Eine wunderbare Familie

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EINE WUNDERBARE FAMILIE von CHRISTINE FLYNN

Ein perfektes Arrangement? Der attraktive Pilot Sam Edwards gibt der hübschen Tierra Walker die von ihr heiß ersehnten Flugstunden, die sie sich sonst niemals leisten könnte. Im Gegenzug betreut sie Sams Kinder Jason und Jenny, wenn er seine Passagiere über die herrliche Landschaft mit den beeindruckenden Buchten und weiten Wäldern fliegt. Anfangs läuft alles genau nach Plan, aber nach und nach bedauert Sam es immer mehr, wenn die schöne Nanny abends geht. Mit aller Macht kämpft er gegen seine erwachende Leidenschaft – und gegen die Schuldgefühle gegenüber seiner verstorbenen Frau …


  • Erscheinungstag 10.09.2024
  • ISBN / Artikelnummer 8206240019
  • Seitenanzahl 192

Leseprobe

1. KAPITEL

Irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor.

Sam Edwards telefonierte gerade, als die schlanke, ein wenig verloren wirkende Frau in der schlabberigen Latzhose das Charterflug-Büro betrat. Möglicherweise lag es an ihrer Frisur. Die üppigen kastanienbraunen Locken fielen ihr auf den Rücken und ließen sich kaum von der Spange bändigen, die die Mähne locker zusammenhielt. Vielleicht war es aber auch die zarte Linie ihres Profils.

Ja, sie kam ihm wirklich sehr bekannt vor. Sam nickte ihr kurz zu, um ihr zu signalisieren, dass er gleich für sie da sein würde. Er hatte allerdings im Augenblick keine Zeit, darüber nachzudenken, wo er die Frau schon mal gesehen haben könnte. Nicht, während seine Mutter am anderen Ende der Leitung auf ihn einredete.

„Du brauchst keine neue Haushälterin“, erklärte Beth Edwards aus 130 Meilen Entfernung. „Was du brauchst, ist eine Mutter für die Kleinen. Wenn du schon nicht zu uns nach Seattle zurückkommen willst, versuch wenigstens, eine nette junge Dame zum Heiraten zu finden.“

Sam umschloss den Telefonhörer fester. Er drehte der Besucherin, die eine große Landkarte an der Wand betrachtete, den Rücken zu, bevor er antwortete. „Ich möchte nicht wieder heiraten. Alles, was ich will, ist ein Babysitter. Nach Möglichkeit jemand, der kochen und das Haus in Ordnung halten kann.“

„Kinder brauchen Beständigkeit, Sam.“

„Genau die versuche ich ihnen zu geben.“

„Indem du ihnen wieder eine Fremde vor die Nase setzt?“ Beth seufzte. „Jason ist viel zu still für einen Sechsjährigen. Seitdem du ihn und Jenny gestern Abend hier abgeliefert hast, hat er nicht mehr als ein Dutzend Worte mit mir gesprochen. Und Jenny“, sprach seine Mutter weiter, „das reizende Kind wird bald eine Zahnspange tragen müssen, wenn sie nicht aufhört, am Daumen zu lutschen. Mit vier Jahren sollte sie diese Gewohnheit eigentlich abgelegt haben.“

Sam zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass seine Mutter es nur gut meinte. Er wusste, sie sorgte sich um ihre Enkel. Aber das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war jemand, der ihm die Probleme seiner Kinder vorhielt. Niemand war sich dieser Probleme bewusster als er selbst. Bestimmt würde Beth ihn als Nächstes darüber belehren, dass er viel zu selten zu Hause war. Besonders während des Sommers, wenn das Charterflug-Unternehmen, das er zusammen mit seinem Schwager betrieb, den Großteil seiner Zeit in Anspruch nahm.

Aber tat er nicht immer sein Bestes? Mehr als das konnte man doch nicht von ihm verlangen.

„Mom, ich kann jetzt nicht reden.“ Sam war nicht wohl dabei, solche persönlichen Dinge zu besprechen, während eine fremde Person hinter ihm stand und ungeduldig auf und ab ging. „Draußen warten vier Fischer auf mich, die nach Ketchikan wollen. Und gerade ist noch jemand hereingekommen.“

Nur ruhig bleiben, ermahnte er sich innerlich. „Nein, ich weiche dir nicht aus. Ich werde einfach das tun, was ich gerade gesagt habe, nämlich eine neue Haushälterin suchen. Gib den Kindern einen Kuss von mir, ja? Und sag ihnen, dass ich sie anrufe, sobald ich zu Hause bin.“

Sam spürte die Missbilligung, die in der Stimme seiner Mutter mitschwang, als sie sagte, es wäre ihr ein Vergnügen, die Kinder an seiner Stelle zu küssen, bevor sie sich dann äußerst unterkühlt verabschiedete.

