Falsche Verlobung mit dem Gentleman?

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Dieser unverschämte Kerl will sie um ihr Erbe bringen! Miss Octavia Holton ist außer sich vor Empörung, als sie im Landhaus ihres verstorbenen Vaters ankommt – denn darin wohnt bereits jemand! Gabriel Fallon hat sich hier häuslich eingerichtet und behauptet dreist, er habe das Anwesen bei einer Wette gewonnen. Damit sie Klarheit haben, hilft nur eines: Das Testament muss her! Um das Haus in Ruhe durchsuchen zu können, täuschen die beiden Rivalen kurzerhand vor, verlobt zu sein. Und während sie Tag und Nacht miteinander verbringen, entsteht zwischen ihnen eine solch prickelnde Nähe, dass die Grenzen zwischen vorgetäuschter Verlobung und echten Gefühlen bald verschwimmen …


  • Erscheinungstag 15.06.2024
  • Bandnummer 404
  • ISBN / Artikelnummer 0871240404
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Megan Frampton

Dinge, denen Megan Frampton nicht widerstehen kann: der Farbe Schwarz, gutem Gin, dunkelhaarigen Briten und großen Ohrringen. Neben historischen Romanen schreibt sie unter dem Namen Megan Caldwell auch gefühlvolle Liebesromane. Die Autorin lebt mit Ehemann und Kind in Brooklyn, New York.

1. KAPITEL

„Das schaffe ich spielend.“ Octavia holte Luft, um fortzufahren, doch ausgerechnet in dem Moment erwischte das Gefährt ein tiefes Schlagloch. Sie prallte gegen die Seitenwand und konnte sich gerade noch an der Kante der samtbezogenen Sitzbank festhalten. „Denn eigentlich ist es ganz einfach“, setzte sie mit der für sie typischen Selbstsicherheit hinzu, obwohl sie nicht einen Hauch davon verspürte. Aber das lag wahrscheinlich nur an der schwankenden Kutsche. „Ich verkaufe das Haus und das Inventar. Beides zusammen sollte einen ansehnlichen Ertrag erbringen.“

Ihr Begleiter erwiderte nichts darauf. Was jedoch, wie Octavia im Stillen befand, nicht anders zu erwarten war.

„Von dem Erlös kann ich dann meine Schulden bei Mr. Higgins bezahlen.“ Ihre Miene verfinsterte sich, als sie an den Gentleman dachte. Im Zuge ihrer Überlegungen, ein Darlehen aufzunehmen, hatte sie Nachforschungen angestellt, und herausgefunden, dass Mr. Higgins relativ vernünftige Zinsen verlangte, jedenfalls für einen Geldverleiher, doch er drohte auch mit unverzüglichen Vergeltungsmaßnahmen, wenn die Summe nicht pünktlich und komplett zurückgezahlt wurde.

Mr. Higgins hatte ihr bereits zwei Mal einen Besuch abgestattet, ihr versichert, dass er ihr sämtliche Knochen brechen und ihr Leben ruinieren würde, wenn sie die Rate, mit der sie in Verzug war, nicht abzahlte.

Vielleicht war es auch umgekehrt, und er wollte erst ihr Leben ruinieren und ihr anschließend sämtliche Knochen brechen.

„Und welchen meiner Knochen wird er sich wohl als ersten vornehmen?“, fragte sie ihr Gegenüber seufzend. Auch diesmal kam keine Antwort. „Wenn er vorhat, mir den Arm zu brechen, wäre es schwierig, aber nicht unmöglich. Das Bein hingegen wäre kniffliger. Ich kann mir beibringen, mit der anderen Hand zu schreiben, wenn ich muss, aber sich auf nur einem Beinen fortzubewegen, könnte problematisch werden.“ Sie schnaubte verärgert und streckte in einer fast flehenden Geste die Hände aus. „Was sollte ich machen? Ich dachte, es sei eine günstige Gelegenheit, und wenn ich eine günstige Gelegenheit entdecke, muss ich sie beim Schopf ergreifen. Risiko hin oder her.“

Octavia war Teilhaberin und Mitbetreiberin eines Spielcasinos, daher lag es nahe, dass sie Risiken einging – oder, bescheiden ausgedrückt, einen Einsatz wagte, wenn sie sicher sein konnte, dass der Gewinn es rechtfertigte. Daher die Schulden.

„Es ist ganz einfach“, wiederholte sie fest und reckte trotzig das Kinn. Wobei ihr Hut gegen die Rückwand der Kutsche stieß und ihr anschließend über die Augen rutschte. Mit einer grimmigen Geste rückte sie ihn zurecht. „Vater hat ein Testament hinterlassen, und wenn ich ein bisschen suche, werde ich es auch finden.“

An diesem Punkt pflegte Ivy, ihre ältere Schwester, für gewöhnlich einen Fehler in Octavias Planung zu entdecken.

So hätte sie ihr zum Beispiel in Erinnerung rufen können, dass sie beide ihren Vater für über fünf Jahre weder gesehen noch mit ihm gesprochen hatten und daher nicht wussten, in welchem Zustand sich Haus und Hausrat befanden. Oder dass Octavia nicht mit den Besitztümern ihres Vaters rechnen sollte, weil sie es auch ohne ihn schaffen würden. Und dass sie vom Tod ihres Vaters nur deshalb wussten, weil Ivy zufällig in einer Zeitung aus seinem Wohnort in Somerset davon gelesen hatte.

Sofern Octavia sich gerade mit ihrer Schwester unterhalten hätte.

Was aber nicht der Fall war. Und es gab auch keine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen. Ivy und Octavia verstanden sich blendend – ein bemerkenswerter Umstand angesichts der Tatsache, dass beide Frauen sehr feste Meinungen zu haben pflegten.

Nein, denn Ivy war gar nicht da. Und Octavia befand sich auch nicht in London, wo die Schwestern seit fast sieben Jahren lebten, sondern saß in einer komfortablen Kutsche, die auf der Landstraße nach Greensett dahinratterte, jener Ortschaft, die sie mit vierzehn verlassen hatte.

„Du bist ein viel besserer Zuhörer“, teilte sie ihrem Gegenüber lächelnd mit. Wäre Ivy dagewesen, Octavia hätte niemals so lange am Stück reden können. Doch Ivy war vermutlich zu Hause bei ihrem Ehemann und wusste nicht einmal, dass Octavia London verlassen hatte. Die Schwestern standen sich nahe, aber in der Regel war Ivy so beschäftigt, dass sie sich höchstens einmal im Monat nach Octavias Verbleib erkundigte. Wahrscheinlich würde sie von dieser Reise nichts erfahren.

Octavias Begleiter war Cerberus, ihr italienischer Mastiff, der auf der gegenüberliegenden Sitzbank lag und schlief. Neben seinem Maul hatte sich ein unübersehbarer Sabbberfleck auf dem Samtpolster gebildet. Theoretisch also sprach sie mit ihm, doch da er schlief und ein Hund war, durfte sie keine Antwort erwarten. Obwohl sie gern eine gehabt hätte.

Früher am Tag hatte sie mit Ivy geredet, allerdings nichts von dem erwähnt, was sie jetzt zur Sprache brachte. Die Schwester war früh am Morgen bei ihr aufgetaucht und hatte ihr mitgeteilt, dass ihr Vater gestorben war – was sie zufällig in einer Zeitung entdeckt hatte, die sie eigentlich für ihre Hunde hatte verwenden wollen. Octavia hatte zugehört, was sonst eher selten vorkam.

Normalerweise sprach Octavia, und Ivy versuchte sie zu unterbrechen.

Sie hatten beide Tränen vergossen und sich an die Zeit erinnert, als ihr Vater seine Spielleidenschaft noch nicht über die Interessen seiner Familie gestellt hatte. Lange vor der Entfremdung. Als er ihnen versprochen hatte, dass sie immer ein Zuhause bei ihm haben würden, auch wenn er knapp an Geld war.

Sie hatten beweint, was sie verloren hatten und nie wieder haben würden – einen Vater, der sie liebte. Dem sie etwas bedeuteten.

