Ein Gentleman zum Küssen

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Kein Mann ruft in Viola Ylverton so widersprüchliche Gefühle hervor wie ihr Arbeitgeber Sir Harry Marbeck! Einerseits fasziniert der attraktive Großgrundbesitzer sie, andererseits fühlt sie sich von seiner schroffen Art abgestoßen. Dabei sollte sie sich darauf konzentrieren, seine drei Mündel zu unterrichten! Als eines der Kinder schwer erkrankt, lernt sie Sir Harry von seiner fürsorglichen Seite kennen und verliebt sich rettungslos in ihn. Soll sie ihm ihre Gefühle gestehen, oder läuft sie Gefahr, nicht nur ihr Herz, sondern auch ihre Anstellung zu verlieren?


  • Erscheinungstag 25.04.2023
  • Bandnummer 629
  • ISBN / Artikelnummer 0811230629
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

März 1813

Wie geht es Emma?“, fragte Sir Harry Marbeck eine der jüngeren, jedoch hoch geschätzten Lehrerinnen an Miss Thibetts Schule. Er sagte sich, dass er froh darüber war, privat mit ihr im sonnigen Frühlingsgarten reden zu dürfen – in dem es viel zu kalt war, als dass es zu irgendwelchen Unschicklichkeiten kommen könnte.

Miss Yelverton wirkte in ihrem strengen Häubchen und einem Kleid, dessen Farbe an Brackwasser erinnerte, so abweisend, dass sie wohl unter keinen Umständen Unschicklichkeiten zugelassen hätte – in welchem Wetter auch immer. Am besten wäre, er erlaubte sich nicht einmal den Gedanken daran, die Regeln zu brechen, wenn sie ihn so argwöhnisch ansah. Sie machte schon jetzt den Eindruck, als hätte man sie gebeten, im Garten ihrer Direktorin einen hungrigen Tiger zu treffen und nicht einen trauernden Baronet. Also vergaß er lieber, dass er nichts lieber getan hätte, als ihr Misstrauen zu bestätigen, oder sich vorzustellen, wie es sein mochte, sie langsam und genüsslich auszuziehen, bis er die Frau unter ihrer trostlosen Kleidung enthüllte. Nur war es leider zu spät dafür, denn er hatte die Träume und Verheißung in ihren himmelblauen Augen entdeckt, als ihre Blicke sich zum ersten Mal trafen und sie den Atem angehalten hatte.

Sie war aus Miss Thibetts Räumen getreten und eilig herangeschritten, um diese Unterbrechung ihres geschäftigen Tages schnell hinter sich zu bringen, doch dann hatte sie kurz innegehalten und ihn betrachtet, als wäre sie erstaunt darüber, dass sie niemand davor gewarnt hatte, was für einem gefährlichen Mann sie hier begegnen würde. Es dauerte nur einen Augenblick. Gleich darauf hatte sie sich wieder gefasst, und doch hatte er die sehnsuchtsvolle junge Frau hinter der steifen Fassade entdeckt. Und jetzt konnte er dieses Bild nicht mehr vergessen. Glaubte sie wirklich, ein hässliches Kleid und ihre abweisende Art könnten einen heißblütigen Mann von der wahren Frau hinter dieser Verkleidung ablenken?

Nun, sie konnte sich ja ruhig einzureden versuchen, dass er ihren aufregenden Körper und die erstaunlichen blauen Augen nicht bemerkt hatte, aber für ihn bedeutete ihre Schönheit noch ein Problem. Er würde sich besondere Mühe geben müssen, in ihr nicht die Frau zu sehen, sondern den einzigen Menschen, der ihm helfen konnte, seinen drei Mündeln wieder ein Gefühl der Sicherheit und Fürsorge zu geben. Oder er sah sich vielleicht doch lieber nach einer anderen Gouvernante um. Er brauchte sich nur zu entschuldigen, dass er sie behelligt hatte, und gehen.

„Emma geht es gesundheitlich gut, aber sie ist natürlich verzweifelt über den Verlust ihrer Eltern“, antwortete sie langsam, als müsste sie jedes Wort abwägen, bevor sie es aussprach. „Ihr Brief, in dem Sie ihr sagten, dass Sie sie so bald wie möglich abholen würden, spendete ihr wenigstens den Trost, dass man sie nicht vergessen hat.“

Etwas an der Art, wie sie von Emma sprach, verlieh ihm die Gewissheit, dass sie sich wirklich um seine Nichte sorgte. Also irrte er sich vielleicht und Emmas Plan könnte doch funktionieren. Nur dass er unbedingt einen kühlen Abstand zu dieser Frau einhalten musste – genau wie sie zu ihm, daran zweifelte er keinen Moment. Vielleicht brauchte er sich nur fest genug vorzumachen, dass er die wahre Miss Yelverton niemals gesehen hatte, dann würde es ihm womöglich gelingen, die lebenssprühende junge Frau hinter der Fassade der Schullehrerin zu vergessen. Emmas tränenverschmierter Brief steckte in diesem Moment in seiner Jackentasche. Und darin hatte sein ältestes Mündel ihm klargemacht, wie sehr sie sich wünschte, dass diese zurückhaltende Frau Teil ihres Lebens blieb. Harry wusste nur, dass er Emma jede Hilfe gewähren musste, die sie zu brauchen glaubte. Er würde alles tun, um sie glücklich zu machen. Wenn er also seine Zweifel unterdrücken und versuchen musste, diese junge Frau für sich zu gewinnen, damit Emma glücklich wurde, dann würde er es tun.

Seine wichtigste Aufgabe war, Miss Yelverton von seinen Plänen zu überzeugen. Sie musste ihm glauben, dass ihre Zukunft bei ihm und seiner neuen Familie – den drei Mündeln und einer schwierigen jungfräulichen Tante – auf Chantry Old Hall lag. Der Gedanke an seine Tante drohte ihm ein Lächeln zu entlocken, obwohl Miss Yelvertons skeptischer Blick noch immer auf ihm ruhte und obwohl der Kummer um seinen Cousin Christian und dessen Frau Jane ihm das Herz schwer machte. Miss Tamara Marbeck, die kleine Schwester seines verstorbenen, nicht sonderlich betrauerten Vaters, war gleich am Tag nach der Nachricht von Chris’ Tod mit einem riesigen Berg von Gepäck auf Harrys Schwelle aufgetaucht. Sie hatte ihn angefunkelt, als wäre alles seine Schuld, und ihm mitgeteilt, dass sie ihn vielleicht im Stich gelassen hatte, als er ein Junge war, aber eher zum Teufel gehen wolle, als die jüngste Generation der Marbecks Männern zu überlassen, die immer davon ausgingen, alles besser zu wissen, nur um am Ende jedermann das genaue Gegenteil zu beweisen.

