Ein Duke in geheimer Mission

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Nach der Verurteilung seines Vaters strebt Marcus Stanwick danach, seinen Namen wieder reinzuwaschen. Um zu beweisen, dass er nichts mit der Verschwörung gegen die Königin zu tun hatte, macht er sich an die Ermittlungen. Dafür benötigt er die Hilfe der schönen Esme Lancaster – einer Frau mit äußerst lasterhaftem Ruf! Doch je mehr Zeit er mit ihr verbringt, desto deutlicher erkennt Marcus, dass er sich in ihr getäuscht hat. Als verlässliche Partnerin geht Esme mit ihm auf Verbrecherjagd, und bald schon sind es nicht mehr nur die gefährlichen Momente, die sein Herz zum Rasen bringen …


  • Erscheinungstag 27.01.2024
  • Bandnummer 158
  • ISBN / Artikelnummer 0840240158
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Lorraine Heath

Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt mit ihrem Mann in Texas. Noch mehr über die Autorin erfahren Sie auf ihrer Homepage: www.lorraineheath.com

1. KAPITEL

September 1874

Es hatte eine Zeit gegeben, da war Marcus Stanwick nicht nur der rechtmäßige Erbe des glanzvollen, erhabenen und mächtigen Dukedom of Wolfford gewesen, sondern auch Mitglied einer Familie, die seit den Tagen Wilhelms des Eroberers zu den vornehmsten des Königreichs zählte.

Damals hatte er Freunde in Hülle und Fülle gehabt; Freunde, mit denen er die Nächte durchzecht, die erlesensten Spirituosen genossen und auf die schnellsten Pferde gewettet hatte. Er war von seinesgleichen geachtet, von seinem Vater geschätzt und von den jungen Damen des ton als ein lohnender Fang betrachtet worden. Alle hatten um seine Gunst gebuhlt, ihn angehimmelt und bewundert, und die Vorstellung, dass seine Zukunft nicht unbeschwert und voller interessanter Erfahrungen sein würde, hätte er als haltlos abgetan.

Damals hatte es ihm an nichts gefehlt, seine glücklichen Lebensumstände waren für ihn eine Selbstverständlichkeit gewesen, mehr noch: sein gutes Recht.

So hatte er auf sein Leben geblickt, ehe es in tausend Scherben zerschellt war. Ehe die Krone seiner Familie ihren gesamten Besitz und ihren guten Namen genommen und sie alle zum gnadenlosen Überlebenskampf auf den Straßen verurteilt hatte, mit nichts weiter als ihrem Verstand, ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit. Ehe man seinen Vater, den zu beeindrucken Marcus einmal so wichtig gewesen war, im Sommer 1873 wegen Hochverrats gehängt hatte und kurz darauf die geliebte, vornehme Mutter gestorben war – infolge der unerträglichen Schande und des Kummers darüber, dass man ihren Ehemann der Planung eines Anschlags auf das Leben der Königin für schuldig befunden hatte.

Ehe er selber sich in jemand verwandelt hatte, den er kaum noch wiedererkannte; jemand, den Wut, Hass und Rachsucht förmlich zerfraßen, dessen Lebensinhalt nichts mehr von der Leichtigkeit von einst an sich hatte. Jemand, der nur noch Vergeltung wollte.

Es war ein furchterregender Lebensinhalt, der ihn nachts wachhielt und dazu geführt hatte, dass er das elegante Reihenhaus aufgesucht hatte, dessen exquisit möblierten Salon er nun durchquerte, um an das breite Stabwerkfenster zu treten. Er versuchte die hochflorigen Teppiche, auf die anscheinend kaum jemand seinen Fuß zu setzen pflegte, das makellose Rosenholzbüfett und die geschmackvollen Gemälde an den Wänden zu ignorieren. Er versuchte sich nicht die Frage zu stellen, wie viel von alledem sein ehrloser Vater für seine berüchtigte Mätresse erworben hatte – mit Unsummen Geld aus dem Familienvermögen, als dieses noch im Übermaß vorhanden gewesen war. Ehe sich kein Gold und kein Silber mehr in den Schatullen befunden hatte. Ehe ihr Inhalt und alles andere von Wert von der Krone beschlagnahmt worden war.

Seit über einem Jahr zögerte Marcus, die Frau aufzusuchen und zur Rede zu stellen. Doch heute hatte ihn die Verzweiflung hergetrieben. Ein muskelbepackter, stattlicher Butler mit gebrochenem Nasenbein – Zeugnis eines Kampfs, aus dem er womöglich als Verlierer hervorgegangen war – hatte die Tür geöffnet und ihm von oben herab erklärt, dass zu dieser späten Stunde Besucher nicht mehr vorgelassen würden. Marcus hatte nur verächtlich geschnaubt. Die Hure, die in diesen vier Wänden lebte, war es zweifellos gewöhnt, dass die Gentlemen kamen, wann immer es ihnen beliebte, auch kurz vor Mitternacht. Er hatte den Bediensteten mit einem vernichtenden Blick gemessen und ihn angewiesen, die Dame des Hauses zu holen. Sein Ton hatte keinen Widerspruch geduldet und zu einem Mann gepasst, der eines Tages ein Duke sein würde. Es war der Ton, den er früher ganz selbstverständlich angeschlagen hatte, als seine Zukunft noch gesichert war, als er den Weg, der vor ihm lag, gekannt hatte ebenso wie das Ziel, und obwohl nichts davon noch zutraf, war es schwer, mit alten Gewohnheiten zu brechen.

Er hatte die Frau nur ein einziges Mal gesehen, und auch nur aus einiger Entfernung, als sein Vater ihr in die Kutsche geholfen hatte. Im Sattel seines edlen Rappen sitzend, den er nicht mehr besaß, war Marcus dem Fahrzeug durch die geschäftigen Londoner Straßen gefolgt. Er hatte beobachtet, wie sie das Haus betrat, in dem er sich gerade aufhielt, und als er seinen Vater später darauf angesprochen hatte, hatte dieser unumwunden eingeräumt, dass sie bei seinen nächtlichen Vergnügungen die Hauptrolle spielte. Marcus hatte die Frau, die der Grund für die zunehmende Entfremdung zwischen seinen Eltern war, zu hassen begonnen, zumal der Duke of Wolfford kein Geheimnis mehr aus seiner Affäre machte, nachdem er von seinem Sohn und Erben zur Rede gestellt worden war. Bald hatte die ganze Stadt gewusst, dass der Duke sich mit einer Frau abgab, die gut und gern seine Tochter hätte sein können. Soweit Marcus wusste, war sein Vater nie untreu gewesen, bis diese unverschämte Dirne ihre Netze nach ihm ausgeworfen hatte.

Genau diesen Moment wählte das Objekt seiner Verachtung, um voller Anmut in den Raum zu schweben, ihn sich regelrecht zu eigen zu machen. Mit dem feuerroten Haar, das zu einer kunstvollen, von Perlenkämmen gehaltenen Frisur auf dem Kopf aufgetürmt war, aus der sich ein paar aufreizende Locken gelöst hatten und an ihrem schlanken Schwanenhals herunterringelten, bot sie einen Anblick, bei dem er den Atem anhielt. Vor allem aber war sie größer, als er sie in Erinnerung hatte, reichte wahrscheinlich bis auf wenige Zentimeter an seine ein Meter neunzig heran. Ihr karmesinrotes Kleid unterstrich die Sinnlichkeit ihres Körpers, und der gewagt tiefe Ausschnitt enthüllte mehr als nur den Ansatz ihrer Brüste. Der Stoff lag eng an ihren Rippen an, umschloss ihre schmale Taille und schmiegte sich in einer schmeichelnden Drapierung, die vermuten ließ, dass sie keine Unterröcke trug, an ihre üppigen Hüften. Diese Frau konnte ein Mann hart und schnell und wild reiten, sie würde seine leidenschaftliche Aufmerksamkeit willkommen heißen und sich mit gleicher Leidenschaft revanchieren.