Dann hatten sie sich die Tränen abgewischt, und in Octavias Kopf war ein Plan entstanden. Ihr Vater hatte versprochen, dass sie immer ein Zuhause bei ihm haben würden. Was sollte sich daran geändert haben?

Mr. Holton war gerade einmal einen Monat tot. Und obwohl er und seine Töchter einander entfremdet waren, hatten andere Betreiber von Spielcasinos und deren Angestellte Octavia über die Aktivitäten ihres Vaters auf dem Laufenden gehalten. Erst vor ein paar Monaten, so war ihr zu Ohren gekommen, hatte er auf ein Wettrennen zwischen einer Kuh und einem Frosch gewettet. Sie wusste nicht, wer gewonnen hatte, doch allein wegen der Art der Wette war sie dankbar, dass ihre ältere Schwester Ivy sie aus dem Haushalt ihres Vaters fortgeholt hatte. Aber vielleicht hatte sein Glück sich auch gewendet, jedenfalls ließ sich nicht absehen, was sich in dem Haus befand. Außerdem war das Haus selbst ebenfalls wertvoll.

Was, wenn sein Tod dazu führte, dass er seinen Töchtern endlich etwas Gutes tat?

Was, wenn sie persönlich nach Greensett fuhr und sich einen Überblick verschaffte, was er ihr und Ivy hinterlassen hatte? Sie konnte aus London verschwinden, aus Mr. Higgins’ Reichweite, und ihnen Geld beschaffen, hoffentlich genug, dass Ivy nie von Octavias riskantem Unterfangen erfuhr. Sie würde ihre Schulden bei Mr. Higgins bezahlen, ohne dass irgendjemand Wind davon bekam.

Ursprünglich hatte Octavia das Geld für die Renovierung des Spielcasinos verwenden wollen, das sie und Ivy betrieben. Das Casino lief gut, doch Octavia glaubte, dass es weit mehr Gewinn abwerfen würde, wenn man geschickt investierte. Und anfangs hatten die neuen Spieltische, die erweiterten Räumlichkeiten und das zusätzliche Personal tatsächlich für höhere Umsätze gesorgt.

Doch dank einer längeren Phase mit schlechtem Wetter und einer politischen Krise, die viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, waren die Gewinne geschrumpft, und Octavia sah sich mit der Aussicht auf gebrochene Knochen und ein ruiniertes Leben konfrontiert.

Oder anders herum. Sie wusste es nicht mehr genau.

„Alles wird gut“, versicherte sie ihrem immer noch schlafenden Hund. „Vater hat ein Testament hinterlassen. Und wir erben alles. Dann bin ich in der Lage, das Geld für Mr. Higgins aufzubringen. Das Haus allein sollte dafür genügen. Ivy muss nichts davon erfahren.“ Sie sprach mit einem Selbstvertrauen, von dem sie sich einredete, dass sie es verspürte.

Cerberus machte die Augen auf, sah sie an und schlief umgehend wieder ein.

„Ich hätte angenommen, dass du mir ein wenig Treue erweist. Schließlich füttere ich dich.“ Sie lehnte sich vor und tätschelte Cerberus’ Kopf. Er gab ein leises Wuff von sich und veränderte seine Lage.

Sie lehnte sich in die Polster zurück und sah aus dem Fenster. Am liebsten wäre sie jetzt schon da gewesen und nicht erst in fünf Stunden.

Geduld war nicht ihre Stärke. Vorsicht auch nicht. Und genau genommen auch nichts anderes außer eigensinnig – also sie selbst – zu sein.

Wobei Eigensinn ein Vorteil war für eine Frau in einem Bereich, der für gewöhnlich Männern vorbehalten war. Nicht jedoch, wenn sie in einer ländlichen Ortschaft lebte.

Glücklicherweise war es ihr gelungen, schnell aus der Stadt zu kommen – sie hatte sich daran erinnert, dass Lady Montague, die häufig Gast im Casino war und auch häufig verlor, ihre Kutsche in die Gegend zu schicken pflegte, um ihre Nichte von der Schule abzuholen. Rasch hatte sie die gutmütige Dame dazu gebracht, die Chaise vorher einen kleinen Umweg machen zu lassen und Octavia abzusetzen. Und da die Kutsche Lady Montagues zweitbeste war – die beste benutzte die Dame selbst – würde Octavias Manöver Ihrer Ladyschaft keinerlei Ungelegenheiten bereiten.

Was bedeutete, dass sie keine Möglichkeit haben würde zurückzukommen, wenn sie genauso schnell wieder nach London musste.

Aber eigentlich rechnete sie nicht mit Schwierigkeiten.

Das tat sie nie.

Gabriel fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und sah sich das Chaos an, das sich sein neues Haus nannte.

Mr. Holton war vor knapp einem Monat verstorben, aber erst einmal hatte Gabriel den Nachlass seines Vaters ordnen müssen, der nur ein paar Tage vor Mr. Holton das Zeitliche gesegnet hatte.

Genau wie Mr. Holton war auch Gabriels Vater, Mr. Fallon, ein Spieler gewesen. Im Gegensatz zu Mr. Holton jedoch war Mr. Fallon das Glück stets überaus hold gewesen, und er hatte seinen bescheidenen Aktienbesitz in eine riesige Verflechtung von Grundeigentum, flüssigem Kapital und Anteilen der verschiedensten Unternehmen verwandelt, zu der noch eine Reihe von Gegenständen hinzukam, deren Wert man nicht genau schätzen konnte, weil es Einzelstücke waren.

Etwas strich an seiner Wade entlang, und Gabriel sah zu Boden. „Ich weiß, du hast Hunger, Nyx.“ Er lächelte dem zierlichen, flauschigen Zwergspitz zu. Die Hündin kläffte zur Antwort, trabte zu einem der Sessel, dessen Polsterung zu einem unschönen Braungrau ausgebleicht war, und schnüffelte am Stuhlbein.

Nyx war eines der Einzelstücke und Teil eines Pakets, das sein Vater vor vier Jahren gewonnen hatte. Mr. Fallon hatte die Hündin nicht haben wollen, daher hatte Gabriel sie in seinem Tornister versteckt und mit in die Schule genommen. Als Mr. Fallon schließlich dahintergekommen war, war es zu spät gewesen – Nyx war der Liebling in Gabriels Internat, und da Mr. Fallon den Kontakt zu den Eltern von Gabriels Schulkameraden schätzte, konnte er den Hund nicht einfach loswerden.

„Diese Adligen sind eben leicht zu schröpfen“, hatte er Gabriel bei einer jener seltenen Gelegenheiten, da er mit ihm gesprochen hatte, anvertraut. „Sie glauben, dass sie gewinnen, bloß weil sie Adlige sind.“ Er hatte ein spöttisches Schnauben hören lassen. „Wo es doch darauf ankommt, was sie tun und wie sie spielen.“

Obwohl nicht sonderlich brauchbar, hatte Gabriel den väterlichen Ratschlag dennoch verinnerlicht; entschlossen, jemand zu werden, dessen Erfolg auf Taten gründete, auch wenn seine Herkunft im besten Fall respektabel war; schlimmstenfalls jedoch, dank der Machenschaften seines Vaters, anrüchig.

Die letzte Machenschaft vor seinem Tod hatte darin bestanden, sich Mr. Holtons Haus unter den Nagel zu reißen. Jahrelang hatte sein Vater versucht, Mr. Holton zu besiegen, einmal sogar bei einer Wette seine Tochter gewonnen, dann aber ein paar Stunden später gegen eben jene Tochter verloren.

Als er endlich das Haus gewonnen hatte, war er so siegestrunken gewesen, dass er dem Alkohol in den darauffolgenden Tagen mehr als gewöhnlich zugesprochen hatte. Dabei musste er eine Kerze umgestoßen haben, denn plötzlich hatte sein Haus in Flammen gestanden und war bis auf die Grundmauern abgebrannt.

Zum Glück hatte sich zu dem Zeitpunkt niemand außer ihm dort aufgehalten. Gabriel war wegen Nachforschungen über ein seltenes Manuskript unterwegs gewesen, und die Diener seines Vaters wohnten nicht im Haus, weil Mr. Fallon niemandem traute. Nicht einmal seinem Sohn.

