Herrscher meines einsamen Herzens

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Leidenschaft Ja – Liebe niemals? Die schöne Bibliothekarin Helia ist verzweifelt! Überstürzt ist sie mit König Vasili Leos eine Vernunftehe eingegangen. Und hat sich dummerweise schon in den Flitterwochen Hals über Kopf in ihren adligen Ehemann verliebt! Dass er sie begehrt, weiß sie: In den Nächten verwöhnt er sie wieder und wieder. Aber dass er nicht an zärtliche Gefühle glaubt, bricht ihr fast das Herz. Alles Gold und allen Luxus ihres neuen Lebens würde sie für drei kleine Worte von Vasili geben: Ich liebe dich …


  • Erscheinungstag 12.11.2024
  • Bandnummer 2675
  • ISBN / Artikelnummer 0800242675
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

Es war schon erstaunlich, wie gewöhnlich manche Tage erscheinen konnten. Die warme Sonne schien wie immer, die Geräusche in der Luft waren unverändert, die Menschen gingen ihrem normalen Alltag nach. Und doch war alles anders.

Prinz Vasili Leos, Thronfolger des kleinen mediterranen Insel-Königreichs Thalonien im Ionischen Meer, saß im verdunkelten Arbeitszimmer des Privatsekretärs des Königs. Ein Raum, den er immer zu vermeiden versucht hatte. Lediglich ein paar Sonnenstrahlen drangen durch die Jalousien und landeten auf einem hochglanzpolierten Schreibtisch, der komplett leer geräumt war – abgesehen von einem Brief, auf dem sein Name stand.

Ein Brief, der sein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde.

Der König von Thalonien war tot. Vasili war jetzt König.

Sein Bruder Leander war mit dem Flugzeug abgestürzt. Es gab keine Überlebenden.

Der Privatsekretär Andreas Kyriakou sagte etwas, doch Vasili hörte kein Wort. Er war wie betäubt. Noch vor wenigen Stunden hatte er mit seinem Bruder, dem rechtmäßigen König, angestoßen. Und jetzt hatte er auf einen Schlag keine Familie mehr, und ihm wurde gesagt, dass es keine Zeit zu verlieren galt.

Vasili hatte nie König werden wollen. Er war nur ein Ersatz für den Notfall gewesen, mehr nicht. Der „Playboy-Prinz“, wie man ihn genannt hatte.

„Eure Majestät – hört Ihr mir zu?“, fragte Andreas.

Nein, Vasili hörte ihm nicht zu. Alles passierte viel zu schnell. Man hatte ihn an diesem Morgen in Andreas’ Arbeitszimmer gerufen, wo ihm ohne Umschweife mitgeteilt worden war, dass sein Bruder verstorben sei. Und statt ihm ein paar Minuten zu geben, damit er sich sammeln konnte, hatte der Privatsekretär sofort Leanders Testament vorgelesen. Und ihm einen Brief überreicht, der im Fall von Leanders Tod an Vasili übergeben werden sollte.

Er starrte den weißen Briefumschlag an. Es war zu früh für diesen Brief … Viel zu früh.

„Ihr müsst den Thron besteigen, und zwar so schnell wie möglich. Ihr müsst Euch an das Volk wenden und zeigen, dass die Monarchie diese Tragödie überstehen wird.“

Vasili ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte noch nicht einmal richtig begriffen, dass sein Bruder tot war, und Andreas wollte bereits über die Thronnachfolge reden. Thalonien hatte jetzt also einen 29-jährigen König … Einfach lächerlich. Genauso lächerlich wie die Tatsache, dass sein Vater ihm einen Brief geschrieben hatte. Noch einen.

Den ersten Brief hatte Vasili vor knapp einem Jahr erhalten, als sein Vater gestorben war; ein Mann, der nie viel für seinen jüngsten Sohn übriggehabt hatte. Dieser Brief war bereits ungelesen im Kaminfeuer gelandet, und Vasili sah keinen Grund, es mit dem zweiten anders zu machen.