Mrs. Edwards ließ einfach nicht locker. Seit Sams Frau vor drei Jahren verstorben war, lag seine Mutter ihm in den Ohren, er solle zurück nach Seattle ziehen.

Doch allein der Gedanke daran, seine Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen, tat ihm weh. Wieder zu heiraten war absolut ausgeschlossen. Nie mehr würde es so sein können wie zwischen ihm und Tina.

Er drehte sich um und sah zu der Frau hinüber, die noch immer die große Landkarte studierte. Ihr Blick war auf den roten Standort-Pfeil in der Mitte des Puget Sound gerichtet, eine Bucht an der Grenze zu Kanada.

„Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?“ fragte Sam geschäftsmäßig.

T.J. Walker ging auf den grauen Tresen zu, der den ohnehin kleinen Raum in zwei Hälften teilte. Briefe und Pakete stapelten sich im offenen Durchgang zur Flugzeughalle. Der Geruch von starkem Kaffee mischte sich mit einem Hauch Treibstoff und der frischen Seeluft, die von draußen hereinströmte.

Der Mann hinter dem Tresen war groß und gut gebaut. Er hatte eine eindrucksvolle, wenn auch irgendwie autoritäre Ausstrahlung und wirkte fast ein wenig grob. Seine Augen jedoch faszinierten T.J. Sie waren eisblau und so klar wie der arktische Himmel. Ein perfekter Kontrast zu seinem vollen, tiefbraunen Haar.

Nach allem, was sie gehört hatte, war sie vermutlich die einzige Frau auf Harbor Island, die noch nicht mit einem selbst gekochten Essen vor seiner Tür gestanden und ihm ihre Telefonnummer gegeben hatte. Nicht, dass sie so etwas jemals tun würde. Und selbst wenn sie auf Partnersuche wäre – was absolut nicht der Fall war –, so war sie schon zu oft zurückgewiesen worden, um sich absichtlich einer solchen Erfahrung auszusetzen.

„Ja, ich denke, Sie können mir helfen“, antwortete sie schließlich. „Ich hoffe es jedenfalls“, fügte sie schnell hinzu.

„Ich kenne Sie.“ Der Mann kniff seine außergewöhnlich blauen Augen zusammen. „Sie wohnen hier in der Gegend, oder?“

„Ein paar Meilen die Straße runter, um genau zu sein.“ Sie lächelte zaghaft. „Ich lasse meine Töpferwaren von hier aus verschicken. Wir sind uns auch ab und zu im Kindergarten begegnet. Erinnern Sie sich an Andy, meinen Sohn? Unsere Jungs sind im selben Alter“, erklärte sie. „Und ich arbeite halbtags im Buchladen von Bert und Libby Bender.“

Jeder in Puget Sound kannte Bert und Libby. Jeder, außer Sam Edwards, so schien es.

Er nickte vage. „Oh“, sagte er plötzlich, „Sie sind das. Normalerweise sieht man Sie nur mit schweren Paketen beladen.“ Offensichtlich waren es die Töpferwaren, die seinem Gedächtnis doch noch auf die Sprünge geholfen hatten. „Also, was kann ich für Sie tun?“ fragte er mit einem höflichen Lächeln.

„Ich möchte Flugstunden nehmen“, erklärte sie. „Nun ja, zuerst müsste ich natürlich wissen, was das kosten würde. Und wie lange es ungefähr dauert. Wenn ich mehr als ein paar Wochen bräuchte, um fliegen zu lernen, oder wenn es zu teuer ist, geht mein Plan sowieso nicht auf.“

Die Lady hatte also einen Plan. Einen, an dessen Machbarkeit sie offenbar selbst zweifelte. Da Sam in Eile war, machte er sich allerdings nicht die Mühe zu fragen, wie dieser Plan aussah. Es ging ihn ohnehin nichts an.