Gabriel hatte um seinen Vater getrauert, so wie jeder andere es getan hätte, doch viel mehr noch bedauerte er, dass dem alten Herrn so viel entgangen war. Dass er nur mit Karten, aber niemals mit seinem Sohn gespielt hatte. Dass er das Wagnis, einem anderen Menschen sein Herz zu öffnen, nie eingegangen war, sondern nur Geld und Wetteinsätze riskiert hatte.

Für Gabriel war es eine angenehme Überraschung gewesen, als er bei der Durchsicht der Papiere seines verstorbenen Vaters, die wie durch ein Wunder den Flammen entgangen waren, die gekritzelten Zeilen mit der Erklärung gefunden hatte, dass Mr. Fallon der neue Eigentümer von Mr. Holtons Haus war.

Und da Mr. Fallons Haus abgebrannt war, hatte Gabriel keine Bleibe. Er bewohnte ein Zimmer im Gasthaus, aber drei Wochen lang den Eintopf der Wirtin essen zu müssen war eine erlesene Folter, angesichts derer wohl selbst Prometheus sich lieber die Leber hätte herausfressen lassen.

Gabriel war am Morgen eingetroffen, hatte den Tornister mit seinen Büchern, ein bisschen Wäsche und anderen Kleidungsstücken im Hauptkorridor abgestellt. Eine Staubwolke war aufgestiegen, die Nyx und ihn zum Niesen gebracht hatte.

Wenn Mr. Holton noch Diener beschäftigt hatte, so hatten sie ihre Zeit nicht mit Saubermachen verbracht.

Aber Gabriel fürchtete Anstrengungen nicht – er mochte körperliche Arbeit. Sie hielt seine Hände beschäftigt, während er sich in Gedanken mit seinen Forschungen befasste.

„Bei diesem Anblick würde selbst Hades zusammenzucken“, informierte er Nyx, die die Sache mit dem Futter offenbar aufgegeben und es sich auf einem zerknitterten Stück Stoff in der Ecke gemütlich gemacht hatte.

Dann marschierte er durch das ganze Haus und sah sich an, was gemacht werden musste.

Alles.

Außer dem Staub schien sich eine widerstandsfähige Mäusefamilie in der Bibliothek angesiedelt zu haben. Die unteren Regale waren allesamt angenagt, und als er den Raum betreten hatte, war ein fieberhaftes Krabbeln zu hören gewesen, ein eindeutiger Hinweis, dass die Mäuse sich in ihre Löcher verzogen.

In mindestens einem der Mansardenzimmer regnete es durch, und die Schlafgemächer im oberen Stockwerk schienen zu wetteifern, welches von ihnen das heruntergekommenste war.

Auch die Küche bot einen abstoßenden Anblick. Es herrschte heillose Unordnung, an den Wänden zogen sich breite Fettstreifen herunter, und der Herd machte einen mehr als zweifelhaften Eindruck.

Doch außer er hätte weiterhin Mrs. Packhams Rindfleischeintopf herunterwürgen wollen, war dies nun sein Wohnort.

Ein ganzes Haus für sich zu haben, dieses Haus in ein Heim zu verwandeln würde ihm eine tiefe Befriedigung verschaffen. Sein Vater hatte ihn zur Schule geschickt, und es war ihm egal gewesen, als Gabriel seine Studien anschließend fortgesetzt, in der Nähe des British Museum in London zur Untermiete gewohnt und über antiken Texten gebrütet hatte, um eine lebendigere, modernere Version griechischer Mythen zu entwerfen.

Gabriel erkannte die Möglichkeiten des Hauses und konnte sich gut vorstellen, wie es einmal gewesen war, als Mr. Holtons Frau noch gelebt und die beiden Töchter hier gewohnt hatten.

Holton hatte die älteste Tochter bei einer Wette gegen Gabriels Vater als Spieleinsatz eingebracht und verloren. Ivy, die Älteste, war kühn genug gewesen, Mr. Fallon zu einer neuerlichen Wette herauszufordern, bei der ihre jüngere Schwester der Einsatz war.

Gabriels Vater hatte immer gewollt, dass diese Schwester, Octavia mit Namen, Gabriel heiraten sollte, dabei aber weder seinen Sohn noch das Mädchen nach ihrer Meinung gefragt. Weshalb sein Vater gewollt hatte, dass er die jüngere der beiden Schwestern heiratete, war Gabriel ein Rätsel, doch andererseits galt das für praktisch alles, was sein Vater getan hatte.

Gottlob hatte Ivy gewonnen.

Danach war sie unverzüglich nach London aufgebrochen und hatte ihre jüngere Schwester mitgenommen.

„Das reicht jetzt“, informierte Gabriel die Hündin und machte sich auf den Weg zum vorderen Eingang. Er knöpfte sein Hemd auf, trat hinaus in die Spätnachmittagssonne, zerrte sich das Hemd über den Kopf und ließ es fallen.

Es war ein warmer Tag, und nachdem er das ein oder andere Möbelstück gerückt hatte, war er verschwitzt.

Doch bei einem Blick aus einem der schmutzigen Fenster hatte er hinter dem Haus einen Teich entdeckt.

„Wir gehen schwimmen, altes Mädchen“, erklärte er Nyx auf dem Weg um das Haus herum. Er ließ sich ins Gras fallen, zog Stiefel und Socken aus, dann stand er auf und entledigte sich seiner Hosen und Unterhosen.

Weit und breit war niemand zu sehen, niemand kam hier vorbei, und er wollte verdammt sein, wenn er in klammen Unterhosen herumlief.

Er stürzte sich ins Wasser, genoss die herrlich frische Kühle an seiner erhitzten Haut. Nyx folgte ihm, ihr kleiner Kopf hüpfte im Wasser auf und ab, während sie paddelte.

Es war friedlich. Er war allein, und er genoss es. Er hatte ein Ziel, und das brauchte er. Und nun hatte er viel Zeit, Geld und ein Haus, und alles zusammen würde seine Arbeit voranbringen.

Er wollte und brauchte nichts sonst. Er wollte und brauchte niemanden.

Er legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben, streckte die Arme zu beiden Seiten von sich, und plötzlich hörte er ein gewaltiges Platschen. Als er den Kopf hob, sah er einen riesigen schwarzen Hund ins Wasser rasen, und eine Frau, die hinter ihm herlief und ihm befahl, zurückzukommen.

„Cerberus!“ Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf den Hund konzentriert. Ruckartig richtete Gabriel sich auf, packte Nyx und hielt den kleinen Hund fest, während der andere Hund, Cerberus, weiter auf sie zu geschwommen kam. Instinktiv schob Gabriel Nyx hinter seinen Rücken, um sie zu schützen.

Dann sah ihn die Frau.

Ihre Augen weiteten sich, ihr Unterkiefer sackte herab, und sie machte einen Laut, der einem Jaulen nicht unähnlich war. Als wäre er der Eindringling, und nicht sie.

Gabriel biss die Zähne zusammen und behielt den riesigen Hund, der Nyx ohne Weiteres als Zwischenmahlzeit hätte verschlingen können, misstrauisch im Auge.

„Ich weiß nicht, wer zum Teufel Sie sind, und ich weiß auch nicht, was Sie hier machen“, sagte er grimmig, „aber Sie müssen Ihren Hund zurückpfeifen.“

Ihre Augen verengten sich. „Cerberus will mit Ihrem Hund nichts zu tun haben. Oder, Cerberus?“ Der Hund ignorierte sie konsequent. Er schwamm zurück, trabte aus dem Wasser und lief schnüffelnd am Ufer entlang, gottlob weit entfernt von Nyx.

Der Blick der Frau glitt zu Gabriel zurück. „Sie sind der Eindringling“, sagte sie anklagend. „Was tun Sie hier? Und wer sind Sie?“

„Das Gleiche könnte ich Sie fragen.“ Gabriel richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Denn Sie befinden sich auf meinem Grund und Boden.“

„Ihr Grund und Boden!“, wiederholte sie ungläubig. „Mit Sicherheit nicht.“ Sie reckte das Kinn. „Dies ist mein Haus.“

2. KAPITEL

Die Kutsche setzte sie und Cerberus am Tor ab und fuhr unverzüglich weiter. Mit einem Gefühl von Verunsicherung, wie es sie nur höchst selten ereilte, blieb Octavia zurück.