Nach dem Tod ihres kranken Vaters war das Königreich in Trauer versunken und Leander hatte den Thron bestiegen – eine Rolle, auf die dieser sein ganzes Leben lang vorbereitet worden war. Er, und nicht Vasili. Aber nun war auch sein Bruder tot, und es lag an ihm, die Sorgen und Ängste des Volkes zu beschwichtigen …

„Ich weiß, dass Ihr das im Moment nicht hören wollt, aber Thalonien braucht jetzt Stabilität, Eure Majestät. Und das obliegt Eurer Verantwortung.“

Vasili hätte am liebsten laut gelacht. Alle wussten, dass er nur der Reservekönig war. Dieser Meinung waren auch seine Eltern gewesen, die ihm dementsprechend wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Leander war schließlich derjenige gewesen, der eines Tages das Land anführen sollte.

Und so war Vasili von einem Kindermädchen großgezogen worden. Sie hatte sich um ihn gekümmert, ihn unterstützt … Hatte ihm die Liebe und Zuwendung gegeben, die er von seinen Eltern nie bekommen hatte. Sie war die einzige Person gewesen, auf die Vasili immer zählen konnte. Aber das hatte seine Eltern nicht davon abgehalten, sie zu entlassen, sobald er 15 geworden war. Da hatte er endlich begriffen, dass es niemanden kümmerte, was er dachte oder wollte.

Also hatte er einen Entschluss gefasst: Er war seiner Familie egal? Dann würde ihn das Königshaus und alles, was dieses repräsentierte, auch nicht mehr kümmern. Vasili war zum rebellischen „Playboy-Prinzen“ geworden und hatte einen hedonistischen Lebensstil angenommen – denn das war es, was seine Eltern am meisten aufzuregen schien.

Das alles hatte der Beziehung zu seinem großen Bruder allerdings nie geschadet. Sie standen sich vielleicht nicht ganz so nahe wie andere Geschwister, aber Vasili hatte immer zu Leander aufgeschaut. Und jetzt war der Bruder nicht mehr da. Ohne Vorwarnung oder die Möglichkeit, sich verabschieden zu können, war er verschwunden. Vasili würde Leander nie wiedersehen. Sein Bruder war tot, und alles, was er jetzt noch hatte, war ein Berater, den er nicht ausstehen konnte, und ein Königreich, das er enttäuschen würde.

Vasili schloss einen Moment lang die Augen. Die Realität seiner Situation brach mit einem Mal über ihn herein … Seine Mutter war schon vor langer Zeit verstorben, und sein Vater vor einem Jahr. Leanders Tod bedeutete, dass er nun völlig allein war.

Dieser große und prächtige Palast im Rokoko-Stil – das Juwel von Seidon, Thaloniens Hauptstadt, und seit Generationen Sitz seiner Familie – hatte sich noch nie so leer angefühlt wie jetzt.

Natürlich hatte Vasili Freunde. Eine ganze Menge sogar. Leute, die genauso gern feierten wie er und immer auf eine gute Zeit aus waren. Und doch hatte er niemanden, den er in diesem Augenblick hätte anrufen können. Niemanden, an den er sich zur Unterstützung hätte wenden können.

Ich werde allein damit fertigwerden müssen. So wie ich es schon immer tun musste.

„Eure Majestät“, meldete sich Andreas wieder zu Wort, diesmal mit Nachdruck. „Ihr müsst die Situation akzeptieren. Thalonien braucht seinen König!“

Vasili begann, wütend zu werden … Er hatte nur einen kurzen Moment gewollt – nein, gebraucht –, um die Nachricht vom Tod seines Bruders verdauen zu können und sich für das, was die Zukunft nun zweifellos für ihn bereithielt, zu wappnen.

„Wir müssen jetzt auch an die Thronfolge denken. Ihr müsst eine angemessene Braut finden und so schnell wie möglich einen Erben zeugen, damit …“

„Das reicht!“, stieß Vasili aus. Er stand auf, nahm den Brief und verließ das dunkle Arbeitszimmer – nicht ohne dabei die Tür hinter sich zuzuknallen.