„Ich nehme an, die Beerdigung hat bereits stattgefunden“, sagte Miss Yelverton, als hätte sie nach den passenden Worten gesucht, solange das Schweigen zwischen ihnen sich in die Länge gezogen und er sich die größte Mühe gegeben hatte, seinen Kummer in den Griff zu bekommen.

Der Impuls zu lächeln verschwand sofort. Harry konnte nur nicken, weil es keine angemessenen Worte gab. Der Anblick zweier Särge in derselben Kirche, in der die Hochzeitszeremonie seines Cousins Christian und seiner Jane abgehalten worden war, hatte sich Harry für immer ins Gedächtnis gebrannt, aber er konnte nicht darüber sprechen. Chris lag bis in alle Ewigkeit neben seiner Frau begraben, und Harry Marbeck trug die Verantwortung für das Glück und Wohlbefinden dreier Waisen. Niemand war weniger dafür geeignet, aber irgendwie musste er sich dieser Aufgabe gewachsen zeigen, bis Chris’ Kinder alt genug waren, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

„Ich bin sehr froh, dass Sie Emma nicht sofort zu sich riefen, als es geschah. Meiner Meinung nach ist es nicht richtig, von Kindern zu erwarten, am Leichenschmaus eines Elternteils erscheinen zu müssen, geschweige denn an dem beider Eltern“, fügte sie unbehaglich hinzu und machte ihm klar, dass es höchste Zeit für ihn wurde, seinen Teil zur Unterhaltung beizutragen.

„Ich weigerte mich, sie all dem auszusetzen oder gar dem Klatsch, der ein solches Ereignis meist begleitet“, sagte er zustimmend und schnitt eine Grimasse bei dem Gedanken an jene Leute, denen es Vergnügen bereitete, sich wie Aasgeier auf das Unglück anderer Menschen zu stürzen.

„Das ist richtig. Aber warum wollten Sie allein mit mir sprechen, Sir Harry?“

Er hatte ihre Direktorin und Mentorin eindringlich bitten und seine Absichten zunächst erklären müssen, bevor die Dame bereit gewesen war, seinen Plan gutzuheißen. Auch sie war am Ende jedoch der Meinung, dass es die perfekte Lösung sein und gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde – Emma würde in ihr Zuhause zurückkehren können, nach dem sie sich so sehnte, und Miss Yelverton würde ihr eine Stütze bleiben, indem sie sie und ihren Onkel in die Cotswolds begleitete. Sie war sogar bereit, darüber hinwegzusehen, dass die Schule mitten im Schuljahr die Hilfe einer geschätzten Lehrkraft verlieren würde.

„Ich gestehe Ihnen, ich bin erstaunt darüber, dass Miss Thibett dieses Gespräch gestattet hat. Wir sind uns noch nie begegnet und haben nichts gemeinsam bis auf Ihr ältestes Mündel“, fuhr Miss Yelverton fort und sah ihn ohne Verlegenheit in ihrem offenen Blick an.

„Wissen Sie, dass mein verstorbener Cousin und seine Frau Emma hierherschickten, damit sie zu Hause nicht ständig die große Schwester spielen musste?“, fragte er und wich damit seiner Aufgabe aus, gerade jetzt, da es besonders wichtig gewesen wäre, direkt und zielgerichtet aufzutreten.

Zum Henker, er hatte es noch nie schwierig gefunden, einer hübschen Frau gegenüber die richtigen Worte zu finden. Noch nicht einmal als grüner Junge. Aber bei dieser jungen Dame drohte er sich in einen stotternden Narren zu verwandeln, und er konnte nicht einmal erklären, warum. Natürlich ähnelte sie in nichts dem Bild, das er sich auf seinem Weg hierher von ihr gemacht hatte, aber er war schon einer Unmenge schöner Frauen begegnet, ohne auf diese Weise von ihnen überwältigt worden zu sein. Doch in diesem Fall, mit dieser jungen Frau, die vorgab, älter, unscheinbar und Ehrfurcht erregend zu sein, fühlte er sich plötzlich hin und her gerissen zwischen Verlangen und so vielen anderen widersprüchlichen Gefühlen.

Nein, gerade eben hatte er sich doch die Situation klargemacht – sie war keine junge Frau für ihn, sie war lediglich eine mögliche Gouvernante für seine Mündel. Sie bedeutete Emma sehr viel, und mehr als das brauchte er nicht zu wissen. Mit grimmiger Entschlossenheit suchte er Zuflucht bei Sir Harrys berühmter Distanziertheit und Dreistigkeit, doch die gelassenen Worte, die er sich in Gedanken zurechtlegte, schienen ihm bei diesem unschuldigen, argwöhnischen Geschöpf unangemessen. Also blieb er stumm und riskierte es, dass sie aufgab und sich zurückzog, bevor er die richtigen Worte finden und sie überzeugen konnte, dass sie ihm helfen musste, das zerstörte Leben der Kinder wiederaufzubauen.

Und wenn er daran dachte, dass er mit einer zimperlichen Dame mittleren Alters gerechnet hatte, die er mühelos mit seinem skrupellosen Charme hätte dazu überreden können, alles zu tun, was er wollte. Nun, dieses Mädchen hatte ihm seine Selbstgefälligkeit gründlich ausgetrieben, was er nur verdient hatte. Trotzdem konnte er nicht behaupten, dass er an dieser ungewohnten Erfahrung, kein Wort hervorbringen zu können, sonderlichen Gefallen fand. Er betrachtete finster ein paar Narzissen, die unschuldig in einer Ecke des Beetes blühten. Emmas Brief in seiner Tasche erinnerte ihn daran, dass er Miss Yelverton unbedingt nach Chantry Old Hall mitnehmen musste, und sie würde wohl kaum zustimmen, wenn er ihr gestand, dass er sich in ihrer Gegenwart wie ein unsicherer Schuljunge fühlte, der zum ersten Mal einem Mädchen gegenüberstand. Und das lediglich, weil sie so ganz anders aussah als der graue kleine Spatz von einer Frau, den er eigentlich erwartet hatte.

„Ja, Miss Thibett erwähnte es, als Emma in meine Klasse kam. Es hatte mich schon gewundert, warum ein so offensichtlich geliebtes Kind von zu Hause fortgeschickt worden war“, erwiderte sie mit einem zurückhaltenden Blick, als wollte sie fragen: Aber was wollen Sie mir damit sagen, Sir Harry Marbeck?