„Tut mir Leid“, murmelte er. Wo war nur sein Flugbuch? Karte und Sonnenbrille würde er auch brauchen. Und die Tüte Chips. Er hatte noch keine Zeit zum Frühstücken gehabt. „Wir geben keinen Flugunterricht. Außerdem müssten Sie vorher ein paar Trockenübungen machen.“

„Trockenübungen?“

„Theorieunterricht“, erklärte er und verstaute die Karte in einer Papprolle. „Es gibt hier auf Harbor keine entsprechende Schule, aber Sie könnten es in Bellingham probieren. Ich suche Ihnen gern die Telefonnummer raus, mehr kann ich nicht für Sie tun.“ Der Mann war augenscheinlich sehr beschäftigt. Er hatte ihr kaum zugehört. Doch so schnell gab T.J. nicht auf.

„Ich will keinen theoretischen Unterricht. Jedenfalls noch nicht jetzt. Ich muss vorher wissen, ob ich überhaupt in der Lage bin, ein Flugzeug zu steuern. Wenn nicht, wäre die ganze Theorie sinnlos, oder?“

Was war denn das für eine Logik? Sam blickte erstaunt auf. T.J. nutzte seine Verwirrung und sprach schnell weiter. „Ihre Schwester behauptet, Sie seien sehr geduldig. Genau so jemanden brauche ich. Einen geduldigen Menschen.“

„Sie kennen Lauren?“

„Sicher, ich sehe sie mindestens ein Mal wöchentlich im Laden meiner Mutter.“

Sam zog fragend die Augenbrauen hoch. „Wo?“

„Crystal Walkers ‚Kräuter- und Videostübchen‘“, erläuterte T.J. daraufhin.

Damit konnte er schon mehr anfangen. Mindestens zwei Mal in der Woche schleiften seine Kinder ihn in das kleine Geschäft.

„Und sie hat Ihnen gesagt, ich sei geduldig?“

„Nein, das hat Lauren gesagt.“

„Das meinte ich doch“, murmelte er.

„Und, stimmt das etwa nicht?“

Ob ich geduldig bin? Früher vielleicht, dachte Sam, aber heute? „Merkwürdig“, sagte er argwöhnisch, „wie kommt es, dass Lauren Ihnen so etwas erzählt?“

„Ich wollte von ihr wissen, ob ihr Mann mir vielleicht helfen könnte. Sie sagte, Zach hätte im Augenblick sehr wenig Zeit. Wegen des Geburtsvorbereitungskurses, den die beiden gerade angefangen haben. Aber ich sollte Sie fragen. Lauren glaubt, Sie wären sowieso der bessere Lehrer, weil Sie … so geduldig sind.“

Sam fühlte sich plötzlich unbehaglich. Irgendetwas war hier im Busch. Das ganze vergangene Jahr hindurch hatte seine kleine Schwester immer wieder versucht, ihn dazu zu bringen, sich nicht nur mit seinen Kindern und seiner Arbeit zu beschäftigen. Das, kombiniert mit dem, was seine Mutter ihm gerade am Telefon gesagt hatte, legte die Vermutung nahe, dass seine weiblichen Verwandten ihn womöglich verkuppeln wollten.

Dieser Gedanke ließ ihn einen skeptischen Blick auf die zierliche Frau werfen. Sie hatte interessante, moosgrüne Augen, und auf ihrem makellosen Gesicht war keine Spur von Make-up zu entdecken. Trotzdem konnte man sie nicht als „umwerfend“ bezeichnen. Jedenfalls nicht in dieser Kleidung. Die weite Latzhose verbarg jede möglicherweise darunter vorhandene Kurve praktisch vollständig.

Sam war jedoch sicher, so mancher Mann würde T.J. Walker trotzdem attraktiv finden. Vielleicht sogar schön, dachte er, während er den Schwung ihrer ungeschminkten, vollen Lippen betrachtete.

Aber sie gehörte eben nicht zu der Sorte Frau, zu der er sich normalerweise hingezogen fühlte. Er mochte elegante Blondinen, so wie Tina es gewesen war. Abgesehen davon hatte er ohnehin kein Interesse, Damenbekanntschaften zu machen, egal, ob blond oder dunkelhaarig.

„Ich kann Ihnen leider nicht helfen“, erklärte er knapp.

„Ich zahle auch den doppelten Preis.“

„Darum geht es nicht.“

Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihn zu überzeugen. Ihr Blick fiel auf das Telefon. „Ich passe auf Ihre Kinder auf!“

Sam öffnete den Mund, um ihren Vorschlag entschieden abzulehnen. Was ihm entfuhr, war jedoch nur ein ungläubiges „Sie machen wohl Witze“.