Seine Schritte hallten durch die marmornen Flure des Palastes, während er versuchte, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Andreas zu bringen. Wut und Trauer drohten, ihn zu überwältigen. Es gab nur einen Ort, an dem er jetzt Zuflucht finden würde … Er stieß eine vergoldete Tür auf und betrat die größte und prächtigste Bibliothek des Königreichs.

Eine willkommen Stille legte sich um ihn. Er setzte sich auf einen gemütlichen Sessel in einer Ecke des Raums und schloss die Augen.

Vasili war dankbar dafür, dass er die Bibliothek für sich hatte und ihm auf diese Weise ein kurzer Moment des Friedens gewährt wurde. Er versuchte, seine Gedanken zu sammeln … Hatte man den Körper seines Bruders bergen können? Niemand hatte daran gedacht, ihm diese Information zu geben. Alles, was die Leute um ihn herum zu interessieren schien, war, dass er so schnell wie möglich seinen königlichen Aufgaben nachging. Die Tatsache, dass er gerade seinen Bruder verloren hatte, war reine Nebensache.

Diese Institution ist noch herzloser, als ich dachte …

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Andreas betrat die Bibliothek – gefolgt von Carissa, der Pressesprecherin des Königshauses.

Vasilis bereits gefährlich düstere Stimmung verschlechterte sich noch mehr.

„Eure Majestät.“ Andreas’ Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er das Verhalten seines neuen Königs aufs Äußerste missbilligte. „Ihr könnt vor dieser Verantwortung nicht weglaufen!“

„Ich bitte Euch, Eure Majestät …“, sagte auch Carissa beschwichtigend und setzte sich auf einen Stuhl neben ihm. Sie war groß, hatte blonde Haare, die zu einem strengen kinnlangen Bob geschnitten waren, und trug einen dunklen Anzug. „Hört zu, was wir zu sagen haben, und dann können wir gemeinsam entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Das ist eine schwierige Situation, aber wir wollen alle nur das Beste fürs Königreich.“

Vasili stieß ein humorloses Lachen aus.

„Sie hat recht“, fügte Andreas hinzu. „Es ist dringend notwendig, dass Ihr auf uns hört. Ihr müsst unbedingt heiraten und einen Erben zeugen. König Leander hat versäumt, dies zu tun, und jetzt befindet sich die Krone in einer prekären Lage.“

Vasili neigte den Kopf zur Seite und musterte den Privatsekretär. „Lasst mich raten … Es ist meine Pflicht, die Monarchie zu retten?“

„Natürlich. Thalonien braucht einen König“, erwiderte Andreas.

Vasili schüttelte den Kopf. Er war versucht, alles hinzuschmeißen … Die Monarchie war schließlich der Grund dafür, weshalb er für seine eigene Familie zweitrangig gewesen war. Und hatte er nicht sein ganzes Leben damit verbracht, gegen das Königshaus zu rebellieren?

Dazu kam, dass er nicht für die Ehe gemacht war. Es war ihm lieber, hier und da eine Nacht mit einer wunderschönen Frau zu verbringen, die genau wusste, dass es keine gemeinsame Zukunft mit ihm geben würde. Sein Ziel war es, dem goldenen Käfig zu entkommen – nicht, andere zu ihm in den Käfig einzuladen.

„Nicht nur einen König, wie es scheint …“, knurrte Vasili.

„Wir können nachvollziehen, dass Ihr besorgt seid, aber …“

„Das bezweifle ich.“

Carissa fuhr unbeirrt fort: „Aber wir würden Euch bei diesem Unterfangen auf Schritt und Tritt zur Seite stehen.“

Für wie dumm haltet ihr mich eigentlich? Ihr Versuch, ihn zu kontrollieren, war so offensichtlich, dass es fast schon beleidigend war.

„Es versteht sich natürlich von selbst, dass sich Euer jetziger Lifestyle ändern muss“, sagte Andreas. „Nicht nur, weil dies für einen König unangebracht wäre, sondern auch für einen verheirateten Mann.“

Die Frage, ob ich überhaupt heiraten werde, stellt sich wohl gar nicht mehr, dachte Vasili.