Die Sonne kam hinter einer der Wolken hervor und ließ eine der blonden Locken aufleuchten, die dem braven Häubchen entschlüpft war. Am liebsten hätte Harry eine Hand ausgestreckt und sie berührt, um zu sehen, ob sie sich ebenso samtweich anfühlte, wie sie aussah. Wusste diese Frau denn nicht, dass es ihn nur noch mehr verzauberte, wenn sie den Kopf gesenkt hielt und ihn außer der oberen Seite des schneeweißen, aber schmucklosen Häubchens nicht sehr viel mehr sehen ließ? Dass sie ihr Gesicht zu verbergen suchte, machte ihn nur aufmerksamer, sodass er sich ihrer sinnlichen Lippen noch bewusster wurde. Sie brachten Harry erst recht in Versuchung, sich vorzubeugen und ihr einen Kuss zu stehlen, bevor sie wusste, wie ihr geschah. Zum Teufel, jetzt malte er sich auch schon aus, wie er sie küssen würde! Nein, deswegen waren sie nicht hier. Aber weswegen dann? Ach ja. Es ging um Emma, nur um Emma. Höchste Zeit, dass er seine gesamte Energie darauf verwendete zu erreichen, worum sie gebeten hatte.

„Emma ist schon immer ein wenig zu ernst gewesen und hat über alles viel zu sehr nachgrübeln müssen. Und ihr Bruder und ihre Schwester, beide jünger als sie, sehen ihr liebes Wesen und ihre Geduld als selbstverständlich an. Als mein Cousin und seine Frau entschieden, sie hierherzuschicken, wusste ich, dass es das Beste für sie sein würde, weil … Aber das wissen Sie ja sicher genauso gut wie ich.“ Harry hielt einen Moment inne und rang nach Worten, um die Katastrophe zu beschreiben, die das Leben der Kinder und auch sein eigenes auf die schlimmste Weise auf den Kopf gestellt hatte. „Dieses Unglück ändert natürlich alles“, brachte er schließlich leise hervor und sah das Mitgefühl in ihren kühlen blauen Augen. Jetzt glichen sie mehr dem klaren Frühlingshimmel über ihnen – zu warm und einladend und zu verführerisch für einen Mann, der nach einem so grausamen Schicksalsschlag Trost nötig hatte, auch wenn er es kaum vor sich selbst zugeben wollte.

„Emma hat begonnen aufzublühen, so wie ihre Eltern gehofft hatten, wenn ich auch glaube, dass ihr Zuhause ihr mehr gefehlt hat, als sie ihnen jemals eingestanden hat“, sagte Miss Yelverton, wobei sie ihn abwägend betrachtete, als würde sie sich fragen, ob er der Rolle des Vormunds für diese Kinder gewachsen war, die zwei so großartige Eltern verloren hatten. Und sie schien es wohl eher zu bezweifeln.

Jetzt verwünschte er seinen Ruf als Lebemann, den er sich mit so viel Vergnügen zugelegt hatte. Am Anfang hatte er vor allem seinen eiskalten Vater reizen wollen, doch seit dem Tod des alten Herrn hatte Harry sein liederliches Leben eigentlich nur fortgeführt, weil er plötzlich das Gefühl gehabt hatte, jeden anderen Halt verloren zu haben. Seine Neigung zu Wein, Weib und Gesang hatte einige der Lücken in seinem Leben gefüllt – bis Christian und Jane gestorben waren und eine Lücke hinterließen, die sich nicht füllen ließ. Sein Vater fehlte ihm wirklich nicht, aber jetzt war niemand mehr da, den er verärgern wollte, und das war in seiner Jugend etwas gewesen, auf das er sich hatte verlassen können. Er hatte sich immer darauf verlassen können, dass Sir Alfred Marbeck entrüstet sein würde über sein einziges Kind, und das sogar, wenn Harry nichts Falsches getan hatte. Warum sollte er also kein skandalöses Leben führen? So war die Verachtung seines Vaters wenigstens gerechtfertigt gewesen. Doch um ihn ging es Harry jetzt nicht. Vielmehr bezweifelte er sehr, dass er der richtige Mann war, um drei einsame trauernde Kinder aufzuziehen, also konnte er es Miss Yelverton kaum übelnehmen, wenn sie die gleichen Zweifel hegte.

„Emmas Wohlergehen sind meinem Cousin und seiner Frau wichtiger als das eigene. Sie fehlt ihnen sehr“, sagte er abwehrend, als müsste er Chris’ und Janes Entscheidung, sich von ihrer Erstgeborenen zu trennen, verteidigen. Neuer Schmerz durchzuckte ihn, als ihm bewusst wurde, dass er von zwei Menschen in der Gegenwart sprach, die es nicht mehr gab. „Sie waren die besten Menschen, denen ich je begegnet bin. Sie hatten nur diese absonderliche Idee, mir die Verantwortung für ihre Kinder zu übergeben, sollte ihnen je etwas zustoßen.“

„Dann wird es also an Ihnen sein, durch Ihr Verhalten zu zeigen, dass sie recht hatten, nicht wahr?“, sagte sie, als würde sie denken, es wäre höchste Zeit, dass er sich an Chris’ und Janes hervorragendem Vorbild ein Beispiel nahm.

Sie besaß die nötige Stärke, die die Kinder in diesem verheerenden Augenblick ihres Lebens dringend brauchten. Harry konnte nicht den strengen Vater spielen. Sein eigener Vater hatte aus kaltem, hartem Stahl bestanden. Vielleicht hatten ihn tatsächlich Muttern und Bolzen zusammengehalten, Harry hätte es nicht gewundert. In jedem Fall hatte er sich schon in jungem Alter geschworen, niemals dem Beispiel seines unbeugsamen Erzeugers zu folgen. Ihm gefiel die Vorstellung, dass der alte Herr dabei war, vor sich hinzurosten, statt sich in seinem Grab herumzudrehen, weil man ausgerechnet Harry die Fürsorge dreier Kinder anvertraut hatte. Wie oft hatte sein Vater davon gesprochen, dass es gewiss eher Harry sein werde, der ein vorzeitiges Ende finden musste, und ganz gewiss nicht sein respektabler, anständiger Cousin.

„Ich erhoffe mir Ihre Hilfe für diese knifflige Aufgabe, Miss Yelverton“, sagte Harry.

Meine Hilfe? Wie in aller Welt sollte ich Ihnen helfen können?“, fragte sie, offensichtlich schockiert.

„Sie sind besonders gut dafür geeignet, die Gouvernante meiner Mündel zu werden“, antwortete er, so gelassen er konnte, als wäre es die offensichtlichste Lösung. Und das stimmte ja auch. Er musste sie nur ebenfalls davon überzeugen.

„Was?“ Sie sah ihn an, als würde sie ihren Ohren nicht trauen. „Warum sollte ich eine Gouvernante sein wollen?“

Wenigstens hatte sie nicht dramatisch geschrien: „Nur über meine Leiche!“ Aber vielleicht war sie ja kurz davor.