„Nein, nein“, beharrte sie. „Ich habe zufällig Ihr Gespräch mit angehört.“

„So?“

„Unbeabsichtigt natürlich“, setzte sie entschuldigend hinzu. „Sie sagten, Sie bräuchten eine neue Haushälterin. Und ich weiß, wie viele Ihnen schon davongelaufen sind.“

In den vergangenen drei Jahren hatte Sam fünf verschiedene Haushälterinnen gehabt. Zugegeben, man hätte tatsächlich annehmen können, es läge an ihm, dass keine länger geblieben war. Doch dem war nicht so.

„Es gab gute Gründe dafür“, bemerkte er trocken.

„Oh, ich weiß“, meinte T.J. versöhnlich. „Die erste Haushälterin ist umgezogen, um mehr bei ihren eigenen Kinder zu sein. Eine haben Sie gefeuert, weil Jenny und Jason sie nicht mochten. Zwei konnten es nicht mehr ertragen, die ganze Woche über von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, und haben deshalb gekündigt. Ihr Haus liegt sehr einsam, nicht wahr? Und die letzte Haushälterin wollte Ihnen, nun ja, gerne das Bett wärmen.“ Bevor Sam etwas erwidern konnte, fuhr T.J. fort. „Über all diese Dinge brauchen Sie sich bei mir keine Sorgen zu machen. Besonders nicht über den Sex.“ Sie sah ihn eindringlich an. „Mir würde nicht im Traum einfallen, mit Ihnen schlafen zu wollen!“

Sam wusste nicht, was ihn mehr verwirrte. War es die Art, wie diese Frau die Spielregeln festlegte, ehe er überhaupt eine Chance hatte, ihr Angebot auszuschlagen? Oder das seltsame, aber nicht unangenehme Gefühl, das ihr langer, entschiedener Blick in ihm weckte?

„Ich weiß, Sie suchen jemanden, der bei Ihnen wohnt.“ T.J. steckte lässig die Hände in die Hosentaschen. „Das kann ich leider nicht. Die Hausarbeit müssten Sie auch selbst erledigen. Ich habe tagsüber andere Verpflichtungen.“ Offenbar meinte sie damit ihren Sohn und ihre Arbeit im Buchladen. „Sie könnten Jason und Jenny aber morgens bei mir absetzen. Und nach der Schule können die beiden zu mir nach Hause kommen. Bis Sie jemanden gefunden haben wenigstens.“

Sie legte den Kopf schief, so dass ihr einige der gekräuselten Locken über die Schulter fielen und ihre kleinen, festen Brüste berührten. „Wann kommen die beiden von ihren Großeltern zurück?“

Als Vater von zwei kleinen Kindern war Sam daran gewöhnt, stets mit dem Unerwarteten zu rechnen, so dass er jederzeit auf alle Überraschungen gefasst war. Er war recht gut darin und hatte immer geglaubt, dass ihn nichts aus der Ruhe bringen könne. Aber das war offenbar ein Irrtum.

„Am Dienstag nach dem Tag der Arbeit“, antwortete er unverbindlich.

„Das ist der erste Schultag nach den großen Ferien.“

„Richtig. Wissen Sie …“, begann Sam. Er musste die Situation irgendwie in den Griff bekommen. „Ich danke Ihnen für Ihr Angebot, aber ich brauche wirklich jemanden, der bei uns wohnt. Es kommt vor, dass ich mich verspäte oder überhaupt nicht nach Hause kommen kann, wenn das Wetter nicht mitspielt. Und ich weiß nie, wann das ist.“

„Das war kein Angebot“, wehrte T.J. beherzt ab. „Betrachten Sie es als Handel. Kinderbetreuung gegen Flugstunden.“

Sam blinzelte verdutzt. Wie konnte man nur so stur sein! „Ich sagte, ich gebe keine Flugstunden“, wiederholte er.