Es brachte ihn schier zur Weißglut, dass er ganz genau wusste, was seinen Vater an ihr gereizt hatte, was alle Männer an ihr reizen musste und ihr Blut zum Kochen brachte. Grundgütiger, er war selber so hart, dass ihm für einen kurzen Moment schwindlig wurde. Am liebsten hätte er die Faust gegen die Wand geschlagen, weil sein Körper ihn derart treulos verriet. Dabei war es nur animalische Wollust, kein Verlangen, kein Begehren, keine Anziehung. Seit seinem gesellschaftlichen Absturz hatte ihm der Sinn nicht nach Unzucht gestanden, noch hatte er Zeit dafür gehabt. Und davon abgesehen fühlte er sich zu der Art Frauen, die sich dazu herabließen, das Bett mit dem Sohn eines Hochverräters zu teilen, nicht hingezogen. Zu dieser Dirne dagegen schon. Sie war ein Frauenzimmer, das ihren Wert kannte und ihn zur Schau stellte, ein Frauenzimmer, das ohne jede Scheu erkennen ließ, über wie viel Erfahrung mit Männern sie verfügte.

Ihr Blick wanderte langsam und prüfend an ihm herunter, wog seine Vorzüge ab und brachte ihn dazu, sich gerade aufzurichten, weil ihm die Vorstellung, dass sie ihn irgendwie mangelhaft finden könnte, gegen den Strich ging. Dann trat sie an das zierliche Rosenholzbüfett, auf dem mehrere Kristallkaraffen neben einem Sortiment Gläser standen. „Marcus Stanwick. Soweit ich weiß, trinken Sie am liebsten Scotch.“

Sie goss die bernsteinfarbene Flüssigkeit in zwei Gläser, trat wie auf Wolken schwebend auf ihn zu und reichte ihm eines davon. „Ich hatte Sie früher erwartet.“

Was für eine Überzeugtheit in ihrem Ton lag, was für ein Selbstvertrauen! Sie war nicht die Art Frau, die vor ihm buckeln und ihm bereitwillig erzählen würde, was er wissen musste und sie fragen wollte. Er würde die Vorgehensweise, die er sich überlegt hatte, ändern müssen, zumal er davon ausgegangen war, dass sie von seinem früheren Rang beeindruckt, vielleicht sogar eingeschüchtert sein würde. Auch hatte er geglaubt, dass sie ihm mit mehr Argwohn begegnen würde, wenn sie in seinen Augen erkannte, wer er jetzt war: ein Mann, der sich nahm, was er haben wollte, ruchlos und ohne Bedauern. Wenn er die Straße entlangging, machten die Menschen einen Bogen um ihn, fast so, als trüge er ein Schild mit der Aufschrift Ansprechen auf eigenes Risiko um den Hals. Doch sofern sie sich dessen bewusst war, schien sie entschlossen, darüber hinwegzugehen.

Sie war reifer, älter, als er geglaubt hatte, etwas über dreißig, schätzte er. Was ihn selber betraf, so hatte er gerade sein dreißigstes Lebensjahr begonnen. Mit einer gewissen Aversion gegen ihre Schönheit und mehr noch die Tatsache, dass er sie schön fand, nahm er das Glas entgegen, war jedoch entschlossen, keine Gefühle zu zeigen, und hielt seine Stimme neutral und gleichgültig, als er das Wort an sie richtete. „Sie sind mir gegenüber im Vorteil, weil ich nicht weiß, wie Sie heißen.“

„Esme genügt.“ Sie hob das Glas, trank einen Schluck und leckte sich über die vollen Lippen. Sie hatte einen großzügigen Mund, der wie dazu gemacht war, einem Mann Vergnügen zu verschaffen. Dann drehte sie ihm mit einem provozierenden Hüftschwung den Rücken zu, ging zu den dunkelblauen Lehnsesseln vor dem Kamin und ließ sich langsam in einem davon nieder, während er sich vorstellte, wie sie sich aufreizend träge auf andere Dinge herabsenkte. Ein Bett zum Beispiel. Einen Schoß. Einen harten Penis. Seinen Penis, der Teufel sollte sie holen.

Das Glas in der einen Hand, deutete sie mit der anderen auf den Sessel ihr gegenüber. Auf keinen Fall. Besser, er blieb, wo er war, stellte seine Überlegenheit wieder her, behandelte sie so herablassend wie den verfluchten Butler, doch die Duftschleppe, die sie hinterlassen hatte, roch nach belebender Sauberkeit und frisch aufgeblühten Rosen, und beides hatte er im letzten Jahr schmerzlich vermisst. Aber weder war ihm danach gewesen, parfümierte Nacken zu küssen, noch hatte er Zeit gehabt für Spaziergänge in Rosengärten. Also folgte er ihrer Aufforderung und ließ sich ohne viel Federlesens in den anderen Sessel fallen wie der ungehobelte Grobian, der er geworden war.

Er versuchte sich für seine heruntergekommene, abgetragene, zerschlissene Kleidung nicht zu schämen. Ein paar seiner wenigen Münzen hatte er darauf verwendet, ein Badehaus aufzusuchen und sich zu waschen und zu rasieren, ehe er zu ihr aufgebrochen war, doch er hatte den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt, und so roch er auch. Dass die Frau, die ihm gegenübersaß, jemals roch, bezweifelte er. Er nippte an seinem Glas und hätte um ein Haar aufgestöhnt bei dem vertrauten Geschmack. Es war sein Lieblingsscotch aus einer der besten schottischen Brennereien. Wie es schien, hatte sie in allem einen erlesenen Geschmack.

„Wartet in Ihrem Schlafgemach ein Mann auf Ihre Rückkehr?“, fragte er grollend und ohne sich die Mühe zu machen, seine Abscheu für den Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs, den sie gewählt hatte, zu verbergen.

„Ich wüsste nicht, was mein Bett Sie anginge.“

„Gar nichts. Entschuldigen Sie.“ Er seufzte, dachte an die Vergangenheit, als niemand über ihn zu Gericht gesessen hatte, als er eine Frau wie sie in seinen Armen willkommen geheißen hätte und froh gewesen wäre, dass sie sich nicht an die einengenden Regeln der Gesellschaft hielt. Je eher er zur Sache kam, je früher konnte er gehen und sie vergessen. „Sie waren die Geliebte meines Vaters. Hat er Ihnen etwas von seinem schändlichen Vorhaben … von seinen Mitverschwörern … erzählt, das mir helfen könnte, die elenden Verräter aufzuspüren?“

Plötzlich wirkte sie betroffen, ihre goldbraunen Augen weiteten sich unmerklich. Sie legte den Kopf schräg, als versuche sie ihn einzuschätzen, wie ein Welpe, der, an Tritte gewöhnt, plötzlich eine Hand spürte, die ihn streicheln wollte. „Sie suchen nach den anderen Männern, die in das Komplott gegen Königin Victoria verwickelt waren? Aus welchem Grund?“

„Um die Ehre meiner Familie wiederherzustellen“, erwiderte er lapidar. Oder wenigstens seine eigene, in der Hoffnung, etwas von dem Respekt, den das Verbrechen seines Vaters ihm genommen hatte, zurückzugewinnen. Mit einem Hochverräter in Verbindung gebracht zu werden tat ihm keinen Gefallen. „Um sie verurteilt und gehängt zu sehen wie meinen Vater, um dafür zu sorgen, dass das Land sich ihrer entledigt.“

Sie musterte ihn so gründlich, als könne sie ihm in sein düsteres Herz blicken, das sich so verwundet und versehrt anfühlte, dass er fürchten musste, es nie wieder heilen zu können und nie zu dem Mann zu werden, der er hätte sein sollen. „Ihr Vater hat mich nicht aufgesucht, um sich mit mir zu unterhalten.“

Er lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, umfasste das Glas mit beiden Händen. Sie war seine letzte Hoffnung auf eine Abrechnung, auf den Beweis, dass er an dem fehlgeleiteten Versuch seines Vaters, jemand anderen auf den Thron zu bringen, in keiner Weise beteiligt war. Außer seinem Bruder und seiner Schwester schnitten ihn alle Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten. Seine sämtlichen früheren Bekannten, seine Verwandten, direkte und weitläufige, wie auch die Menschen, die er als Freunde betrachtet hatte, wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er war ein Paria, den man um jeden Preis mied. Selbst die Frau ihm gegenüber behandelte ihn mit kühler Geringschätzung, so als stünde er weit unter ihr. Er biss die Zähne zusammen. Unter ihr, einer Frau ohne Moral. „Vielleicht erwähnte er etwas, das auf den ersten Blick gar nichts mit der Verschwörung zu tun hatte, etwas anscheinend Harmloses, einen Namen, einen Gesprächsfetzen, der keinen Sinn ergab oder aus dem Zusammenhang gerissen war. Ich wette, Sie haben massenhaft Informationen in Ihrem hübschen Kopf gespeichert, die mich auf eine heiße Spur lenken würden. Er kann nicht jede Sekunde, die er in Ihrer Gesellschaft verbracht hat, das Bett mit Ihnen geteilt haben. Das ein oder andere Wort muss gewechselt worden sein. Denken Sie nach.“