„Wir können Euch dabei helfen, eine geeignete Braut zu finden, keine Sorge.“

„Wie war das …?“ Vasilis Trauer wurde mit einem Schlag von rasender Wut überlagert. Für wen hielten die beiden sich?! Wenn er schon jemanden heiraten musste, dann bestimmt keine selbstverliebte Prinzessin, die seine Angestellten für ihn ausgesucht hatten. Nur über seine Leiche! Er würde das selbst in die Hand nehmen – ganz egal, ob Andreas und Carissa sich etwas anderes vorgestellt hatten. Denn in seinen Augen repräsentierten sie alles, was an der Monarchie verwerflich war.

Er sah über ihre Köpfe hinweg. „Na gut. Ihr wollt, dass ich jemanden heirate? Wie wär’s mit ihr?

Andreas und Carissa drehten sich gleichzeitig um und folgten dem Blick des neuen Königs. Ein paar Schritte entfernt stand die Bibliothekarin, die ihre Unterhaltung ganz offensichtlich mitverfolgt hatte und sie mit weit geöffneten Augen anstarrte.

„Eure Majestät …“ Andreas drehte sich ruckartig wieder zu Vasili herum, einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht. „Das kann nicht Euer Ernst sein!“

„Andreas hat recht … Ihr könnt nicht die Bibliothekarin heiraten. Sie wäre keine angemessene Königin für Thalonien“, sagte Carissa in einem um Vernunft bemühten Tonfall.

Vasili betrachtete seine Pressesprecherin mit eisiger Miene. „Wie sähe denn eine angemessene Königin aus?“

„Es muss eine Frau adeliger Herkunft sein. Das war bisher immer der Fall, es hat Tradition. Ich bitte Euch, Eure Majestät – ihr müsst an das Königshaus denken!“

Sobald Carissa diese Worte ausgesprochen hatte, wusste sie vermutlich schon, dass sie einen Fehler begangen hatte. Vasilis Geduld war nun endgültig am Ende.

„Wollt ihr mir damit sagen, dass ihr euch eurem König widersetzt?“

Er war nicht mal laut geworden, und doch sah Andreas aus, als hätte Vasili ihm die schlimmstmögliche Beleidung an den Kopf geworden.

„Natürlich nicht. Aber es ist meine Aufgabe, dem König mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Deswegen hätte Euer Bruder auch in zwei Wochen eine Prinzessin geheiratet …“

„Ich bin nicht wie mein Bruder und werde es auch nie sein, Andreas. Ich denke, es ist für alle Beteiligten am besten, wenn du dich so schnell wie möglich daran gewöhnst.“

„Mag ja sein. Aber sie ist und bleibt eine Bibliothekarin!“ Der Hals seines Privatsekretärs wurde rot vor Entrüstung. „Und damit gehört sie dem gewöhnlichen Volk an. In der Geschichte Thaloniens saß noch nie eine Frau von nicht adeliger Herkunft auf dem Thron.“

Vasili erhob sich langsam von seinem Sessel. Andreas und Carissa beeilten sich, es ihm gleichzutun.

„Es gibt für alles ein erstes Mal. Ich bin jetzt König, und das ist mein letztes Wort.“ Er drehte sich zur Bibliothekarin um, die immer noch hinter ihrem Tresen stand und sich nicht bewegt hatte, und sah ihr in die Augen. Türkisfarbene Augen, die vor Schock weit aufgerissen waren.

Die Welt um sie herum schien einen Moment lang stillzustehen … Alles, was jetzt noch existierte, waren er und sie.

Ein Herzschlag verstrich.

Oder zwei.

Vielleicht auch eine ganze Ewigkeit.

Dann riss Vasili seinen Blick von ihrem los und verließ mit zusammengebissenen Zähnen die Bibliothek.

Helia sah ihm hinterher. Sie hatte sich bisher keinen Zentimeter bewegt.

„Was zum …“, flüsterte sie und starrte die Tür an, hinter der der neue König verschwunden war. Ihr Herz raste. Das konnte nicht sein Ernst sein … Er weiß doch nicht mal, wer ich bin! dachte sie. Und wollte sie heiraten?! Purer Wahnsinn.

