? Das muss aufhören?“ Ihre Stimme schwoll mit jedem Wort weiter an. „Machst du Witze?“

Evie wusste, dass ihre Stimme schrill klang. Vermutlich waren ihre Augen weit aufgerissen und ihre Wangen gerötet, sodass sie insgesamt ziemlich beängstigend aussah. Doch das war ihr im Moment egal. Die Panik hatte sie gepackt, und nun musste Dante ihre Tirade über sich ergehen lassen.

„Du willst mit mir über deine Probleme sprechen?“, fuhr sie fort. „Fein. Hier sind meine: In ungefähr sechs Wochen ist Heiligabend. Der Abend, an dem die Stadt erwartet, wie üblich ihr Lieblingsstück zu sehen – Der Tanz des Winterkönigs. Wie? Davon hast du noch nie etwas gehört? Tja. Ich auch nicht. Aber so viel weiß ich immerhin: Es ist eine große Nummer hier in Fool’s Gold. Eine sehr große Nummer.“

Sie holte kurz Luft und fragte sich, ob es tatsächlich möglich war, dass einem der Kopf explodierte. In ihrem baute sich nämlich gerade so ein unangenehmer Druck auf. Die ganze Sache war ein einziger Albtraum. Eines dieser Horrorszenarien, in denen man nackt vor einem Saal voller Fremder stand – was nicht heißen sollte, dass es besser wäre, nackt vor einem Saal voller Bekannter zu stehen.

„Ich werde dir die Details der Geschichte ersparen“, sagte sie, während der Druck in ihrer Brust immer weiter zunahm. „Lass uns einfach sagen, es wird viel getanzt. Von Schülern. Ach ja, die Schüler dieses Jahr sind natürlich andere als im letzten Jahr, weil die vom letzten Jahr inzwischen besser geworden sind. Also muss man ganz von vorn anfangen. Was an sich kein Problem wäre, denn es gibt ja Miss Monica, die seit ungefähr fünfhundertfünfzig Jahren hier unterrichtet.“

Ihre Stimme wurde noch schriller, wie ihr selbst auffiel. Hastig bemühte sie sich, leiser zu sprechen. „Das Problem an der Sache ist nur, dass Miss Monica mit ihrem Verehrer abgehauen ist. Die Frau muss um die siebzig sein, insofern ist es höchst beeindruckend, dass sie überhaupt ein Liebesleben hat. Leider hat das aber dazu geführt, dass sie ohne Vorwarnung durchgebrannt ist und mir nur einen kleinen Zettel dagelassen hat.“

Evie zeigte auf das winzige Stück Papier, das noch immer am Spiegel klebte.

„Miss Monica ist weg“, sagte sie noch einmal. „Hat die Stadt verlassen. Fliegt morgen früh mit der ersten Maschine außer Landes. Und ich bleibe mit knapp sechzig Mädchen zurück, denen ich Tänze beibringen soll, von denen ich noch nie etwas gehört oder gesehen habe. Es gibt keine nennenswerte Choreografie, ich bin mir nicht sicher, was die Musik angeht, und außerdem habe ich erfahren, dass die Kulissen alt sind und komplett renoviert werden müssen. Und das alles innerhalb der nächsten sechs Wochen.“

Sie verstummte kurz. Atmete tief durch. „Alles hängt an mir. Willst du wissen, wie lange ich schon Tanzunterricht gebe? Zwei Monate. Ganz richtig. Das hier ist meine allererste Stelle als Tanzlehrerin. Sechzig Mädchen vertrauen darauf, dass ich ihnen helfe, ihre Träume zu verwirklichen. Ihre Träume davon, schön und elegant zu sein. Denn weißt du was? Für einige von ihnen ist das alles, was sie haben.“

Sie wusste, dass sie knapp davor war, über sich selbst zu sprechen. Darüber, wie in ihrer Kindheit Tanzen alles gewesen war, was sie hatte. Sie verfügte vielleicht über keine besondere Erfahrungen als Lehrerin, aber sie wusste ganz genau, wie es war, sich besonders fühlen zu wollen. Und bei Gott, sie würde ihren Schülerinnen dieses Gefühl geben.

Sie richtete sich auf, drückte die Schultern durch und ging auf Dante zu. Dann stieß sie mit dem Finger gegen seine Brust. Besser gesagt, gegen die kühle Seide seiner modischen Krawatte. Die vermutlich mehr gekostet hatte, als sie in einem Monat für Lebensmittel ausgab. Sie wusste nicht viel über Dante Jefferson, außer dass er der Geschäftspartner ihres Bruders und deshalb ekelerregend reich war. Okay – er sah ganz gut aus, aber das half ihr im Moment auch nicht, also würde sie es nicht weiter beachten.

„Wenn du auch nur eine Sekunde lang denkst, ich würde das Training hier abblasen“, sagte sie, „irrst du dich gewaltig. Ich durchlebe gerade eine ernsthafte Krise. Wenn du eine Unterhaltung mit Schanghai führen willst, tu das irgendwo anders. Ich hänge am seidenen Faden, und wenn der reißt, werden wir alle in den Abgrund stürzen.“

Dante starrte sie lange an, dann nickte er. „Klingt logisch.“

Damit drehte er sich um und verließ das Studio.