„Nachdenken? Wie anmaßend von Ihnen zu glauben, dass ich mir nicht über jede Äußerung Ihres Vaters unzählige Male den Kopf zerbrochen habe.“ In einer Aufwallung rechtschaffenen Zorns erhob sie sich aus ihrem Sessel, und Marcus fühlte sich verachtet wie noch nie. „Sie und Ihr Bruder wurden in den Tower gebracht. Mich schleppte man nach Whitehall, wo ich von den fähigsten, unbarmherzigsten Konstablern von Scotland Yard verhört wurde. Verhört. Eingeschüchtert. Beschuldigt. Anschließend sperrten sie mich eine Zeit lang in Newgate ein, in der Hoffnung, meinen Widerstand zu brechen und mir das Geständnis zu entlocken, dass auch ich in diese elende Verschwörung verwickelt sei. Mein Ruf war dahin. Meine Verbindung mit Ihrem Vater hat mein Leben ruiniert.“

Er sprang auf die Füße, trat drohend einen Schritt auf sie zu. „Und doch leben Sie im Luxus und ich im Dreck.“

In seinem Innern tobte ein Sturm der Gefühle, und in dem Versuch, sie nichts davon merken zu lassen und ihr auch keine Gelegenheit zu geben, seine Emotionen zu erahnen, trat er zum Kamin und starrte auf den leeren Feuerplatz, der ihm die Fruchtlosigkeit seines Lebens perfekt zu spiegeln schien. Er wollte nicht akzeptieren, dass seine Suche eine Verschwendung von Zeit und Kraft sein sollte. Das, was er einmal besessen hatte, würde er niemals zurückbekommen, aber, der Himmel mochte ihm beistehen, wenigstens konnte er dafür sorgen, dass von der nächsten Generation keiner beschämt den Kopf senken musste, dass die schändliche Tat seines Vaters von seinen eigenen, heldenhafteren Taten überstrahlt wurde.

„Weshalb jetzt?“, fragte sie leise, beinahe sanft, obwohl er geschworen hätte, dass diese Frau nichts Zartes an sich hatte. „Warum wollen Sie die Schuldigen ausgerechnet jetzt ausfindig machen?“

Er stürzte seinen Scotch hinunter. „Ich habe es von Anfang an versucht.“

Und weil das Unterfangen, die Täter zur Strecke zu bringen, gefährlich war, hatte er seine jüngeren Geschwister verlassen müssen. Gelegentlich gab er ihnen Geld, wenn er welches hatte, aber im Großen und Ganzen waren die beiden auf sich allein gestellt. Althea hatte in einer Taverne gearbeitet – gearbeitet, er fasste es nicht. Dann war sie Benedict Trewlove begegnet, und er hatte ihr eine andere Beschäftigung angeboten. Seit einiger Zeit war sie mit ihm verheiratet, und nach allem, was Marcus wusste, über die Maßen glücklich. Davor hatte Griffith mit ihr zusammengewohnt, sich um sie gekümmert und auf den Docks geschuftet. Nachdem der jüngere Bruder nicht mehr für sie verantwortlich war, hatte er sich für einige Zeit Marcus angeschlossen. Aber Griffith war für eine Existenz im Untergrund nicht gemacht, noch hatte er die Geduld, auf eine Lösung zu warten, die sich nur langsam anbahnte. Inzwischen verfolgte er seine eigenen Ziele, war der Besitzer eines Clubs und hatte geheiratet. Obwohl Griffith die Besessenheit seines älteren Bruders ohne weiteres finanziert hätte, konnte Marcus sich nicht dazu durchringen, mehr Geld von ihm anzunehmen als ohnehin schon. Er kehrte zu dem Lehnsessel zurück, stellte das leere Glas auf den zierlichen Beistelltisch und wartete, bis sie sich wieder gesetzt hatte. „Hat Vater je den Namen Lucifer erwähnt?“

„Lucifer wie in Teufel?“

„Möglicherweise.“ Er stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Ich weiß es nicht. Es kann genauso gut ein Mann sein wie eine Frau oder ein Ort oder eine Sache. Es ist ein Name, der von Zeit zu Zeit auftaucht.“

„In welchem Zusammenhang? Wo haben Sie nachgeforscht?“

Er zögerte, sich ihr anzuvertrauen, doch andererseits, warum nicht, zumal er ihr vielleicht einen Anstoß gab, sich an etwas zu erinnern, das sein Vater in ihrer Gegenwart erwähnt hatte? „Es muss Mitverschwörer gegeben haben. Vater fehlte der Scharfsinn, um Strategien zu entwickeln. Er war ein Mitläufer, kein Anführer. Insofern ist es gut möglich, dass die Ränkeschmiede immer noch einen Staatsstreich vorhaben. Darum bin ich dabei, mich umzuhören, ob es Gerüchte über einen weiteren Anschlag gibt. Die Freunde meines Vaters in der Aristokratie habe ich ausspioniert. Ergebnislos. Dann dämmerte mir, dass ein Adliger, der in die Sache verwickelt wäre, die Tat nicht selber ausführen, sondern jemand mit entsprechenden Fähigkeiten, zwielichtigem Hintergrund und einem Strafregister aussuchen würde. Also habe ich mich in den finsteren Vierteln Londons herumgetrieben, durchblicken lassen, dass der Wolf nicht abgeneigt ist, seine Dienste anzubieten, in der Hoffnung, dass die Verschwörer mich vielleicht anheuern.“

Sie hob ihre schön geschwungenen Brauen. „Der Wolf?“

„Eine Erinnerung an den Titel, den ich hätte tragen sollen.“ Duke of Wolfford. Erst später hatte er erkannt, dass der Spitzname nicht passte. Wölfe traten in Rudeln auf, waren Teile einer Gruppe, einer Familie, während er sich allein herumtrieb, ein einsamer Jäger. „Wie es aussieht, war ich nahe daran, etwas aufzudecken, und um denen, die mich beseitigen wollten, zu entkommen, musste ich untertauchen.“

Andere Frauen hätten nach Luft geschnappt, wären erblasst oder hätten entsetzt die Augen aufgerissen, doch sie nippte nur an ihrem Scotch und musterte ihn gleichmütig. „Sie wurden angegriffen?“

„Mehrere Male.“

„Dennoch sind Sie hier.“

„In der Tat.“ Für eine Weile war er aus London verschwunden. Erst vor kurzem hatte er Griffith wissen lassen, dass er zurück war. Althea dagegen hielt er weitgehend aus seinem Leben heraus. Denn obwohl ihr Ehemann die dunkleren Seiten der Stadt gut kannte, gab es derzeit dringendere Angelegenheiten für ihn zu erledigen, denn er hatte kürzlich herausgefunden, dass er Erbe eines Herzogtums war.

„Sie müssen sehr gut darin sein, Gefahren aus dem Weg zu gehen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Inzwischen verfüge ich über einiges Geschick, aber nicht genug. Lucifer. Sagt Ihnen der Name etwas?“

„Ich fürchte, nein.“

„Sie erinnern sich nicht, ob mein Vater den Namen im Bann der Leidenschaft geäußert hat?“

„Das Liebesspiel mit mir macht Männer in der Regel sprachlos.“

Er verzog das Gesicht bei ihrer Direktheit, aber er hatte den streitlustigen Ton als Erster angeschlagen, und es tat ihm leid. „Ich nehme an, diesen Dämpfer hatte ich verdient.“

„In der Tat. Und ich neige dazu, Männern zu geben, was sie verdienen.“

Das Lächeln, das um ihre Mundwinkel zuckte, ließ vermuten, dass sie auf Vergnügen ebenso anspielte wie auf Strafe. Er ertappte sich bei dem absurden Wunsch, sie vor seinem Vater kennengelernt zu haben.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.“ Bedauern klang in ihren Worten mit.