„Ich bin sicher, Miss Thibett hätte es mir gesagt, wenn Sie taub oder schwer von Begriff wären“, konnte er sich nicht verkneifen zu antworten. Manchmal war es, als würde ihn der Teufel reiten. Selbst in diesem wichtigen Gespräch konnte er sich nicht bremsen. Einen Moment lang dachte er, sie würde ihre Würde als Erzieherin vergessen und ihm genau sagen, was sie von ihm hielt. Er sah es in ihren faszinierenden himmelblauen Augen, mit denen sie ihn anfunkelte. Waren es wirklich dieselben Augen, deren Blick vor Kurzem noch warm und mitfühlend auf ihm geruht hatte? Er musste sich geirrt haben.

Am besten stand er auf, ging und ließ sie in Ruhe. Es war in jedem Fall ein sehr schlechter Einfall, eine so entzückende, herausfordernde Frau mit nach Hause zu nehmen, damit sie sich um seine drei kleinen Engel kümmern konnte – oder vielmehr um einen Engel und zwei unternehmungslustige kleine Teufel, um genauer zu sein. Ihm schauderte vor der Möglichkeit, dass Lucy und Bram seinem Beispiel folgen könnten, also war es sehr wichtig, dass er vollbrachte, worum Emma ihn gebeten hatte, wenn es ihm im Moment auch eher vorkam, dass ihm nur ein Wunder dazu verhelfen könnte. Miss Yelverton starrte ihn an, als könnte sie nicht begreifen, warum man ihn nicht schon längst in ein Tollhaus gesperrt hatte, um die Menschheit vor ihm zu schützen.

„Vergeben Sie mir, Madam. Manchmal rede ich, ohne vorher zu überlegen. Übrigens ein Fehler, den Sie begierig sein sollten, bei meinen zwei jüngeren Mündeln zu korrigieren, bevor sie von meinem schlechten Beispiel lernen. Wenn Sie mich fragen, denke ich, jede gute Lehrerin sollte es eigentlich bei einer solchen Herausforderung kaum erwarten können, mit der Arbeit zu beginnen.“

„Merkwürdigerweise trifft das nicht auf mich zu“, sagte sie knapp.

Er musterte sie neugierig. Wie war es möglich, dass eine so attraktive junge Frau es nicht merkte, wenn sie geneckt wurde? Und er selbst schien eine besondere Freude daran zu finden, sie zu provozieren. Es entging ihm nicht, dass sie die Hände hinter ihrem Rücken zu Fäusten geballt hatte. Er konnte es in der Fensterscheibe zu Miss Thibetts Arbeitszimmer, die sich genau hinter Miss Yelverton befand, deutlich sehen, und er fragte sich, was jene Dame aus dieser Geste wohl schließen würde, sollte sie zufällig von ihren Briefen aufblicken. Miss Yelvertons leicht vorgeschobenes Kinn und die fest zusammengepressten Lippen gaben preis, dass sie wütend war, ebenso wie das Funkeln ihrer Augen, das zum Glück nur er sehen konnte. Wenn sie ihre Gefühle so leicht verriet, war sie vielleicht doch nicht die ideale Gouvernante, aber Emma wollte sie haben, und das allein zählte. Bis Emma weniger verzweifelt war und wieder festen Boden unter ihren Füßen fand, war es seine Aufgabe, Himmel und Hölle zu bewegen, um Miss Yelverton nach Chantry Old Hall zu holen.

„Dann sollten Sie vielleicht noch einmal überlegen“, sagte er. „Emma liebt Sie.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, damit die Tatsache einsinken konnte. Und seine List schien zu wirken, denn Miss Yelverton runzelte die Stirn. Ihre Miene wurde weicher. Sehr wahrscheinlich musste sie an Emma denken, die ihr gewiss schon das Herz ausgeschüttet und ihr von ihrem Kummer und ihrer Verzweiflung erzählt hatte – dem einzigen Menschen, der ihr auf jeden Fall zuhören würde. „Ich werde nie mehr als ein recht klägliches Beispiel für drei unschuldige Kinder sein. Stellen Sie sich doch nur vor, wie ihr Leben aussehen wird, wenn Sie nicht zustimmen, ihnen ein Vorbild zu sein, zu dem sie aufsehen können.“

Er hätte es Emma überlassen sollen, Miss Yelverton zu erweichen, denn seine aufrichtige Sorge, er könnte Chris’ Kinder verderben, klang selbst in seinen Ohren ein wenig zu scherzhaft. Zum Kuckuck mit dieser Frau, aber irgendwie gab sie ihm das Gefühl, ein Dummkopf zu sein. Bei ihr verlor er den Charme, mit dem er normalerweise bei jeder Frau erreichte, was er wollte. Natürlich musste er ausgerechnet auf die eine Frau treffen, die gegen seinen Charme gefeit zu sein schien.

„Eine Gouvernante ist nicht das Gegengift für das schlechte Benehmen ihres Dienstherrn, Sir Henry“, teilte sie ihm hochmütig mit, sah aber ein wenig erschrocken aus, als diese so verhasste Ansprache ihn finster die Stirn furchen ließ.

Sofort riss er sich zusammen und, wenn auch mühsam, zwang er sich, eine gelassene Miene aufzusetzen und leichthin die Schultern zu zucken. „Mein verstorbener Vater war der einzige Mensch, der mich so anredete“, erklärte er schroff. Selbst sie musste von den verbitterten Kämpfen gehört haben, die Vater und Sohn ausgefochten hatten, kaum dass Harry alt genug gewesen war, um den alten Schwätzer anzuschreien und sich jedem väterlichen Befehl zu widersetzen, der von ihm verlangte, einfach ohne Debatte zu tun, was man ihm sagte.

„Ich bin dennoch kein Verband für Wunden, die Sie gar nicht erst zu verursachen brauchen. Das Wohlergehen Ihrer Mündel sollte von jetzt an Ihre erste Sorge sein, Sir Harry“, sagte sie streng.

Wahrscheinlich sollte er ihr auch noch dankbar sein, weil sie ihn wieder mit dem Titel ansprach, der ihm angenehmer war. „Dann tun Sie es, weil Sie Emma lieben. Ich weiß, dass es so ist, weil sie ein kleiner Schatz ist. Das war sie vom ersten Moment an, als sie die Augen öffnete und auf diese böse, alte Welt schaute.“

Er forderte sie jetzt dazu heraus zu lügen, falls sie konnte, und heftete eindringlich den Blick auf sie. Insgeheim hoffte er, dass sie ihm ansehen würde, wie sehr Emma und die anderen zwei kleinen Äffchen ihm ans Herz gewachsen waren, doch sie starrte ihn nur an wie ein Hase, der wie angewurzelt vor einem Fuchs stehen blieb. Harry war es nicht gewohnt, seine wahren Gefühle so offen zu zeigen, am allerwenigsten vor einer Fremden wie Miss Yelverton, also hoffte er, dass seine Mündel ihm eines Tages dankbar dafür sein würden. Nein, das stimmte nicht. Er wollte nicht, dass die Schuldgefühle und der Groll, die es zwischen ihm und seinem Vater gegeben hatte, jemals zwischen ihm und seinen Mündeln standen. Nein, er wollte nur das Beste für die Kinder, und so wurde es allmählich Zeit, dass er Miss Yelverton mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dazu verlockte, es ihnen zu geben.