Ihr wütender Blick folgte ihm. Klar. Er konnte in sein tolles Leben zurückkehren. Sie nicht. Sie musste überlegen, was als Nächstes zu tun war. Am liebsten wäre sie jetzt wild auf und ab getigert und hätte dabei laut geschrien. Aber das würde ihr nicht helfen, die vor ihr liegende Aufgabe zu bewältigen. Genauso wenig wie sich über die Ungerechtigkeit des Schicksals zu beschweren, auf irgendetwas einzutreten oder massenhaft Schokolade zu essen. Nein, sie hatte vielleicht in anderen Bereichen ihres Lebens versagt, aber ihre Schüler würde sie nicht im Stich lassen.

„Du bist hart im Nehmen“, sagte sie sich. „Du schaffst das.“

Und das werde ich auch, dachte sie, als sie auf den Boden sank und ihren Kopf auf die Knie stützte. Jawohl. Sie würde herausfinden, wie der Tanz des Winterkönigs ging, und ihn dann ihren Schülerinnen beibringen.

Gleich morgen. Doch jetzt würde sie sich ein paar Minuten nehmen, um sich ganz entsetzlich leidzutun. Das hatte sie sich wirklich redlich verdient.

Am nächsten Morgen startete Evie voller Entschlossenheit in den neuen Tag. Sie hatte schon Schlimmeres überlebt und würde es wahrscheinlich noch öfter tun müssen. Ohne jegliche Hilfe eine Aufführung auf die Beine zu stellen, die sie noch nie gesehen hatte, mochte vielleicht entmutigend wirken – aber na und?

Ihr Selbstbewusstsein reichte gerade bis zur ersten Tasse Kaffee, dann kehrte das panische Gefühl mit voller Wucht zurück. Ihr Magen verdrehte sich zu einem festen Knoten. Okay, dachte Evie, während sie sich zwang, ruhig zu atmen. Offensichtlich bestand der erste Schritt darin, nicht alles allein schaffen zu wollen. Sie brauchte Hilfe. Die Frage war nur, woher sie die bekommen sollte.

Sie war neu in der Stadt, was bedeutete, dass sie noch nicht über ein Netzwerk an Freunden und Bekannten verfügte. Na gut, das stimmte nicht ganz. Ihre Brüder hatten in letzter Zeit ein überraschendes Interesse an ihr gezeigt. Rafe hatte sogar gegen ihren Willen die Miete für ihr Haus bezahlt. Doch im vorliegenden Fall wären ihre Brüder keine große Hilfe. Ihre Mutter kam nicht infrage, und Fremde zu fragen, was sie über den Tanz des Winterkönigs wussten, kam ihr doch etwas merkwürdig vor. Blieben also nur die Frauen ihrer Brüder.

Evie besaß drei Schwägerinnen. Genauer gesagt eine tatsächliche Schwägerin und zwei zukünftige. Von den dreien schien Charlie die geeignetste zu sein. Sie war unverblümt, aber gutherzig. Ja, Charlie war genau die richtige Person. Nachdem Evie ein leichtes Stretchingprogramm durchgeführt hatte, um ihr immer noch nicht ganz wiederhergestelltes Bein aufzuwärmen, zog sie sich daher an und machte sich auf ins Stadtzentrum.

Fool’s Gold war eine kleine Stadt, die am Fuße der Sierra Nevada lag. In den Wohnvierteln standen hübsche Häuser inmitten gepflegter Gärten, während die Innenstadt mit ihrem halben Dutzend Ampeln fast schon den Eindruck einer Metropole erweckte. Auf den Stufen vor den Häusern leuchteten geschnitzte Kürbisse, und in den Fenstern hingen aus Papier gebastelte Truthähne. Orange, rote und gelbe Blätter wirbelten über die Bürgersteige. Noch hatte es nicht geschneit, aber nachts fielen die Temperaturen schon unter null Grad, und am letzten Wochenende hatten die Skilifte in den höheren Lagen den Betrieb aufgenommen.

Der ganze Ort ist eine einzige glückliche Postkartenidylle, dachte Evie und schob die Hände tiefer in die Taschen ihrer Jacke. Sie wünschte, sie wäre woanders. In Los Angeles zum Beispiel. Dort war es warm, und die Stadt war so groß, dass niemand den anderen beim Namen kannte. Ein himmlischer Zustand. Sie wollte ihr Leben leben, ohne sich auf andere Leute einlassen zu müssen. War das zu viel verlangt?

Dumme Frage, schalt sie sich. Sie war jetzt hier und trug die Verantwortung für eine wichtige Weihnachtstradition. Sie würde es gut machen, weil sie wusste, wie es war, enttäuscht zu werden. Auf keinen Fall würde sie das ihren Schülerinnen antun.

Sie bog um die Ecke und ging auf die Feuerwache in der Stadtmitte zu. Das alte Backsteingebäude hatte riesige Garagentore, die sich im Fall eines Einsatzes in Sekundenschnelle öffneten.