Und doch … Es war das erste Mal gewesen, dass Vasili auch nur in ihre Richtung gesehen hatte. In diesem Moment hatte sie das Gefühl gehabt, er würde in ihre Seele blicken, und sich in seinen goldbraunen Augen verloren. Für die Dauer eines Herzschlages hätte sie ihm sogar ihre tiefsten Geheimnisse anvertraut.

Reiß dich zusammen, Helia! Niemand beschließt einfach so, eine wildfremde Person zu heiraten – schon gar nicht ein König! rief sie sich selbst wieder zur Ordnung. Prinz Vasili trauerte um seinen Bruder, er hatte das alles nicht ernst gemeint. Seine Berater würden ihm gleich hinterherlaufen, und dann würde ihr Leben wieder seinen normalen Lauf nehmen.

Helia dachte daran zurück, wie es sich angefühlt hatte, als ihr Vater gestorben war. Sie hatte vor Trauer nicht klar denken können. Der König würde sich schon bald wieder sammeln und diese verrückte Begegnung vergessen.

Er würde sie vergessen.

Und ihr würde nur die Erinnerung daran bleiben, wie aufregend es gewesen war, als König Vasili eines Tages in ihre Bibliothek gekommen war und sie angesehen hatte.

2. KAPITEL

Die Berater des Königs schienen da allerdings anderer Meinung zu sein. Andreas und Carissa kamen mit ernster Miene auf sie zu.

„Folgen Sie uns“, wies Andreas sie an. „Wir müssen das Ganze unter vier Augen besprechen.“

Helia konnte nicht glauben, was sie da hörte.

„Ist das wirklich nötig?“, fragte sie.

„Ja.“

In ihrem Bauch flatterte ein Funken Hoffnung auf. Sie folgte Andreas und Carissa durch den Palast ins Büro des Privatsekretärs, wo dieser sie aufforderte, Platz zu nehmen. Ihr Puls raste immer noch … Ihr normaler Alltag war komplett auf den Kopf gestellt – und das nur, weil der König einmal kurz in ihre Richtung geblickt hatte.

„Warten Sie hier. Wir kommen gleich wieder“, sagte Andreas, bevor er und Carissa den Raum verließen und die Tür hinter sich zuzogen.

Helia blieb allein im Arbeitszimmer zurück. Sie konnte ein aufgeregtes Stimmengewirr hinter der Tür ausmachen, aber keine genauen Worte. Also versuchte sie stattdessen, Ordnung in ihre aufgewühlten Gefühle zu bringen, was ebenso erfolglos war.

Zehn Minuten verstrichen, dann eine Stunde. Zwei Stunden. Ab und zu hörte sie Schritte vorbeigehen und gedämpfte, hektische Stimmen. Sie konnte eine direkte Anweisung von Andreas nicht einfach ignorieren; aber ihre Geduld schwand zusehends.

Wenn alles nur ein großes Missverständnis war – warum sind sie dann noch immer nicht zurück? Dieser Gedanke ließ ein weiteres Mal Schmetterlinge in ihrem Bauch aufflattern.

Gerade, als sie beschlossen hatte, dass sie genauso gut in ihrer Bibliothek warten konnte, ging die Tür auf und ein sichtlich genervter Andreas kam herein, gefolgt von Carissa. Er setzte sich auf seinen thronähnlichen Bürosessel hinter dem Schreibtisch, während seine Kollegin auf einem Stuhl neben Helia Platz nahm.

„König Leander ist tot“, begann Andreas.

Sag mir etwas, was ich noch nicht weiß, dachte Helia. Aber es wäre ihr im Traum nicht eingefallen, den Sekretär zu unterbrechen. Sie brauchte Informationen, und er hatte sie.