Dabei war ihre merkwürdige Stimmung zweifellos nur darauf zurückzuführen, dass sie sechs Stunden in der Kutsche gesessen und ihr Magen bis auf das trockene Brötchen, das sie kurz vor dem Aufbruch noch eingesteckt hatte, leer war. Wahrscheinlich war sie nur ausgehungert.

Und warum hatte sie sich nichts zu essen mitgenommen?

Weil sie überstürzt gehandelt hatte. Wie immer. Darauf vertraut, das schon alles gut ging, wenn sie ihrem Kurs folgte.

Es war später Nachmittag, doch die Sonne stand so hoch am Himmel, dass sie die Augen zusammenkneifen musste, wenn sie etwas sehen wollte. Für einen Tag im Frühsommer war es recht warm. Jedenfalls in England. Und für eine Dame, die den Anforderungen entsprechend mit Krinoline, Korsett und Reisemantel ausstaffiert war, auch.

Das Haus sah noch genau so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Groß, aber nicht prunkvoll. Es erschien ihr verwahrloster als zuvor, in den oberen Stockwerken fehlten in ein paar Fenstern Scheiben, und insgesamt wirkte es unbewohnt. Der Rasen war von Unkraut überwuchert und der Springbrunnen, auf den ihre Mutter so stolz gewesen war, lag trocken da.

Sie stieß das rostige Tor auf, dessen Angeln protestierend quietschten. Wäre sie ein Mensch mit einer ausgeprägten Fantasie gewesen, sie hätte angenommen, sie betrete ein Haus aus einem Schauerroman. Aber sie gehörte nicht zu den fantasievollen Menschen, und sie war auch keine Jungfer in Nöten, die auf einen hochgewachsenen, gut aussehenden Retter hoffte. Wenn Rettung zur Diskussion stand, würde sie sie selbst vornehmen, vielen Dank auch.

Sie bahnte sich ihren Weg durch das Gras zum Eingang, und Cerberus trottete hinter ihr her. Den Griff des Tornisters mit einer Hand, musste sie sich zur anderen Seite lehnen, um das Gepäckstück überhaupt tragen zu können. Es war schwer, nicht nur weil es Kleidung und andere persönliche Gegenstände enthielt, sondern auch ein paar Schauerromane, einschließlich des neuesten von Percy Wittlesford, ihrem Lieblingsautor.

Sie würde aufatmen, wenn sie im Haus war und den Tornister abstellen konnte. So verlassen, wie es aussah, schien niemand in dem Gebäude zu wohnen, verständlicherweise. Ihr Vater war vor einem Monat verstorben. Es war nicht davon auszugehen, dass jemand von den Dienern geblieben war, selbst wenn Geld da gewesen wäre, um die Löhne zu zahlen. Doch das bezweifelte sie.

„Wann war ich das letzte Mal allein?“, fragte sie laut in die Stille und gab sich die Antwort umgehend selbst. Wäre sie es gewöhnt gewesen, allein zu sein, hätte sie die Frage gar nicht erst ausgesprochen. „Nun ja, nicht ganz allein“, setzte sie mit einem Blick über die Schulter hinzu. „Ich will deine Anwesenheit nicht unterschlagen.“

Cerberus ignorierte sie, zu beschäftigt, das hochgewachsene Gras mit der Schnauze zu erkunden.

Die Eingangstür war schäbiger, als Octavia sie in Erinnerung hatte, der bronzene Klopfer hatte einen deutlichen Grünton. Sie hielt den Atem an, als sie die Klinke drückte. Was, wenn die Tür verschlossen war? Was, wenn sie zu Fuß in die Ortschaft zurücklaufen musste, um jemanden zu finden, der ihr helfen konnte? Warum hatte sie keinen vernünftigen Plan?

Richtig. Weil sie niemals plante.

Die Tür sprang auf, und sie stolperte ins Foyer, blinzelte angesichts der plötzlichen Dunkelheit. Siehst du, so schoss es ihr triumphierend durch den Sinn, es geht auch so.

Sie stellte den Tornister ab, und Cerberus begann in den Ecken zu schnüffeln. Sie löste die Schleife ihres Huts, legte ihn auf den Tornister, und plötzlich fiel ihr auf, dass ein paar Meter weiter noch ein Tornister stand. War ihr Vater von einer Reise zurückgekommen und so überraschend verstorben, dass niemand die Möglichkeit gehabt hatte, seine Sachen fortzuräumen?

Sie schob den verstörenden Gedanken beiseite, dorthin, wo auch all ihre anderen schlimmen Erinnerungen hausten. Sie würde noch mehr als genug Zeit haben, es herauszufinden. Zu verstehen, was passiert war, nachdem sie und Ivy ihr Elternhaus verlassen hatten. Sie würde hier sein, bis alles inventarisiert und verkauft war, und dann hatte sie hoffentlich das Geld beisammen, das sie Mr. Higgins schuldete. Hoffentlich.

Es war warm im Haus, wärmer als draußen. Sie knöpfte ihre Pelisse auf und ließ sie an ihren Armen heruntergleiten. Dann legte sie sie auf den Tornister, den Hut obenauf und ging los.

Auf dem Weg wirbelte sie enorm viel Staub auf, so viel, dass er ihr in der Nase kitzelte. „Eine Menge Arbeit wird notwendig sein, um dieses Haus wieder vorzeigbar zu machen“, machte sie sich mit einem Blick auf die ausgebleichten Tapeten und den zerkratzten Fußboden halblaut klar. Aber der Gedanke schreckte sie nicht. Im Gegenteil, er weckte Begeisterung in ihr. Wenn es ihr gelang – und das würde es – dieses Haus in das funkelnde Heim zu verwandeln, das es einmal gewesen war, konnte sie sicher sein, einen Höchstpreis dafür zu erzielen. Es brauchte nur ein wenig Muskelkraft, und davon hatte sie mehr als genug. Einen Grund zur Eile, wieder nach London zu kommen, gab es nicht. In London war Mr. Higgins, aber nicht ihre Kundschaft. Die hatte sich für den Sommer auf ihre Landsitze begeben, und das Geschäft ging zäh. Ihre Angestellten konnten ohne Weiteres ein paar Monate ohne sie auskommen.

Und ein paar Monate würde es brauchen, um das Haus auf Vordermann zu bringen. Die Bausubstanz war in Ordnung. Bloß hatte ihr Vater alles ein wenig herunterkommen lassen.

Als sie die Tür zur Bibliothek öffnen wollte, bemerkte sie, dass Cerberus offenbar beschlossen hatte, den Salon zu erkunden. „Warte!“ Sie machte kehrt und eilte ihm hinterher. Ein wenig beklommen erinnerte sie sich, dass die Terrassentür im Salon in den hinteren Teil des Gartens führte und dass es dort einen Teich gab.

Und Cerberus war ganz versessen aufs Schwimmen.

Aber sicher war die Tür abgeschlossen, weil niemand im Haus wohnte.

Bedauerlicherweise schien dies kein Tag zu sein, an dem die Vernunft den Sieg davontrug. Beide Türflügel standen weit offen, und Cerberus trabte ohne sie zu beachten zielstrebig zu dem Gewässer, das er offenbar gewittert hatte.

„Cerberus!“ Sie rannte ihm nach, kniff die Augen zusammen, als das helle Licht draußen sie blendete. Gerade lange genug, dass Cerberus das Wasser erreichte.

Nicht dass sie ihm das Schwimmen missgönnt hätte. Nur dass er danach unangenehm riechen würde, und ihre Nase war von dem Staub im Haus schon gereizt.

Als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, hörte sie ihn planschen.

Und dann erstarrte sie und fragte sich, ob der Staub ihrem Hirn geschadet hatte.

Denn außer Cerberus war da noch ein Mensch im Wasser. Ein Mann. Ein nasser, tropfender Mann ohne Hemd, der sich nun aufstellte, sodass sie seinen Hals, seine Schultern, seine breite Brust und … Gott sei Dank war das Wasser tief genug, dass sie nicht mehr erkennen konnte. Er hatte den Arm schützend um einen winzigen Hund geschlungen, der neben ihm noch winziger wirkte.