Charlie war Feuerwehrfrau und fuhr einen der riesigen Löschzüge. Sie war kompetent, sarkastisch und ein kleines bisschen einschüchternd. Außerdem war sie auch eine Art Außenseiterin, weshalb Evie sich in ihrer Nähe wohlerfühlte. Clay, Evies jüngster Bruder, war total verrückt nach Charlie. Anders gesagt: Er war bis über beide Ohren in sie verknallt – und noch ein Stück darüber hinaus.

Clay war schon einmal verheiratet gewesen, und Evie hatte seine verstorbene Frau angebetet. Wenn sie so darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass Clay einen ganz besonderen Geschmack hatte, was Frauen anging. Nach Jahren der Trauer war er in die Beziehung mit Charlie hineingestolpert und hatte ihr bald darauf sein Herz zu Füßen gelegt. Es war irgendwie schön zu sehen, dass jemand, der so perfekt war wie Clay, von seinen Gefühlen in die Knie gezwungen werden konnte.

Am Eingang der Feuerwache zögerte Evie. Sie sprach sich Mut zu. Du musst nur die Tür öffnen und hineingehen. Was sie auch tun würde. Gleich. Es war nur … Um Hilfe zu bitten fiel ihr nicht leicht. Sie hätte jetzt problemlos neunzig Dinge aufzählen können, die sie lieber tun würde. Vielleicht sogar noch mehr.

Während sie zögernd dastand, schwang plötzlich die Tür auf, und Charlie Dixon kam heraus. „Evie? Alles okay?“

Charlie war ein wenig größer als Evie und viel kräftiger. Sie hatte breite Schultern und gut trainierte Muskeln – Letzteres war vermutlich eine Voraussetzung für ihren Job. Evie hatte ihr ganzes Leben damit zugebracht, die richtige Balance zu finden: Einerseits musste sie stark genug sein, um tanzen zu können. Und andererseits dünn genug, um in jedem Kostüm, das man ihr gab, gut auszusehen. Was bedeutete, dass sie jeden Tag seit ihrem vierzehnten Geburtstag gehungert hatte.

„Hey, Charlie.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Hast du kurz Zeit?“

„Klar. Komm rein.“

In der Feuerwache war es warm und hell. Die großen Löschzüge glänzten, und aus versteckten Lautsprechern klang Weihnachtsmusik. Charlie ging voran in die Küche, die über lange Arbeitsflächen und einen sechsflammigen Profiherd verfügte und an deren Esstisch locker fünfzehn bis zwanzig Leute Platz fanden. Eine Kanne Kaffee stand auf der Fensterbank und auf dem Tisch eine offene Schachtel Donuts.

Charlie schenkte zwei Becher Kaffee ein und reichte Evie einen. Dann setzte sie sich an den Tisch, schnappte sich einen mit Ahornsirup lasierten Donut und biss herzhaft hinein.

Evie sah staunend zu. Je nach Größe konnte ein Donut zwischen zweihundert und fünfhundert Kalorien haben. Kurz nach Einsetzen der Pubertät hatte sie gelernt, dass sie zu einem birnenförmigen Körper neigte. Jedes Extragramm Fett setzte sich bei ihr sofort an Hüften, Oberschenkeln und Hintern fest. Die Mediziner wollten einem zwar weismachen, dass die Birnenform die gesündeste Körperform war, doch mehr als ein Kostümdesigner hatte Evie darauf hingewiesen, dass niemand eine Ballerina mit dickem Hintern und schwabbeligen Oberschenkeln sehen wollte.

Sie umklammerte ihren Kaffeebecher mit beiden Händen und riss den Blick von der Donutschachtel los, deren Inhalt angefangen hatte, leise ihren Namen zu rufen. Stattdessen schaute sie Charlie an.

„Ich wollte fragen, ob wir uns kurz über den Tanz des Winterkönigs unterhalten können. Kennst du die Produktion?“

„Klar.“ Charlie legte den halben Donut auf eine Serviette und nahm ihren Kaffeebecher in die Hand. „Sie wird jedes Jahr an Heiligabend aufgeführt. Ist eine ziemlich große Sache.“ Sie lächelte, und ihre großen blauen Augen funkelten amüsiert. „Ach, stimmt, du arbeitest jetzt ja für Miss Monica. Bist du schon nervös wegen der Show?“

„Du hast ja keine Ahnung.“ Miss Monicas Verschwinden war eine Sache, denn schließlich war sie die Studioleiterin. Doch noch komplizierter wurde die Situation dadurch, dass Charlies Mutter die Tanzschule vor Kurzem gekauft hatte. Evie hatte ihr am Vorabend eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, um sie über die aktuelle Lage zu informieren, doch bislang noch keine Rückmeldung erhalten.