„Was bedeutet, dass Prinz Vasili nun König von Thalonien ist. Und als solcher ist er verpflichtet, zu heiraten und Erben zu zeugen.“

Bedeutungsschwangere Stille machte sich breit. Helia begann zu begreifen, dass Vasilis Worte in der Bibliothek vielleicht doch weitreichendere Folgen haben würden …

„Ist das Ihr Ernst?“

„Leider ja.“

„Andreas, Sie können nicht von mir erwarten, einen Mann zu heiraten, den ich nicht wirklich kenne.“

Um Erben mit ihm zu zeugen! Sie hatte noch nicht mal darüber nachgedacht, ob sie überhaupt bereit war, eine Familie zu gründen. „Das ergibt keinen Sinn“, fuhr sie fort. „Warum sollte der König jemanden heiraten wollen, den er heute zum allerersten Mal gesehen hat?“ Dass der Prinz schon seit Jahren eine nicht ganz unbeachtliche Rolle in ihren Fantasien spielte, tat nichts zur Sache … „Sie können das nicht einfach so entscheiden, als hätte ich keine Wahl.“

„Hören Sie“, sagte Andreas in strengem Tonfall und verschränkte die Finger unter seinem Kinn. „Wir sind darüber noch weniger erfreut als Sie, glauben Sie mir. Aber Prinz Vasili ist jetzt König – ob es uns nun gefällt, oder nicht. Und wir müssen ihm gehorchen.“

Ein Hauch von Verärgerung durchfuhr Helia. Aber Carissa nickte zustimmend, als wäre sie mit dieser absurden Aussage einverstanden.

„Was genau gefällt Ihnen nicht? Die Tatsache, dass er eine nicht standesgemäße Frau heiraten möchte? Oder dass er der neue König ist?“

Andreas hatte nicht einmal den Anstand, Verlegenheit vorzutäuschen. „Wie lange würde es dauern, sie und das Land auf die Hochzeit vorzubereiten?“, fragte er zu Carissa hinüber und ignorierte Helia dabei einfach.

Helia verspürte einen Anflug von Mitgefühl für Vasili. Es war kein Geheimnis, was Adelige von Leuten wie ihr hielten, aber die Verachtung, mit der Andreas auch Prinz Vasili begegnete, hatte dieser nicht verdient. Es war schlicht und einfach inakzeptabel, wie respektlos der Privatsekretär und die Pressesprecherin mit ihm – und ihr! – umgingen.

„Ignorieren Sie mich gefälligst nicht so“, sagte sie wütend. „Im Moment gibt es noch überhaupt keine Hochzeit. Was würde das überhaupt für mich bedeuten? Und für meine Karriere?“

„Sie wären offensichtlich die neue Königin“, antwortete Carissa ungeduldig.

„Und Sie müssten natürlich Ihren Job aufgeben“, ergänzte Andreas.

Helia krallte die Finger in ihren Rock und versuchte, nicht zu hyperventilieren. Ihre Karriere war das Wichtigste in ihrem Leben. Sie war Bibliothekarin und keine Königin, verdammt! Sie hatte sich von ganz unten heraufgearbeitet und vor zwei Jahren schließlich ihren Traumjob bekommen: in der königlichen Bibliothek, wo sie jeden Tag von den Büchern des Palastes umgeben war.

Sie war noch ein Teenager gewesen, als ihr Vater plötzlich verstorben war, und hatte daraufhin bei ihrem Onkel einziehen müssen. Dieser hatte sich allerdings nie um sie gekümmert. Sobald er an das Geld gekommen war, das Helias Vater ihr hinterlassen hatte, war sie im Waisenhaus gelandet.

Dort hatte sie ganz allein mit ihrer ganzen Wut und Trauer fertigwerden müssen, und sich von einem glücklichen, quirligen Mädchen in eine zurückgezogene Einzelgängerin verwandelt. Das Einzige, was ihr in dieser Zeit Trost gespendet hatte, waren Bücher gewesen, die wenigen, die das Waisenhaus besaß, aber vor allem die in der Schulbibliothek. Dort hatte sie jede freie Minute verbracht – zwischen den Unterrichtsstunden, nachmittags nach der Schule, und in den Ferien. Inmitten der staubigen Bücherregale dieser kleinen Schulbibliothek hatte sie es nach und nach geschafft, wieder Freude am Leben zu gewinnen, und den Entschluss gefasst, dass sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen wollte, umgeben von den Büchern, bei denen sie nach dem Tod ihres Vaters Zuflucht und Geborgenheit gefunden hatte.