Plötzlich vernahm sie einen merkwürdigen Laut und erkannte im nächsten Moment, dass er ihr entschlüpft sein musste. Eine Art Quietschen, das ganz und gar nicht zu der weltgewandten Dame passte, als die sie sich kannte.

Aber weltgewandte Damen, selbst wenn sie sehr weltgewandt waren, begegneten normalerweise keinen nackten Männern in Teichen.

„Ich weiß nicht, wer zum Teufel Sie sind“, sagte der nackte Mann in ihre Gedanken hinein, „und ich weiß auch nicht, was Sie hier zu suchen haben, aber Sie müssen Ihren Hund zurückpfeifen.“

Sein Ton und seine Worte holten sie abrupt aus dem Tagtraum, in den sein Anblick sie hatten versinken lassen. „Cerberus ist nicht interessiert an Ihrem Hund. Oder, Cerberus?“

Wie gewöhnlich gab Cerberus keine Antwort.

„Sie sind der Eindringling“, erklärte sie fest. „Was tun Sie hier? Und wer sind Sie?“

„Das Gleiche könnte ich Sie fragen.“ Der unbekleidete Mann klang nicht so, als sei er verrückt, obwohl er sich eindeutig so verhielt, wenn er sich in die Häuser fremder Leute schlich und mitsamt seinem Hund in ihren Teichen badete. „Zumal Sie sich auf meinem Grundstück befinden.“

„Ihrem Grundstück!“, wiederholte sie entrüstet. „Ganz sicher nicht. Dies ist mein Haus.“ Er war einem Wahn erlegen. Eine andere Erklärung gab es nicht. Aber wie sollte sie einen völlig verblendeten nackten Mann von ihrem Grundstück entfernen, wenn sie allein auf sich selbst und einen Hund, der grundsätzlich nicht auf sie hörte, gestellt war?

Ehe sie antworten konnte, deutete der Fremde mit der freien Hand in ihre Richtung. „Ich denke, ich sollte aus dem Wasser kommen, damit wir diese Diskussion auf dem Trockenen führen können.“

„In Ordnung.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn finster an.

„Vielleicht könnten Sie sich umdrehen“, schlug er sanft lächelnd vor, „damit ich Ihr jungfräuliches Zartgefühl nicht verletze.“ Sein Tonfall war nüchtern, so, als biete er ihr Erfrischungen an und nicht den Anblick seines …

Sie wirbelte so schnell herum, dass ihre Röcke sich hoben und Schwindel sie erfasste.

Das Einzige, was sie hörte, war ein belustigtes Schnauben, gefolgt von dem platschenden Geräusch von Füßen, die durch flaches Wasser wateten.

Und als sei das nicht schon schlimm genug, kam Cerberus zu ihr zurück und schüttelte sich so energisch, dass sie über und über mit Wasser bespritzt war. Der Mann musste seinen Hund losgelassen haben, denn das Tier kam Cerberus nachgelaufen. Die beiden balgten sich vor ihren Augen – hinter sich hörte sie immer noch platschende Geräusche –, und es war eindeutig, dass Cerberus dem viel, viel kleineren Hund gestattete, mit ihm zu spielen. Octavia räusperte sich missgelaunt. Als sie merkte, dass sie es Cerberus übel nahm, dass er so bereitwillig auf das niedliche Hündchen hereinfiel, rief sie sich zur Ordnung. Es waren doch nur Hunde. Natürlich wollten sie spielen. Oder … etwas anderes miteinander anstellen, je nachdem, welches Geschlecht sie hatten.

„Ich bin angezogen“, rief der Mann hinter ihr. „Sie können sich wieder umdrehen.“

Sie holte tief Luft, wandte sich um und sah ihn an.

Das Erste, was ihr auffiel, war, dass er groß war.

Wirklich groß.

Und dann, dass er bemerkenswert gut aussah.

Sein Haar war dunkel von der Nässe, aber sie hätte wetten können, dass es einen goldbraunen Ton haben würde, wenn es trocken war. Die Farbe seiner Augen ließ sie an Whisky denken. Im hellen Sonnenlicht wirkte sie fast wie Bernstein. Er hatte eine ausgeprägte Nase und volle Lippen.

Der Stoff des Hemdes haftete an seiner feuchten Haut, und betonte die ausgeprägten Muskeln seiner Arme und seines breiten Brustkorbs. Sein Hals lag frei, denn er trug kein Krawattentuch.

Seine Hose klebte ihm an den Beinen. Kraftvollen, muskulösen Beinen.

Einen Mann, der so … entkleidet wirkte, hatte sie noch nie gesehen.

Sein Anblick rief eine deutlich wahrnehmbare Wirkung in ihrem Unterleib hervor. Unwillkürlich trat sie von einem Fuß auf den anderen, als sei ihr unbehaglich. Was nicht der Fall war; ganz im Gegenteil, doch die unvertraute Reaktion beschleunigte ihren Atem.

Er legte den Kopf schräg, betrachtete sie. Als versuche er ihre Geheimnisse zu ergründen. „Ich bin Gabriel Fallon. Mr. Gabriel Fallon.“ Er wies auf das Haus. „Wie ich schon sagte, dies ist mein Haus, und Sie befinden sich auf meinem Grundstück.“

Im Nu war seine Attraktivität vergessen, und Octavia fiel ein, was er zuvor gesagt hatte.

Heftiger Ärger wallte in ihr auf, und die Worte kamen ihr über die Lippen, ehe sie sie zurückhalten konnte.

„Dies ist nicht Ihr Haus.“ Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. „Mit Verlaub. Es ist mein Haus.“ Gab es vielleicht eine Irrenanstalt irgendwo in der Nähe, aus der er entkommen war?

Seine Augen verengten sich. „Und mit wem habe ich es zu tun?“, fragte er in täuschend sanftem Ton.

Sie richtete sich kerzengerade auf. „Ich heiße Octavia Holton.“

In seinen Zügen malte sich Begreifen, und sie fragte sich, was es war, das er verstanden hatte. Vielleicht war er nur zeitweilig irre und hatte soeben erkannt, dass sie die Wahrheit sagte?

Für den Fall würde sie ihm seinen widerrechtlichen Aufenthalt auf ihrem Grund und Boden nicht anlasten. Sofern er ohne weitere Einwände verschwand.

Immerhin sah er wirklich bemerkenswert attraktiv aus, und sie war nicht immun gegen den Anblick eines gut aussehenden Gentleman. Sie konnte durchaus entgegenkommend sein.

Solange er ging. Unverzüglich.

„Es tut mir leid, dass ich der Überbringer schlechter Neuigkeiten sein muss, Miss Holton“, es zuckte um Mr. Fallons sinnlichen Mund, „aber dieses Haus gehörte Ihnen nicht. Es ist mein Eigentum.“

Er sprach mit einer solchen Autorität, dass Octavia, wäre sie eine andere Art Frau gewesen – fügsamer, nachgiebiger –, seine Behauptung widerspruchslos hingenommen hätte.

Aber sie war weder fügsam noch nachgiebig.

Sie hob eine Braue. „Wie das?“

Er presste die Lippen zusammen.

„Ihr verstorbener Vater – mein Beileid zu seinem Ableben – verlor das Haus an meinen Vater.“ Er spreizte die Hände, als sei damit alles erklärt. „Sie sehen also, es ist mein Haus.“

Mr. Fallon. Sie hätte sich an den Namen erinnern sollen. Es war der Mann, gegen den Ivy gespielt hatte, ehe sie fortgegangen waren. Er hatte Octavia für seinen Sohn gewollt … dieser Mann?

Es war nicht wichtig. Sie durfte nicht zulassen, dass ihr das Haus entglitt, nicht, wo so viel daran hing für sie. Eigentümerin des Hauses zu sein bedeutete, dass ihr Vater doch noch etwas Gutes zuwege gebracht hatte. Es hieß, dass ihr Vater das einzige Versprechen, das unter allen Umständen hätte gelten sollen, nicht gebrochen hatte.

Es wäre einfach gewesen, wenn der bemerkenswert gut aussehende Mann tatsächlich irre gewesen wäre. Doch so einfach lagen die Dinge nicht, wie ihr nun aufging.