„Sie könnten doch eine Ausnahme machen“, schlug sie augenzwinkernd vor. „Außerdem müssen Sie sich ja nicht jetzt sofort entscheiden. Bestimmt möchten Sie vorher ein paar Erkundigungen über mich einholen? Immerhin kennen Sie mich nicht. Aber ich kenne Ihre Kinder. Ihre Frau hat sie oft in den Buchladen mitgenommen. Und Ihre Schwester Lauren tut das noch immer. Jason hat seit jeher eine Schwäche für alles, was große Zähne und Klauen hat. Und Jenny ist ganz wild auf Bücher mit glänzendem Einband, wobei ihr absoluter Favorit ‚Die kleine Meerjungfrau‘ ist.“

Sam dachte an das Buch auf dem Nachttisch seiner Tochter. Seine Schwester hatte es der Kleinen vor einigen Monaten geschenkt. Seitdem bestand Jenny so gut wie jeden Abend darauf, dass er ihr daraus vorlas. Tatsächlich, diese Miss Walker kannte seine Kinder. Sie wusste sogar, was die beiden mochten.

Er seufzte. Eigentlich wollte er sich auf einen derartig spontanen Vorschlag nicht einlassen. Andererseits war er ein praktisch veranlagter Mensch, und er brauchte nun mal dringend einen Babysitter. Vielleicht war die Idee doch gar nicht so schlecht. Es kann jedenfalls nicht schaden, ein bisschen mehr über die junge Frau in Erfahrung zu bringen, entschied er und klemmte sich die Papprolle mit der Karte unter den Arm.

„Ich werde darüber nachdenken.“

Er sah T.J. an. So beharrlich, wie sie gewesen war, hatte er natürlich erwartet, dass sie über sein Zugeständnis erfreut sein würde. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war ihr strahlendes Lächeln. Oder vielmehr, was es in ihm auslöste.

„Das ist ein Wort“, bemerkte sie zufrieden und streckte ihm die Hand entgegen. Ihre Haut war weich, die Fingernägel kurz und unlackiert. Wie warm ihre kleine, zarte Hand sich in seiner eigenen anfühlte! Als T.J. sich zum Gehen umwandte, lag der Geruch von Wildblumen in der Luft. Ein unbeschreiblich erotischer Duft, wie Sam sich eingestehen musste. Wie aus weiter Ferne hörte er das Klingeln der über dem Ausgang angebrachten Glocke, als die junge Frau das Büro verließ. Er beobachtete, wie sie in ihren olivgrünen Jeep stieg, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte.

Sam schaute auf die Uhr über dem Wasserkühler. Ihm fiel wieder ein, dass er spät dran war. Das Gespräch mit Miss Walker hatte länger gedauert als geplant. Was sollte er bloß von ihr halten? Die Energie, die von ihr ausging, und ihre Siegessicherheit brachten ihn durcheinander. Ganz zu schweigen von dem einfachen, sanften Händedruck, den sie ausgetauscht hatten. Er vermisste die Wärme und Geborgenheit, die nur eine Frau geben konnte. Die Zartheit des weiblichen Körpers und das Gefühl, über seidiges, weiches Haar zu streicheln … All das hatte er seit drei Jahren nicht mehr gespürt.

Er hätte allerdings gut darauf verzichten können, daran erinnert zu werden. Grimmig schob er den Gedanken beiseite, griff nach der Chipstüte auf dem Tresen und marschierte auf die schimmernde weiße Cessna zu, die in der Nähe der Flugzeughalle stand.

Die vier Fischer erspähten ihren Piloten und erhoben sich von ihren Kühlbehältern. Sam konnte es sich im Moment nicht leisten, durch Grübeleien abgelenkt zu werden. Diese Männer vertrauten darauf, dass er sie heil an ihr Ziel brachte. Und genau das hatte er vor.

2. KAPITEL

Zwei Tage, dachte Sam. Seine Kinder waren erst seit zwei Tagen fort, und schon verlor er in dem viel zu stillen Haus fast den Verstand. Er fuhr sich durchs Haar, wandte dem Meer, das man vom Garten aus sehen konnte, den Rücken zu, und stützte sich auf das Geländer der langen Veranda.

Früher hatte er diese friedlichen Augenblicke vor Einbruch der Dunkelheit geliebt. Doch nach Tinas Tod war alles anders geworden. Er hatte sich angewöhnt, die Zeit bis zum Zubettgehen damit zu verbringen, sich pausenlos zu beschäftigen, um nicht an die bevorstehende Nacht denken zu müssen. Was würde er darum geben, sich jetzt mit Jason eine wilde Kissenschlacht zu liefern oder Jenny beim Malen zuzusehen. Egal, wie gut sie es bei ihren Großeltern hatten, die beiden gehörten nicht dorthin. Ihr Platz war hier, bei ihrem Vater. Sam brauchte bloß jemanden, der auf sie aufpasste, während er selbst Fracht und Passagiere von einer Insel zur anderen beförderte. Aber wen? Die Anzeigen, die er in der Rubrik „Hausangestellte gesucht“ in verschiedenen Zeitungen aufgegeben hatte, waren bis jetzt alle unbeantwortet geblieben.