2. KAPITEL

Viola erinnerte sich daran, dass sie Lehrerin war und somit gewohnt, niemals die Beherrschung zu verlieren, wie schwierig die Lage auch zu sein schien. Aber Sir Harry Marbeck versetzte sie in eine viel schwierigere Lage als eine ganze Klasse unruhiger Schulmädchen. Darüber hinaus hatte er auch noch recht, der verflixte Mann. Sie liebte Emma Marbeck wirklich und machte sich sehr große Sorgen um ihr zukünftiges Wohl – schon bevor sie ihren neuen Vormund kennengelernt hatte. Wie sollte ein so gutmütiges, sanftes Mädchen ohne ihre Eltern, die sie so geliebt hatten, dass sie sie zu ihrem eigenen Besten fortgeschickt hatten, im Haushalt eines Mannes wie Harry Marbeck glücklich werden? Sie erschauderte, wenn sie sich die ausgelassenen Freunde vorstellte, die er trotz der Anwesenheit seiner drei Mündel zu sich einladen würde.

Und vergiss nicht die lockeren Frauen, Viola.

Zweifellos ermutigten Männer wie er solche Frauen, noch ungezügelter zu sein als sowieso schon und sich an jeder Art skandalösen Zeitvertreibs zu erfreuen, an die Viola nicht einmal denken mochte. Den Gerüchten zufolge sollte seine jüngste Geliebte die sinnlichste Schönheit sein, die seit vielen Jahren die Halbwelt geschmückt hatte. Nicht, dass Miss Thibett begierig auf Gerüchte gewesen wäre, aber Neuigkeiten über Wüstlinge wie Sir Harry Marbeck drangen selbst bis an so respektvolle Orte wie diese Schule und stifteten Unruhe. Und jetzt war er sogar persönlich gekommen, um Unruhe zu stiften, und Viola war fast sicher, dass sie sich wünschte, er würde endlich gehen. Ja, genau das. Sie wollte zu ihrem friedlichen, bereichernden Leben hier zurückkehren und ihn ein für alle Mal vergessen.

Also atmete Viola tief durch und bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Sir Harry Marbeck war sogar übler als alles, was man über ihn munkelte. Er sah sehr viel besser aus, viel verwegener und männlicher, als sie sich vorgestellt hatte, wann immer sie die anderen Lehrerinnen über ihn hatte flüstern hören. Sie hatten verstohlen kichernd über seine jüngsten schockierenden Missetaten geplaudert, wenn sie sicher sein konnten, dass Miss Thibett sie nicht hören und zweifellos deswegen tadeln würde.

Viola hatte sich schon bei jenen Gelegenheiten gewundert, wie es sein konnte, dass er ungestraft mit seinem Verhalten davonkam und die feine Gesellschaft ihn trotz allem nicht ausschloss. Weil er einen mit seinen Augen anlachen kann, dachte sie jetzt, da sie ihm höchstpersönlich begegnet war. So gelang es ihm, selbst Frauen zu verzaubern, die entschlossen waren, seinem Charme standzuhalten. Er brachte sie langsam, aber sicher aus der Fassung, bis sie nicht anders konnte, als sein Lächeln zu erwidern, als hätte sie plötzlich keine Vernunft und keinen Verstand mehr.

Zumindest war es ihm bei ihr so gelungen. Aber nein, das stimmte gar nicht. Noch war es ihm nicht gelungen, und wenn sie sich ihm einfach nur widersetzte, würde es ihm auch in Zukunft nicht gelingen. Er würde sie nicht dem starken Willen unterordnen, den sie deutlich hinter seinem verwegenen Charme spürte, und sie dazu bringen, unter seinem Dach zu leben und sich von seinen wilden, verruchten Freunden verspotten zu lassen.

„So sehr Emma mir auch ans Herz gewachsen ist, kann ich meinen Ruf nicht gefährden oder Schande über meine Familie bringen, weil ich unter Ihrem Dach lebe, Sir Harry“, sagte sie unverhohlen, denn es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden, wenn er offensichtlich bereit war, sie mit seiner starken Persönlichkeit zu überwältigen.

„Ich werde alles tun, was nötig ist, damit die Kinder meines verstorbenen Cousins das Gefühl der Sicherheit, das ihnen jetzt genommen wurde, wiederbekommen, und dass sie eines Tages vielleicht auch wieder glücklich werden, Miss Yelverton. Und ich werde Sie sogar behandeln, als wären Sie steinalt und hässlich wie die Sünde, wenn Sie sich dann besser fühlen. Ich schwöre Ihnen – Hand aufs Herz –, dass ich niemals vornehme Damen verführe, wenn sie es nicht selbst wünschen, und gewiss keine, die unter meinem Dach wohnt und sich um meine Mündel kümmert. Sie werden nicht um Ihren Ruf fürchten müssen.“

Das glaubt er jedenfalls, dachte sie und unterdrückte einen Seufzer bei dem Gedanken daran, dass sie viel zu willig und hingebungsvoll reagieren würde, sollte er sie je mit seinen erfahrenen Händen berühren wollen. Schließlich war sie auch nur ein Mensch, und er war wirklich die personifizierte Versuchung. So viele Frauen waren seinem unbekümmerten Charme und den goldenen Locken erlegen. Die Vorstellung all jener Geliebten, die sehnsüchtig darauf warteten, von ihm verführt zu werden, war es, die Viola dazu brachte, die Schultern zu straffen, der Versuchung zu widerstehen und sich ihm nicht in die Arme zu werfen und mit ihm zu gehen, wohin er wollte, ohne auch nur eine einzige Bedingung zu stellen.

„Ich könnte nicht unter Ihrem Dach leben, Sir Harry“, erwiderte sie so kühl sie nur konnte, wenn sein Anblick Dinge in ihr zum Leben erweckte, die sie in den vier Jahren in Dorset und danach in Bath kein einziges Mal verspürt hatte. „Ihre Absichten könnten noch so rein und unschuldig sein. Die Gesellschaft würde es dennoch nicht glauben.“

„Bin ich wirklich so schlecht, wie Sie mich darstellen?“, fragte er mit einem Stirnrunzeln, das ihr zeigte, wie wenig er sich seiner Anziehungskraft bewusst war.