Aber nicht in einer unterfinanzierten Schulbibliothek im Nirgendwo. Nein, sie hatte Größeres im Sinn.

Sie hatte hart gearbeitet, ein Stipendium für eine der besten Universitäten in Thalonien erhalten, und war nach ihrem Studium in der Stadtbibliothek von Seidon eingestellt worden. Jeden Tag, auf ihrem Weg zur Arbeit, hatte sie den Palast gesehen und gedacht: Dort werde ich eines Tages arbeiten. Dieser Traum hatte sich nur wenig später erfüllt, und jetzt war sie mit achtundzwanzig Jahren die Leiterin der größten und prächtigsten Bibliothek Thaloniens, die auch die Archive des Königreichs beherbergte. Es war ein Job, auf den sie unglaublich stolz war.

Andreas und Carissa lagen gehörig falsch, wenn sie dachten, dass sie ihn einfach aufgeben würde.

„Und was, wenn ich dieser Hochzeit nicht zustimme?“

Andreas ließ seine Hände auf die Armlehnen fallen und sah Helia durchdringend an. „Ich persönlich würde das befürworten, Fräulein Demetriou. Ich denke nicht, dass Sie die Königin sind, die dieses Land braucht, nicht nur, weil es unseren Traditionen zuwiderläuft. Es würde auch ein Albtraum für uns sein, Sie auf diese königliche Rolle vorzubereiten. Die Entscheidung liegt aber leider in König Vasilis Händen, und keiner von uns kann etwas dagegen ausrichten.“

So frustrierend Andreas’ Worte waren – Helia wusste, dass er recht hatte. Vasili hatte sich für sie entschieden.

„Ich habe noch nicht eingewilligt …“, protestierte sie kleinlaut, denn sie fing an zu begreifen, dass sie auf verlorenem Posten kämpfte.

„Und warum sollten Sie nicht einwilligen wollen?“, warf Carissa nun beinahe spöttisch ein. „Träumt nicht jede Frau davon, Königin zu werden?“

Sie hat recht, dachte Helia. Die meisten Frauen bekamen nie die Chance, Königin zu werden. Die wenigsten hatten eine Position inne, in der sie Macht oder Einfluss hatten.

Warum sträubte sie sich so, diese Gelegenheit zu ergreifen?

Helia dachte an ihre Zeit im Waisenhaus zurück, wo das Geld immer knapp gewesen war. Wo es immer an Essen und Kleidung gefehlt hatte, im Winter sogar an warmen Decken. Wo die Kinder über Zukunftsträume geredet hatten, die für die meisten niemals in Erfüllung gehen würden; da es niemanden gab, der ihre Ausbildung finanzieren würde …

Sie erinnerte sich daran, wie sie sich schon damals gewünscht hatte, etwas verändern zu können, wie sie gehofft hatte, den vergessenen Kindern von Thalonien eines Tages zu helfen.

Helia arbeitete schon seit Jahren ehrenamtlich in ihrem alten Waisenhaus, und viele der Kinder dort fühlten sich wie ihre eigenen an. Sie waren ihre Familie. Und jetzt bot sich einem dieser vergessenen Kinder sogar die Chance, den Thron zu besteigen. War es ein Fehler, sich dagegen zu wehren? Andererseits müsste sie sich dann den Rest ihres Lebens mit Leuten wie Andreas und Carissa herumschlagen …

Helia war hin- und hergerissen. Sie wollte ihren Job nicht aufgeben – ihre Karriere war alles, was sie hatte, das Einzige, was ihr etwas bedeutete.