Sie runzelte die Stirn. „Wo ist Ihr Vater?“

Sein Kiefer spannte sich an, und für einen flüchtigen Moment glaubte sie, Trauer in seinen Augen zu entdecken. „Auch er ist tot.“ Er atmete geräuschvoll aus. „Wie es scheint, haben wir ein paar Gemeinsamkeiten. Wir haben beide den Vater verloren. Unsere Väter waren beide Spieler.“ Seine Miene verschloss sich. „Und wir glauben beide, Eigentümer dieses Hauses zu sein. Leider kann nur einer von uns recht haben. Und das bin ich.“

Sie holte Luft, um zu antworten, doch ihr Magen kam ihr zuvor und informierte sie knurrend, dass sie seit Stunden nichts mehr gegessen hatte und am Verhungern war.

Er sah aus, als müsse er sich ein Lachen verbeißen. „Ich habe Proviant dabei. Was halten Sie davon, wenn wir ins Haus gehen und etwas essen?“ Er sah zum Himmel hinauf. „Es wird bald dunkel. Aber Sie können essen, ehe Sie aufbrechen.“

„Aufbrechen?“ Sie runzelte die Stirn. „Ich gehe nicht fort.“

Er sah aus, als wolle er anfangen zu streiten, doch sie redete einfach weiter.

„Ich kann nicht fortgehen. Ich weiß nicht, wohin, noch weiß ich, wie.“

3. KAPITEL

Das konnte einfach nicht wahr sein.

Gabriel starrte sie an, und weder sein Verstand noch sein Mund schienen in der Lage, Worte zu formen. Er war sich der Art, wie sie seinen Blick erwiderte, überdeutlich bewusst, ebenso der Tatsache, dass seine Kleidung praktisch durchnässt war und er sich höchst unbehaglich fühlte. Warum hatte sie ausgerechnet in dem Moment auftauchen müssen, als er schwimmen gegangen war? Er ertappte sich dabei, dass er sie zum Teufel wünschte.

„Sie können nicht fortgehen?“, brachte er schließlich zustande.

Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Kann ich nicht.“ Sie atmete tief ein, sah aus, als versuche sie, sich zu beruhigen. Als sei sie die Geschädigte. „Aber ich habe wirklich Hunger“, fuhr sie gefasster fort. „Vielleicht können wir darüber reden, was wir als Nächstes tun, während wir etwas essen?“ Sie wartete nicht auf seine Antwort, drehte sich auf dem Absatz herum und pfiff nach ihrem Hund.

Der nicht daran dachte, darauf zu reagieren.

Gabriel folgte ihr langsam, den Blick auf ihre schwingenden Röcke geheftet, während sie vor ihm her zum Haus ging.

Dies also war Octavia Holton. Mr. Holtons jüngere Tochter, die junge Dame, mit der er womöglich verheiratet wäre, hätte ihre Schwester seinem Vater nicht die Stirn geboten.

Sie war mittelgroß, doch ihre durchsetzungsfähige Persönlichkeit ließ sie größer wirken. Sie hatte dunkelrotes Haar und eine freche Stupsnase. Ihr Mund sah aus, als lache sie gern und oft, jedenfalls wenn sie nicht die Stirn runzelte.

Sie trug ein Kleid, von dem Gabriel gewettet hätte, dass es nach der neuesten Mode geschneidert war, hauptsächlich deswegen, weil er dergleichen in der nahe gelegenen Ortschaft noch nie gesehen hatte. Die Röcke waren weit gebauscht, schienen aus unendlich vielen Lagen Stoff zu bestehen – hellblau, eine Farbe, die wahrscheinlich bedeutete, dass das Kleid nach jedem Tragen gewaschen werden musste. Das Mieder saß eng und mit einer, wie er fand, sehr unpraktischen Knopfleiste von der Taille bis zum Hals versehen. Die Ärmel erschienen ihm fast genauso bauschig wie der Rock, sie waren dreiviertellang, sodass sie den Händen Bewegungsfreiheit garantierten.

Sie sah aus, wie Gabriel sie einschätzte: eine modebewusste Londoner Dame, die keine Ahnung vom Leben auf dem Lande hatte.

Mit anderen Worten, eine Dame, die leicht davon zu überzeugen sein sollte, dass sie besser in die Lebensverhältnisse zurückkehrte, an die sie gewöhnt war.

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als Miss Holton sich zu ihm umdrehte und die Arme vor der Brust verschränkte, als bereite sie sich auf eine Schlacht vor. „Erwähnten Sie nicht etwas von Proviant?“, fragte sie kampflustig, während ihr Magen abermals knurrte.

„Kommen Sie“, erwiderte er brüsk und marschierte an ihr vorbei ins Haus.

Sie folgten dem Korridor ins Foyer. Gabriel ging zu seinem Tornister. Ihm fiel auf, das ihrer auch dort stand, halb begraben unter der Pelisse und dem Hut. Er nahm ein großes Stück Käse und einen Laib Brot aus der Seitentasche – beides hätte mindestens einen Tag für ihn gereicht, während er sich einen Überblick darüber verschaffte, was im Haus getan werden musste – und machte eine Kinnbewegung in Richtung des Esszimmers. „Dort können wir es uns bequemer machen.“

Sie nickte knapp, wandte sich zum Gehen, und die beiden Hunde starrten erwartungsvoll auf die Leckerbissen, die Gabriel trug. Er hoffte, dass sie etwas für – wie hieß er doch gleich, Cerberus? – dabeihatte. Der Hund war riesig, und die Portion, die für Nyx vorgesehen war, würde für den Mastiff nicht mehr sein als ein kleiner Happen.

Langsam ging die Sonne unter, und Gabriel legte Brot und Käse auf den Esstisch vor Miss Holton. „Halten Sie die Sachen fest. Ich bin gleich wieder da.“ Mit dem Kinn deutete er zu den Hunden. „Den beiden ist es egal, wie hungrig Sie sind.“

Augenblicklich bedeckte Octavia den Brotlaib und den Käse mit den Händen, und Gabriel ging zurück ins Foyer, angelte seine Zunderbüchse aus dem Tornister und seufzte erleichtert, als er zwei Kerzen entdeckte. Er zündete sie an, ging zurück ins Esszimmer und stellte sie auf den Tisch. Der Raum hatte etwas Düsteres, und das Kerzenlicht vermochte die bedrückende Atmosphäre nicht zu beseitigen. Der Tisch war abgenutzt, und der Stuhl, den er sich zurechtrückte, wackelte gefährlich. Mit angehaltenem Atem setzte Gabriel sich ihr gegenüber.

Plötzlich wurde ihm etwas bewusst. „Moment mal – Sie haben keine Begleitung dabei?“

Sie warf ihm einen schwer entzifferbaren Blick zu. „Nein, natürlich nicht. Ich hatte geplant, besser gesagt, ich plane, hierzubleiben, um an dem Haus zu arbeiten. Ich bin aufgebrochen, sobald ich vom Tod meines Vaters erfahren hatte. Mir blieb keine Zeit, vorher noch eine Party zu veranstalten.“ Ihr Ton war verächtlich.

„Ich dachte, auf Reisen müssten junge Damen immer eine Begleitung dabeihaben, als Schutz für ihr …“

„Mädchenhaftes Zartgefühl?“, unterbrach sie ihn schroff und schnaubte geringschätzig. „Ich versichere Ihnen, Mr. Fallon, zu dieser Sorte Frauen gehöre ich nicht.“ Sie riss sich einen Kanten Brot ab und biss hinein, sprach kauend weiter. „Ich bin eine durchsetzungsfähige Frau. Ich brauche niemanden.“

Er hob kapitulierend die Hände. „Verzeihen Sie. Mir war nicht klar, dass ich es mit einer veritablen Amazone zu tun habe.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Obwohl Greensett nicht Themiskyra ist.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ Sie griff nach dem Käse. „Und ich möchte es auch nicht wissen.“

„Lassen Sie mich das machen.“ Er nahm ihr den Käse aus der Hand, fischte das kleine Messer, mit dem er seine Bleistifte spitzte, aus seiner Hosentasche, klappte es auf und schnitt eine Scheibe ab.