„Nun ja, es ist über ein Jahr her … vielleicht, wenn ich früher gekommen wäre.“

„Warum haben Sie so lange gewartet?“

Weil er weder den Gedanken an sie noch ihren Anblick ertragen hätte. „Ich wollte Sie nicht belästigen.“

Er stand auf, und sie tat es ihm gleich, unendlich anmutig. Irgendwann in ihrem Leben musste sie eine hervorragende Erziehung genossen haben. „Verzeihen Sie die späte Störung.“

„Ich hatte nichts Wichtiges vor. Wenn ich mich an etwas erinnere, das Ihnen vielleicht weiterhilft – wie kann ich Sie finden?“

„Gar nicht. Hinterlassen Sie eine Nachricht bei meinem Bruder im Fair Ladies’ und Spare Gentlemens’ Club.“ Griffith war der Besitzer des Etablissements, in dem unverheiratete Menschen Gesellschaft fanden. „Er wird dafür sorgen, dass ich sie bekomme.“

„Das Fair and Spare, ich habe schon viel darüber gehört. Es scheint ein ziemlich skandalöser Ort zu sein, wenn ich recht informiert bin. Dann arbeitet Ihr Bruder mit Ihnen zusammen?“

„Nein, aber er weiß, wie er mich erreichen kann.“ Eine Lampe in einem der Fenster im oberen Stockwerk war das Zeichen, wenn Griffith eine Nachricht hinter dem losen Backstein an der Rückwand des Clubs deponiert hatte. „Ich finde allein hinaus. Guten Abend.“

„Ich bringe Sie zur Tür.“

„Nicht nötig.“

„Was für eine Gastgeberin wäre ich, wenn ich Sie einfach davongehen ließe?“

Er war versucht zu fragen, wie sie seinen Vater kennengelernt hatte, wie sich die Beziehung zwischen ihnen entwickelt und warum sie sich mit einem alten Mann abgegeben hatte – aber so, wie sie lebte, musste sein Vater oder jemand anderer sich ihr gegenüber als sehr großzügig erwiesen haben. Ob es zurzeit einen Liebhaber in ihrem Leben gab? Frauen wie sie brauchten einen Beschützer. Ehe er seiner Neugier nachgeben konnte, setzte er sich in Bewegung. Sie hielt mühelos Schritt mit ihm – der Vorteil einer Frau mit langen Beinen. Das Bild, wie sie sie ihm um die Hüften schlang, überfiel ihn mit Macht, und er hatte Mühe, es zu verdrängen. Es erboste ihn, dass er sich so sehr zu ihr hingezogen fühlte.

Er trat aus dem Eingang, auf das Treppenpodest. Als er die Tür hinter sich schließen wollte, entdeckte er, dass sie sich in den Spalt gezwängt hatte.

„Passen Sie auf sich auf, Marcus Stanwick.“ Ihre Stimme war ruhig, trotzdem klangen die Worte wie ein Befehl.

Er fragte sich, woher ihr Selbstvertrauen rührte, und ertappte sich bei dem Wunsch, aus einem anderen Grund hergekommen zu sein, einem Grund, der es ihm gestattet hätte, sie umfassend zu erforschen. Mit einem knappen Nicken eilte er die Stufen hinunter, durch das schmale schmiedeeiserne Tor, und verschwand in der Dunkelheit.

Als Esme Lancaster zu ihrem Sessel vor dem Kamin des Salons zurückkehrte, erwartete sie angenehmere Gesellschaft – ihr schwarz-weißer Cockerspaniel Laddie. Sie hob sich den Hund auf den Schoß und gestattete sich den Luxus, über ihren abendlichen Besucher nachzudenken.

Marcus Stanwick sah eindeutig besser aus als sein Vater. Das schwarze Haar hatte er anscheinend vor kurzem schneiden lassen. Seine Augen waren tiefblau, und als er sich ihr drohend genähert hatte, war ihr die Farbe noch intensiver erschienen, was vielleicht an den winzigen Streifen Grau lag, die die Iris durchzogen. Jedenfalls verliehen ihm seine Augen eine Anziehungskraft, die er nicht hätte haben sollen. Es gefiel ihr, dass sie den Kopf ein winziges Stück in den Nacken legen musste, um seinem Blick zu begegnen und ihn zu halten. Im Gegensatz zu seinem Vater war er noch nicht beleibt, aber eigentlich glaubte sie nicht, dass er es jemals sein würde. Abgesehen davon, dass seine Kleidung nicht besonders gut saß, war er auffällig durchtrainiert und muskulös. Er hatte die Zeit auf den Straßen nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Es war unübersehbar, dass er sie verachtete, nicht dass sie es ihm vorwarf. Ihre Beziehung mit seinem Vater hatte sie zu einem verrufenen Frauenzimmer gemacht, und ihr war keine andere Wahl geblieben, als die Rolle zu akzeptieren. Sie hatte viel Mühe darauf verwandt, sich bei Wolfford einzuschmeicheln, ihn zu bezaubern und dafür zu sorgen, dass er Zeit in ihrer Gesellschaft verbringen wollte. Zu ihrem großen Kummer jedoch hatte sich ihre Beziehung die gesamten zwei Monate, die sie zusammen gewesen waren, in der Öffentlichkeit abgespielt. Normalerweise zogen verheiratete Männer es vor, ihre Affären geheim zu halten, aber aus irgendeinem Grund hatte der Duke das Bedürfnis gehabt, mit ihr anzugeben. Vielleicht war es ihm angesichts seines reifen Alters von beinahe sechzig wichtig gewesen, alle Welt wissen zu lassen, dass er es immer noch schaffte, eine weit jüngere Frau für sich zu gewinnen. Er hatte sie in London vorgezeigt, als existierten weder seine Ehefrau noch seine erwachsenen Kinder, als schere es ihn nicht, dass er seine Familie blamierte. Sein Verhalten hatte Esme vor ein Rätsel gestellt, aber genau wegen dieses Verhaltens war sein ältester Sohn heute Abend bei ihr aufgetaucht. Seine Vorliebe für Scotch hatte sie erraten, auch die Irritation bemerkt, die über seine Züge gehuscht war. Sie wusste, was sie davon zu halten hatte, und fragte sich, was sie wohl sonst noch erraten würde, böte sich die Gelegenheit. Menschen zu durchschauen war eine ihrer Stärken, von Kindesbeinen an.

Ihre Mutter hatte sie von klein auf regelmäßig windelweich geschlagen, obwohl Esme nie so recht klar gewesen war, was sie verbrochen hatte, um die Bestrafung zu verdienen. Irgendwann war sie zu dem Schluss gelangt, dass es an der Art liegen musste, wie sie ihre Konzentration auf Dinge und Personen richtete, um sich Fragen zu beantworten und die Welt zu erklären. Den Umstand etwa, dass der Vikar ihre Mutter viel zu oft besuchte, wenn Esmes Vater nicht da war, oder dass der Inhaber des Süßwarenladens Jungen viel mehr Aufmerksamkeit schenkte als Mädchen oder die ungewöhnlich vielen Kinder im Dorf, die dem ältesten Sohn des Squire ähnlich sahen, der in dem großen Anwesen auf dem Hügel lebte.