Abgesehen von den Kindern im Waisenhaus …

Und natürlich war da auch noch Vasili. Sie konnte sich noch gut an ihren ersten Arbeitstag im Palast erinnern. Er war der erste Royal gewesen, den sie jemals gesehen hatte. Sein Anblick hatte ihr förmlich die Sprache verschlagen. Die sanften Wellen seiner kurzen dunkelbraunen Haare; seine goldgefleckten braunen Augen …

Dazu kam, dass er in dem Moment auch noch, von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet, auf ein schwarzes Motorrad gestiegen war. Er war ganz klar das ungewöhnlichste Mitglied der Königsfamilie. Jedes Mal, wenn Helia den Prinzen im Laufe der letzten zwei Jahre gesehen hatte, hatte sie ein bisschen mehr Anziehung gefühlt. Aber nicht nur wegen seines Aussehens. Ihr fiel auf, dass er sich nicht wie die anderen Royals verhielt. Vasili nahm sich immer Zeit, mit den Palastangestellten zu reden, die sonst bestenfalls ignoriert wurden, er hatte für jeden ein Lächeln übrig. Obwohl er selbst unglücklich zu sein schien, wenn er sich unbeobachtet fühlte …

Helia machte sich nichts vor. Sie wusste, dass sie keine außergewöhnliche Schönheit war. Der Prinz hatte sie bisher kein einziges Mal bemerkt. Aber das wäre auch schwierig gewesen, da sie den Großteil ihrer Zeit in der Bibliothek verbrachte und er nie dort gewesen war. Bis jetzt.

Ihr Herz hatte einen Schlag ausgesetzt, als er heute in ihre Bibliothek gekommen war … In Anzughose und mit einem Hemd, das am Hals nicht zugeknöpft war, mit einem Gesichtsausdruck, der Müdigkeit und Kummer vermittelte. Aber nur, weil sie den Prinzen – beziehungsweise den König – attraktiv fand, bedeutete das nicht, dass sie seine Königin werden sollte.

Ihre Hände fingen bei diesem Gedanken an zu zittern. Sie war eine selbstbewusste Person, wenn es um Bücher ging, aber sie hatte keine Ahnung vom Leben am königlichen Hof. Sie war ein Niemand aus ärmlichen Verhältnissen. Machte sie das vielleicht zur perfekten Kandidatin? Vasili war in diesen Reichtum geboren worden, und sie hatte jetzt die Chance, ihm zu zeigen, wie er sein Königreich zu einem besseren Ort machen konnte. Sie waren Gegensätze, aber gemeinsam konnten sie Großartiges bewirken.

„Na gut“, sagte sie. „Ich mach’s.“

Sobald die Worte ihre Lippen verlassen hatten, begann ihr Herz zu rasen.

„Ich hatte nichts anderes erwartet“, sagte Carissa.

Ihr selbstgefälliger Blick ließ Helia ihre Nervosität vergessen. „Denken Sie, was Sie wollen, Carissa, ich habe meine Gründe für diese Entscheidung. Und Sie beide sollten nicht vergessen, dass ich im Moment Ihre einzige Option bin.“

Sie konnte nur zu gut ihr hämmerndes Herz und ihre feuchten Hände spüren und versuchte, sich ganz auf ihre Atmung zu konzentrieren. Jetzt in Panik auszubrechen, würde niemandem etwas bringen. Ihr komplettes Leben war innerhalb weniger Minuten auf den Kopf gestellt worden. Sie würde ihre Karriere verlieren, die sie sich so hart erarbeitet hatte, und dafür eine Rolle einnehmen, die um einiges beängstigender war. Aber auch um einiges einflussreicher.

Und wenn sie daran dachte, was ihre Entscheidung zwangsläufig nach sich zog … dass sie mit Vasili zusammen sein würde …

Nun ja. Ihr Herz würde wohl eine Weile Überstunden leisten müssen.

Vasili saß auf einem weißen Sessel in Leanders Arbeitszimmer. Seinem Arbeitszimmer. Er hatte diesen Raum – das Machtzentrum Thaloniens – immer gehasst, und war froh gewesen, als sein Bruder ihn modernisiert hatte. Die jahrhundertealten Fresken an den Wänden, azurblau mit goldenen Akzenten, waren weitgehend erhalten geblieben, aber alles andere hatte sich komplett verändert.

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