„Danke.“ Sie nahm sie mit herausfordernd gerecktem Kinn entgegen.

„Gern geschehen.“ Er ignorierte ihre kampflustige Miene. „Wie sind Sie überhaupt hierher gelangt? Sie sagen, Sie können nicht fort, wie also kamen Sie her?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Eine gute Kundin von mir ließ hier in der Nähe eine Verwandte abholen. Sie gestattete mir, in ihrer Kutsche zu fahren.“ Schulterzuckend begegnete Miss Holton seinem Blick. „Aber die Kutsche konnte nicht warten, der Fahrer setzte mich ab und fuhr weiter.“ Wieder reckte sie das Kinn.

„Ihre Kundin?“, hakte er neugierig nach.

Sie bedeutete ihm, noch eine Scheibe Käse abzuschneiden, und biss hinein, ehe sie antwortete.

„Ich betreibe ein Spielcasino in London. Lady Montague ist eine meiner besten Kundinnen.“ Es zuckte um ihre Mundwinkel. „Oder anders gesagt, sie verliert hohe Summen.“

Er richtete sich abrupt auf. „Sie … Sie sind eine Spielerin?“

Sie erstarrte regelrecht. „Ich betreibe ein Spielcasino. Ich bin keine Spielerin. Das ist ein Unterschied, wie Sie sicher wissen.“

„Aber Sie leisten dem Glücksspiel Vorschub. Wie Sie sicher wissen“, schoss er zurück und musterte sie bedächtig. „Sie ermutigen zu einem Verhalten, das Sie und Ihre Schwester zwang, Ihr Elternhaus zu verlassen, als Sie wie alt waren? Zwölf? Dreizehn?“

„Vierzehn“, erwiderte sie. Ihre Wangen waren flammend rot geworden, wie er in dem flackernden Kerzenlicht sehen konnte. „In unserem Club handhaben wir das Problem so, dass wir Gästen, die nicht über das nötige Geld verfügen, nicht gestatten zu spielen. Spielschulden müssen noch am selben Abend beglichen werden, und wenn wir den Eindruck gewinnen, dass jemand ein krankhafter Spieler ist, verweigern wir ihm den Zutritt.“

„Dann handelt es sich offenbar um ein Casino mit Mitgefühl“, bemerkte er spöttisch. Er machte keinen Hehl aus seiner Einstellung zum Glücksspiel, weil er wusste, wie es sich auf sein Leben ausgewirkt hatte, aber auf den Schlag in die Magengrube, den ihre Worte ihm verpasst hatten, war er nicht vorbereitet gewesen.

„So ist es“, erwiderte sie kurz angebunden. „Und abgesehen davon geht es Sie nichts an, was ich tue. Ich weiß nicht einmal, weswegen ich es Ihnen erzählt habe. Missbilligen Sie es, soviel Sie wollen, es ist mir egal.“ Sie machte eine Handbewegung, die das ganze Haus umfasste. „Mein Vater hat das Haus, das Inventar und eventuelle Geldmittel mir und meiner Schwester hinterlassen. Deshalb bin ich hier. Was Sie machen und wie Sie sich fühlen, geht mich nichts an.“ Sie musterte ihn ungerührt. „Ich würde vorschlagen, dass Sie gehen. Und zwar jetzt, ehe es zu dunkel wird. Ich nehme an, Sie wohnen in Greensett?“

Wieder spürte er Zorn in sich aufwallen. Wie hatte es diese Frau geschafft, ihn in der kurzen Zeit, da sie sich kannten, derart aufzubringen? Für gewöhnlich war er die Gelassenheit in Person, und nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Er erhob sich halb auf seinem Stuhl, stützte die Hände auf die Tischplatte zwischen ihnen und durchbohrte sie förmlich mit einem harten Blick.

„Ich wohne hier.“

So herausgefordert wie in der vergangenen Stunde hatte Octavia sich noch nie gefühlt. Dieser Mann, dieser Eindringling, erklärte doch glatt, der Eigentümer des Hauses zu sein, des Hauses, das ihrer Familie gehörte, und obendrein war er so dreist, mit seinem Hund im Teich zu baden. Gänzlich unbekleidet.

Sie wusste nicht, warum, aber es setzte dem Ganzen die Krone auf.

Und nun weigerte er sich auch noch zu gehen.

„Und ich werde den Beweis erbringen, dass das Haus mir gehört.“ Seine Worte fühlten sich an, als würde ihr ein Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt. „Ihr Vater hat es vor etwas über einem Monat meinem überschrieben.“ Er presste die Lippen aufeinander. „Ich weiß es, weil mein Vater gefeiert hat und anschließend zu betrunken war, um zu merken, dass sein eigenes Haus in Flammen aufging.“

Sie riss erschrocken die Augen auf.

„Er starb ein paar Tage später.“

Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seine. „Grundgütiger, das ist ja furchtbar. Es tut mir so leid.“ Ihr ganzer Körper schmerzte vor Mitgefühl, und sie vergaß völlig, dass dieser Mann ihr Feind war. „Standen Sie einander nahe?“ Sie hatte die Frage kaum ausgesprochen, als sie auch schon den Kopf schüttelte. „Tut mir leid. Das geht mich nichts an.“

„Nein“, antwortete er dennoch kurz angebunden. „Ich habe seine Lebensentscheidungen nie verstanden, und er machte sich nicht die Mühe, meine zu verstehen.“

„Es tut mir leid“, wiederholte sie leise, drückte ihm die Hand und strich mit dem Daumen über die Haut. Mit düsterer Miene betrachtete er ihre Hände. „Welche Ihrer Entscheidungen verstand er nicht?“

Sie hoffte inständig, dass Heirat nicht dazugehörte. Denn wenn seine Ehefrau oder irgendjemand sonst Wind davon bekam, dass er eine Mahlzeit mit ihr geteilt und obendrein Zeit im Haus mit ihr verbracht hatte, wäre das Vertrauen zwischen den Eheleuten beschädigt. Außer seine Frau wäre ungewöhnlich verständnisvoll, aber dann würden alle Außenstehenden seinen Gefühlen misstrauen.

Er atmete aus. „Ich bin Wissenschaftler. Ich habe vor, die Angelegenheiten meines verstorbenen Vaters zu regeln, weil es sich so gehört, aber ich werde es nicht zu meiner Berufung machen. Das kann ich nicht.“ Er sah auf, und die Intensität seines Blicks schlug sie in Bann. „Mein Vater schickte mich auf die Schule, weil er wollte, dass sein Sohn Umgang mit einflussreichen Familien pflegt. Mit Vätern, die sich vielleicht auf eine Partie Karten mit ihm einließen.“ Er schnaubte. „Und gegen ihn verloren.“

„Das ist ja schrecklich“, sagte sie leise. Immer noch hielt sie seine Hand. Sie mochte sie nicht loslassen, auch wenn er sie vielleicht dreist finden würde.

Wobei die Tatsache, dass sie sich als unverheiratete Frau mit ihm allein in einem Haus aufhielt, vermutlich längst zu dieser Einschätzung geführt hatte.

Abgesehen davon fühlte es sich schön an. So, als könne sie Trost spenden, obwohl sie in jeder Hinsicht unterschiedlicher Meinung waren.

Wieder schnaubte er. „Nicht schrecklicher, als wenn Ihr Vater Sie zum Wetteinsatz macht. Und ich erhielt eine wirklich ausgezeichnete Erziehung.“ Seine Mundwinkel bogen sich zu einem trockenen Lächeln nach oben. „Wir wurden also beide von unseren Vätern benutzt.“ Er schloss seine Finger um ihre, drückte sie. „Ich hoffe, Ihr Vater hat Ihnen etwas hinterlassen. Es wäre eine Schande, wenn Sie den ganzen Weg hierher umsonst gemacht hätten.“

Abrupt entzog sie ihm ihre Hand und setzte sich gerade. „Umsonst gemacht, Mr. Fallon?“ Sie schlug einen forschen Ton an. „Das wird nicht der Fall sein, so viel kann ich Ihnen versprechen.“

Seine Hand fühlte sich an wie verwaist, als sie ihm ihre entzog. Zuerst hatte er gar nicht gemerkt, dass sie ihn berührte, doch nachdem es ihm bewusst geworden war, hatte er an nichts anderes mehr denken können. Ihre Reaktion war so aufrichtig gewesen, so ungekünstelt. Sie hatte eine Verbindung zu ihm hergestellt, und er hatte sie mit jeder Faser gespürt.