Er musste sich selbst etwas vormachen, wenn er wirklich an seiner Macht über das schwache Geschlecht zweifelte. Irgendwie war das sogar noch gefährlicher, als es ein übermütiges Grinsen und ein selbstgefälliges Schulterzucken hätten sein können. Dennoch weigerte sie sich, ihre Skrupel zu vergessen und sich von seinem Charme einlullen zu lassen.

„Das muss ich wohl sein, wenn Sie sogar unter einem so respektablen Dach wie diesem von meinen Sünden gehört haben. Zum Henker mit ihnen, wenn sie jetzt die vernünftigste Lösung für die Zukunft der Kinder gefährden, die mir einfallen will. Aber was ich jetzt auch sage, wird sie nicht ungeschehen machen“, fügte er hinzu, als würde er seine skandalöse Vergangenheit aufrichtig bereuen.

Es herrschte Schweigen zwischen ihnen, während beide über das beträchtliche Hindernis nachdachten, das sich ihnen in den Weg stellte. Dabei musste Viola insgeheim zugeben, dass es wirklich eine Lösung für Emma und ihre Geschwister wäre. Viola erinnerte sich noch gut, wie es sich angefühlt hatte, einsam zu sein, als ihr Bruder und ihre Schwester das Haus verlassen hatten. Mitleid schnürte ihr die Kehle zu, wenn sie an die Kinder dachte, denen von einem Tag auf den nächsten alle Sicherheit und Liebe genommen worden war. Jetzt würden sie vielleicht gemeinsam auf eine Schule geschickt werden oder eine andere Gouvernante bekommen, die womöglich streng mit ihnen sein oder ihnen gar Prügel verpassen würde. Sie selbst war wenigstens schon sechzehn gewesen, als Darius und Marianne gegangen waren, um ihr eigenes Leben zu führen oder ihrer Liebe zu folgen, wie es ältere Geschwister nun einmal tun mussten.

Und dennoch war sie sich so einsam und verlassen vorgekommen, und die Erinnerung daran flüsterte ihr zu, dass es falsch von ihr wäre, Emma und ihren sogar noch jüngeren Geschwistern den Rücken zuzukehren. Es hinderte sie daran, ein eindrückliches Nein zu äußern und ins Haus zurückzugehen, wo sie ihrer Direktorin mitteilen würde, wie sie sich entschieden hatte. Eine innere Stimme warnte sie davor, dass Sir Harry eine Gefahr für sie bedeutete. Am besten war sie vorsichtig und überließ es der sehr viel energischeren Dame, ihm klarzumachen, dass Miss Yelverton sich nicht überreden lassen würde, er also ebenso gut gehen könne.

„Wäre es besser, wenn Sie und die Kinder in ihrem eigenen Haus wohnen würden, statt in meinem?“ Er unterbrach ihre Gedanken. Offenbar hatte er darüber nachgedacht, wie er sie auf listige Weise dazu bringen könnte, ihre Meinung zu ändern, während sie gegen seine Anziehungskraft ankämpfte. „Meine Respekt einflößende, unverheiratete Tante ist zu mir nach Chantry Old Hall gezogen, um den Kindern zu geben, was sie unter Trost versteht. Wahrscheinlich wird sie sie eher irritieren. Wenn sie ebenfalls mit Ihnen in Garrard House leben würde, könnte Sie das davon überzeugen, dass ich wirklich nur das Beste für meine Mündel will? Ihre Anwesenheit und ein, zwei Meilen Entfernung zu meiner verderblichen Gesellschaft sollten doch eigentlich jeden Klatsch verhindern. Ich habe sowieso schon darüber nachgedacht, ob die Kinder sich in ihrem eigenen Zuhause nicht wohler fühlen würden als in meinem.“

„Ich schlage vor, Sie fragen besagte Dame, ob sie bereit ist, ihr Leben noch einmal auf den Kopf zu stellen, bevor Sie ohne ihr Wissen Pläne schmieden. Aber ich nehme an, so könnte es gehen“, meinte sie zögernd. Sie sah Triumph in seinen strahlend blauen Augen aufblitzen. Zum Kuckuck mit dem Mann. Er wusste, dass sie fast so weit war, ihm nachzugeben.

Am Ende vergingen zwei Wochen, bevor Sir Harry Marbecks Bote mit gleich drei Schreiben zu Miss Thibetts Schule geritten kam, eins für Emma, eins für Miss Thibett und ein weiteres für Miss Yelverton. Insgeheim war Viola aber stolz darauf, seinem starken Willen wenigstens länger standgehalten zu haben als die meisten. Der Brief an sie war kurz und sachlich und bestätigte lediglich Sir Harry Marbecks Angebot an sie, die Stelle der Gouvernante für seine Mündel einzunehmen. Wie albern von ihr, sich zu wünschen, das Schreiben wäre etwas persönlicher ausgefallen und hätte nicht nur aus einer Liste all jener Punkte bestanden, die ihre Anstellung anbetrafen und die er sich bereit erklärte zu erfüllen, und einer zweiten Liste von Bedingungen, mit denen Viola sich ihrerseits einverstanden erklären sollte.

Sie musste versprechen, für den Zeitraum von mindestens zwei Jahren in Garrard House zu bleiben, um den Kindern die Beständigkeit zu ermöglichen, die sie so dringend brauchten. Einen Monat nach Beginn ihrer Arbeit würde von ihr erwartet werden, dass sie die Stärken und Schwächen der Kinder einschätzen und einen Plan für ihre Erziehung vorlegen konnte, ebenso eine Liste all jener Aktivitäten, die sie außerdem für nötig hielt. Darüber hinaus würde sie das Recht auf einen halben freien Tag in der Woche haben und die Möglichkeit, einmal im Jahr zwei Wochen lang ihre Familie zu besuchen. Am Ende erwähnte er noch eine sehr großzügige Summe für ihre Entlohnung und teilte Miss Yelverton mit, dass sie sich nicht dagegen sträuben solle, da sie die Verantwortung für das Wohlergehen und den Alltag der Kinder übernehmen und somit jeden Penny verdienen würde.

Hier war also doch der winzige Hauch einer persönlichen Note. Viola tadelte sich insgeheim, dass es ihr so wichtig war, dass sie sich daran klammerte wie ein Schiffbrüchiger an eine lebensrettende Leine. Im nächsten Moment nahm ihre Reisekutsche die letzte Kurve, und Garrard House in den Cotswolds, wo sie und Emma ein neues Leben erwartete, kam in Sicht.