Es war ihr Vater, der ihr beigebracht hatte, die Welt so aufmerksam zu beobachten. Wann immer er nicht für Königin und Vaterland im Kampfeinsatz gewesen war, hatte er sie auf Spaziergänge mitgenommen und ihr in regelmäßigem Abstand Fragen über die Umgebung gestellt. Welche Farbe das Kleid des Mädchens mit den blonden Ringellocken hatte, das gerade mit seiner Mutter in die Bäckerei gegangen war. Wie viele Jungen mit Murmeln spielend in der schmalen Gasse hockten, die sie vor einer Minute passiert hatten. Einmal, sie musste etwa acht Jahre gewesen sein, hatte er sie in einen Spielzeugwarenladen in London mitgenommen, um ihr eine Puppe zu kaufen. Sie war wie gelähmt gewesen von der unfassbaren Auswahl und hatte schließlich eine Puppe aus Porzellan entdeckt, die zu haben ihr wichtiger erschienen war als Atmen. Plötzlich war ihr Vater neben ihr in die Hocke gegangen und hatte gesagt: „Es ist ein Feuer ausgebrochen im Laden. Die Leute haben versucht, durch den Eingang zu flüchten, und nun stecken sie fest. Wie kommen wir nach draußen?“

Sie waren nicht in Gefahr gewesen. Es hatte nicht gebrannt, doch die Dringlichkeit in seiner Stimme hatte ihren Herzschlag beschleunigt. Er erwartete, dass sie seine Frage beantworten konnte, und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Er war ein Held des Königreichs, aber viel wichtiger noch, er war ihr Held. „Durch ein Fenster. Wenn es sich nicht öffnen lässt, brauchen wir ein Wurfgeschoss, um die Scheibe zu zerschlagen, dann können wir hinausklettern.“

„Und wenn wir uns an den Scherben schneiden?“

„Besser als wenn wir verbrennen.“

Er hatte ihr grinsend das Haar verwuschelt. „Welche Puppe möchtest du haben?“

Die Puppe mit dem ausgefallenen rosa Kleid und dem breitkrempigen, blumengeschmückten Hut hatte sie durch all die Jahre begleitet und saß nun auf ihrem Frisiertisch. Sie diente als Mahnung, einen Fluchtplan zu haben für den Fall, dass Gefahr drohte. Und Gefahr drohte, in Gestalt von Marcus Stanwick. Doch das Letzte, was ihr in den Sinn gekommen wäre, als er sich in ihrem Salon aufgehalten hatte, war Flucht.

Von draußen erklangen leichte Schritte, dann trat ihr Butler durch die Tür und blieb unschlüssig stehen. „Ich habe seine Spur verloren.“

„Wie lange ließ er zu, dass Sie ihm folgen?“

„Von zulassen kann keine Rede sein.“

„Doch, zweifelsohne, Brewster. Sonst wäre er Ihnen nicht entkommen, nachdem er aufhörte, so zu tun, als wüsste er nicht, dass Sie ihm auf den Fersen sind.“

Brewster – mehr ihr Assistent als ihr Butler – besaß großes Geschick bei der Verfolgung von Leuten, war jedoch nicht besonders talentiert darin, seinen Groll zu verbergen, wenn sie recht hatte. „Ein paar Meilen. Er war verdammt schnell. Hat mich richtig fertiggemacht. Als er verschwunden war, habe ich mir eine Droschke genommen.“

„Hm. Weiter, als ich gedacht hätte.“ Aber vielleicht hatte er es aus reiner Boshaftigkeit getan. „Ich nehme nicht an, dass Sie eine Idee haben, wohin er verschwunden ist.“

„Er schien viel im Kreis und teilweise auch ganze Streckenabschnitte zurückzugehen. Eine Zeit lang dachte ich sogar, er habe sich verlaufen.“

Ein Mann wie Marcus Stanwick verlief sich nicht. Darauf hätte sie ihren gesamten Besitz gewettet.

„Was werden Sie seinetwegen unternehmen?“, fragte Brewster in ihre Gedanken hinein.

„Das habe ich noch nicht entschieden.“

Einer Sache war sie sich allerdings ziemlich sicher. Stanwick und sie hatten sich nicht zum letzten Mal gesehen.

2. KAPITEL

„Marcus Stanwick hat mir gestern Abend einen Besuch abgestattet.“

„Weshalb?“ Die körperlose Stimme kam aus der undurchdringlichen Dunkelheit in der hintersten Ecke des spärlich beleuchteten Gewölbes. Es war ein Spiel, das er gerne spielte, so als verleihe ihm die Unsichtbarkeit etwas Einschüchterndes, Bedrohliches. Esme nahm an, dass er es brauchte, weil er ihr mit dem Scheitel kaum bis zur Schulter reichte. Oder weil er einen Buckel hatte. Männer stellten sich oft ein bisschen an. Dieser besonders. Er war unter vielen Namen bekannt, doch sie nannte ihn O.

„Er wollte wissen, ob sein Vater sich mir im Hinblick auf den geplanten Anschlag offenbart hat. Ob ich über Informationen verfüge, die es ihm ermöglichen, die Verschwörer aufzuspüren.“

„Wie lautete Ihre Antwort?“

„Dass ich nichts weiß.“

„Gut. Wir können nicht zulassen, dass er unsere Pläne durchkreuzt.“

„Vielleicht ist es dafür zu spät. Er fragte, ob ich Lucifer kenne.“

„Der Teufel soll ihn holen.“ In seiner Erregung trat O in das flackernde Licht der Fackeln, die in eisernen Haltern an den Steinwänden steckten. Die unterirdische Kasematte, eine von vielen im weit verzweigten Tunnelsystem unter der Stadt, bot nur wenige Annehmlichkeiten, doch sie eignete sich hervorragend als Versteck für geheime Unternehmungen, allen voran solche, die ein ruchloses Komplott gegen die regierende Königin beinhalteten. „Was haben Sie erwidert?“

Esme seufzte ungeduldig, zumal er sich die Frage eigentlich selbst beantworten konnte. Inzwischen war sie seit beinahe zwei Jahren seine Mitarbeiterin, und er hätte wissen können, dass sie vorausschauend und umsichtig handelte. „Was soll ich erwidert haben? Nein natürlich.“

„Und er hat Ihnen geglaubt?“

„Wieso nicht?“

O lächelte auf eine Weise, die einem ängstlicheren Geschöpf einen eiskalten Schauder den Rücken hinuntergejagt hätte. Doch sie war immun gegen derlei Einschüchterungsversuche. Sie fühlte nichts. Die herzlose Hure wurde sie genannt – wenn man sie überhaupt erwähnte in den Kreisen, deren Mitglieder sich ihr moralisch überlegen fühlten. Allerdings hatte sie in Marcus Stanwicks Gegenwart durchaus etwas empfunden; etwas eindeutig Verstörendes, ein Wiedererwachen von Emotionen, die sie lange für erstorben gehalten hatte.

„Ich frage mich, ob es nicht vorteilhaft für uns wäre, wenn ich ihm ein wenig näher käme“, sagte sie so gleichgültig wie möglich, obwohl allein die Aussicht, Stanwick wiederzusehen, ihren Herzschlag beschleunigte und ihren Magen Purzelbäume schlagen ließ. „Um einschätzen zu können, was er wirklich weiß oder ahnt.“

„Er ist unwichtig, und wir sind näher daran, unser Ziel zu erreichen, als jemals zuvor.“ O trat an einen Tisch, der wahrscheinlich mehrere hundert Jahre alt war und wackelte, als er das Kuvert, das darauf lag, an sich nahm. „Nächsten Mittwoch veranstaltet Lord Podmore eine … Gesellschaft. Ich habe Ihnen eine Einladung besorgt. Nach Namen wird nicht gefragt. Es werden Masken getragen, und wir hoffen, dass sich für Sie eine Gelegenheit ergibt, sein Arbeitszimmer zu durchsuchen.“

„Wenn das, was wir haben wollen, dort ist, werde ich es finden.“ Eigentlich hätte sie es dabei belassen und gehen sollen, doch sie konnte den Eindruck, dass ihr Besucher vom Abend zuvor sich als Gefahr für ihre Pläne erweisen würde, nicht abschütteln. „Stanwick ist überzeugt, dass noch immer Vorbereitungen für ein Attentat auf Victoria im Gange sind.“

Wieder zuckte das grausame Grinsen um Os Mundwinkel. „Wir werden ihm beweisen, dass er recht hat.“

3. KAPITEL

Es kam nicht oft vor, dass Esme Befehle missachtete, doch in den zwei Nächten, die seit Stanwicks Angriff auf ihren Seelenfrieden vergangen waren, hatte sie es nicht geschafft, die Gedanken an ihn abzuschütteln. Er strahlte etwas Hungriges aus, die Rastlosigkeit eines eingesperrten Raubtiers, das darauf lauerte, aus seinem Gefängnis auszubrechen. Und der Himmel mochte jedem beistehen, der sich ihm dann in den Weg stellte.

Ihr siebter Sinn sagte ihr, dass O sich irrte. Stanwick wusste bestimmt etwas. Sie hatte zugelassen, dass er sie aushorchte, ihn ihrerseits aber so gut wie nichts gefragt. Und dass sie nun auf dem Gehsteig stand und das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem sich das Fair and Spare befand, in Augenschein nahm, verdankte sie allein der Tatsache, dass es diesem Mann gelungen war, ihr in weniger als zwei Minuten, nachdem sie den Salon betreten hatte, den Verstand zu rauben. Mit seiner dominanten Art, seinem attraktiven Aussehen und seiner inneren Einsamkeit, die sie gewittert hatte wie ein Pendant ihrer eigenen. Aber sie konnte es sich nicht leisten, jemanden an sich heranzulassen, diesem Einzelgänger zu erlauben, ihr etwas zu bedeuten. Ihr Metier war die Gefahr.