„Es gibt da ein kleines Problem: Miss Monica ist gestern abgehauen.“ Evie erzählte kurz von der Flugreise der alten Dame mit ihrem neuen Freund. Dann fuhr sie bedrückt fort: „Ich habe den Tanz nie gesehen, und Miss Monica hat mir kaum Notizen hinterlassen. Sie hat nur mal erwähnt, dass die Kulissen aufgearbeitet werden müssen, aber ich weiß nicht mal, wo die gelagert werden. Ich habe sechzig Schülerinnen, die erwarten, in sechs Wochen vor ihren Familien zu tanzen, und ich habe keine Ahnung, was ich hier eigentlich tue. Schlimmer noch, es gibt nicht mal Videoaufnahmen der Aufführung im Studio. Falls Miss Monica je welche gehabt hat, befinden die sich in ihrem Haus – aber sie ist ja bereits auf dem Weg nach Italien.“

Evie hielt inne und holte tief Luft. Die Panik war zurückgekehrt, und mit ihr der Drang, irgendetwas mit viel Zucker zu essen. Sie streckte die Hand bereits nach einem kleinen schlichten Donut aus, fügte sich dann aber ins Unvermeidliche und nahm sich einen mit Schokoglasur. Als ihre Zähne in den weichen Teig sanken, fing die Welt langsam an, sich wieder in normaler Geschwindigkeit zu drehen.

Charlie fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen Haare und stöhnte. „Ich versuche verzweifelt, mir Miss Monica nicht mit ihrem Freund vorzustellen.“

Evie kaute und schluckte. „Ich weiß genau, was du meinst. Zum Glück hilft mir die Panik über die Aufführung dabei, diese Bilder zu verdrängen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Charlie nippte an ihrem Kaffee. „Okay, lass mich überlegen. Seitdem ich in die Stadt gezogen bin, habe ich den Tanz jedes Jahr gesehen. Aber ich kann mich nicht an die Einzelheiten erinnern. Also fang am besten mit deinen Schülerinnen an. Die Eltern haben bestimmt Videoaufnahmen vom letzten Jahr. Die anzusehen würde dich doch schon ein ganzes Stück weiterbringen, oder?“

Evie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und nickte. „Du hast recht. Selbst wenn ihre eigenen Kinder noch nicht mittanzen konnten, haben ein paar der Eltern bestimmt die Aufführung gefilmt. Das ist perfekt. Danke.“

Charlie stand auf und ging in den Küchenbereich. Dort zog sie eine Schublade auf und kehrte kurz darauf mit Zettel und Stift an den Esstisch zurück.

„Die Kulissen befinden sich in einem der Lagerhäuser am Rande der Stadt. In den Unterlagen des Studios müssten sich Rechnungen für die Monatsmiete befinden.“ Sie schrieb einen Namen auf. „Sag ihm, wer du bist, und er lässt dich auch ohne Schlüssel rein. Dann kannst du dir die Sachen erst mal ansehen. Lass mich wissen, wie viel zu tun ist, dann organisieren wir eine Arbeitsparty.“

Evie blinzelte. „Eine was?“

„Eine Arbeitsparty. Die Leute kommen und helfen, die Kulissen zu reparieren. Du musst nur die Materialien bereitstellen, den Rest machen sie.“

„Ich verstehe nicht … Du meinst, es gibt eine Gruppe, die ich anheuern kann, um das Bühnenbild zu reparieren?“ Evie war nicht sicher, wie viel so etwas kostete. Vielleicht würde ihre neue Chefin die ganze Aufführung lieber absagen.

Charlie seufzte und tätschelte ihr die Hand. „Du musst sie nicht anheuern. Sie helfen dir freiwillig.“

„Warum?“

„Weil das Fool’s Gold ist und wir das hier so machen. Nenn einfach einen Tag, und ich sag allen Bescheid. Vertrau mir, alles wird gut.“

„Klar“, murmelte Evie, obwohl sie nicht eine Sekunde daran glaubte. Warum sollten Leute, die sie nicht kannte, auftauchen, um ihre Kulissen instand zu setzen? Noch dazu umsonst? „Diese Wundermenschen können nicht zufällig auch Kostüme ändern und die Mädchen für die Aufführung schminken und frisieren?“

„Vermutlich nicht, aber es gibt ein paar Friseurläden in der Stadt.“ Charlie schrieb wieder etwas auf. „Irgendjemand hat es schließlich jedes Jahr gemacht. Fang am besten hier bei dieser Adresse an. Frag sie, wer sich normalerweise um Haare und Make-up für die Aufführung kümmert. Ich nehme an, es ist entweder Bella oder Julia. Vielleicht beide.“ Sie griff nach dem Rest ihres Donuts. „Die zwei sind Schwestern, aber schon seit Jahren verfeindet. Gute Unterhaltung ist also garantiert.“

Evies verletztes Bein fing an wehzutun. „Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Ich frage die Eltern meiner Schülerinnen, ob sie Videoaufnahmen von einer Produktion besitzen, die ich noch nie gesehen habe, damit ich ihren Töchtern den Tanz beibringen kann. In der Zwischenzeit wird mich ein Mann, der mich überhaupt nicht kennt, in ein Lagerhaus einlassen, damit ich mir die Kulissen anschauen kann. Du arrangierst eine Arbeitsparty, bei der ein paar völlig Fremde ebendiese Kulissen reparieren und das auch noch umsonst. Und zwei verfeindete Schwestern werden vielleicht – oder auch nicht – Haare und Make-up für sechzig Tänzerinnen machen.“