Seine Schwester konnte Sam auf keinen Fall darum bitten. Lauren hatte wirklich genug zu tun. Trotz ihrer Schwangerschaft arbeitete sie noch immer ganztags als Managerin eines Kaufhauses in Bellingham. Jason und Jenny in den örtlichen Kindergarten zu geben war auch keine Lösung. Der schloss nämlich seine Pforten, lange bevor Sam überhaupt an Feierabend dachte. Sogar mit den beiden Piloten, die er und Zach zur Aushilfe eingestellt hatten, war die Arbeit momentan kaum zu bewältigen. Also musste er die Kinder unter der Woche zu seinen Eltern bringen, ob es ihm gefiel oder nicht.

Der geisterhafte Ruf einer Eule hallte durch den nahen Pinienwald, und sofort begannen die Grillen in den Büschen aufgeregt zu zirpen. Die Geräusche der Natur verstärkten Sams ohnehin schon trübe Stimmung. Es wäre wohl besser, endlich ins Haus zurückzugehen, bevor er noch begann, darüber nachzugrübeln, warum er überhaupt hier draußen war.

Mit einem Ruck öffnete er die Terrassentür, durchquerte die große Landhausküche und betrat das hell erleuchtete Wohnzimmer. Aus dem Fernseher drang das seelenlose Gelächter einer heilen Welt, die es in Wirklichkeit nicht gab. Die Lebendigkeit des einstmals so einladenden Raumes war nur noch eine Illusion. Nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass etwas fehlte. Dass jemand fehlte. Selbst wenn die Kinder bei ihm waren, spürte Sam die Leere, die der Tod seiner Frau in ihm hinterlassen hatte. Er fragte sich, ob diese Leere jemals verschwinden würde, während er nach dem tragbaren Telefon neben dem Sofa griff.

Beim dritten Klingeln hob Lauren ab.

„Hallo Schwesterchen“, sagte er.

„Sam!“ Sie klang freundlich, wenn auch überrascht. „So ein Zufall. Wir haben gerade über dich gesprochen.“

„Du und Zach?“

„Ich und Mom.“

Sam schluckte. Wenn zwei Frauen telefonierten und über einen Mann sprachen, bedeutete das selten Grund zur Freude für den Betroffenen. Besonders, wenn sie alle miteinander verwandt waren.

„Ist alles in Ordnung mit den Kindern?“ lenkte Sam ab. „Ich habe vor einer Stunde bei Mom angerufen, aber es war niemand da.“

„Keine Sorge. Sie waren in der Pizzeria. Ich nehme an, dass Jason es dir sowieso erzählen wird. Er hat nämlich einen lockeren Zahn, musst du wissen. Jetzt hofft er auf einen ganzen Dollar dafür. Aber Mom meinte, die Zahnfee würde nicht mehr als 25 Cent rausrücken.“

Sam runzelte die Stirn und überlegte, um welchen Zahn es sich wohl handelte. „Sie vergisst die Inflation“, gab er zu bedenken.

„Da hast du Recht“, pflichtete Lauren ihm bei. „Wie geht es dir?“

Grauenvoll, dachte Sam. „Gut“, log er. „Hör mal, ich bräuchte ein paar Informationen über jemanden. Kennst du eine gewisse T.J. Walker?“

„T.J.? Natürlich. Jeder kennt sie.“

„Ich meine nicht, ob ihr euch auf der Straße grüßt, wenn ihr euch über den Weg lauft. Kennst du sie wirklich?“

„Warum fragst du?“

„Sie hat angeboten, auf die Kinder aufzupassen, bis ich eine Haushälterin gefunden habe.“

„So? Ich dachte, sie wollte dich bitten, ihr Flugstunden zu geben.“

„Ja, das auch. Die andere Sache hat sich irgendwie … nun, ergeben.“

„Ah, ich verstehe.“

Sah Sam schon Gespenster, oder hörte er tatsächlich einen Anflug von Zufriedenheit in Laurens Stimme?