Und die Gefahr würde nicht nur für sie bestehen, sondern ihre tödlichen Tentakeln nach allen ausstrecken, die ihr etwas bedeuteten. Nicht von ungefähr war es Jahre her, dass sie die Wärme einer zärtlichen Berührung verspürt hatte, dass sie ihr Herz noch nicht mit einem Eispanzer überzogen und ihre Seele in einer Art Gehäuse verschlossen hatte, damit sie tun konnte, was man von ihr verlangte, ohne Bedauern und Reue. Sie funktionierte wie ein Zahnrad in einer großen Maschine – zu einem einzigen Zweck, den sie mit äußerster Konzentration erfüllte und neben dem nichts anderes mehr zählte.

Marcus Stanwick war eine Störung, und sie musste der Sache auf den Grund gehen, verstehen, was ihr auf Überleben ausgerichteter Spürsinn ihr mitzuteilen versuchte.

Sie überquerte die Straße, erklomm die Stufen bis zu dem Treppenpodest vor dem Eingang, wo ein breitschultriger Riese stand und ihr den Zutritt verwehrte. Unwillkürlich stellte sie ihn sich mit erhobenem Breitschwert vor, in die Felle der Tiere gekleidet, die er erlegt hatte, während sie gleichzeitig aus reiner Gewohnheit überlegte, wie sie ihn außer Gefecht setzen würde, wenn es nötig sein sollte. „Lassen Sie mich vorbei.“

„Sobald Sie mir Ihre Mitgliedskarte zeigen.“

„Ich habe keine.“

„Dann müssen Sie Mitglied werden.“

„Nein.“ Für einen Ort, an dem Menschen sich versammelten, um sich miteinander zu vergnügen, hatte sie keine Verwendung. „Ich will hinein.“

Der Türsteher runzelte die Stirn. „Ich darf nur Mitglieder hineinlassen, und Leute, die es werden wollen.“

„Ich muss mit Mr. Stanwick sprechen.“

„Über eine Mitgliedschaft?“

Sie schoss ihm einen Blick zu, der Vergeltung verhieß.

Schließlich nickte er knapp. „In Ordnung. Folgen Sie mir.“

Er öffnete ihr die Tür, ließ sie vorgehen. Die Ausgelassenheit, die ihr entgegenschlug, aus der Eingangshalle, von der Treppe, aus den angrenzenden Räumen, überraschte sie. Die Gäste, die vorbeiflanierten, lächelten, lachten, amüsierten sich offenbar königlich. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gelächelt oder gelacht hatte. Der Mann, der den meisten anderen Menschen wahrscheinlich wie ein Riese vorkam, für sie jedoch lediglich groß war, führte sie in einen Saal mit einem riesigen Kronleuchter. An einem ausladenden Schreibtisch in der Mitte des Raums saß eine Frau, ein kleinerer Schreibtisch beim Fenster war mit einem jungen Mann besetzt. Unwillkürlich verspürte Esme Sympathie für Griffith Stanwick, der der Frau die leitende Position anvertraut hatte.

„Sie will mit Mr. Stanwick sprechen, Gertie“, sagte der Schläger neben ihr.

Die Gertie genannte Frau erhob sich, musterte sie gründlich. „In Ordnung. Warten Sie hier.“

Sie verließ den Raum, und der Wachmann stellte sich breitbeinig hin und verschränkte die Arme vor der Brust. Ob er sich von jemand anderem anheuern lassen würde? Von ihr zum Beispiel?

Sie bezweifelte es. Der junge Mann an dem kleinen Schreibtisch hatte einen Stift in die Hand genommen und schien etwas zu zeichnen.

Sie sah sich um. Wiewohl nüchtern ausgestattet, wirkte der Raum elegant. Sie hatte erwartet, dass ein Ort, an dem Menschen sich trafen, um Unzucht zu treiben, geschmacklos eingerichtet sein würde, aber Stanwick schien Wert darauf zu legen, dass seine Gäste keinen Grund hatten, sich zu schämen, wenn sie den Club verließen. Und wie Scham sich anfühlte, wusste Esme sehr gut, nachdem Menschen sie gedemütigt und als Sünderin gebrandmarkt hatten, ehe sie eine gewesen war; sie verurteilt hatten, obwohl das größte Verbrechen, das sie vor jener entsetzlichen Zeitspanne in ihrer Jugend begangen hatte, darin bestand, einen Keks aus der Dose zu stibitzen, wenn die Köchin abgelenkt war.

Ihr Blick kehrte zum Ausgangspunkt zurück, dem jungen Mann an dem kleinen Schreibtisch. Er lächelte verhalten, freundlich, und hielt ihr eine Karte hin. „Da, bitte.“

Die Schultern zurückgenommen, die Körperhaltung einschüchternd, trat sie zu ihm und nahm die Karte entgegen. Es war nicht wirklich ein Porträt von ihr … und irgendwie doch. Ihre Gesichtszüge wirkten scharf, eckig, kühl – nicht durch das Zutun der Natur, sondern weil sie sich niemals auch nur das geringste Quäntchen Weichheit gestattete. Er hatte ihre Fassade festgehalten, es aber gleichzeitig geschafft, etwas von dem einzufangen, was dahinter lag. Sie hätte weinen mögen angesichts der kaum wahrnehmbaren Andeutung des vertrauensvollen Mädchens, das sie einmal gewesen war, des Mädchens, das sich nach Liebe und Akzeptanz gesehnt hatte. „Was soll ich damit machen?“

„Behalten Sie es.“ Er nahm ein weiteres Blatt Papier. „Ich zeichne das Abbild der Mitglieder auf die Mitgliedskarte, damit sie reibungslos eingelassen werden und die Karte niemandem ausleihen können, der kein Mitglied ist.“

Esme drehte die Karte um. Auf der Rückseite waren Linien aufgedruckt, damit sachbezogene Daten wie der Name, das Alter und das Ablaufdatum eingetragen werden konnten. Gut durchdacht. „Hier verschwenden Sie Ihre Talente.“

„Das betrachte ich als ein Kompliment.“

„Ich mache keine Komplimente. Ich sage die Wahrheit.“

„Für mein schlichtes Talent würde mich sonst niemand so gut bezahlen wie Mr. Stanwick.“

„Es ist kein schlichtes Talent. Sie sehen Dinge, die der Aufmerksamkeit der meisten anderen Menschen entgehen.“

„Nicht jedoch Ihrer.“

„Nein, meiner nicht.“ Menschenleben waren gefährdet, wenn ihr etwas entging.

„Sie wollten mich sprechen, Miss …“

Esme wirbelte herum und sah sich Griffith Stanwick gegenüber. Er war blond, ein hellerer Typ als sein Bruder, doch seine Augen hatten die gleiche Farbe wie die von Marcus Stanwick.

„… die Dirne meines Vaters.“

Die Verachtung, die in seinen Worten mitklang, teilte er mit seinem Bruder. Marcus Stanwick hatte diese Verachtung zweifellos davon abgehalten, sie früher aufzusuchen. Esme zog ihr Retikül auf, steckte die Karte, die der junge Künstler ihr gegeben hatte, hinein, und nahm ein schmales Kuvert mit rotem Wachssiegel heraus. „Ich bitte Sie dringend, dies hier an Ihren Bruder weiterzuleiten.“

Griffith Stanwicks Blick fiel auf das dicke Pergament, dann sah er sie an. „Zu welchem Zweck?“

„Wenn ich Ihnen diese Information anvertrauen wollte, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, sie aufzuschreiben und zu versiegeln.“

„Sie glauben, ich schrecke davor zurück, den Brief zu öffnen?“

Sie trat einen Schritt auf ihn zu, dicht genug, dass er ihren Atem spürte so wie sie seinen. „Ich bin sicher, das würde Marcus nicht wollen. Er wäre sehr enttäuscht von Ihnen, wenn Sie in seinen Privatangelegenheiten schnüffeln.“

„Wie privat?“

„Das geht nur ihn und mich etwas an, aber er versicherte mir, dass ich Sie darum bitten kann, eine Botschaft an ihn weiterzuleiten, wenn es notwendig sein sollte. Ich hoffe doch sehr, Sie stellen ihn nicht als einen Lügner hin.“

Griffith Stanwick verengte die Augen. „Sie haben mit ihm gesprochen?“

Sie hob eine Braue.