Charlie grinste. „Gut zusammengefasst. Und jetzt sag mir die Wahrheit: Fühlst du dich nun besser oder schlechter als vor deinem Besuch hier?“

Evie schüttelte den Kopf. „Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung.“

2. KAPITEL

Nach der letzten Unterrichtsstunde ging Evie zu Fuß nach Hause. Der Abend war klar und kalt und roch nach Herbst. Nach Blättern und Erde und Kaminfeuer. Sie war vielleicht ein Großstadtmädchen, aber es gab durchaus Dinge, die ihr an Fool’s Gold gefielen. Nicht überall mit dem Auto hinfahren zu müssen war nett. Genauso wie die Sterne am Himmel sehen zu können. Was jetzt noch fehlte, war nur ein chinesisches Restaurant mit Lieferservice.

Sie bog in ihre Straße ab. Die Veranden und Fenster der meisten Häuser waren für Thanksgiving festlich geschmückt. Ihr Haus war möbliert gemietet, und sie wohnte erst seit wenigen Wochen dort. Sie hatte keinerlei Interesse, Wurzeln zu schlagen, und der Kauf von neuen Möbeln war mit ihrem Budget nicht drin. Vielleicht könnte sie aber wenigstens ein paar Lichterketten ins Fenster hängen oder so.

Irgendwo schlug eine Tür zu. Sie hörte Lachen und einen Hund bellen. Gemütliche Geräusche. Eine Sekunde erlaubte sie sich, zuzugeben, dass sie … nun ja, einsam war. Abgesehen von ihrer Familie kannte sie kaum jemanden im Ort. Ihr Kontakt mit den Nachbarn beschränkte sich bislang darauf, dem Pärchen gegenüber freundlich zuzuwinken. Die Leute neben ihr hatte sie noch nicht zu Gesicht bekommen.

Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, fehl am Platz zu sein. Das kannte sie nur zu gut. In Los Angeles hatte sie zwar viele Freunde gehabt, aber keinen Plan, in welche Richtung ihr Leben gehen sollte. Sie hatte auf etwas gewartet. Ein Zeichen. Hatte ihren Alltag hinter sich gebracht, ohne je das Gefühl zu haben, dazuzugehören. Eines Tages würde die Antwort schon kommen. Jetzt fing sie jedoch langsam an zu glauben, dass „eines Tages“ gar nicht existierte. Es gab nur das Jetzt, und da lag es an ihr, herauszufinden, was sie eigentlich wollte.

Das hier wäre doch ein guter Anfang, dachte Evie, als ein schwarzer Wagen in die Auffahrt des Nachbarhauses bog. Wobei, noch lieber als ein ordentliches Auto wäre ihr, mal endlich mehr als hundert Dollar auf dem Konto zu haben.

Sie beobachtete, wie sich die Wagentür öffnete. Innerlich richtete sie sich schon mal darauf ein, wenigstens höflich zu tun. Doch sie hatte kaum die Hand zu einem halbherzigen Gruß erhoben, als sie erkannte, wer da ausstieg: Dante Jefferson.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie. Spionierte er ihr etwa nach? Typisch. Ihre Brüder schafften es noch nicht mal, sich die Adresse richtig zu merken. Dante stand auf der falschen Einfahrt.

„Ich wohne hier.“

„Wo?“

Er zeigte auf das Haus neben ihrem.

Sie ließ den Arm sinken. „Ehrlich? Wie lange schon?“

„Ich bin am Wochenende nach dir eingezogen.“

„Du wusstest, dass du neben mir einziehen würdest?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich hatte keine große Wahl. Ich weiß noch nicht, ob ich etwas kaufen will oder nicht, also habe ich mich erst einmal für eine kurzfristige Miete entschieden. Hast du Hunger?“

„Was?“ Sie versuchte immer noch, die Tatsache zu begreifen, dass ausgerechnet Dante Jefferson ihr Nachbar war.

Er holte eine große Tüte aus dem Auto. „Ich hab was vom Italiener. Das reicht locker für zwei. Komm rein.“ Er ging auf seine Haustür zu, bevor sie sich entschieden hatte, ob sie seine Einladung nun annehmen sollte oder nicht.

Dante war der Geschäftspartner ihres Bruders. Das allein war Grund genug, um dankend abzulehnen. Er stand mit ihrer Familie in Verbindung, und sie wollte ihrer Familie aus dem Weg gehen. Weil sie in ihrer Nähe jedes Mal verletzt wurde. Das hatte sie schon früh gelernt: Menschen, die einen lieben sollten, taten es meistens nicht. Sich so fern wie möglich von ihnen zu halten bedeutete, in Sicherheit zu sein.

„Und Wein“, rief Dante ihr über die Schulter zu.

Sie hätte die Tüte mit dem Essen und den Wein ignoriert – wenn nur ihr Magen nicht so sehr geknurrt hätte. Und jetzt stieg auch noch dieser schrecklich verlockende Duft in ihre Nase.