Doch dann hatte sie ihm den Fehdehandschuh erneut hingeworfen, noch angriffslustiger diesmal, wenn das überhaupt möglich war. Dennoch war er außerstande, sie als seine Feindin zu betrachten, auch wenn sie eindeutig seine Gegnerin war. Trotz der Vernachlässigung durch ihre Väter hatten sie beide es geschafft, zu überleben.

Verdammt.

„Ich bin sicher, wir können einen Kompromiss finden“, erwiderte er begütigend und unterbrach sich abrupt, als ihm auffiel, wie skeptisch und erschöpft sie aussah, wie dunkel die Ringe um ihre Augen waren. „Aber vielleicht möchten Sie bis morgen warten? Es gibt einen Gasthof …“

„Ich werde dieses Haus nicht verlassen“, informierte sie ihn schnippisch. „Wie sollte solch ein Kompromiss aussehen?“ Ihre Stimme troff vor Verachtung.

Er lehnte sich zurück, begegnete ihrem Blick. „Ich besitze ein Dokument, das von Ihrem Vater unterzeichnet und datiert ist und aus dem zweifelsfrei hervorgeht, dass er das Haus an meinen Vater verloren hat.“

„Das sagen Sie, aber die beiden haben seit Jahren gegeneinander gespielt. Lange ehe Ihr Vater die Wette gegen meine Schwester verlor“, setzte sie betont hinzu. „Wie soll ich sicher sein, dass es nicht noch ein Dokument gibt, aus dem hervorgeht, dass Ihr Vater das Haus wieder an meinen verloren hat?“ Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust und fuhr fort. „Oder dass Ihr Vater meinem nicht irgendetwas anderes überschrieben hat, bei dem fortgesetzten Versuch der beiden, sich die eigene Großartigkeit durch den Wurf eines Würfels oder eine Runde Karten zu beweisen?“ Sie schüttelte angewidert den Kopf. „Ich finde es eine Schande, dass Duellieren verboten wurde. Es hätte uns allen eine Menge Schwierigkeiten erspart.“

„Wie könnte es noch ein Dokument geben?“ Gabriel versuchte sich davon abzuhalten, diese unfassbar sture Frau anzuschreien. „Mein Vater ist kurz darauf gestorben.“

Ihr Blick wurde weicher, und sie schien etwas sagen zu wollen, doch er schüttelte resigniert den Kopf. „Aber es handelte sich um ein paar Tage, und ich war nicht dabei, um zu bezeugen, was geschah. Vielleicht haben die beiden tatsächlich wieder gespielt, und mein Vater verlor alles an Ihren.“ Er atmete tief durch in dem Wissen, dass er unvoreingenommen bleiben musste, selbst wenn es die Dinge noch schwieriger machte. „Das Einzige, was wir tun können, ist, alles offenzulegen, was wir an Beweisen haben.“ Er hob Einhalt gebietend die Hand, als sie etwas einwenden wollte. „Ich weiß, dass Sie bis jetzt noch keinen Beweis haben, aber Sie sind hier, und es ist davon auszugehen, dass Ihr Vater seine Unterlagen im Haus aufbewahrt hat. Ich würde sagen … ich würde sagen, Ende der Woche …“

„Zwei Monate“, verlangte sie knapp.

„Zwei Wochen“, hielt er dagegen.

Sie atmete tief durch. „Einen Monat.“

„In Ordnung“, gab er entnervt nach. „In einem Monat werden wir uns gegenseitig unsere Beweise offenlegen. Und wer von uns das jüngste Dokument vorzuweisen hat, ist der Besitzer des Hauses. Hört sich das gerecht an?“

Sie verzog den Mund, überlegte. „Ich glaube, ja“, erwiderte sie schließlich.

Er streckte die Hand aus. „Abgemacht?“

Sie legte ihre hinein, sah ihm in die Augen. „Abgemacht.“

Dann zog sie ihre Hand zurück, hob sie sich an den Mund und erstickte ein gewaltiges Gähnen.

„Nun, da dies geregelt ist“, er fuhr sich mit den Fingern durch das immer noch feuchte Haar, „müssen wir Schlafmöglichkeiten finden und Räume, in denen es nicht zu viele Mäuse gibt.“

Wie es sich gehörte, quietschte sie bei der Erwähnung von Mäusen.

Er hob eine Braue. „Ihr Hund – Cerberus? – sollte doch in der Lage sein, Ihnen die Mäuse-Eindringlinge vom Hals zu halten.“

Nun hob sie eine Braue. „Mäuse-Eindringlinge?“, wiederholte sie hörbar belustigt. Anscheinend war ihr Groll nun, da sie eine Abmachung hatten, völlig verschwunden. „Sie verschwenden Ihre Talente als Wissenschaftler, Mr. Fallon. Sie sollten besser Kinderbücher schreiben.“

Leise lachend schüttelte er den Kopf. „Die Geschichten, die ich erforsche, sind für die Ohren von Kindern nicht geeignet.“

Sie stützte den Ellbogen auf die Tischplatte, legte ihr Kinn auf die Hand. Es war eine schockierend unschickliche Bemerkung, und anscheinend glaubte er, dass sie vorsätzlich gehandelt hatte.

„Jetzt machen Sie mich aber neugierig.“ Ihre Augen funkelten, ihre Stimmung hatte sich völlig gewandelt. Vor einem Moment noch war sie fast feindselig gewesen, und nun verwickelte sie ihn in einer Unterhaltung. „Was für Geschichten sind es, die Sie erforschen?“

Es gab nicht viele Leute, die ihn nach seiner Arbeit fragten. Und es waren noch weniger, die wirklich interessiert wirkten. Für gewöhnlich handelte es sich um junge Damen, die ihm Fragen stellten, um interessiert zu wirken, und dabei hofften, dass sie sein Interesse erregten. Früher hatte er sich manchmal darauf eingelassen, aber irgendwann begriffen, dass keine von ihnen ihm wirklich zuhörte.

„Ehrlich gesagt, es ist langweilig.“ Seine gewöhnliche Antwort, wenn jemand versuchte, mit ihm über das Thema zu reden.

Sie verdrehte die Augen. „Ich habe Sie etwas gefragt, Mr. Fallon. Sie können mir doch nicht sagen, dass etwas ungeeignet ist für Kinder und im gleichen Atemzug behaupten, es sei langweilig. Außer es wäre eine komplizierte Mathematikaufgabe. In dem Fall würde ich Ihnen recht geben.“

„Mathematik ist es nicht.“ Er musste lachen.

Sie setzte sich gerade, stemmte die Hände in die Hüften. Nyx hüpfte auf ihren Schoß, und Octavia zuckte zusammen, doch dann tätschelte sie dem Hund den Kopf.

„Wie heißt Ihr Hund?“

„Nyx“, antwortete er schlicht.

„Nix wie in nichts?“ Verwirrung malte sich in ihren Zügen. Sie sah auf Nyx herunter. „Du bist nicht nichts, meine Süße“, murmelte sie. „Hör nicht auf diesen gemeinen Menschen.“ 

Nun war es an Gabriel, die Augen zu verdrehen. „Nyx wie die Göttin der Nacht, N-Y-X.“

„Ach so!“, rief sie erleichtert aus. „Cerberus haben Sie ja schon kennengelernt, er ist der …“

„Der dreiköpfige Hund der Unterwelt“, fiel Gabriel ihr ins Wort. „Ja, das weiß ich. Weil es das ist, was ich erforsche – griechische Mythologie.“

Autor

Megan Frampton
<p>Diesen Dingen kann Megan Frampton einfach nicht widerstehen: der Farbe Schwarz, gutem Gin, dunkelhaarigen Briten und großen Ohrringen. Neben historischen Romanen schreibt sie unter dem Namen Megan Caldwell auch gefühlvolle Liebesromane. Die Autorin lebt mit Ehemann und Kind in Brooklyn, New York.</p>
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