Als sie darauf zufuhren, vergaß Emma wenigstens für einen Moment ihre Traurigkeit. Sie stieß einen Freudenschrei aus, als sie ihr Zuhause erblickte – ein schönes, großes, aus dem hiesigen goldgelben Stein erbautes Herrenhaus mit hohen Schiebefenstern, die gewiss viel Licht einließen und eine großartige Sicht auf die Landschaft boten. Das Haus stand inmitten ausladender Gärten, sodass die Kutsche eine lange Auffahrt hinter sich lassen musste, bevor sie vor dem Haus halten konnten. Mr. Christian Marbeck musste seinerseits ein sehr begüterter Mann gewesen sein, da sein Cousin das größere Familienhaus weiter oben in den Hügeln geerbt hatte. Doch auch von Garrard House hatte man eine großartige Aussicht auf das Tal darunter und wahrscheinlich auch auf die Hügel in der Nähe, sodass vom oberen Stockwerk sogar das Flachland des Severn-Flusses sichtbar sein musste. Wen konnte es da wundern, dass Emma ihr Zuhause liebte? Viola fürchtete allerdings, dass dieses erste Wiedersehen bittersüß für sie verlaufen würde. Sie kehrte zwar heim, aber ihre geliebten Eltern würden sie nicht auf den Stufen erwarten, um sie willkommen zu heißen.

„Onkel Harry!“, rief Emma voller Begeisterung, und die Tränen, die schon begonnen hatten, sich in ihren Augen zu sammeln, waren auf einmal verschwunden. Sehr zu Violas Erleichterung, die sich schon besorgt gefragt hatte, wie sie das arme Mädchen ablenken sollte.

Und da war Sir Harry Marbeck auch schon – heute so ganz anders als der weltmännische, selbstbewusste Gentleman, der in Bath ihr dummes Herz hatte schneller schlagen lassen. Dieser weniger verschlossene, viel lebhaftere Sir Harry hielt ein dunkelhaariges kleines Mädchen auf dem Arm, das sich an ihn klammerte wie ein kleines Äffchen. Ein etwas älterer Junge hielt Sir Harrys andere Hand, gab aber vor, viel zu reif zu sein, um offen zu zeigen, wie sehr er sich freute, seine große Schwester wiederzusehen. Sir Harrys sonst sicher ordentlich arrangiertes Haar war jetzt von der Sonne gebleicht und zerzaust – vom Wind, aber wahrscheinlich auch von den kleinen Fingern seiner Nichte, die auch sein Krawattentuch völlig zerknittert hatte, weil sie ihm die Ärmchen so fest um den Hals gelegt hatte, als wäre er ihr einziger Halt in einer stürmischen See. Er sah herzlich und menschlich und so viel hinreißender aus als in seiner gewohnt makellosen Aufmachung. Kein Wunder, dass das jüngste Kind an seinem Hals hing, als hätte sie nicht die Absicht, ihn jemals loszulassen, während sie am Daumen nuckelte und mit riesigen dunklen Augen zur Kutsche herübersah, in der ihre große Schwester saß. Doch da war noch mehr, wie Viola sehen konnte – eine Herausforderung, ein störrischer Zug um ihren Mund. Wahrscheinlich hatte man ihr erzählt, dass da eine Gouvernante kommen würde, die ihr Dinge beibringen wollte, auf die sie keine Lust hatte.

„Oh, Onkel Harry! Ich bin so froh, dich zu sehen“, sagte Emma, während sie aus der Kutsche sprang, bevor jemand die Stufen für sie herunterlassen oder ihr eine helfende Hand reichen konnte.

„Willkommen Zuhause, mein kleiner Schatz“, sagte er leise, als Emma die niedrigen, breiten Stufen hinaufstürzte, ihm die Arme um die schmale Taille schlang und sich gleichzeitig an ihn und ihre Geschwister schmiegte.

Irgendwie schaffte er es, dem begeisterten Ansturm des halbwüchsigen Mädchens standzuhalten, das kleinere Mädchen sicher im Arm zu behalten und den kleinen Jungen nicht loszulassen. Viola sah verblüfft, dass dieser Mann, den sie sich als oberflächlichen Aristokraten vorgestellt hatte, dem es im Leben leichtfiel, die Leute zu verzaubern, ohne sie wirklich ernst zu nehmen, dass er in Wirklichkeit so viel mehr war. Zum Kuckuck, jetzt stellte er sich sogar als noch faszinierender heraus und wurde dadurch zu einer ganz besonderen Gefahr für sie. Schon jetzt sehnte sie sich danach, ein Teil dieser Gruppe sein zu können. Wegen ihrer lächerlichen Skrupel, nicht mit ihm unter einem Dach zu leben, zwang sie diese armen Kinder, getrennt von ihrem geliebten Onkel zu leben. Sie hätte niemals herkommen dürfen. Sie hätte niemals einen Vertrag unterschreiben dürfen, in dem sie versprach, mindestens zwei Jahre zu bleiben, und niemals seine mehr als großzügigen Bedingungen annehmen dürfen.

Jetzt bereute sie, dass sie sich seine starke Anziehungskraft nicht deutlicher vor Augen geführt hatte, ebenso wenig wie ihre eigene Schwäche, bevor sie auch nur einen Fuß in seine bequeme Kutsche gesetzt hatte. Schon heute würde sie beginnen, die Tage zu zählen, die sie ihrer Freiheit und Sicherheit näherbringen würden – kein besonders gutes Omen für ihr neues Leben als Gouvernante. Sie straffte die Schultern und machte sich in sehr viel ziemlicherer Weise als ihre älteste Schülerin auf den Weg, wobei sie ein kühles Lächeln zur Schau trug, sobald sie Sir Harrys kleinlautem Blick begegnete.

„Willkommen in Garrard House, Miss Yelverton“, sagte er, als wäre heute ein Tag wie alle anderen. Aber im Grunde hatte er ja recht, für ihn war es gewiss ein Tag wie alle anderen. „Diese kleine Range ist Lucy, und dieser junge Gentleman ist Master Bramford Marbeck. Ich hoffe, du wirst Miss Yelverton mit deiner besten Verbeugung begrüßen, Bram, da ich im Moment keine machen kann. Und einer von uns sollte eine Dame begrüßen, wie es sich gehört.“

Der Junge folgte der Aufforderung und hielt dabei Sir Harrys Hand noch immer fest in seiner. Viola wurde bewusst, dass die Liebe zwischen diesen Kindern und ihrem so völlig unpassenden Vormund nicht darauf beruhte, dass er pflichtbewusst war und sie ihn brauchten. Ihre Liebe war etwas Vertrautes und bestand schon seit langer Zeit. Er musste also schon ein wichtiger Teil ihrer Kindheit gewesen sein, damit sie ihm mit so viel Liebe und Vertrauen begegnen konnten, und war wohl schon ihr geliebter Onkel Harry, seit sie alt genug gewesen waren, um zu wissen, dass er ebenfalls auf der Welt war. Und jetzt ließ der unmögliche Mann sie gegen ihren Willen die tiefen Gefühle sehen, die er vor der übrigen Welt verbarg, zu denen er aber offensichtlich fähig war. Und das ausgerechnet nachdem sie sich auf der Fahrt hierher so große Mühe gegeben hatte, sich einzureden, dass er überhaupt keine hatte.