„Knoblauchbrot?“, fragte sie und atmete den Geruch noch tiefer ein, während Bilder von köstlichem Ciabatta vor ihrem inneren Auge aufstiegen.

Dante blieb lachend an der Haustür stehen. „Ja, Knoblauchbrot. Freut mich, dass du die Einladung annimmst. Auch wenn es wohl eher am Essen liegt als an meiner prickelnden Persönlichkeit.“

„Ich, also. Ich sollte wirklich nicht …“, fing sie an, wobei sie schon einen Schritt auf ihn zu machte.

Er lächelte und hob noch einmal die Tüte hoch. „Komm schon. Nur dieses eine Mal. Das schaffst du.“

Nur dieses eine Mal, stimmte sie stumm zu. Das war ja wohl nicht so gefährlich.

Sie stieg die Stufen zur Haustür hinauf und stellte sich neben ihn. Er reichte ihr die Tüte mit dem Essen, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein.

Sein Haus glich ihrem haargenau, entdeckte Evie. Ein Wohnzimmer mit einem kleinen Gaskamin und einer dahinterliegenden Küche. Ein Gästebad, das unter der Treppe versteckt war. Und dann gab es im ersten Stock noch ein großes und ein kleines Schlafzimmer sowie ein Bad mit Badewanne.

Dantes Einrichtungsstil tendierte zu viel schwarzem Leder und Glas. Vermutlich handelte es sich um Möbel aus seiner Wohnung in San Francisco. Ihr Bruder hatte erwähnt, dass Dante erst vor wenigen Monaten nach Fool’s Gold gezogen war.

Nachdem er die Tüte auf den Tisch gestellt hatte, zog Dante seinen Mantel aus und ließ Jackett und Krawatte kurzerhand aufs Sofa fallen. Dann rollte er die Ärmel seines Hemds hoch und ging in die Küche. Er ist groß, dachte Evie und ließ ihren Blick über die kurzen blonden Haare und die umwerfenden blauen Augen gleiten. Als er sich umdrehte, um etwas aus dem Regal zu holen, ließ sie ihren Blick weiter nach unten wandern. Netter Hintern. Er bewegte sich auch gut. Athletisch. In der Schule und auf der Uni war Dante sicher eine Sportskanone gewesen und auch jetzt war er sehr gut in Form.

„Ich gehe mal kurz ins Bad“, sagte sie und zeigte den Flur hinunter.

„Du weißt ja, wo es ist.“

Sie schloss die Tür hinter sich und wusch sich schnell die Hände. Ihr Gesicht war blass, die Augen zu groß. Sie sah müde aus. Vermutlich, weil sie immer noch nicht ganz gesund war.

Als sie ins Esszimmer zurückkehrte, hatte Dante bereits den Wein geöffnet und den Tisch mit Tellern und Papierservietten gedeckt. Auf dem Küchentresen standen mehrere offene Schachteln mit verschiedenen Gerichten.

„Bedien dich“, sagte er.

„Ein Büfett, wie nett!“ Sie nahm sich Lasagne und ein wenig Salat sowie zwei Scheiben Knoblauchbrot. Ihr Gehirn rechnete automatisch die Kalorien zusammen, doch sie ignorierte die Zahl. Ihr Tänzerinnengewicht zu halten war nicht mehr wichtig. Und außerdem war sie es leid, ständig Hunger zu haben.

Sie setzten sich einander gegenüber. Evie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, nahm das Glas Wein in die Hand und lächelte. „Wie läuft’s in Schanghai?“

„Besser. Wir bauen ein Hochhaus und haben endlich die nötigen Genehmigungen bekommen.“ Er hielt inne. „Ich schätze mal, die genauen Einzelheiten interessieren dich nicht wirklich.“

„Wenn sie wichtig sind, kannst du sie mir gerne erzählen.“

„Du würdest dann Interesse vortäuschen?“

Sie lachte. „Ja, sogar ungläubiges Erstaunen, wenn das gefragt ist.“

„Ich komme darauf zurück.“ Er betrachtete sie. „Wie sieht es mit deiner Krise aus? Ebenfalls besser? Du bist heute nicht so …“ Er zögerte.

„Schrill?“, schlug sie vor.

„Ich hätte ein anderes Wort gewählt.“

„Sehr weise.“ Sie nahm ihre Gabel in die Hand. „Ich kämpfe noch immer mit allem, was passiert ist. Aber ich werde es überstehen.“

„Was macht das Bein?“

Evie zuckte zusammen. Darüber wollte sie lieber nicht sprechen.

Zwei Jahre lang war sie Cheerleaderin für das Footballteam Los Angeles Stallions gewesen. Doch dann war sie am Anfang der aktuellen Saison von einem der Spieler umgerannt worden. Sie hatte sich den Fuß gebrochen, ein paar Sehnen gerissen und quasi jede Chance verloren, jemals wieder als Tänzerin zu arbeiten.