„Wann?“

„Vorgestern Abend.“

Sein Blick wurde hart, und er schnappte sich das Kuvert aus ihrer Hand. „Ich sorge dafür, dass er das Schreiben bekommt. Ungeöffnet.“

„Dann wünsche ich Ihnen einen guten Abend, Mr. Stanwick.“ Sie nickte knapp, setzte sich in Bewegung …

„Sie haben meine Mutter vor aller Welt bloßgestellt.“

Bei seinen barschen Worten blieb sie wie angewurzelt stehen. „Ganz und gar nicht. Diese Ehre gebührt eindeutig Ihrem Vater. Er war es, der mit seiner Eroberung angeben wollte. Ich ziehe Verschwiegenheit vor, wenn es um diese Dinge geht.“ Sie hätte es dabei belassen sollen, aber irgendetwas ließ sie weitersprechen. „Im Übrigen lag es nicht in meiner Absicht, Ungemach über Ihre Familie zu bringen. Ich ging davon aus, dass meine Beziehung mit Ihrem Vater ein Geheimnis ist, das nur er und ich kennen.“

Griffith Stanwicks Kieferpartie spannte sich an. „Das entschuldigt nicht, was Sie getan haben.“

„Nein, ich fürchte, da haben Sie recht.“

„Ich werde nicht dulden, dass Sie meinen Bruder ruinieren.“

Was für eine Überzeugtheit aus seinen Worten sprach, was für eine Zuneigung, was für eine … Liebe. Für den Bruchteil einer Sekunde beneidete sie Marcus Stanwick. „Er hat schon alles verloren, Mr. Stanwick. Gibt es ein schlimmeres Leid, das ich ihm antun könnte?“

Esme wusste, wie es war, alles zu verlieren. Sie lag auf dem Bett, die Finger der einen Hand in Laddies Fell vergraben, betrachtete die kleine Porträtzeichnung und fragte sich, ob Marcus Stanwick sie als ähnlich vielschichtig wahrgenommen hatte wie der junge Zeichner. Zu ihrem Erstaunen merkte sie, dass sie es hoffte, und war darüber einigermaßen irritiert.

Sie hielt Marcus Stanwick für einen intuitiven Menschen, und es war genau diese Intuition, auf die sie bei der Botschaft baute, die sie ihm hatte zukommen lassen. Die Vorstellung, wie er die Nachricht las und entschlüsselte, ebenso wie die Aussicht, ihn wiederzusehen, ihre intellektuellen Fähigkeiten erneut mit seinen zu messen, sandte einen prickelnden Schauer durch ihren Körper. Es war, als habe sie, ehe er in ihrem Salon aufgetaucht war, lediglich existiert. Die Begegnung mit ihm kam ihr vor wie ein Blitzschlag, der sie wieder zum Leben erweckt hatte, ganz ähnlich dem Geschöpf Frankensteins.

Wie der junge Künstler ihre Gesichtszüge wohl in dem Moment dargestellt hätte, da ihr Blick sich das erste Mal mit Marcus Stanwicks verfangen hatte? Wahrscheinlich war es töricht von ihr, den Kontakt mit ihm zu suchen. Aber sie freute sich auf die Möglichkeit, ihn zu auszutricksen und zu erreichen, was sie wollte.

4. KAPITEL

Es war schon spät, der Club hatte längst geschlossen, doch plötzlich erschien ein Licht in einem der oberen Fenster, die zu Griffiths Privaträumen gehörten. Marcus nahm es mit einem Gefühl von Stolz und triumphierender Genugtuung zur Kenntnis. Es war erst zwei Tage her, dass er sie getroffen hatte. Esme. Und schon nahm sie Kontakt zu ihm auf.

Seit er sich von ihr verabschiedet hatte, war er jeden Abend hergekommen und hatte eine Zeit lang im Stallhof des Clubs gewartet, in der Hoffnung … nein, nur, um nachzusehen, ob ihre Neugier die Oberhand gewonnen hatte, ob sie sich an etwas erinnerte oder ihn vielleicht wieder treffen wollte. Er bedauerte, nicht länger bei ihr geblieben zu sein, sie nicht weiter befragt zu haben, nach ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit … ihrem derzeitigen Leben. Er hatte erwogen, ihren Wohnsitz zu überwachen, aber wenn sie wirklich nichts wusste, verbrachte er seine Zeit besser anderswo.

Doch egal, wie verkommen und finster die Gassen waren, in denen er sich herumtrieb, wie gefährlich die Stadtviertel und wie niederträchtig die Menschen, denen er begegnete – die Eisprinzessin ging ihm nicht aus den Kopf. Eisprinzessin, so nannte er sie in Gedanken. Sie war kalt und berechnend, und er ging davon aus, dass sie über ihn genauso fleißig Informationen gesammelt hatte wie er über sie.

Er hätte nicht so fasziniert sein sollen von ihr, und es enttäuschte ihn, dass er es war.

Er sah sich im Stallhof um, vergewisserte sich, dass er nicht beobachtet wurde, dann trat er an die Hausmauer und nahm den losen Backstein heraus, tastete den Boden der Nische ab, ohne etwas zu finden. Er runzelte die Stirn.

„Würdest du mir wohl erklären, weshalb du dich mit Vaters Schlampe abgibst?“

Er zuckte nicht einmal zusammen bei den scharfen Worten seines Bruders, zeigte überhaupt keine Reaktion darauf. Platzierte lediglich den Backstein wieder dort, wo Griffith normalerweise die Botschaften für ihn versteckte. Wenn er selber eine Nachricht für seinen Bruder hatte, knackte er einfach das Türschloss, ging in sein Büro und legte sie ihm auf den Schreibtisch. „Wir sollten uns nicht zusammen sehen lassen.“

„Wir sollten auch nicht das Bett mit Vaters Hure teilen.“

Er wirbelte herum. „Weder tue ich das, noch würde ich es tun. Allein bei dem Gedanken, sie anzufassen, dreht sich mir der Magen um.“ Während der Gedanke, sie nicht zu berühren, ein Gefühl von Mangel in ihm hervorrief. Mit dem er sich allerdings nicht näher befassen wollte, vielleicht, weil etwas viel zu Verlockendes damit verbunden zu sein schien.

„Warum hat sie mir dann eine Botschaft für dich vorbeigebracht?“

Die Dringlichkeit seines Wunschs, das Schreiben in die Hände zu bekommen, versetzte Marcus in Erstaunen. Er wollte ihre Nachricht unbedingt lesen, nicht weil er sich Hilfe bei seiner Suche erhoffte, sondern weil sie sie verfasst hatte. Am liebsten hätte er Griffith aufgefordert, ihm den Brief zu geben, doch er kämpfte die Regung nieder, lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe ihr einen Besuch abgestattet, richtig. Weil ich dachte, dass Vater ihr womöglich ohne es zu wollen etwas Wichtiges anvertraut hat. Sie konnte sich auf nichts Derartiges besinnen, aber vielleicht ist ihr etwas eingefallen, nachdem ich gegangen war.“

„Sie ist schöner, als ich sie in Erinnerung hatte.“

Irgendwann war jedes der Geschwister der Mätresse des Vaters über den Weg gelaufen. „Ist mir nicht aufgefallen.“

„Lügner.“

Sein Bruder hatte recht. Selbst einem Toten, der zwei Meter unter der Erde lag, wäre ihr Aussehen aufgefallen. „Die Botschaft, die sie hergebracht hat. Wo zum Teufel ist sie?“

Griffith hielt ihm einen Umschlag hin, der so makellos weiß war, dass er regelrecht leuchtete in der Dunkelheit, obwohl das einzige Licht von der Lampe im Fenster der oberen Etage und einer Straßenlaterne in einiger Entfernung herrührte. Mit äußerster Zurückhaltung gelang es Marcus, seinem Bruder das Kuvert nicht aus der Hand zu reißen und das Siegel zu brechen, um ihre Zeilen zu überfliegen. Beiläufig, so als platze er nicht regelrecht vor Ungeduld, nahm er den Brief an sich und steckte ihn sich in die Innentasche seiner Jacke. „Und wie geht es dir?“