„Also, kann ich T.J. die Kinder anvertrauen oder nicht?“

„Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte“, erwiderte Lauren. „Sie hat die meiste Zeit ihres Lebens hier in Harbor verbracht, und ich habe noch nie etwas Schlechtes über sie gehört. Wenn sie nicht vertrauenswürdig wäre, hätte sich das inzwischen bestimmt herumgesprochen. Du kennst übrigens ihre Mutter. Zugegeben, Crystal ist ein wenig seltsam, aber sie hat ein gutes Herz.“

Selbstverständlich kannte Sam die Mutter von T.J. Walker. Wer kannte sie nicht? Jeder, der einen Videorecorder besaß, fand sich früher oder später im „Kräuter- und Videostübchen“ wieder. Der wahrscheinlich einzige Laden weit und breit, wo man zusammen mit dem neuesten Film ein kostenlos erstelltes persönliches Horoskop bekam.

„Und“, fuhr Lauren fort, „T.J. kann wirklich gut mit Kindern umgehen. Ich habe es selbst gesehen. Bei einer Märchenstunde im Buchladen. Sie ist eine reizende junge Frau. Ausgesprochen warmherzig und großzügig.“ Lauren dachte einen Moment nach. „Und sie liebt Tiere.“

Sam wurde immer mulmiger, während er zuhörte. Lauren hörte sich an wie eine Verkäuferin, die ihm ein „echtes Schnäppchen“ aufschwatzen wollte. Irgendwie verdächtig.

„Sam? Bist du noch da?“

„Du versuchst nicht zufällig, mich mit dieser T.J. zu verkuppeln, oder?“ platzte er heraus.

Seine Schwester schnalzte entrüstet mit der Zunge. „Wie kommst du darauf?“

„Stell dir vor, wie Moms neuester Plan für mein Leben aussieht. Ich soll wieder heiraten, damit ich die Kinder nicht allein aufziehen muss. Und dann kommst du und rätst einer netten jungen Frau, bei mir Flugstunden zu nehmen. Ein seltsamer Zufall, nicht?“ 

„Um Himmels willen!“ rief Lauren, als sie verstand, worauf er hinauswollte. „Ich habe dich als Fluglehrer vorgeschlagen, weil ich glaube, dass du dazu geeignet bist. Sam, lass dich von Mom nicht verrückt machen. Wir wissen beide, dass man nicht ohne weiteres jemanden kennen lernt, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen will. Außerdem“, setzte sie hinzu, „wenn ich vorhätte, dich zu verkuppeln, dann sicher nicht mit T.J. Sie ist viel zu unabhängig, um zu heiraten. Sagt jedenfalls Maddy.“

Und Maddy musste es wissen. Ihr entging nicht die kleinste Neuigkeit. Als Besitzerin des Road End Cafés saß sie sozusagen direkt an der Quelle von Klatsch und Tratsch.

„Übrigens, mein Lieber“, tadelte Lauren freundschaftlich, „würdest du ein bisschen mehr Kontakt zu den Leuten halten, dann bräuchtest du mich nicht, um dir zu erzählen, wie sie sind. Du tust dir keinen Gefallen, indem du zum Einsiedler wirst.“

Sam rieb sich die Schläfen. „Ich habe Kontakt zu dir und zu Zach und zu meinen Kindern“, protestierte er und zwang sich zu einem Lächeln, bevor er weitersprach. „Mein Bedarf an Leuten, die mir den letzten Nerv rauben, ist gedeckt.“

Lauren verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. „Unsinn. Mom ist es, die dir den letzten Nerv raubt“, sagte sie kichernd. „Und wenn sie mit dir fertig ist, flicken wir anderen dich wieder zusammen.“ Sie machte eine Pause. „Aber im Ernst. T.J. ist vielleicht genau die richtige Person, um auf die Kinder aufzupassen. Sie wirft nichts so schnell aus der Bahn.“

Doch, da gab es etwas, was T.J. Walker sehr wohl aus der Bahn werfen konnte.

Autor

Christine Flynn
Der preisgekrönten Autorin Christine Flynn erzählte einst ein Professor für kreatives Schreiben, dass sie sich viel Kummer ersparen könnte, wenn sie ihre Liebe zu Büchern darauf beschränken würde sie zu lesen, anstatt den Versuch zu unternehmen welche zu schreiben. Sie nahm sich seine Worte sehr zu Herzen und verließ seine...
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