Zusätzlich zu dieser Katastrophe war dann auch noch ihre Familie aufgetaucht. In einem verspäteten Versuch, sich um sie zu kümmern, waren sie plötzlich allesamt im Krankenhaus erschienen. Auch am Tag der Entlassung waren ihre Brüder sofort zur Stelle gewesen. Sie hatten Evies noch immer benebelten Zustand ausgenutzt und sie einfach nach Fool’s Gold verfrachtet. Als sie endlich wieder bei klarem Verstand war, hatte Evie feststellen müssen, dass alle ihre Sachen hergebracht worden waren, man sich schon um einen Physiotherapeuten gekümmert hatte, und ihre Brüder und ihre Mutter ständig um sie herumgluckten. Also hatte sie versucht, das Beste aus der Angelegenheit zu machen. Sie hatte den Job in der Tanzschule angenommen und war so schnell ausgezogen, wie sie nur konnte. Doch in einer so kleinen Stadt wie dieser hier war es unmöglich, ihrer Familie völlig aus dem Weg zu gehen.

Der einzige Lichtblick in dieser langen, düsteren Zeit war, dass sie festgestellt hatte, wie sehr sie es liebte, Tanz zu unterrichten. Sie war schon immer diejenige gewesen, die ihren Mitschülerinnen geholfen hatte, schwierige Schritte und Abfolgen zu meistern. Sie besaß vielleicht nicht die für einen Star nötige Brillanz, aber sie verstand es, eine Choreografie in ausreichend kleine Schritte herunterzubrechen, um sie anderen beizubringen. Lustig, dass sie nie daran gedacht hatte, das zu ihrem Beruf zu machen. Doch seit sie hier mit den Mädchen arbeitete, überlegte sie immer öfter, dass sie vielleicht endlich ihre Bestimmung gefunden hatte.

„Ich bin auf dem Weg der Besserung“, sagte sie. „Ab und zu tut es noch weh, aber nichts, womit ich nicht umgehen könnte.“

Dante nahm einen Bissen Lasagne, kaute und schluckte. „Hat die Leiterin des Tanzstudios sich wirklich einfach verdrückt und dich mit dem Weihnachtsprogramm alleingelassen?“

„Sie hat den Tanz des Winterkönigs seinem Schicksal überlassen“, korrigierte Evie ihn und nickte. „Ja, das hat sie tatsächlich. Man sollte ja glauben, an einem Ort wie diesem wäre das Leben einfach. Aber das ist es nicht. Da gibt es viele Erwartungen und komplizierte Beziehungen.“

„Wie zum Beispiel?“

Sie holte tief Luft. „Okay, Miss Monica hat die Schule geleitet und mich eingestellt. Doch die Besitzerin des Studios ist Dominique Guérin.“ Sie machte eine Pause.

Dante schaute sie erwartungsvoll an.

„Du hast noch nie von ihr gehört?“

„Nein. Sollte ich?“

„Sie ist eine berühmte Ballerina. Oder war es auf jeden Fall. Du bist wohl nicht so an der Tanzwelt interessiert, oder?“

„Sehe ich so aus, als wäre ich daran interessiert?“

„Ja, ich verstehe schon.“ Obwohl sein Knochenbau gar nicht schlecht ist, dachte sie. „Versuchen wir es anders. Dominique ist Charlies Mutter.“

Dante starrte sie an. „Clays Charlie?“

„Genau die.“

„Aber Charlie ist …“ Er schob sich schnell einen Bissen Lasagne in den Mund und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

Evie grinste. „Was hast du gesagt?“, fragte sie unschuldig.

Er deutete auf seinen immer noch vollen Mund, um zu verdeutlichen, dass er jetzt auf keinen Fall sprechen konnte.

„Ich weiß, was du nicht sagen willst“, erklärte sie. „Charlie sieht nicht aus wie eine Tänzerin. Soweit ich es verstanden habe, kommt sie mehr nach ihrem Vater. Wie auch immer, ich habe Dominique eine Nachricht hinterlassen, was im Studio los ist, aber sie hat sich noch nicht bei mir gemeldet. In der Zwischenzeit gehe ich davon aus, dass die Weihnachtsaufführung wie geplant stattfinden soll. Was bedeutet, ich muss hier Dinge organisieren, von denen ich überhaupt keine Ahnung habe. Diese Art von Verantwortung habe ich noch nie getragen.“

Der Appetit war ihr mit einem Mal vergangen, und sie schob ihren Teller von sich. „Charlie hat vorgeschlagen, dass ich ein paar Eltern um Videoaufnahmen der letzten Jahre bitte. Dann wüsste ich wenigstens schon mal, worum es überhaupt geht. Aber dann müssen auch noch Kostüme genäht, die Choreografie einstudiert, die Musik ausgesucht werden.“ Sie unterbrach sich. „Wir sollten das Thema wechseln, bevor ich wieder schrill werde. Das will keiner von uns.“

Er schluckte. „Das ist eine ganze Menge.“

Sie stocherte in ihrem Salat. „Wie gesagt, wir können gerne von etwas anderem reden.“ Sie sah ihn an. „Wie hast du meinen Bruder eigentlich kennengelernt?“

„Rafe?“

„Ja, Rafe. Er ist doch der Einzige, mit dem du zusammenarbeitest, oder? Ich dachte immer, du hättest Shane und Clay durch ihn kennengelernt.“

Dante lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Du weißt es nicht?“

„Wir stehen einander nicht sonderlich nah.“ Sie war mit siebzehn auf die Juilliard gegangen, die berühmte Musikschule in New York, und hatte danach nicht mehr sonderlich viel Kontakt mit ihrer Familie gehabt. Seit dem Unfall hatte sie sie öfter gesehen als in den gesamten acht Jahren davor.