Einen Moment lang musterte Griffith ihn prüfend. „Gut, wenn du es glauben kannst. Ich vermisse unser früheres Leben nicht mehr.“

„Das freut mich. Denn was ich vorhabe, würde es dir nicht zurückbringen.“

„Warum gibst du deine Nachforschungen dann nicht auf?“

Er konnte es nicht recht in Worte fassen. „Erinnerst du dich, wie es war, als sie uns mitten in der Nacht aus unseren Betten zerrten? Ohne Vorwarnung, ohne Erklärung? An die zwei Wochen, die man uns im Tower vermodern ließ? Uns wie Verräter behandelte und jeden Tag verhörte? Erinnerst du dich an die Angst, die Verwirrung? An die Schande? Und als man uns freiließ, die Qual, Mutter dahinwelken zu sehen vor Scham über den Landesverrat ihres Ehemannes? Bis sie allen Lebenswillen verloren hatte und kurz nachdem er gehängt worden war, starb? Erinnerst du dich, wie die Wucht der Ereignisse uns unter sich begrub, bis wir kaum mehr Luft bekamen? Ich will wissen, wie es zu all dem kam. Was Vater zu gewinnen glaubte, das das Risiko wert war, alles aufs Spiel zu setzen, was unsere Vorfahren erreicht hatten. Ich will wissen, wer ihn dazu überredete, diesen Weg einzuschlagen.“

„Seine Mätresse vielleicht.“

Die Worte fühlten sich an wie ein Faustschlag in die Eingeweide. Zu seiner Verwunderung hätte Marcus ausgerechnet die Frau, die er schon so lange verachtete, am liebsten verteidigt. „Sie wurde ebenfalls verhaftet.“

„Was nicht heißt, dass sie nicht in die Sache verwickelt war.“ Griffith schüttelte den Kopf. „Auf mich wirkt sie kalt wie ein Fisch. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Vater an ihr gefiel.“

„Vor ein paar Minuten hast du dich anerkennend über ihr Aussehen geäußert.“

„Ich habe mich auch schon anerkennend über Marmorstatuen geäußert. Deshalb will ich noch lange nicht das Bett mit ihnen teilen. Im Bett ziehe ich Wärme vor.“

„Vielleicht erfahre ich mehr darüber, was unseren Vater zu ihr hinzog, wenn ich ihre Zeilen lese.“

„Das bezweifle ich sehr.“

Marcus sträubten sich die Nackenhaare, und ein unerklärlicher Zorn schoss in ihm empor. „Du hast den Brief gelesen?“

„Was es zu lesen gab.“

Um ein Haar hätte er seinen Bruder gegen die Wand gestoßen, weil er in einer Angelegenheit geschnüffelt hatte, die Marcus als persönlich und privat betrachtete. Was in Dreiteufelsnamen war nur mit ihm los? Griffith hatte ihm das Leben gerettet, hatte den Kerl umgebracht, der drauf und dran gewesen war, ihn abzumurksen. Er verdiente es, alles zu erfahren, was Marcus herausfand. „Erspar mir die Ungewissheit. Was hat sie zu sagen?“

„Wenig. Das Einzige, was sie zu Papier gebracht hat, ist ein E. Ich nehme an, du weißt, was es bedeutet?“

Marcus merkte, wie sein Mund sich zu einem breiten Grinsen verzog, eine Bewegung, die sich merkwürdig ungewohnt anfühlte, vielleicht weil die zuständigen Muskeln lange nicht mehr benutzt worden waren. „Es bedeutet, dass sie dir nicht über den Weg traut.“

Außerdem war er sich sicher, dass sie ihn treffen wollte.

Am folgenden Abend erwog er, in ihr Haus, in ihr Schlafzimmer einzudringen. Doch er konnte nicht sicher sein, dass es keinen Liebhaber gab, und er hatte keine Lust, sie zu überraschen, wenn sie Unzucht mit einem anderen trieb. Denn obwohl Griffith sie für kalt hielt im Bett, war Marcus überzeugt, dass sie es mit einem Vulkan aufnehmen konnte, wenn es um Leidenschaft ging. Aber vielleicht war es sein Verlangen, das seinen Blick auf sie färbte. Wenn sie ganz und gar aus Eis war, wollte er sie schmelzen sehen, wollte derjenige sein, der sie zum Tauen brachte.

Im Stillen verwünschte er den Duke, weil er ihm zuvorgekommen war. Die Vorstellung, sich zu nehmen, was sein Vater vor ihm gehabt hatte, ging ihm gegen den Strich. Am Ende kam er zu dem Schluss, dass es am besten war, eine Begegnung auf neutralem Boden zu arrangieren, und fand einen Gassenjungen, der für einen Shilling eine Nachricht an sie überbrachte: Um zehn Uhr heute Abend im Mermaid and Unicorn.

Marcus nahm an, dass sie sich gut genug auskannte, um die Taverne zu finden, und sie bewies, dass er recht gehabt hatte. An der hinteren Wand der Schankstube sitzend, sah er ihr entgegen, als sie eine Minute vor der verabredeten Zeit in einem unauffälligen dunkelblauen Kleid, das nichts von Interesse enthüllte, zur Tür hereinkam. Der Kragen des Kleides reichte ihr fast bis zum Kinn, die Ärmel waren lang, und sie trug dunkle Handschuhe. Ihr Haar war schlicht frisiert, ohne Perlen oder sonstigen Schmuck. Ein Retikül baumelte an ihrem Handgelenk, außerdem hatte sie einen Schirm bei sich, obwohl es seiner Erinnerung nach nicht nach Regen gerochen hatte. Aber in London konnte man nie völlig sicher sein, ob nicht doch ein Schauer in der Luft lag.

Ihr Blick flog umgehend in seine Richtung, so als wisse sie instinktiv, wo er zu finden war. Geschickt bahnte sie sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch, an denen ausgelassene Gäste ihr Ale genossen. Plötzlich fasste ein offensichtlich betrunkener Mann sie an. Sie blieb stehen, musterte ihn auf eine Weise, die ihn dazu veranlasste, sich kerzengerade zu setzen und die Hand, mit der er sie berührt hatte, unter die Achsel zu stecken. Sie nickte knapp und ging weiter.

Wider Willen bewunderte er sie für die Eindeutigkeit, mit der sie klarmachte, dass sie, wenn es um ihre Person ging, keine Grenzüberschreitungen duldete. Ob sie auch im Bett so dominant war? Ob sie seinen Vater herumkommandiert hatte?

Bei jeder anderen Frau, die auf ihn zugekommen wäre, hätte er sich erhoben. Sie verdiente solche Höflichkeit nicht, und daher würde er sitzen bleiben, sich zurücklehnen …

Ach, zum Teufel damit. Sie hatte Kontakt zu ihm aufgenommen, war seinem Ruf gefolgt. Er schob seinen Stuhl zurück, kam auf die Füße. „Wie es scheint, hatten Sie keine Probleme, die Taverne zu finden.“

Sie sah sich um. „Ein Etablissement, das einem der Trewloves gehört? Ich würde wetten, dass es in London niemanden gibt, der nicht sämtliche Geschäfte dieser berüchtigten Familie kennt. Glaubten Sie, mich schockieren zu können?“ 

„Nein. Aber hier gibt es den besten Schnaps.“ Ehe er es sich anders überlegen konnte, rückte er ihr den Stuhl zurecht, atmete den Rosenduft ein, der sie umgab, und genoss es, ihr dabei zuzusehen, wie sie anmutig Platz nahm. Er setzte sich ebenfalls, beobachtete gebannt, wie sie ihr Retikül und den Schirm auf dem Tisch ablegte, dann bedächtig ihre Handschuhe auszog, indem sie sie nacheinander von den Fingern zupfte, und ein schmaler Streifen blasser Haut an ihrem Handgelenk sichtbar wurde – eine Einladung für jeden Mann, einen Kuss auf der Ader zu platzieren, die dort pochte. Ob sie all ihre Kleider so langsam, so aufreizend auszog?

Autor

Lorraine Heath
<p>Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New-York-Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine Heath lebt...
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