Sie hatte sich eingeredet, dass sie gut auf ihr Herz achten konnte, dass ein oberflächlicher Mann niemals die Kraft haben würde, sie ihre Prinzipien vergessen zu lassen. Und so hatte sie sich ein Bild von ihm gemacht, wie es ihr gefiel, nachdem er Bath verlassen hatte, um Miss Marbeck zu ihren Großnichten und ihrem Großneffen zu bringen. Auf diese Weise würde ihre neue Gouvernante sich keine Sorgen um ihren guten Ruf machen müssen. Doch jetzt stand der wirkliche Mann vor ihr, und seine drei geliebten Mündel erwiderten seine Liebe ganz offensichtlich von ganzem Herzen. Das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, löste sich augenblicklich in Luft auf. Miss Viola Yelverton hatte sich in gefährliche Gewässer begeben, und das wegen eines Mannes, der niemals ähnliche Gefühle für sie entwickeln würde.

Bleib würdevoll, Viola, ermahnte sie sich streng, während sie halbherzig vor ihm knickste, vor Bramwell allerdings sehr viel freundlicher, und dann lächelte sie der kleinsten Marbeck zwinkernd zu. Lucy erwiderte ihren Blick allerdings ganz ernst und klammerte sich noch fester an ihren Onkel, als glaubte sie, dass Viola eine Rivalin um dessen Zuneigung sein könnte. Das kleine Mädchen würde gewiss bald feststellen, wie sehr sie sich irrte. Viola trat vor, als eine Dame mit eisengrauem Haar das Haus verließ und sie mit einem scharfen Blick bedachte.

Wenigstens würde es in ihrem neuen Leben nicht an Herausforderungen fehlen, um ihre Gedanken vom Herrn von Chantry Old Hall abzulenken – ein Herrenhaus, das sich, wie Viola inständig hoffte, weiter entfernt befand als die ein, zwei Meilen, von denen Emma auf der Fahrt hierher erzählt hatte.

3. KAPITEL

August 1814

Guten Tag, Miss Yelverton“, sagte Sir Harry. Er stand an der Tür zum sonnigen Salon von Garrard House, wo Viola gerade dabei war, ihrer Schwester zu schreiben.

Irgendwie war es ihr gelungen, nicht zusammenzuzucken, aber warum hatte sie nicht gespürt, dass er in ihrer Nähe war, um sich rechtzeitig zu wappnen? Dann wappne dich eben jetzt, ermahnte sie sich tapfer. Sie straffte die Schultern und unterdrückte hastig das Gefühl der atemlosen Freude, das sie immer zu überwältigen drohte, wenn er da war, so sehr sie auch versuchte, dagegen anzukämpfen.

„Guten Tag, Sir Harry“, erwiderte sie und wünschte, ihr Herz würde aufhören, so schnell zu galoppieren wie eins seiner kostbaren Rennpferde. Sie legte die Schreibfeder nieder und sah ihn an, als hätte er sie bei einer ungemein wichtigen Aufgabe unterbrochen und sie könnte es nicht erwarten, sie fortzusetzen.

„Lucy hat mir einen Brief geschickt“, erklärte er, „in dem sie mich zum Tee ins Kinderzimmer eingeladen hat.“ Er runzelte leicht die Stirn, als wunderte er sich, warum sie mitten am Nachmittag hier unten war und nicht oben bei ihren Schützlingen.

„Ich verstehe“, meinte Viola und unterdrückte einen Seufzer. Sie wünschte, er würde zu den Vormündern gehören, die Briefe ihrer Mündel ignorierten, wenigstens ab und zu.

„Ich kann eine Dame unmöglich enttäuschen“, sagte er und runzelte wieder die Stirn, weil Violas Miene ausdruckslos blieb und ihm wahrscheinlich mitteilen wollte, dass seine Worte nicht ganz angemessen waren.

„Natürlich nicht“, erwiderte sie allerdings, und unwillkürlich stellte sie sich die zweifellos zahlreichen Damen vor, die er gewiss nicht enttäuscht hatte. Natürlich sah sie elegante Schönheiten vor ihrem inneren Auge, die Viola hochmütig anlächelten und ihr zuflüsterten: Uns hat er begehrt, aber er wird niemals eine kleine graue Maus wie dich haben wollen. Was Viola allerdings bereits wusste.

„Ganz besonders eine sehr junge Dame, die ich von Herzen lieb habe“, fügte er fast herausfordernd hinzu, als ahnte er, was Viola gerade dachte.

„Ihre Tante hat Bram und Emma zu einem Besuch zu Brams Patentante mitgenommen, und sie bat mich, Lucy oben allein zu lassen, damit sie gut über ihr empörendes Verhalten beim letzten Besuch nachdenken kann.“

„Was zum … du lieber Himmel“, meinte Sir Harry so langsam, dass Viola sich denken konnte, was er wirklich hatte sagen wollen. Schließlich war ihr Bruder Soldat gewesen, und auch in ihrer eigenen Kindheit als kleiner Wildfang hatte sie eine ganze Menge von Flüchen gelernt, die eine Dame eigentlich nicht kennen durfte. Eine Tatsache über sie, die ihn wahrscheinlich schockieren würde, wenn er sich je die Mühe machen sollte, hinter ihre sittsame Fassade zu blicken. „Kein Wunder, dass Tante Tam sich geweigert hat, Lucy mitzunehmen, nach dem Aufruhr, den sie beim letzten Mal verursacht hat“, gab er mit einem kläglichen Lächeln zu.

„Miss Marbeck hat mir erzählt, wie unverblümt Lucy sich das letzte Mal zu Lady Lubleys Perücke und zu ihren Schoßhunden geäußert hat.“

„Sie ist ein dickköpfiges kleines Äffchen. Ich verstehe nicht, wie sie denken konnte, sie würde ungestraft davonkommen, wenn sie einfach nur den Märtyrer spielte. Jeder weiß, dass sie aus Strafe zu Hause bleiben musste, und von irgendjemandem hätte ich es dann bestimmt erfahren.“

„Ich weiß, Lucy hat ein hitziges Temperament und mehr Übermut, als gut für sie ist, aber sie ist ja auch erst sechseinhalb Jahre alt, Sir Harry. Noch ist sie keine junge Dame.“

Autor

Elizabeth Beacon
<p>Das ganze Leben lang war Elizabeth Beacon auf der Suche nach einer Tätigkeit, in der sie ihre Leidenschaft für Geschichte und Romane vereinbaren konnte. Letztendlich wurde sie fündig. Doch zunächst entwickelte sie eine verbotenen Liebe zu Georgette Heyer`s wundervollen Regency Liebesromanen, welche sie während der naturwissenschaftlichen Schulstunden heimlich las. Dies...
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