„Auch deiner Mom nicht?“, fragte er.

Sie seufzte. „Lass mich raten. Du und deine Mom, ihr seid euch sehr nah, und du rufst sie mindestens zwei Mal in der Woche an. Das bewundere ich wirklich.“ Und zwar aus einer gesunden Entfernung, dachte Evie. Für sie wäre so viel Nähe ganz und gar nichts. Aber okay, jedem das Seine.

Dante griff nach seinem Wein. „Meine Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben.“

„Oh.“ Evie spürte, wie sie rot wurde. „Das tut mir leid.“

„Wie ich schon sagte, das ist lange her.“ Er beugte sich vor. „Rafe und ich haben uns auf dem College kennengelernt. Wir haben gemeinsam auf dem Bau gearbeitet.“

Sie erinnerte sich, dass ihr Bruder im Sommer verschiedene Jobs angenommen hatte, um sein Stipendium aufzustocken. Aber nachdem sie gerade das von Dantes Mutter erfahren hatte, würde sie jetzt keine weiteren Annahmen mehr treffen, sondern abwarten, was er ihr erzählte.

„Du bist ins Familiengeschäft eingestiegen?“, fragte sie. Er lachte leise. „Nein. Ich habe dafür gesorgt, dass ich meine Rechnungen bezahlen kann. Ich fand heraus, dass ich auf dem College bei den Mädchen wesentlich beliebter war, wenn ich es mir leisten konnte, sie auszuführen. Und dafür hat mein Stipendium nicht gereicht.“

„Intelligent und gut aussehend“, neckte sie ihn. „Warum bist du dann eigentlich immer noch Single?“

„Ich mag die Jagd, bin aber nicht so wild darauf, eingefangen zu werden.“

„Ein Mann, der keine Verpflichtungen eingehen will.“ Sie kannte diese Art. Mit seinen breiten Schultern und blauen Augen hatte Dante garantiert keine Probleme, Frauen auf sich aufmerksam zu machen. All das Geld und der Erfolg waren vermutlich auch nicht hinderlich. „Stellen Sie sich zu bestimmten Zeiten an, oder ist es mehr wie bei der Verlosung von Konzertkarten? Du gibst Nummern aus und meldest dich dann nach dem Zufallsprinzip?“

„Beeindruckend“, sagte er. „Sich im gleichen Atemzug über mich und meine Verabredungen lustig zu machen.“

„Ich habe dich nur ein wenig aufgezogen. Das ist ein Unterschied.“

„Stimmt.“ Er musterte sie über den Rand seines Weinglases hinweg. „Wie steht’s mit dir? Gibt es keinen Ritter in schimmernder Tanzausrüstung, der kommt, um dich aus Fool’s Gold zu retten?“

„Ich befinde mich gerade in der Phase zwischen zwei Rittern. Und auch wenn ich jetzt Gefahr laufe, wie Jane Austen zu klingen, mir gefällt es so. Miss Monica sei ihr Verehrer gegönnt. Ich konzentriere mich lieber auf die anstehende Aufführung.“ Und darauf, meiner Familie aus dem Weg zu gehen, dachte Evie grimmig.

„Hast du die ganze Thanksgiving-Dekoration in der Stadt gesehen?“, fragte er.

„Ja, die Truthähne sind gut vertreten.“

„Weihnachten wird noch schlimmer“, grummelte Dante.

„Zuckerstangen an jedem Briefkasten.“

„Und Tannenkränze an jeder Tür.“ Er schaute sie an. „Es wird hier aussehen wie in einer Schneekugel.“

„Wem sagst du das!“ Sie nippte an ihrem Wein. „Wusstest du, dass es in dieser Stadt keinen einzigen Supermarkt gibt, der rund um die Uhr geöffnet hat? Was soll das? Was, wenn man morgens um zwei dringend etwas braucht?“

„Wie zum Beispiel eine große Packung Aspirin, nachdem man den ganzen Abend lang ein paar Holzschuhtänzern zuhören durfte?“

„Du wirst sie lieben, wenn du sie erst auf der Bühne siehst.“

„Ja, vielleicht.“ Er runzelte die Stirn. „Hey, wieso bist du denn kein Freund von Weihnachten? Mit so einer großen Familie solltest du diese Jahreszeit doch lieben. Ich wette, deine Mom hat Weihnachten immer zu etwas ganz Besonderem gemacht.“

Evie stellte ihr Glas ab und presste eine Hand auf den Magen, der auf einmal unangenehm brannte.

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